Udo Baer, Gabriele Frick-Baer
Vom Trauern und Loslassen
Bibliothek der Gefühle, Band 5
Besuchen Sie uns im Internet: www.beltz.de
© 2008 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Lektorat: Andreas Baer
Umschlaggestaltung: Schneider. Visuelle Kommunikation, Frankfurt
unter Verwendung eines Fotos von © Klaus Schneider
ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22447-7
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Wir danken Eva Maria Brettschneider, Käthe Frick und Andreas Baer für ihre Rückmeldungen und Anregungen zum Text sowie dem bewährten Team Susanne Wolters und Sabine Bremer für die Schreibarbeiten. Herzlichen Dank auch all den genannten und ungenannten Menschen, die uns ihre Geschichten vom Trauern und Loslassen für die Veröffentlichung überlassen haben.
Bitte nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um zu sinnieren, mit welchem Interesse Sie dieses kleine Buch lesen. Auf welche Fragen erhoffen Sie sich Antworten? Mit welchen Erwartungen, Befürchtungen und Wünschen haben Sie es aufgeschlagen?
Vielleicht und hoffentlich finden Sie etwas von dem, was Sie erhoffen: einige Erfahrungen, die Sie teilen, in denen Sie sich wiederfinden, und solche, die Licht in Vergessenes oder Nicht-Beachtetes werfen, die die Perspektive wechseln helfen und Ihr Erleben erweitern; Gedanken, die Sie so schon einmal oder oft gedacht haben, und solche, die Ihnen bisher eher fremd waren und denen Sie nun Bedeutsamkeit geben wollen; Vertrautes und Neues; Einsichten in die Gefühlslandschaft des Trauern und Loslassens; Überraschendes, Anregendes, Tröstliches und Hilfreiches …
Unser menschliches Leben ist vom Loslassen geprägt – auch wenn sich die meisten Menschen in erster Linie mit dem beschäftigen, was sie erreichen wollen. Wir Menschen gewinnen nicht nur – andere Menschen, Kompetenzen, Reife, Erfolg, Fitness, Anerkennung, Liebe, Berührungen, Lebensfreude … – wir verlieren auch. Wir verlieren Freunde und Freundinnen im Kindergarten und wir verlieren Schulkameraden und -kameradinnen; manche Lehrerin und manchen Lehrer lassen wir gern zurück, andere mit Schmerzen oder zumindest Wehmut. Auch später verlieren wir Freunde und Freundinnen, Partner und Partnerinnen durch Tod, Trennung oder einfach, weil die Wege auseinandergehen. Nicht nur Menschen verlieren wir, sondern auch Fähigkeiten, Kenntnisse und Kompetenzen. Die Unbeschwertheit der Kindheit kann ebenso auf der Strecke bleiben wie die Fähigkeit, Querflöte zu spielen. Durch Alter und Krankheit können wir körperliche oder geistige Fähigkeiten verlieren, die uns vorher selbstverständlich schienen. Manche Menschen verlieren Lebensqualitäten, deren Verlust anderen unvorstellbar erscheint, die Fähigkeit, zu lachen oder zu genießen, die Lebensfreude oder die Zuversicht.
Verluste und Abschiede können langsam daherkommen oder einen Menschen plötzlich überfallen. Sie können eher beiläufig registriert werden oder lange Zeit eines Lebens bestimmen. Mancher Abschied wird herbeigesehnt und mit Erleichterung aufgenommen (z.B. von einem ungeliebten Arbeitsplatz), andere Verluste können Menschen in ihren Grundfesten erschüttern. Mögen die Art, die Qualität oder die Situation des Verlustes noch so unterschiedlich von den verschiedenen Menschen bewertet und empfunden werden, eins ist sicher: Das Loslassen kann eine Herausforderung sein, die sich jedem Menschen stellt. Dieses Buch handelt von dieser Herausforderung. Für das selbstverständliche Loslassen oder den Abschied, der herbeigesehnt wird (»Endlich ist die Schule vorbei!«), braucht es keine Bücher.
