Über den Autor
Jesper Juul, 1948 in Dänemark geboren, ist Lehrer, Gruppen- und Familientherapeut, Konfliktberater und Buchautor. Er war bis 2004 Leiter des »Kempler Institute of Scandinavia«, das er 1979 gründete. Mit 16 Jahren fuhr er zur See, jobbte später als Bauarbeiter, Tellerwäscher und Barkeeper. 1972 schloss er sein Studium der Geschichte, Religionspädagogik und europäischen Geistesgeschichte ab. Statt die Lehrerlaufbahn einzuschlagen, nahm er eine Stelle als Heimerzieher und später als Sozialarbeiter an und bildete sich in Holland und den USA bei Walter Kempler zum Familientherapeuten weiter. Seit Anfang der 1990er-Jahre arbeitet er in Kroatien mit Flüchtlingsfamilien. Er lebt abwechselnd in Kroatien und in Dänemark. Heute leitet er das familylab, das mit Elternkursen und Schulungen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und acht weiteren Ländern aktiv ist. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt.
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich:
ISBN 978-3-407-85970-9
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© 2012 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Lektorat: Claus Koch
Umschlaggestaltung: Nancy Püschel
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22369-2
Kinder im »Staatsbesitz«?
In den vergangenen dreißig Jahren ist die Zahl der Krippen für Kinder im Alter zwischen einem und drei Jahren rasant angestiegen. Allerdings unterscheiden sich von Land zu Land die absoluten Zahlen sowie die Qualität der Betreuungseinrichtungen erheblich.
Um es gleich vorab zu sagen: Kinderkrippen wurden geschaffen, um die Bedürfnisse von Familien zu erfüllen, in denen beide Elternteile arbeiten wollen oder müssen, und sie dienen zugleich dem wachsenden Bedarf der Gesellschaft und der Wirtschaft an Erwerbstätigen. Sie wurden nicht eingerichtet, um die Bedürfnisse der Kinder zu erfüllen. Dennoch ist es vielen Ländern gelungen, die Qualität dieser Institutionen so weiterzuentwickeln, dass sie den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder Rechnung tragen. Man sollte auch nicht vergessen, dass etwa zehn Prozent aller Kinder, die Krippen und Kindergärten besuchen, von diesen Institutionen allein deshalb profitieren − und vielleicht auch eine etwas glücklichere Kindheit haben –, weil ihnen auf diese Weise ermöglicht wird, bis zu zehn Stunden unter der Woche von ihren dysfunktionalen Familien getrennt zu sein.
Politisches Ziel der EU und anderer politischer Organisationen wie etwa der OECD ist es heute, so viele Kinder im Alter von 1 bis 6 Jahren wie möglich in Tageseinrichtungen unterzubringen, was für mich eher einer Zwangsmaßnahme gleichkommt und mit demokratischen Gepflogenheiten nichts zu tun hat. Die Argumentation ist eindeutig, die Absicht leicht zu durchschauen: Es geht um das politische Interesse des jeweiligen Landes, ökonomisch mit anderen Ländern Schritt zu halten und konkurrieren zu können. Weshalb es notwendig ist, dass Eltern bereits kurze Zeit nach der Geburt wieder produktiv arbeiten können und wir deshalb die Kinderbetreuung am besten gleich in eine fünfjährige Vorschulzeit umwandeln. Das erinnert sehr an die Zeit der frühen Industrialisierung, als die Fabrikbesitzer von einer direkten Verknüpfung zwischen Mensch und Maschine geträumt haben. Kinder werden zu Investitionsobjekten, und wie bei jeder beliebigen Investition muss auch diese für den Investor profitabel sein! Die »Empfehlungen« der EU sind natürlich schöner verpackt und präsentieren sich in einer ganz anderen Sprache, aber die Zielvorgabe ist glasklar.
Das wirft eine wichtige Frage auf: Gehören die Kinder dem Staat oder ihren Eltern? Natürlich gehören sie niemandem, nur sich selbst, aber wen interessiert das schon! Es bleibt abzuwarten, ob es den Politikern gelingt, die Eltern davon zu überzeugen, sich diesem Industrialisierungsmodell anzupassen. Unsere historischen Erfahrungen mit Kindern in »Staatsbesitz«, die in ideologisch fundierten, pädagogisch konformen Tageseinrichtungen großgezogen wurden, sind nicht gerade vielversprechend – um nicht zu sagen beängstigend. Wie zum Beispiel die Einrichtungen in der ehemaligen Sowjetunion, der DDR oder das Konzept der israelischen Kibbuzim.