Für euch, die ihr an euch zweifelt. Ihr seid toll!

Prolog

»Du suchst und du findest sie, alles klar?« Seine raue Stimme klang, als hätte er Schmirgelpapier im Hals.

Ich hatte es schon beim ersten Mal verstanden. Doch anstatt meine Gedanken laut auszusprechen, nickte ich. Mein Unterkiefer zitterte und ich spannte meinen Körper an, um es zu unterdrücken. Ein Windhauch bewegte die Schwüle, ohne sie zu mildern. Doch sie hinderte mich nicht daran, meine Angst weiterhin zu verbergen.

Roter Nebel schlängelte wie eine aggressive Mahnung um uns herum. Er nahm den gesamten Raum ein und zeigte kaum noch etwas von der dunklen Holzvertäfelung, dem robusten Schreibtisch oder der antiken Büroausstattung.

Wir musterten uns gegenseitig. Er versuchte wohl herauszufinden, ob ich es ernst meinte und er mir vertrauen könnte. Die schwarzen Augen, die das Einzige waren, was wir gemeinsam hatten, verschwanden, als er seine Lider schloss.

Ich widerstand dem Impuls wegzulaufen. Das war keine Option. Nicht in meiner Lage. Nicht in meinem Stand. Die Atmosphäre war angespannt und das Gefühl, jedes Zucken könnte sie zum Platzen bringen, nagte an mir. Zu laut schluckte ich meine Bedenken hinunter und näherte mich ihm. Meine Stiefel hallten bei jedem Schritt auf dem Steinboden wider. Alle Alarmglocken schrillten und trotzdem stoppte ich erst direkt vor ihm.

»Ich werde dich nicht enttäuschen«, flüsterte ich heiser.

Verärgert darüber, dass ich so eingeschüchtert klang, biss ich mir auf die Zunge. Als er seine Augen öffnete, stand ich beinahe Nasenspitze an Nasenspitze vor ihm. Sein heißer Atem blies mir ins Gesicht. Er roch nach Rauch und Erdöl.

Mit einer raschen Bewegung packte er mein Kinn. Er presste meine Wangen fest zusammen, dass es sich anfühlte, als drückte er mir jeden Moment die Zähne aus. Die Lippen nach vorne geschoben, konnte ich kaum sprechen. Ich nahm die Zornesfalte, die sich auf seiner Stirn bildete, ins Visier.

»Wer sagt, dass du mich überhaupt enttäuschen kannst? Das würde doch bedeuten, dass du mich vorher getäuscht haben müsstest. Abgesehen davon, dass du das nicht kannst, hättest du denn vor, mich zu täuschen?«, hakte er lieblich mit einem gefährlichen Unterton nach.

Mein Herz pochte, dass das Blut in meinen Ohren rauschte. Ich schüttelte den Kopf. Sein kleiner Finger rutschte an meinen Hals. Ich brauchte mich nicht mehr zu verstellen. Nun spürte er ohnehin meine Nervosität an der Halsschlagader.

Mein Kiefer schmerzte und der Schweiß bahnte sich seinen Weg von meiner Stirn. Angewidert ließ er von mir ab und stieß mich heftig zurück. Mir blieb die Luft weg und trotzdem gelang es mir, mich auf den Beinen zu halten. Erleichtert massierte ich meinen schmerzenden Kiefer und wischte mir den Schweißfilm ab.

»Ich würde dich niemals täuschen! Bisher habe ich alles getan, was du wolltest!«, keifte ich ihn an.

Anscheinend hatte mein Gehirn noch zu wenig Sauerstoff bekommen. Anders konnte ich mir einen Anflug von Kühnheit nicht erklären. Er würde mich töten.

Seine langen, schwarzen Haare wirbelten hoch und der Nebel um uns wurde zu einem Wirbelsturm.

»Endlich zeigst du mal etwas Mumm!«, rief er mir zu und warf seine muskelbepackten Arme in die Höhe.

Befand ich mich im falschen Film?

»Das heißt?«, forschte ich nach.

Offensichtlich registrierte er meine Verunsicherung und runzelte die Stirn, weil er sie nicht nachvollziehen konnte.

»Du hast den Auftrag.«

Der dampfende Nebel löste sich nach und nach auf. Das Licht kämpfte sich hindurch und wir standen wieder in seinem Büro, als wäre es das Normalste auf der Welt.

»Und ich dachte schon«, er eilte um den Schreibtisch, holte seine Axt aus der Halterung hervor und schlug sie in den Tisch, »ich bräuchte die Axt heute.« Seine Mimik wurde weicher.