Das häufigste Gefühl, das den Prozess des Loslassens begleitet, ist das Trauern. Auch andere Gefühle können auftreten: Angst, Erleichterung, Freude, ja Gefühle von Befreiung. Diese Gefühle können von Trauer begleitet werden oder die Trauer überlagern. Der Angst haben wir uns in einem besonderen Band dieser Buchreihe gewidmet (Baer/Frick-Baer 2002). Die anderen, eher positiv erlebten Gefühle machen Menschen keine oder kaum Schwierigkeiten. Problemen sehr unterschiedlicher Art begegnen wir im Alltag und in unseren therapeutischen Erfahrungen beim Trauern und bei der Verbindung von Trauern und Loslassen. Deswegen werden wir uns in diesem Buch dem Trauern und der Verknüpfung von Trauern und Loslassen widmen.
Manche Menschen lassen los, vielleicht in freier Entscheidung, vielleicht gezwungen, und die Trauer folgt dem Loslassen, z.B. nach Trennungen oder dem Tod nahestehender Personen, nach Kündigungen oder Umzügen. Bei anderen Menschen steht das Trauern am Anfang. Sie merken, dass sie traurig werden, und wissen oft nicht, warum. Wenn sie dem nachgehen, wird ihnen deutlich, dass sie vor der Herausforderung stehen, etwas (oder eine Person) loszulassen. Sie lösen sich z.B. innerlich von einem Partner bzw. einer Partnerin oder einer beruflichen Tätigkeit, bevor ihnen bewusst klar ist, dass sie dabei sind, loszulassen. Hier folgt das äußere Loslassen dem inneren. Ein solches Trauern ist schwerer greifbar als das Trauern, das als Reaktion auf einen Verlust einsetzt, und versteckt sich oft hinter Langeweile, Melancholie oder anderen Stimmungen.
Manchmal kann zuerst das Loslassen notwendig sein, um dem Trauern Platz zu machen, das dann wiederum Loslassen und Veränderung im Erleben eines Menschen möglich macht. Das mag auf den ersten Blick befremdlich klingen, deshalb ein Beispiel: Ein Mann kämpfte jahrzehntelang darum, die Anerkennung seines Vaters zu gewinnen. Er versuchte dies über schulische Leistungen und beruflichen Erfolg, auch wenn der Beruf, den er erwählt hatte, nicht seiner Leidenschaft entsprach, sondern den Wünschen seines Vaters. Er mühte sich und mühte sich, bis er schließlich mit seinen Kräften am Ende war und lebensgefährlich krank wurde. Als er die Krankheit überwunden hatte, musste er feststellen, dass er in dem Bemühen um die Anerkennung seines Vaters gescheitert war. Er ließ los und begann zu trauern. Mehrere Wochen lang versank er in tiefer Trauer, schluchzte plötzlich auf, während er Auto fuhr, schlief traurig ein und wachte traurig auf. Er dachte, diese Trauer würde nie wieder enden, er empfand nicht sich als trauernd, sondern die Trauer als etwas, das ihn überfiel, umhüllte und zu verschlingen drohte. Der Mann hatte das Loslassen an der Orientierung am Vorbild des Vaters viele Jahre hinausgezögert, in der unerfüllten Sehnsucht nach liebender Anerkennung. Viele Anzeichen dafür, dass ein Loslassen anstand, wollte er nicht wahrhaben. Nun brach die ungelebte Trauer mit aller Macht über ihn herein. Doch auch für diesen Mann endete die Zeit des Trauerns, und er fand Möglichkeiten, seinen eigenen Weg zu beschreiten und nicht den Weg seines Vaters. Diese Suche war mühevoll und schloss einige Umwege und Irrwege ein, doch sie war weniger anstrengend als der bisherige Versuch, den Weg eines anderen Menschen zu gehen. Die Trauer blieb Teil seiner Gefühlswelt, sie flackerte immer wieder auf, bestimmte aber nicht mehr sein Leben. Er trauerte um die unerfüllte Sehnsucht nach der Anerkennung durch seinen Vater, und er trauerte auch um die Jahre vergeblichen Mühens, die er im Rückblick gern anders gelebt hätte.
Trauern und Loslassen sind eng miteinander verbunden – deshalb widmen wir uns ihnen in diesem Buch gemeinsam. Ihre Verbundenheit zeigt sich in einem komplexen und äußerst facettenreichen Prozess, der sich einfachen, gradlinigen Erklärungen, Vorstellungen und Ratschlägen bezüglich »richtigen« bzw. »falschen« Trauerns und Loslassens entzieht.
