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© 2010 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Umschlaggestaltung: Schneider. Visuelle Kommunikation, Frankfurt a. M.
unter Verwendung einer Zeichnung von © Klaus Schneider
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22468-2
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung: I’m so lonely, that I could cry |
1 |
Drei Menschen, drei Leiden |
2 |
Vom Alleinsein und vom Einsamfühlen |
3 |
Einsamkeit macht krank und Krankheit kann einsam machen |
4 |
Mehr von dem, was nicht hilft? |
5 |
Quellen der Einsamkeit |
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Im Gefängnis |
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Ohne Spiegel |
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Vom Verlorensein und Verlorenhaben |
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Beziehungsschatten und Beziehungswunden |
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Trauma, Misstrauen, Scham und Schuld |
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Verrat und Leere |
6 |
Die fünf Einsamkeiten |
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Die Kontakteinsamkeit |
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Die Freundschaftseinsamkeit |
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Die Intimitätseinsamkeit |
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Die Herzenseinsamkeit |
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Die Bindungseinsamkeit |
7 |
Und das Alleinsein als Glück? |
8 |
Was hilft? |
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Achtsamkeit und Innehalten |
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Liebe beginnt bei einer Tasse Espresso |
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Bewerten und weich bleiben |
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Die Kränkung ernst nehmen – die Notwendigkeit des Misstrauens |
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Abschied nehmen – die kleine Drehung |
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Über das Fühlen zum herzhaften Handeln |
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Bindung erwächst aus Verbindungen |
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Schauen – Tönen – Hören – Greifen |
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Nährende Gegenüber und Spiegel suchen: Wer bin ich? |
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Die Leichtigkeit und das Spielen |
9 |
Sich zumuten |
Literaturverzeichnis |
Danksagung |
Zu dieser Buchreihe |
Vorbemerkung:
I’m so lonely, that I could cry
»I’m so lonely, that I could cry«, singt der Country- und Folksänger Hank Williams. Diesen Schrei des Leidens an der Einsamkeit hören wir in unserer therapeutischen Arbeit häufig, was auf den ersten Blick verwundern mag, ist heute doch ständig »Party« angesagt oder werden immer irgendwelche »Events« angekündigt, wo »man« sich trifft und mit anderen zusammen sein kann. Zudem sind alle mit allen verbunden und über Handy und E-Mail, SMS und Twitter auch ständig erreichbar. Viele andere wiederum gehören wenigstens irgendwelchen Gemeinschaften an, vom Fußballclub bis zu den Freunden der Hamburger Oper, von der Kirchengemeinde bis zur Jugendgang, und können auch hier jederzeit Gesellschaft finden. Darüber hinaus kann sich jede und jeder über jede und jeden im Internet erkundigen und jede/r kann sich der Öffentlichkeit dort präsentieren.
Und doch ist die Zahl derjenigen, die sich einsam fühlen und die an diesen Gefühlen leiden, offensichtlich groß oder nimmt sogar zu – vielleicht gerade trotz dieser – auch von den Medien und der Werbung propagierten – zahlreichen Treffpunkte und Verbindungsmöglichkeiten oder sogar gerade wegen der ständig beschworenen Kommunikationsmöglichkeiten mit anderen bzw. als parallele Entwicklung zur ständigen Erreichbarkeit. Könnte es nicht sein, dass die Zunahme der Einsamkeit und die Vertiefung des Leidens genau damit einhergehen, dass wir scheinbar nie allein sind? Und deshalb »selber schuld« sind, wenn wir uns trotz aller Versprechungen und Verheißungen der Mediengesellschaft einsam fühlen? Diese und andere Fragen sind für uns Anlass gewesen, uns mit den Einsamkeitsgefühlen genauer zu beschäftigen.