Ich kratzte mich am Nacken und fühlte einen Stich im Magen. Langsam wurde ich zu alt für diese Spielchen. Räuspernd verringerte ich den Abstand zwischen mir und ihm.

»Wir beginnen sofort. Weißt du, wo du starten wirst?«, fragte er nach und zog seine Axt aus dem Holz.

»Ja.«

»Ja, was?«

»Ja, weiß ich.«

Ohne Vorwarnung klatschte er mit der flachen Hand auf den Schreibtisch und lachte.

»Bravo, Sohnemann!«

So sah wohl mein Leben aus.

Sie liebt die Kontrolle & die Kontrolle liebt sie!

Ich spannte den Bogen mit der für mich perfekten Auszuglänge. Stoppte meinen Finger am Mundwinkel und führte die Pfeilspitze an das untere Gelenk meines Zeigefingers. Meine geschwungenen Lippen verzogen sich ein wenig nach hinten, bis ich den Ankerpunkt erreicht hatte. Der Kunstlederduft meines ausgefransten Handschuhs drang in meine Nase.

Das war mein Yoga, mein Netflix und meine Erholung. Es erfüllte mich mit purer Entspanntheit. Wofür ich das brauchte? Um mein Leben in dieser Kleinstadt erträglicher zu machen. Tatsächlich war das, was ich mehr als alles andere wollte: Verschwinden! Ich gehörte nicht hierher, dabei war das mein größter Wunsch. Ich wolle mich zugehörig fühlen.

Ein wenig justierte ich den rotbraunen Langbogen nach, bis ich mein Ziel samt Abweichung im Blick hatte. Das Sonnenlicht brach sich auf der glänzenden Spitze. Binnen eines Augenaufschlages berechnete ich alle Variablen mit ein und löste meine Hand und ließ sie vom Carbonpfeil nach hinten weggleiten. Die rote Befiederung am Ende sauste an mir vorbei wie ein ICE. Ein Surren ging durch die Luft, als würde sie entzweigeschnitten werden. Meine Umgebung wurde wieder schärfer, bis ich wieder alles wahrnahm.

Erst als ich getroffen hatte, atmete ich aus und die Anspannung fiel von mir ab. Ich setzte mein breitestes Lächeln auf und drehte mich schwungvoll wie ein Kreisel um. In den Stunden auf dem Übungsplatz konnte ich meine Probleme mit dieser Stadt ruhen lassen.

»Siehst du? Ist doch ganz einfach, Molly!« Ich stemmte meine Hände in die Hüfte, hatte aber noch meinen Bogen in der Hand, der mir gegen die Schläfe schlug.

»Aua!«

Meine beste Freundin kicherte schadenfreudig.

»Du hast leicht reden. Wie lange machst du das? Neunzig Jahre?«, überdramatisierte Molly und rollte verschwitzt mit den Augen.

Sie warf ihren rotbraunen Flechtzopf wie eine Peitsche auf die andere Schulter und stöhnte genervt auf.

»Und überhaupt, wie kannst du so konzentriert sein, Lanea? Es hat mindestens sechshundert Grad.«

»Du bist die schlechteste Schätzerin, die ich kenne. Es sind zehn Jahre und so heiß ist es gar nicht«, berichtigte ich sie und lehnte meinen Bogen gegen die hölzerne Vorrichtung.

Mit einem flüchtigen Blick über die Schulter begutachtete ich meinen Pfeil, der haargenau in der Mitte der Zielscheibe steckte. An uns zischten ständig weitere Geschosse vorbei, von denen kaum einer überhaupt traf.

Ich löste das gelbe Bandana von meinem Kopf und unzählige lockige Haare schossen mir ins Gesicht wie schwarze Sprungfedern.

»Wo bleibst du denn?«, grölte Molly, die schon vom Schießplatz ging.

»Hey! Warte!« Ich hastete ihr hinterher und hakte mich bei ihr ein. »Meine allerbeste Freundin kann ich wohl nicht fürs Bogenschießen gewinnen, was?«

»Nicht? Wie schade für sie«, feixte Molly und bemühte sich, nicht zu grinsen.

Ich hustete und holte die wenigen vornehmen Sätze aus meinem Repertoire gehobener Wörter.

»Sie sind natürlich meine holde, beste Freundin! Prinzessin Molly von und zu Smokey Eyes.«

»Das wusste ich selbstverständlich. Und sag nichts über mein Make-up! Man weiß schließlich nie, wo sich die Traumprinzessin versteckt.«

Sollte ich Molly erzählen, dass ihr Make-up sich längst verflüssigt hatte und sie aussah wie eine stereotype Dramaqueen aus einem Teenie-Highschool-Film? Nee!

