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© 2011 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Lektorat: Claus Koch
Umschlaggestaltung: Schneider. Visuelle Kommunikation, Frankfurt a. M.
unter Verwendung einer Zeichnung von © Klaus Schneider
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22469-9
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Die Magie der Schuldgefühle |
1 |
Einige Annäherungen |
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Annäherung 1: Schuldgefühle – Wie sind sie geschichtlich entstanden? |
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Annäherung 2: Schuldgefühle und Mitgefühl |
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Annäherung 3: Schuldgefühle und die Balance zwischen Geben und Nehmen |
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Annäherung 4: Schuldgefühle und Scham |
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Annäherung 5: Schuldgefühle und Ekel |
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Annäherung 6: Schuldgefühle und persönliche Katastrophen |
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Annäherung 7: Schuldgefühle und Schuld |
2 |
Schuldgefühle ohne Schuld |
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Ein Leben als Angeklagte |
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Die Schuldgefühle der Opfer |
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Schuldig, ohne zu wissen, warum |
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Schuldig, weil du anders bist |
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Existenzielle Schuldgefühle |
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Schuldgefühle durch Leere |
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Schuldgefühle durch ideologisch motivierte Fürsorge |
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Der strafende Gott |
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Schuldstaubsauger und Schuldstreuer |
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Die Schuldgefühle der Kinder |
3 |
Schuld ohne Gnade |
4 |
Vom Maß und von der Maßlosigkeit |
5 |
Schuldgefühle als Beziehungskiller |
6 |
Schuld ohne Schuldgefühle |
7 |
Die drei Schritte des Entschuldens |
8 |
Verantwortung statt Selbstbestrafung |
9 |
Schuld und Frieden |
10 |
Das »schlechte Gewissen« im Interview |
Literatur |
Einleitung:
Die Magie der Schuldgefühle
Schuldgefühlen wohnt eine Magie inne. Sie erscheinen in tausend und einer Verkleidung, schillern in vielen Farben und Nuancen. Sie wirken oft wie eine Fata Morgana – wenn wir nach ihnen greifen, greifen wir häufig ins Leere. Sie sind da und nicht da, vernebeln die Wahrnehmung und entziehen sich der Fassbarkeit. Sie haben oft die magische Anziehungskraft eines »schwarzen Loches«, in dem andere Gefühle wie Liebe, Zorn, aber auch Fürsorge oder Mitgefühl verschwinden können. Daneben wohnt ihnen jedoch auch eine faszinierende Kraft der Verführung inne: Wenn ein Mensch »immer schuld« ist, braucht er sich nicht mit sich und anderen über manch einzelne Handlung auseinanderzusetzen und Verantwortung dafür zu übernehmen.
Im »ABC der Gefühle« sagt das Schuldgefühl von sich selbst: »Ich habe viele Charaktereigenschaften und muss von mir selbst nur um der Wahrheit willen sagen, dass ich selbst nicht alle mag. Aber damit muss ich mich arrangieren – wie alle Menschen auch. Mit manchen meiner Ausprägungen tue ich dem Leben der Menschen einen guten Dienst. Aber ich kann auch Leute überschwemmen und ihr Leben bestimmen. Ich kann blind machen und Mauern zwischen Menschen errichten.« (Baer/Frick-Baer, 2008, S. 75)
Schuldgefühle können sich bei den einen in nichts auflösen und die anderen wie ein lebenslanger Albtraum verfolgen, ohne dass es einen konkreten Anlass für sie gibt. Manche Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, fühlen keine Schuldgefühle, und andere leiden unter Schuldgefühlen ohne Schuld, d. h., ohne an etwas wirklich Schuld gehabt zu haben.
Geknüpft an Gebote oder Verbote begegnen wir Schuldgefühlen in nahezu allen Religionen. Und weil sie so schillernd sind und uns oft auch rätselhaft bleiben, sind Schuld und Schuldgefühle beliebte, wenn auch von den Protagonisten häufig ungeliebte Themen in Romanen. Es wundert also nicht, dass wir ihnen in Therapien häufig begegnen.
Der magische Charakter der Schuldgefühle zeigt sie in jeweils unterschiedlicher Art und Weise und bei jedem Menschen wieder anders. Fast immer fühlen sich die Klient/innen in ein Gespinst von Schuldgefühlen verwoben, und wir versuchen, sie darin zu unterstützen, es zu entzerren. Das Gespinst der Schuldgefühle zu entwirren, dazu wollen wir mit diesem Buch beitragen.