Wir wollen versuchen, diese Facetten und Verbindungen nach und nach aufzuspüren und ihnen nachzuspüren, um dann Wege aufzuzeigen und zu eröffnen, die das Loslassen erleichtern helfen und der Trauer und dem Trauern würdig sind. Dabei wollen wir Hinweise geben, von denen wir hoffen, dass sie hilfreich sind. Erhobene Zeigefinger sind uns ein Gräuel. Deshalb werden wir auf Ratschläge und »Sie müssen ...«-Sätze verzichten. Wir erzählen davon, was uns und anderen Menschen geholfen hat, und sind zuversichtlich, dass Sie das, was Ihnen helfen kann, auswählen.
Bevor wir zu dem kommen, was hilft, werden wir das Trauern und Loslassen genauer betrachten. Beginnen werden wir mit einem Blick auf das, worum getrauert wird. Uns ist wichtig, zu realisieren, dass Trauern und Loslassen zum Lebensalltag gehören, dass nicht nur der Verlust von Angehörigen, sondern auch viele alltägliche Ereignisse Trauerprozesse hervorrufen. Danach wollen wir Ihnen Geschichten erzählen, wie getrauert wird. Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Art und Weise, wie Menschen trauern, sind so gewaltig, dass sie uns immer wieder in der Auffassung bekräftigen, dass die individuell eigenen Arten des Loslassens und Trauerns gewürdigt werden müssen. Im Trauern können Menschen feststecken oder auf irgendeine Weise das Loslassen nicht bewältigen. Das ruft Leiden hervor, eigenes und solches der Umgebung. Verschiedene Formen des Feststeckens beschreiben wir und untersuchen dabei gleichzeitig den Trauerprozess, ohne uns mit unzulässig verallgemeinernden und vereinfachenden Phaseneinteilungen zu begnügen. Dabei werden wir immer auch davon berichten, was Menschen, die im und am Trauerprozess leiden, geholfen hat. Darüber hinaus werden wir diese Hinweise zusammenfassen und ergänzen, indem wir in Kapitel 5 beschreiben, »was hilft« bzw. helfen kann.
Unsere Quellen sind die Erfahrungen, die wir in unserem privaten Leben, in unserem familiären und freundschaftlichen Umfeld gemacht haben, sind Lebensgeschichten und Zitate aus der Literatur und vor allem unsere Klientinnen und Klienten, die wir in unserer langjährigen therapeutischen Praxis durch die Lebensphasen des Trauerns und des Loslassens begleiten durften.
Manches geht nicht mehr so wie früher. Der Rücken schmerzt, man wird schneller müde usw. Je älter wir werden, desto alltäglicher die Verlustmeldungen. Die Falten im Gesicht, die mir im Spiegel entgegenspringen, und erst die Augenringe! Und wieder nicht das geschafft, was ich mir vorgenommen hatte! Früher konnte ich die Kiste mit dem Altpapier noch allein tragen, jetzt brauche ich Hilfe oder darf sie nicht mehr so voll machen. Und der Bauch passt nicht mehr in die Hose und in der letzten Woche stand ein junges Mädchen im Bus auf und bot mir ihren Platz an …
Der Körper verkündet die kleinen Abschiede. Unbestechlich. Also wird versucht, ihn zu verstecken: mit Diäten und Fitnessprogrammen, mit neuer Kleidung und Kosmetik. Das mag verdecken, dass wir Menschen allein schon dadurch, dass wir älter werden, von vielem loslassen müssen, doch den Prozess des Abschiednehmens kann es nur scheinbar und zeitweilig aufschieben, nicht stoppen.
Unser Leben ist ein alltägliches Abschiednehmen. Dies zu wissen und zu registrieren ist hilfreich, denn ein wildes Dagegenstemmen kostet oft die Energie, die wir bräuchten, um dort, wo wir können, zuzugreifen und glücklich zu sein. Nichts gegen gesunde Ernährung und Fitness, nichts dagegen, sich mit Kosmetik und Kleidung schön zu gestalten, im Gegenteil. Doch der zwanghafte Kampf gegen alle Erscheinungen des Alterns und gegen das damit verbundene Loslassen bereitet das Feld für immer größere Niederlagen und Enttäuschungen und kann in Verzweiflung münden. Zum Leben gehören nicht nur die großen Abschiede durch Tod, Trennung und andere dramatische Verluste. Ein Teil des Lebens sind auch die kleinen Abschiede, das alltägliche Loslassen und das daraus resultierende Trauern.