»Würde dir auch ganz guttun.«

»Eine Traumprinzessin? Ich dachte, dass du froh darüber bist, dass das dein Ding ist.«

Immerhin hatten wir uns noch nie wegen eines Typen gestritten. Was aber auch daran lag, dass ich meist nicht besonders gut ankam beim männlichen Geschlecht.

»Make-up, Lanea! Ich spreche von Make-up«, berichtigte sie mich.

»Nahhh!« Ich verzog wenig begeistert den Mund und beschloss, das Thema zu wechseln.

Die Jungs flüchteten wohl eher wegen meiner unkontrollierbaren Wutausbrüche. Geschminkt würde sich daran auch nichts ändern.

»Du könntest auch einfach weniger –« Mollys Satz wurde von einem Pfeil unterbrochen.

Sie kreischte auf und wäre wohl gestürzt, hätte ich sie nicht zurückgezogen. Mein Puls beschleunigte sich und da passierte es wieder. Diese Wut. Diese unbändige Wut, die tief in mir wie ein wildes Tier lauerte, nur um vulkanartig auszubrechen. Ich konnte nichts dagegen machen.

»Aufbrausend sein«, beendete Molly perplex ihren begonnenen Spruch. »Lanea! Lanea! Es ist nichts passiert«, versuchte sie mich zu beschwichtigen, als sie mein zorniges Gesicht sah. Unmut, der zwanghaft über mich kam.

Ich nickte heftig. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und alles verkrampfte sich.

Zehn … Neun … Acht … Sieben … Beschissene Sechs … Verdammte Fünf … Null!

»Welcher Vollidiot ist das gewesen?«, donnerte ich über den Platz. Allesamt verstummten.

Seit ich denken konnte, konnte ich meine Aggressionen nicht kontrollieren. Ich eckte so oft an, dass die meisten Kerle mich mieden, weil sie mich fürchteten, obwohl ich anscheinend eigentlich zierlich und schüchtern wirkte. Das würde niemals einer der Jungs zugeben, aber wer wollte das? Ich selbst stand dabei neben mir und schrie mich an. Ich flehte mich an, wieder rational und ruhig zu werden, aber es klappte nicht. Oder unheimlich selten.

»Der Pfeil kann doch gar nicht von hier gekommen sein«, wandte Robert ein, der rundliche Bogenschießtrainer mit dem gezwirbelten Schnauzbart.

Stimmt. In meinem Wutanfall übersah ich das Offensichtliche: die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war. Ich drehte mich nach links. Meine dunklen Augenbrauen zogen sich vor Verwirrung zusammen.

Ich starrte in den angrenzenden Wald. Niemand durfte mit Bogen in den Wald. Und warum sollte jemand von uns auf Molly schießen?

»Lanea, nein! Sitz! Pfui, Lanea!« Meine beste Freundin kannte mich lange.

Als wären ihre Versuche mich aufzuhalten mein Startschuss gewesen, hastete ich in den Wald.

»Warte! Ich kann nicht so schnell laufen, mein angeknackster Fuß!« Sorry, Molly!

Als ich an den ersten Bäumen vorbeigelaufen war, umklammerte mich Kälte wie ein unsichtbares Wesen. Winzige Sonnenstrahlen schlichen sich durch das dicke Blätterdach der Baumkronen.

Da!

Jemand bewegte sich dort hinten. Ich preschte wie ein Rennpferd nach vorne. Niemand griff Molly oder mich an und schon gar nicht mit Pfeil und Bogen! Nicht mit meiner Waffe! Wieder kam es mir vor, als würde ein anderes Ich mich übernommen haben. Als schwebte ich neben mir her, beobachtete, was ich machte, konnte mich aber nicht steuern.

Stopp, Lanea! Das kann gefährlich sein! Lauf zurück!

Wie ein wildgewordener Stier, gepaart mit einem tollwütigen Hund, dem der Schaum aus dem Mund lief, rannte ich tiefer in den Wald Bar Harbors. Den kannte ich ebenso auswendig wie die Mobilnummer meines future husbands Daniel Sharman – nämlich gar nicht.

»Wer bist du? Zeig dich, du Feigling!«, brüllte ich mit schriller Stimme.

Manchmal brachten mich winzige Kleinigkeiten aus der Fassung. Dies hier war zwar keine Nichtigkeit, aber dennoch nicht mein Kampf. Um so was sollte sich die Polizei oder der Bogenschützenclub kümmern. Nicht ich.