Häufig bewegen sich Schuldgefühle im Untergrund. Sie zeigen sich nicht als Schuldgefühle, sondern als andauernde innere Unruhe, als Spannung gegenüber anderen Menschen oder als Druck, Schwere oder Resignation. All das belastet den inneren Frieden, nach dem Menschen sich sehnen.
In unserer therapeutischen Arbeit gehen wir mit den Klient/innen auf die Suche danach, was bei anhaltendem Unruhigsein beunruhigt, was bei Schwere beschwert, bei Druck und Resignation belastet und was die Beziehung zwischen Menschen häufig überstrapaziert. Oft stoßen wir dabei – für die Klient/innen meist überraschend – auf lang anhaltende und verfestigte Schuldgefühle. Genau deswegen ist die Auseinandersetzung mit Schuldgefühlen ein wichtiger Schritt – nicht der einzige, aber ein besonders wirksamer – auf dem Weg zum inneren Frieden.
Der weitaus überwiegende Teil der Menschen, mit denen wir therapeutisch arbeiteten oder die wir zu dem Thema befragt haben, litt unter Schuldgefühlen ohne Schuld. Sicherlich haben auch diese Menschen einmal Schuld auf sich geladen, das gehört zum Menschsein. Aber hier meinen wir, dass die Schuldgefühle, die sie in ihrer Lebendigkeit behindern, gar nichts zu tun haben mit konkreten Verletzungen, die sie anderen Menschen absichtlich oder unabsichtlich zugefügt haben. Oder dass die Schuldgefühle, bezogen auf den eigentlichen Anlass, ein nicht nachvollziehbares Ausmaß erreichten.
Diese Erfahrung bewog uns dazu, diesen Schuldgefühlen ohne Schuld besonderen Raum zu geben. Aber wir wollten auch das umgekehrte Phänomen nicht vernachlässigen und widmen uns deshalb ebenso Menschen, die schuldhaft gehandelt haben, ohne Schuldgefühle zu verspüren. Wir werden dabei immer wieder Beispiele und Geschichten unserer therapeutischen Praxiserfahrungen anführen, allerdings mit dem vorrangigen Interesse, die Thematik so vorzustellen, dass sie für Sie, die Leserinnen und Leser, von Nutzen sein kann.
Im ersten Teil des Buches versuchen wir einige Annäherungen an das Thema Schuld und Schuldgefühle und begeben uns auf Spurensuche, um ihren Sinn herauszufinden. Dabei werden wir einige wichtige Ursachen oder Quellen herausarbeiten, die zum Entstehen von Schuld und Schuldgefühlen geführt haben. Ohne diese Quellen können wir den Sinn (und manchmal Unsinn) der Schuldgefühle nicht verstehen.
Wir nehmen an, dass Sie dieses Buch nicht erworben haben, weil Sie Schuldgefühle großartig finden. Vermutlich wollen Sie Schuldgefühle loswerden oder Wege finden, mit ihnen anders umzugehen, damit Ihr Leben unbelasteter wird. Ähnlich erging und ergeht es unseren Klient/innen. Sie leiden unter Schuldgefühlen. Dieses Leiden motiviert uns zu unserer therapeutischen Arbeit und zum Schreiben dieses Buches.
Wahrscheinlich werden mehrere der Aspekte von Schuldgefühlen, die wir erörtern und denen Sie begegnen werden, Sie nicht betreffen (vielleicht aber fallen Ihnen dabei andere Menschen ein, mit denen Sie leben oder arbeiten und die Sie interessieren). Bei anderen Aspekten werden Sie sich persönlich angesprochen fühlen. Nutzen Sie das Buch und unsere Anregungen, um besser verstehen zu können, was in Ihnen vorgeht und warum Sie so fühlen, wie Sie fühlen.
In Schuldgefühlen festzustecken und sich ihnen ausgeliefert zu fühlen hat bei vielen unserer Klient/innen den inneren und äußeren Frieden gestört. Den inneren Frieden deshalb, weil sie unruhig und beunruhigt waren, sich mit Selbstvorwürfen quälten oder ständig bemüht waren, ja keine Fehler zu machen, um nicht wieder schuldig zu werden … Den äußeren Frieden deshalb, weil Schuldgefühle viele Beziehungen zwischen Menschen belasten und vergiften. Die Klient/innen leiden und sie sehnen sich nach Frieden, innerem wie äußerem. Dieses Leiden wollen wir lindern, das ist unser Wunsch.