Wenn Menschen älter werden, gilt es oft, auch von Lebensplänen Abschied zu nehmen, von der großen Amerikareise, vom Haus in Südfrankreich, vom großen beruflichen Erfolg … – viele Träume drohen Schäume zu werden. Victor von Weizsäckers Begriff des »ungelebten Lebens« (Weizsäcker 1988, Baer 2005) weist nicht nur darauf hin, dass sich in manchen Krankheiten ungelebtes Leben manifestieren kann. Er beschreibt, dass mit jeder Lebensentscheidung für etwas auch der Bereich des ungelebten Lebens größer wird. Wenn sich ein Mann für einen Beruf entscheidet und Lehrer wird, entscheidet er sich damit gegen alle anderen Berufe (zumindest vorläufig). Wenn sich eine Frau zu einem Zusammenleben mit dem geliebten Partner entschließt, verwirft sie das Alleinleben. Der Bereich des ungelebten Lebens wächst, der Bereich des lebbaren Lebens wird mit fortschreitendem Alter geringer. Mit 50 wird niemand mehr Schönheitskönigin oder Fußballstar.
Nun haben wir in unserer therapeutischen Praxis eine besondere Wechselwirkung beobachtet. Wer nicht akzeptiert, dass der Bereich des ungelebten Lebens mit fortschreitendem Alter größer wird, wer von den darin enthaltenen Träumen nicht loslassen will oder kann, der kann auch die Chancen des lebbaren Lebens nicht nutzen und die darin enthaltenen Träume nicht verwirklichen. Diese Chancen sind für fast alle Menschen größer, als sie glauben. Dafür die vorhandenen Energien einzusetzen eröffnet Wege zum Glück und zum Finden eines inneren Gleichgewichts. Das erfordert Einsicht in die Notwendigkeiten des Loslassens.
Die Jugend bleibt zurück, die Schönheit schwindet (oder ändert sich), auch Selbstkonzepte werden infrage gestellt. Plötzlich merkt der Familienvater, dass die Kraft nicht mehr reicht, überall der Halt für alle zu sein, auf der Arbeitsstelle, für die Kinder, für die Ehefrau, für die eigenen Eltern und die Schwiegereltern. Das Selbstkonzept, immer derjenige zu sein, der für alle und alles den Weg weiß und Stärke und Kraft vermittelt, bröckelt. Oder die Frau, die immer allen hilft. Irgendwann reicht die Kraft nicht mehr, irgendwann gerät sie an ihre Grenzen und muss von ihrem Selbstkonzept Abstriche machen. Solche Erosionsprozesse verhindern zu wollen, statt sie zu akzeptieren, schiebt den Prozess des Loslassens nur auf. Dies allerdings um den Preis eines oft unglaublichen Kraftaufwandes. Wenn das Selbstkonzept dann doch nicht mehr zu halten ist, bricht es oft in sich zusammen, und die betroffenen Menschen denken dann: Wenn ich nicht Leuchtturm bin, dann bin ich Geröll; wenn ich nicht Mutter Theresa bin, dann bin ich nichts. Wenn allerdings solche Veränderungsprozesse akzeptiert und dabei durchaus auch betrauert werden, kann das alte Selbstkonzept allmählich einem neuen Platz machen. Wer nicht mehr allen helfen kann, kann immer noch einzelnen Menschen helfen oder andere Wege finden, seine Liebe praktisch zu äußern. Wer nicht mehr die Kraft hat, andere zu stützen, kann seine Erfahrungen weitergeben und so auf andere Weise Verantwortung zeigen.