Bei genauerem Hinsehen und der Untersuchung der Einsamkeitsgefühle haben wir einige Entdeckungen gemacht und Einsichten gewonnen, von denen Ihnen manche ganz selbstverständlich und vertraut vorkommen werden, aber auch solche, die Sie überraschen werden. Für unsere Betrachtungen grundlegend ist die Einsicht, dass Einsamkeit und ein Leben alleine, zum Beispiel als Single, nicht gleichzusetzen sind. Es gibt eine tiefe Einsamkeit, unter der allein lebende Menschen leiden können (nicht müssen), aber auch Menschen mit vielen sozialen Kontakten und in scheinbar oder auch wirklich glücklichen Paarbeziehungen. Diese Einsamkeit nennen wir Herzenseinsamkeit. Sie ist von den fünf Einsamkeiten, die wir Ihnen vorstellen wollen, die wichtigste.
Erwarten Sie von uns keine einfachen Rezepte. Wege aus der Einsamkeit sind nicht einfach.
Wenn wir Menschen im therapeutischen Zusammenhang begegnen, die sich unglücklich einsam fühlen, dann üben wir uns in Zurückhaltung, um nicht die tausend Tipps und Ratschläge: »Lass doch dieses«, oder: »Unternimm doch jenes«, die diese Menschen schon gehört haben, zu wiederholen oder ihnen weitere hinzuzufügen. Manchmal ergeben sich solche Vorschläge und Anregungen aus der weiteren Arbeit der Begegnung mit dem Thema, doch am Anfang sind sie unnütz. Denn wir haben mit Menschen zu tun, die schon viele solcher Tipps und Ratschläge versucht haben zu befolgen – allerdings vergeblich. Es sind Menschen, die sich in ihrer Einsamkeit gefangen fühlen und die ihre Einsamkeit wie ein Gefängnis erleben. Manche haben schon fast resigniert und versuchen, sich mehr schlecht als recht zu arrangieren. Doch bei fast allen findet sich unter der Asche der Resignation eine Glut, die Sehnsucht heißt. In ihnen schlummert die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Wir unterstützen alles, was Menschen hilft, diese Glut wieder anzufachen und deren Kraft und Energie zu nutzen, um aus ihrer Einsamkeit herauszukommen.
Doch um die Kraft der Glut zu nutzen, muss man sie erst einmal finden. Der Weg zur Glut führt durch die Asche, durch biografische Erfahrungen, Kränkungen, Verlorensein, Störungen und Verletzungen, die in die Einsamkeit geführt haben und die jeweiligen individuellen Besonderheiten der Einsamkeitsgefühle prägen. Nur wer den Weg kennt, der in die Einsamkeit geführt hat, wird aus ihr – individuell passend und nachhaltig – wieder herausfinden.
Wir werden uns deswegen auf die Spurensuche begeben, auf die Suche nach den Pfaden, die in die Einsamkeit geführt haben und Menschen im Gefängnis der Einsamkeit festhalten. Diese Suche kann für alle Beteiligten so spannend wie ein guter Kriminalroman sein. Auf ihr werden wir falschen Fährten, Irrwegen und Umwegen begegnen. Und wir werden erfahren, dass das bloße Wissen um die Quellen der Einsamkeit nicht ausreicht, um aus ihr herauszufinden; dass Gefängnisse, so paradox es sich anhören und anfühlen mag, eben auch Sicherheit, Schutz und Geborgenheit bieten können und der Weg hinaus besonderer, oftmals unorthodoxer Mühen bedarf und für viele Menschen eine Herausforderung darstellt.
Wir werden Ihnen in diesem Buch drei Menschen vorstellen, ihr Leiden an der Einsamkeit und ihre Versuche, die Einsamkeit zu bewältigen bzw. aus ihr herauszufinden. Wir werden auf die Spurensuche nach den Quellen ihrer jeweiligen Einsamkeit gehen und betrachten, was diesen Menschen geholfen hat, ihr persönliches Gefängnis der Einsamkeit zu verlassen. Aber wir werden darüber hinaus auch Geschichten und Beispiele anderer Menschen anführen, um bestimmte Zusammenhänge und Einsichten zu illustrieren.