Wir bedanken uns bei allen, die uns bei der Erstellung dieses Buches unterstützt haben: den Mitarbeiter/innen des Verlags für ihre Freundlichkeit, ihr Wohlwollen und ihre Professionalität, insbesondere unserem Lektor Dr. Claus Koch, Susanne Kern für ihre engagierte Schreibarbeit und allen Klient/innen, Kolleg/innen, Freund/innen und Teilnehmer/innen unserer Seminare.
1 Einige Annäherungen
Annäherung 1: Schuldgefühle – Wie sind sie geschichtlich entstanden?
Ohne Schuldgefühle gäbe es keine Zivilisation. Die Richtigkeit dieser Behauptung wird deutlich, wenn wir uns vorstellen, es gäbe keine Schuldgefühle. Wenn ein Mensch einem anderen Unrecht täte, ihn gar verletzen oder töten würde, würde dies keine Schuldgefühle hervorrufen, und es gäbe auch keine innere Bremse, die ihn vor neuem Unrecht und neuen Gewalttaten bewahren würde. Wie in den Zeiten umherwandernder Gruppen in der frühen Menschheitsgeschichte gälte nur das Recht des Stärkeren. Gewalt würde mit Gewalt beantwortet.
Der Sinn der Schuldgefühle besteht darin, dass sie eine Bremse bilden, die vor der Ausübung von Gewalt und der Wiederholung von Unrecht schützt oder Unrecht, was freilich eine Wunschvorstellung wäre, ganz vermeiden hilft. Unsere Kinder im Stich zu lassen oder eine Partnerin zu schlagen, im Büro Geld zu stehlen oder den Exfreund aus Rache zu töten – bei den meisten Menschen ruft allein schon die Vorstellung solcher Taten Schuldgefühle hervor und sie unterlassen solche Handlungen. Diese Wirkung ermöglicht ein humanes Zusammenleben. Schuldgefühle sind deswegen eine Voraussetzung für unsere Zivilisation.
Kein Mensch weiß, wann und wie sich in der Vorgeschichte der Menschheit Schuldgefühle entwickelt haben, auch wenn darüber viel spekuliert wurde. Zu vermuten ist, dass dies mit der Tendenz einherging, in größeren Gemeinschaften zusammenzuleben. Anfangs wurde der Zusammenhalt allein durch die Stärke der Machthaber gewährleistet, die Verstöße gegen die gesetzten Regeln des Zusammenlebens mit Strafen ahndeten. Wenn die Urmenschen in Gruppen durch die Steppen und Wälder streiften, war jeder Schritt lebensgefährlich. Es galt, die eigene Gruppe zusammenzuhalten, um stark zu sein, sich den Gefahren der Umwelt zu stellen. Deswegen durfte die eigene Gruppe nicht geschwächt werden. Gewalttaten nach außen gegen die Feinde waren erlaubt, nicht aber innerhalb der eigenen Gruppe. Wer dagegen verstieß, war schuldig und wurde ausgestoßen oder anderweitig von dem Anführer der Gruppe bestraft. Die erste Unterscheidung zwischen »richtig« und »falsch« war getroffen. (Wie auch heute noch existierte dabei oft die Tendenz, dass sich die Machthaber selbst von den Regeln ausnahmen; sie durften und dürfen, was allen anderen verboten war und ist.) Diese Entwicklung der ersten Gesetze verstärkte sich, als die Menschen sesshaft wurden und größere Gemeinschaften bildeten. Große Ortschaften, später Städte und Reiche bedeuteten mehr Regeln, mehr Gesetze, mehr Sanktionen gegen Verstöße. Was Schuld ist, hat also eine menschheitsgeschichtliche und kulturhistorische Quelle.