Auch in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern findet ein Prozess des Loslassens statt, der zum Trauern Anlass gibt. Das fängt schon früh an: Ein siebenjähriges Kind lässt sich nicht mehr so »einfach« in den Arm nehmen und kuscheln wie ein siebenmonatiges. Je älter Kinder werden, desto eigenwilliger werden sie und desto mehr Zeit verbringen sie mit anderen. Erst recht in und nach der Pubertät. Viele Eltern nehmen den Prozess des Übergangs von der Kindheit zum Erwachsensein an ihren Kindern nicht wahr. Auch er verlangt einen Prozess des Loslassens. Die jungen Menschen treffen eigene Entscheidungen, entwickeln eigene Werte, haben einen eigenen Geschmack, eigene Freunde und dergleichen mehr. Die Rolle der Eltern gerät in den Hintergrund. Jedes Jahr des Älterwerdens ihrer Kinder ist auch ein Jahr, in dem ein wenig mehr losgelassen werden muss. Dies macht stolz und kann Eltern mit Freude erfüllen, dies kann aber auch Trauer hervorrufen (manchmal gleichzeitig) und schmerzlich sein. Besonders schmerzhaft wird es nach unseren Beobachtungen, wenn dieser Prozess des Loslassens lange Zeit ignoriert wird und die Jugendlichen sich dann mit Macht ihren Freiraum erkämpfen müssen. Viele Konflikte, die auf »die Pubertät« geschoben werden, können vermieden werden, wenn Eltern bewusster den Prozess des Aufwachsens ihrer Kinder auch als Prozess des Loslassens begreifen und zulassen, dass dieser Prozess auch mit Traurigkeit verbunden ist.
Wenn Menschen erwachsen sind, hört der Prozess des Loslassens in Bezug auf ihre Eltern nicht auf. Von vielen Menschen mittleren Alters haben wir überraschte Äußerungen gehört wie: »Da habe ich plötzlich gemerkt, dass meine Eltern alt sind!« Das Bild der Eltern, wie es sich den Kindern und Jugendlichen darstellt, bleibt lange Zeit erhalten und verdeckt oft den schleichenden Alterungsprozess.
Auch die Auseinandersetzung mit der Kindheit macht Verluste deutlich und ruft Traurigkeit hervor.
»Meine Traurigkeit beginnt mit der Erkenntnis, nicht die schöne Kindheit gehabt zu haben, die ich glaubte zu haben«, erzählt eine Frau. »Ich musste erkennen, nicht wirklich gehört, gestützt, in den Arm genommen worden zu sein. Ich musste immer nur still sein, beobachten und situativ reagieren, um keinen Streit und Wutausbruch erleben zu müssen.« Sie durfte als Kind nicht trauern: »Meine Traurigkeit hat meine Mutter in ihrem ›schönen‹ Leben gestört. ›Ach, sei doch nicht traurig. Ist doch nicht schlimm. Sei nicht so sensibel.‹ Heute erlebe ich bei meinem Partner Hilflosigkeit, wenn ich traurig bin, oder ,Nicht schon wieder!‹ ›Was sollen denn die Kinder denken?‹.« (M.K., 2002).
Wenn Menschen ihre Trauer in der Kindheit nicht leben können, wird das Trauern aufgeschoben. Es kann, wenn diese Menschen in späteren Jahren von den Eltern loslassen, massiv auftreten.
Manchmal ist Loslassen eng mit einem Gefühl der Trauer verbunden, dem Erleichterung, ein guter Abschied, die Erwartung, endlich Ruhe zu finden, oder Ähnliches innewohnt. Wir sprechen in diesem Zusammenhang gern von einer »süßen« oder »sanften« Trauer. Eine solche Trauer tritt zumeist auf, wenn ein erfolgreicher Prozess beendet ist. Einer Notiz im Panorama der Süddeutschen Zeitung entnehmen wir z.B. unter dem Stichwort »Leute«:
»Joanne K. Rowling, 41, Harry-Potter-Erfinderin, trauert ein wenig darüber, dass sie bald am Ende der siebenteiligen Bestseller-Serie über den Zauberlehrling ist. Gleichzeitig freue sie sich auf ihre neue Freiheit, sagte sie nach Angaben der britischen Nachrichtenagentur PA am Dienstag in New York.