Sicherlich werden Sie diese Geschichten und Erfahrungen nicht eins zu eins für sich umsetzen und mit sich in Einklang bringen können, aber wir hoffen, dass Sie sich in dem einen oder anderen Aspekt wiedererkennen und Unterstützung für Ihren individuellen Weg aus Gefühlen der Einsamkeit finden können. Denjenigen Menschen unter Ihnen, die professionell therapeutisch oder auf andere Weise unterstützend mit Menschen arbeiten, hoffen wir Hinweise und Anregung geben zu können, wie Sie Klient/innen und Patient/innen mit Einsamkeitsgefühlen helfen können.
1 Drei Menschen, drei Leiden
Einsamkeit hat viele Gesichter. Einsamkeit versteckt sich oft. Einsamkeit begegnen wir auch bei Menschen, von denen wir dies nicht erwartet haben. Zum Beispiel bei Frederik B.
Frederik B.
Frederik B. ist 41 Jahre alt, seit 16 Jahren verheiratet, und hat zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Er ist Versicherungsangestellter, verfügt über ein Einkommen, mit dem er zufrieden ist, ein Haus, das regelmäßig abgezahlt wird, eine Lebensversicherung – alles scheint gut. Er liebt seine Frau und pflegt seinen Freundeskreis, er trifft sich mit anderen vor allem im Rahmen des Tennisclubs, in dem er seinen sportlichen Interessen nachgeht.
Ein Freund sprach ihn nach einem Tennismatch darauf an, dass er oft so traurig aussehe, so verloren ins Leere schaue, als hätte er große Sorgen. »Sorgen? Nein, natürlich nicht«, antwortete er, »ganz bestimmt nicht.« Da war er sich sicher. Und doch beschäftigte ihn diese Rückmeldung, und er brachte sie damit in Verbindung, dass er oft nachts schlecht schlafen konnte und dann über den Sinn seines Lebens nachdachte. Er war zufrieden, und dennoch fehlte ihm etwas, aber was genau, das wusste er nicht. Er suchte Hilfe in Büchern, er wollte seiner Unruhe auf die Spur kommen und suchte therapeutische Hilfe. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber ich möchte das herausbekommen.«
Die Therapeutin bat ihn, ein Musikinstrument zu wählen und zu spielen, was ihm jetzt gerade in den Sinn kam, vielleicht seine Unruhe, vielleicht das, was jetzt gerade wichtig sei. Er griff zum Monochord, einem großen Instrument mit vielen Saiten, die alle auf nur einen Ton gestimmt sind, und begann Klänge zu erzeugen. Erst unruhige, hektische Klänge, dann immer leisere, immer zartere. Schließlich griff er mit nur einem Finger eine einzelne Saite, ließ einen Ton erklingen und so lange nachhallen, bis sich der Ton verlor. Nach einigen Wiederholungen dieses Tons hörte er auf und seufzte.
Die Therapeutin fragte: »Wie geht es Ihnen?«
»Ich war erst unruhig und dann merkte ich, dass ich mich einsam fühle, ganz tief einsam. Und das verstehe ich nicht, weil ich ja alles habe. Ich bin mit meiner Frau, meiner Familie, meinen Freunden zusammen. Ich habe ja alles.«
Frederik B. war überrascht, seiner tiefen inneren Einsamkeit zu begegnen, die sich vorher in seiner Unruhe verborgen und manchmal in seinem kummervollen Gesichtsausdruck gezeigt hatte.
Nadine K.
Auch für Nadine K. war Einsamkeit kein Thema. Ihr Hausarzt hatte ihr geraten, wegen ihrer Herzrhythmusstörungen zum Therapeuten zu gehen.