Parallel dazu entwickelten sich Vorstellungen, Zuschreibungen und Funktionen der göttlichen Macht. Mächtige Gottheiten drohten mit Strafen oder bestraften Menschen, die sich an anderen vergangen hatten. In den Götterwelten der Vorzeit und des Altertums von den Naturreligionen bis zu den germanischen und römisch-griechischen Götterwelten bestraften oder belohnten die Götter nicht nur die Menschen. Sie luden auch in Beziehungen und im Verhalten untereinander Schuld auf sich und wurden wiederum von anderen Göttern bestraft. Viele der später entstandenen Religionen enthalten das Element einer Bestrafung, wenn Menschen gegen die göttlichen Grundgesetze menschlichen Zusammenlebens verstoßen, bzw. das Element einer Belohnung, wenn sie den Geboten des Glaubens gehorchen (Hölle oder Paradies in Christentum und Islam, das »Wie« der Wiedergeburt im Buddhismus usw.). Hiermit verknüpften sich schon immer Schuldgefühle, wenn Menschen religiöse Gebote nicht einhalten, die Angst vor Bestrafung bzw. die Sehnsucht nach dem Paradies und der Erlösung. Ein anderer Aspekt mancher Religionen besteht darin, dass den Menschen eine Perspektive der Entschuldung eröffnet wird, sei es durch den Opfertod von Christus im Christentum oder durch Annahme des Leidens im Buddhismus. Es gibt keine Religion, in der nicht Schuld und Schuldgefühle eine zentrale Rolle spielen.
Annäherung 2: Schuldgefühle und Mitgefühl
Wenn Kinder aufwachsen, spielen die Vorgaben durch diejenigen, die konkret und im Erleben der Kinder »Machthaber« sind (in den ersten Jahren vor allem die Eltern), eine große Rolle. Deren Regeln und Gesetze, die mit bestimmten, manchmal auch religiös motivierten Wertvorstellungen einhergehen, lassen entstehen, was gemeinhin als »Gewissen« bezeichnet wird. Doch dieses Gewissen entsteht nicht nur durch Vorgaben »von außen«, es beruht auch auf einer inneren Quelle, nämlich der Fähigkeit zum Mitgefühl. Das Mitgefühl wiederum ist mit Schuldgefühlen eng verbunden.
Wir Menschen sind fähig, das Leid (und das Glück) anderer Menschen zu spüren und mit ihnen zu fühlen. Im Gehirn gibt es darauf spezialisierte neuronale Systeme, die Spiegelneuronen. Menschen, die kein Mitgefühl für das Leiden anderer empfinden, können sich auch nicht schuldig fühlen, wenn sie andere verletzen und Leiden verursachen. Schuldgefühle setzen Mitgefühl voraus.
Auf dem Mitgefühl beruht auch das soziale Zusammenleben. Das Mitgefühl ist das emotionale Fundament der Gesellschaft. Ohne Mitgefühl gäbe es keine Liebe, keine Hilfsbereitschaft, keine Solidarität (Baer, Frick-Baer 2008, S. 59). Wenn ein Mensch einen anderen verletzt hat und er dessen Schmerz spürt, dann fühlt er sich schuldig. Das eigene Gewissen als innere Instanz, die bewertet, was schuldhaftes Verhalten ist und was nicht, wird folglich nicht nur durch Vorgaben der gesellschaftlichen und familiären Autoritäten beeinflusst. Es wird auch dadurch geprägt, welche Erfahrungen die Kinder selbst mit Mitgefühl machen. Haben sie selbst Mitgefühl erfahren? Ist es erlaubt, Mitgefühl zu haben und zu zeigen, oder werden Menschen mit Mitgefühl als »Weicheier« oder »zu empfindlich« verspottet? Wird Mitgefühl vorgelebt und unterstützt oder ist es eine Fremdsprache? Erfahren die Kinder Mitgefühl anderer, wenn sie Schmerzen erleiden, oder zielen sie mit ihren Bedürfnissen nach Trost und Hilfe nur ins Leere? Solche Erfahrungen beeinflussen nicht nur die Fähigkeit, mitzufühlen, sondern auch das Verständnis von Schuld und die Schuldgefühle.
Annäherung 3: Schuldgefühle und die Balance
zwischen Geben und Nehmen
Für eine weitere Annäherung an die Quellen von Schuldgefühlen brauchen wir nicht in die Menschheitsgeschichte zurückzugehen. Es reicht ein Blick in den Alltag. Ein Freund gibt jemandem einen Tipp, dass er sich für eine neue Stelle bewerben könne. Dies hat Erfolg und er sagt dankbar: »Dafür hast du noch etwas gut bei mir.« Oder: »Dafür bin ich dir noch etwas schuldig.« Oder: Jemand schickt einer Bekannten ein Weihnachtspräsent und ärgert sich, dass er keinen Dank erhält: »Das wäre sie mir doch schuldig gewesen.« Oder jemand erhält von einer Kollegin ein Geschenk zum Geburtstag und fühlt sich schuldig, dass er deren Geburtstag vergessen hat. Jemandem etwas schuldig zu sein begegnet uns häufig in unterschiedlichsten Qualitäten in den alltäglichen Begegnungen mit anderen Menschen.