›Auf der einen Seite werde ich sehr traurig sein. Harry war ein großer Teil meines Lebens und die einzige Konstante in dieser turbulenten Phase. Also werde ich sicher ein Gefühl der Trauer haben‹, sagt Rowling. Gleichzeitig sei sie erleichtert. ›Es ist eine große Befreiung, weil ich unter einem dauernden Druck gestanden habe. Endlich schreibe ich die Auflösung.‹« (SZ v. 03.08.2006, S. 10)
Auch das Ende eines solch erfolgreichen Prozesses wie des Verfassens der Harry-Potter-Bände ist ein Loslassen und gehört zu den alltäglichen Verlusten. Eine solche Trauer kann genossen werden und gehört zu den Begleitgefühlen des Loslassens. Wir werden uns in diesem Buch ihr nur am Rande widmen, weil das Hauptinteresse der Menschen, die wir kennen und mit denen wir arbeiten, vor allem den schwierigen Trauer- und Loslassprozessen gilt.
Die alltäglichen Verluste, die wir beschrieben haben, können von manchen Menschen dramatisch erlebt werden. Die erste Falte im Gesicht kann als ein Einbruch des Lebensglücks erlebt werden, die Ablösung der Kinder als einschneidende Veränderung im Leben. Jedes noch so kleine Loslassen kann subjektiv als Drama bewertet werden und zu entsprechenden Reaktionen führen. Es gibt daneben Ereignisse, die aus sich heraus eine Erschütterung des Lebenslaufs bewirken. Das am häufigsten erwähnte ist sicherlich der Tod eines Partners oder nahen Angehörigen. »Mein Leben ist gebrochen«, sagte eine Frau nach dem tödlichen Herzinfarkt ihres Mannes. Wie viele andere konnte sie sich nicht vorstellen, dass ihr Schmerz nachlassen würde, und wie ebenfalls viele andere erlebte sie, dass auch dieser Lebensbruch wie ein Beinbruch verheilen konnte. Ein Verlust blieb, eine schmerzanfällige Narbe wie beim verheilten Beinbruch. Es war nicht mehr so wie vorher, der Verlust des Mannes war ein Wendepunkt in ihrem Leben, eine grundlegende Veränderung, die viel Loslassen und tiefes Trauern beinhaltete.
Der Tod als Lebensbruch wird noch in zahlreichen Geschichten rund um das Trauern und Loslassen erwähnt werden, die wir in diesem Buch erzählen werden. Deshalb wollen wir hier das Augenmerk vor allem auf andere Ereignisse lenken, die als Lebensbrüche erlebt werden.
Am bekanntesten sind Trennungen von Partnerinnen oder Partnern, die für viele Menschen nicht nur den Verlust eines Menschen umfassen, sondern sich auch auf den Verlust von Selbstkonzept und Selbstbewusstsein erstrecken. Der Verlust durch Tod wird manchmal leichter bewältigt als der Verlust durch Trennung. Für ihn kann das »Schicksal« verantwortlich gemacht werden, während Trennungen oft nachhaltige Folgen des Zweifelns und der Selbstvorwürfe nach sich ziehen.
Am meisten unterschätzt werden die Folgen von Umzügen und anderen Heimatverlusten. Vor allem Kinder leiden darunter, Vertrautes loslassen zu müssen, vertraute Freunde und Freundinnen, die vertraute Schule, aber auch die vertrauten Geschäfte, in denen sie einkaufen, die vertrauten Fahrradwege, den vertrauten Sportverein, die vertrauten Gerüche und Geräusche. Den dadurch hervorgerufenen Kummer können Kinder nur selten äußern und noch seltener finden sie Gehör und Trost. In der Therapie erzählen uns viele Menschen, dass sie solche Heimatverluste in ihrer Kindheit als Brüche in ihrem Leben erfahren haben. Möbel und Spielzeug konnten mitgenommen werden, Menschen und die Vertrautheit passten nicht in den Umzugswagen. Mit der Vertrautheit ihrer Umgebung verschwand auch ihre innere Sicherheit. Manchen gelang es, zu trauern und loszulassen und ihre Sicherheit wieder aufzubauen. Andere waren dazu nicht in der Lage oder erhielten dafür zu wenig Unterstützung. Für sie ging mit der Vertrautheit ihrer Umgebung auch die Vertrautheit mit sich selbst verloren oder wurde zumindest erschüttert. Auch viele ältere Menschen werden durch den Verlust der heimatlichen Wohnung und Umgebung in ihren Grundfesten erschüttert, wenn sie z.B. durch eine gesundheitliche Einschränkung in ein Altenheim ziehen müssen. Sie reagieren oft mit Verwirrungsschüben, mit Demenz.