»Da ist organisch nichts dran zu machen, deswegen hat er gemeint, ich sollte mal ein bisschen auf meine Psyche gucken. Ich glaube zwar nicht, dass dabei etwas rauskommt, aber schaden kann das ja nicht.« So führte sie sich in der ersten Therapiestunde ein.
Nadine K. ist Berufsschullehrerin und war, als sie die Therapie begann, 48 Jahre alt; sie wohnt in einer Großstadt. »Ich lebe allein, Gott sei Dank, und kommen Sie mir ja nicht mit der mitleidigen Single-Tour, ich bin total zufrieden, ich will da nichts dran ändern. Ich habe es zweimal mit ’nem Partner versucht und habe davon die Nase voll.«
Sie hat einen festen Kreis vor allem von Freundinnen, mit denen sie sich regelmäßig trifft, meist an den Wochenenden. Sie gehen gemeinsam aus, wobei Nadine K. oft als »Stimmungskanone« und »Hansdampf«, wie sie es selber bezeichnet, auftritt. Alle zwei Jahre macht sie eine größere Bildungsreise, »auch um neue Leute kennenzulernen, nette Leute sind da, interessante Leute«, und im Wechsel damit geht sie mit zwei Freundinnen in Fernurlaub, auf Entdeckungsreisen. Sie arbeitet an der Berufsschule unter zahlreichen Männern, mit vielen Jungs in einem technischen Fach, das von Männern dominiert ist. Und sie suchte sich einen männlichen Therapeuten.
In den ersten drei Therapiestunden erzählt sie viel von sich, aus ihrem Leben und von ihren größeren und kleineren alltäglichen Erfolgen und Problemen. Der Therapeut wundert sich, warum sie bei ihm ist, sie wirkt ausgeglichen, lebenslustig und zufrieden. Schließlich lenkt er behutsam das Gespräch wieder auf die Herzrhythmusprobleme, die sie zu ihm geführt haben. Zuvor war er mehrmals mit diesem Versuch gescheitert, zu viel sprudelte aus ihr heraus. Schließlich meint sie: »Ja, ja, deswegen bin ich ja eigentlich hier. Aber Sie haben mich wahrscheinlich durchschaut, ich schleiche um das Thema herum wie die Katze um einen heißen Brei. Irgendwie hätte ich das am liebsten gar nicht, weder die Herzrhythmusstörungen noch überhaupt die ganze Beschäftigung damit. Aber wir können es ja mal versuchen.«
Er schlägt ihr vor, den Rhythmus ihres Herzens musikalisch auf einer Trommel oder auf einem anderen Instrument erklingen zu lassen, aber das will sie nicht. »Mit Musik habe ich es nicht so.« Also bittet er sie, auf ein großes Blatt Papier mit Stiften den Rhythmus ihres Herzens, vielleicht einschließlich der Störungen, zu malen. Sie greift zu einem schwarzen Stift und malt eine Kurve mit gleichmäßigen Zacken, plötzlich unterbrochen durch den Ausschlag kräftiger Zacken nach oben und unten, die dann nach zwei, drei Ausschlägen wieder gleichmäßig werden, bis schließlich erneut ein heftiger Ausschlag kommt. Die Kurve ähnelt dem Diagramm eines EKGs.