Diese Art von »Schuldig«-Fühlen entspringt einer anderen Quelle als aus dem Wissen, gegen ein Gesetz oder Gebot verstoßen zu haben und sich schuldig zu fühlen. Offenbar gehört zu den Regeln menschlichen Zusammenlebens die Tendenz, zwischen Geben und Nehmen eine Balance finden zu wollen. Wird dies jedoch krampfhaft und zwanghaft versucht, leiden Menschen, und ihre Beziehungen können daran zugrunde gehen. Es muss auch möglich sein, ein Geschenk anzunehmen, ohne gleich eine gleichwertige Gegenleistung zu erbringen. Steht jedoch nur das Nehmen im Vordergrund, wird der Betreffende zum Egoisten: Freundschaften und Liebe lassen sich so kaum ausleben – außer man verwechselt sie mit Beherrschung und Unterwürfigkeit des anderen.
Schuldgefühle können also empfundenen Störungen in der Balance des Gebens und Nehmens entspringen. Sie sind oft verknüpft mit einem als angenehm empfundenen Gefühl, jemandem für etwas dankbar zu sein, manchmal aber auch mit Gefühlen der Verzweiflung. Wer meint, durch größeres Geben als Nehmen sich Zuneigung, Nähe und Liebe erkaufen zu können, oder erfahren hat, dass es nicht anders geht, wird bereits in tiefen Schuldgefühlen versinken, wenn er nur einmal einen Geburtstag vergessen hat. Er wird kein Maß haben für das eigene Schuldempfinden bzw. für ein Verhalten, das der Situation und seinem »Fehler« eigentlich angemessen wäre. Er wird darunter leiden.
Annäherung 4: Schuldgefühle und Scham
»Schäm dich, dass ich deinen Geburtstag vergessen habe.« Diesen absurd anmutenden und skurrilen Satz haben wir so oder so ähnlich einmal auf einer Postkarte gelesen. In ihm sind zwei Körnchen Wahrheiten gut versteckt: zum einen, dass Scham- und Schuldgefühle eng miteinander verknüpft sind. Denn von der Aussage und der Gewissheit: »Du hast etwas falsch gemacht. Du bist schuldig.«, ist es ein kurzer Weg zum: »Schäm dich!« – und umgekehrt. Dem Wesen von Schamgefühlen – der natürlichen Scham, der existenziellen Scham und der Beschämung – und dem Zusammenhang von Scham- und Schuldgefühlen haben wir uns in unserem Buch »Vom Schämen und Beschämtwerden« in der Reihe der Bibliothek der Gefühle gewidmet. Hier mag dieser Hinweis genügen. Wir sind sicher, dass Sie alle sie kennen, diese Verwandtschaft von Schuld und Scham: Schuld zeigt man nicht gern in der Öffentlichkeit, sondern versucht, sie schamhaft zu verstecken.
Zum anderen offenbart dieser Spruch auf augenzwinkernde Art eine sehr schwerwiegende Tatsache: Manche Menschen, die Schuld auf sich geladen haben (Täter/innen, die z. B. andere missbraucht oder verleumdet haben), sind in Verdrehung der Wirklichkeit und Verantwortlichkeit dazu fähig, die Schuld auf ihr Opfer abzuladen und an dessen Schuld- und Schamgefühle zu appellieren und zu binden. »Ich bin schuldig. Ich schäme mich und übernehme die Verantwortung«, wird mitleidslos ersetzt durch: »Du bist schuldig. Schäm dich.«
Ob nun die Scham eine Quelle des Schuldgefühls oder Schuld eine Quelle des Schamgefühls ist – das zu beurteilen obliegt der Betrachtung eines Einzelfalls. Diesen ganzen Komplex der Schuld- und Schamgefühle zu entwirren, ihn in seiner Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte ernst zu nehmen ist oftmals hochnotwendig. Das gilt besonders in der Arbeit mit traumatisierten Menschen, die sich ihres Opferseins schämen und dafür schuldig fühlen, worauf wir noch zurückkommen werden.