»Ja, so ist es«, meint sie, »zumindest stelle ich mir das so vor mit den Herzrhythmusstörungen.«
Der Therapeut fragt nach, wie sie ihre Herzrhythmusstörungen spüre, und sie antwortet: »Ja, ich werde dann oft so fahrig, so aufgeregt, aber ob das dann jeweils auftritt, wenn die Rhythmusstörungen stärker sind oder nicht, das weiß ich nicht. Bei einem Langzeit-EKG kam mir das so vor, dass ich dann so fahrig und unruhig werde und mich irgendwie so daneben fühle.«
Der Therapeut erkundigt sich weiter danach, wann das in ihrem Leben denn auftrete oder besonders auftrete oder zum letzten Mal aufgetreten sei, dass sie sich so daneben und fahrig und unruhig fühle. Sie überlegt und ihr fällt erst nichts ein, doch dann sagt sie: »Ja genau, jetzt weiß ich es wieder, am vorletzten Wochenende, da hatte ich einen Termin, da war ich verabredet, um in ein Konzert zu gehen und danach noch einen Absacker zu nehmen. Aber meine Freundin sagte ab und keiner hatte sonst Zeit und alleine wollte ich da nicht hin, weil ich auf solchen Veranstaltungen so schlecht allein sein kann. Also blieb ich zu Hause und wollte mir einen ruhigen Abend machen und da war ich so fahrig, denn ich kann so schlecht allein sein.«
»Wenn Sie so schlecht allein sein können, was passiert da?«, fragt der Therapeut.
»Ja, das war schon immer so bei mir, oder zumindest solange ich denken kann. Ich werde dann so zappelig und weiß nicht, wohin mit mir, und telefoniere herum und versuche andere anzumailen, aber irgendwie hilft das nicht. Ich werde total zappelig.«
»Wie fühlen Sie sich dann?«
Sie kann diese Frage nicht beantworten, das Gefühl hat sich offensichtlich vor ihr versteckt.
Der Therapeut bittet sie, ihr »Zappeln« zu malen, und es entsteht ein sehr chaotisches Bild mit Rot und Schwarz und Gelb und Grün, in wirren Linien durcheinandergehend, vielfarbig, ein Bild, an dem sich der Blick kaum festhalten kann.
»Ja, so ist das dann in mir. Ich gehe da richtig verloren, irgendwie weiß ich dann nicht mehr, wer ich bin und wo ich hingehöre.«
»Wo gehören Sie sonst hin, wenn Sie nicht so unruhig sind?«
»Ich gehöre zu meinen Freunden, vor allem zu meinen Freundinnen, da gehöre ich hin und da fühle ich mich sicher. Wenn die nicht da sind, geht es bergab.«
Der Therapeut bittet sie, das Bild umzudrehen und die Rückseite des Bildes zu bemalen. Sie sitzt erst lange vor dem leeren Blatt, bis sie bemerkt, dass sie ungefähr in der Mitte des Blattes beim Malen des Unruhebildes durch den Druck der Stifte eine kleine Einkerbung hat entstehen lassen. Sie greift zu einem grauen Farbstift und malt um diese Einkerbung herum einen Kreis. Dann sitzt sie wieder lange nachdenklich davor und meint schließlich:
»Mehr passt da nicht rein. Mehr fällt mir nicht ein, was auf dieses Bild gehört, da ist nur ein Punkt und das bin nur ich.«
»Wie fühlt sich der Punkt? Wie fühlen Sie sich jetzt?«
»Einsam.«
Auch hier verbarg sich die Einsamkeit hinter manch anderem, auch hier war es für die Klientin eine Überraschung, ihrem Gefühl der Einsamkeit zu begegnen und es als Einsamkeit zu benennen. Das bedeutete nicht, dass sich Nadine K. etwas vorgemacht hätte oder dass ihre Zufriedenheit und Zugehörigkeitsgefühle zu den Freundinnen und Freunden eine Täuschung gewesen wäre.
Nein, diese Zufriedenheit existierte und war Teil ihres Lebens und Erlebens; aber da war ein Gefühl von Einsamkeit, das unterhalb dieser Zugehörigkeit und Zufriedenheit lag.
Tara S.