Annäherung 5: Schuldgefühle und Ekel
Anknüpfend an den Zusammenhang von Schuld- und Schamgefühlen wollen wir hier noch einen anderen Faden aufnehmen, der in das komplizierte Gespinst der Schuldgefühle eingewoben ist. Leicht übersehen wird die Verbindung von Schuldgefühlen mit Ekel. Ekel ist eine körperliche Reaktion, mit der Menschen etwas ausscheiden oder abwehren wollen, was unbekömmlich ist. Ekel ist gleichzeitig ein Gefühl, in dem sich ebenfalls starker Widerwille äußert (und in dem Menschen oft gefangen bleiben). Ekel ist sowohl als Körperreaktion als auch als Gefühl äußerst unbeliebt. Wir Menschen verwenden meist viel (unbewusste) Kraft darauf, ihn nicht zu spüren. Dass manche Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, sich vor sich selbst ekeln, ist nachvollziehbar und, wie wir finden, oft folgerichtig, ebenso, dass Menschen, an denen andere schuldig geworden sind, sich vor diesen anderen ekeln. Oft aber finden wir Ekel, verbunden mit Schuldgefühlen, bei traumatisierten Menschen, die sich, bezogen auf die traumatisierende Situation, nichts haben zuschulden kommen lassen.
Eine wichtige Erklärung dafür liefert der Heidelberger Psychiater und Philosoph Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs (Fuchs 2002). Er beschreibt, dass manchmal vergangene Erfahrungen eines Menschen nicht als Teil eines Prozesses abgeschlossen sind und in der Gegenwart nachhallen, sondern erstarren, einfrieren, »verdinglichen«, zu einem Ding werden, das wie ein Fremdkörper im Erleben eines Menschen wirkt. Das können schwere Verluste, traumatische Erfahrungen und andere nachhaltige Verletzungen sein. Diese verhärtete Erfahrung tritt an die Stelle lebendigen Lebens, dieser Fremdkörper kann Schuld- und Ekelgefühle hervorrufen. Ekel fühlen die Menschen, weil sie diese verhärtete Erfahrung als fremdartigen Eindringling in ihre Lebendigkeit empfinden und sie voller Widerwillen loswerden wollen. Schuldig fühlen sie sich, weil sie sich verantwortlich dafür fühlen, diesen Eindringling nicht abgewehrt zu haben, ihn in sich zuzulassen und nicht fähig zu sein, ihn loszuwerden.
Sehr häufig sind wir, wenn wir uns gemeinsam mit den Klient/innen mit deren Schuldgefühlen beschäftigt haben, Ekelgefühlen begegnet. Und noch häufiger machten wir die umgekehrte Erfahrung: Wenn Klient/innen den Spuren ihrer Ekelgefühle nachgingen, begegneten sie oft tiefen Schuldgefühlen. Oft war den Menschen, die Übelkeit und Ekel empfanden, vorher nicht klar, worauf sich ihr Widerwille bezog.
Annäherung 6: Schuldgefühle und persönliche
Katastrophen
Eine weitere Quelle von Schuldgefühlen kann unerklärlichen und bedrohlichen Ereignissen entspringen.
Eine Stadt wird von einem Erdbeben vernichtet – das muss die Strafe dafür sein, dass ihre Bewohner gesündigt haben. Ein Kind erfährt, dass sich die Eltern trennen, und kann es sich nicht erklären – dass muss die Strafe dafür sein, dass es zu frech war oder sein Zimmer nicht aufgeräumt hat oder »überhaupt« auf der Welt ist. Eine Zwillingsschwester ist an unheilbarem Krebs erkrankt und stirbt; die überlebende Schwester, die sie intensiv begleitet und gepflegt hat, gönnt sich jedoch ausgerechnet in dem Moment eine kleine Pause im Café des Krankenhauses, als die Erkrankte stirbt – die überlebende Schwester fühlt sich schuldig, ihren Tod verursacht zu haben, weil sie sich nicht genug gekümmert habe.
Wenn Menschen etwas widerfährt, was nicht in ihr Weltbild einzufügen ist, was sie sich nicht erklären können und was gleichzeitig bedrohlich und schmerzhaft für sie ist, suchen sie nach Ursachen. Manchmal finden sie Ursachen in der Schuld anderer, zumeist in ihrer eigenen Schuldhaftigkeit. Die Folge ist, dass Schuldgefühle sie lange und schmerzend begleiten. Das Unerklärliche, Unfassbare und Bedrohliche bewegen Menschen manchmal dazu, neue Erklärungszusammenhänge zu konstruieren, die oft Schuldgefühle zur Folge haben.
Annäherung 7: Schuldgefühle und Schuld