Bei der dritten Person, die wir Ihnen vorstellen wollen, Tara S., war das Leiden an der Einsamkeit offenkundig. Sie kam in die Therapie und sagte: »Ich fühle mich so einsam und ich will da raus.« Sie war 25 Jahre alt und arbeitete als selbstständige Friseurin. Nach mehreren kurzfristigen Anstellungen in diversen Friseursalons hatte sie sich selbstständig gemacht und ging zu einem festen Kund/innenkreis in die Wohnung und frisierte dort. Dank ihres Könnens wuchs ihr Kund/innenkreis stetig: »Am wichtigsten ist mir, dass ich mein eigener Herr bin und mir von niemandem etwas vorschreiben lassen muss.«
Tara S. war wegen ihrer Essstörung (Bulimie) im Alter von 16 Jahren in therapeutische Behandlung gekommen und hatte dann immer wieder bei wechselnden Therapeutinnen und Therapeuten einzelne, meist kurzfristige therapeutische Hilfe gesucht.
»Heute komme ich mit der Essstörung gut klar, ich mache viel Sport, laufe viel und bin oft im Fitnessstudio, aber so will ich nicht weiterleben. So will ich nicht mein Leben verbringen, so alleine. Deswegen bin ich hier.«
Die Therapeutin bat sie, auf ein großes Blatt Papier ihr Planetensystem zu malen, sich selbst als Sonne und die Menschen, mit denen sie häufig und regelmäßig Kontakt habe und in naher Verbindung stehe, als Planeten drum herum.
Tara S. begann zu malen und malte sieben Planeten in unterschiedlichen Farben und unterschiedlicher Größe. Sie erzählte dabei, wer welche Person sei und was sie jeweils mit ihr zu tun habe. Dann meinte sie: »Fertig. Huch, das sind ja viel mehr, als ich dachte. Prima.«
Die Therapeutin fragte: »Und wo sind Sie?«
Tara S. erschrak. Sich selbst hatte sie vergessen. Die Planeten kreisten um einen Mittelpunkt, aber dieser Mittelpunkt war gar nicht auf dem Bild. Er war unsichtbar, er war verschwunden. Die Klientin wurde blass und sagte traurig: »Ja, so ist es oft. Ich habe mit anderen ganz guten Kontakt und gehe auch gerne mal feiern, aber irgendwie verliere ich mich dabei und fühle mich manchmal so allein, als wäre ich gar nicht da.«
Alle drei Menschen, die wir Ihnen hier vorstellen, leiden unter Einsamkeit, doch bei jedem dieser Menschen hat die Einsamkeit ein anderes Gesicht, steht in einem anderen Zusammenhang, hat eine andere Bedeutung. Dieser jeweiligen Qualität der Einsamkeit, dieser individuellen Bedeutung wollen wir auf die Spur kommen. Schauen wir als Erstes auf das, was den drei Klient/innen gemeinsam ist.
2 Vom Alleinsein und
vom Einsamfühlen
Alle drei Menschen, die wir Ihnen vorgestellt haben, haben sich einsam gefühlt, ohne, was ihre sozialen Kontakte betrifft, wirklich einsam und allein zu sein. Die Worte »allein« und »einsam« werden in der deutschen Sprache gewöhnlich doppeldeutig verwandt. Sie bezeichnen sowohl ein Allein- bzw. Einsamsein, also einen Zustand, als auch das Gefühl des Alleinseins bzw. der Einsamkeit. Im etymologischen Wörterbuch steht denn auch unter dem Stichwort »einsam« über seine heutige Bedeutung sowohl »für sich allein« als auch »verlassen« (Kluge 1999, S. 212).
Wenn Sie sich fragen, was Sie mit dem Wort »einsam« und mit dem Wort »allein« verbinden, werden Sie vielleicht der Meinung sein, das beides letztlich doch ein und dasselbe sei; oder Sie stellen fest, dass beides sich unterscheidet. Tatsache ist, dass jeder Mensch aufgrund seiner individuellen Erfahrungen mit »einsam« und »allein« andere emotional besetzte Erinnerungen und Bezüge verbindet. Worte wie »allein« oder »einsam« entziehen sich allgemeinen Definitionen, sie sind individuell gestimmt.