Abrupt hielt ich an einem Baum an und lehnte mich gegen den Stamm. Ich keuchte laut, als stünde ich kurz vor einer Hyperventilationsattacke. Das endete blitzartig, als neben mir ein Ast knackte.

»Warum hast du uns angegriffen?«

Keine Angst zeigen. Keine Reue. Irgendwie muss ich einen kühlen Kopf behalten.

»Zeig dich!«

Im Busch hinter mir raschelte es. In mir lief ein Film ab, in dem eine Person dahinter wartete. Wie eingefroren bewegte ich mich nicht. Die Wut in mir erlosch und machte die Bühne frei für die Furcht, als ich sie am wenigsten brauchte. Es fühlte sich an, als löste sich mein anderes Ich aus meinem Körper und gewährte mir wieder Zutritt zu mir.

»Irgendwie musste ich dich doch von den anderen weglocken«, sagte jemand so nah, dass ich mir einbildete, den Atemzug im Nacken zu spüren.

Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ich hielt mir den Mund zu, weil ich Angst hatte, die Person könnte meine klappernden Zähne bemerken. Eine innere Beklommenheit nahm mein Herz gefangen. Der gesamte Wald engte mich ein.

Schrumpfte der Wald gerade? Oder bewegte er sich auf mich zu, um mich zu zerquetschen?

»Warum?«

Keine Antwort.

»Was willst du von mir?«

Wieder nichts.

»Das ist nicht witzig! Ist das wieder einer eurer doofen Streiche? Ist angekommen! Ihr mögt mich nicht«, keifte ich in den Wald.

Urplötzlich beschlich mich das Gefühl, dass niemand mehr da war. Ich schaute mich um.

»Niemand mehr da«, wisperte ich fassungslos.

Eigentlich hätte ich sehen oder hören müssen, wenn jemand weggerannt wäre. Doch da war niemand. Als hätte ich mir alles nur eingebildet. Eingeschüchtert rutschte ich den Baumstamm entlang. Das raue Holz kratzte meine Haut auf, da ich nur ein weißes Top und eine Jeans-Hot-Pants trug.

Mein Atem stockte und dann kamen die Tränen. Irgendjemand suchte mich. Ich konnte mir kaum vorstellen, warum es jemand auf mich abgesehen haben sollte. Das ergab keinen Sinn. Ich gehörte nirgendwo dazu. Ich war unbedeutend.

»Lanea?«, rief jemand meinen Namen.

Molly! Es war Molly!

»Lanea!« Noch ein Ruf.

Ich sprang auf und in dem Moment schoss ein Gedanke durch meinen Kopf. Es war eine Vermutung, eine Angst. Saß jemand in den verzweigten Ästen auf dem hohen Baum über mir?

Ab heute werde ich nie wieder dieselbe sein

»Und du bist sicher, dass alles okay ist?« Molly zupfte unsicher an ihrem Zopf.

»Wie oft noch? Ja! Ich habe im Wald niemanden gefunden und es geht mich nichts an. Wahrscheinlich irgendein Streich. Soll die Polizei den Schuldigen finden«, sagte ich und klammerte mich fest an meine Tasche, bis meine Knöchel hervortraten.

Eine Weile spazierten wir nebeneinander her, bis wir vor meinem Haus stehen blieben. Eine lose graue Latte der Holzfassade schepperte im Wind und die Blätter raschelten, als fragten sie sich gegenseitig, was mit mir los wäre.

»Fein. Wir sehen uns morgen«, verabschiedete ich mich und betrat die Veranda, auf der ich eine umgekippte Pflanze wieder aufstellte.

»Was für eine lieblose Verabschiedung«, beschwerte meine beste Freundin sich und winkte mir, bis ich meine Aufmerksamkeit wieder ihr zuwandte.

Der Boden der Veranda knarrte, als ich wieder zu Molly hinunterstieg und sie umarmte. Wieder ein starker Luftzug, der meine Haare tanzen ließ. Ich löste mich von ihr.

»Warum wird es kalt?«

»Kalt? Es ist sauheiß. Sei doch froh über das bisschen Wind.« Manchmal fragte ich mich, ob ich ein anderes Temperaturempfinden als der Rest der Welt hatte.

Ich zuckte mit den Schultern und zog an der Schnur, die unsere mittelalterliche Glocke auslöste.

»Bye, Girl! Auch, wenn die weite Entfernung uns trennen wird, erfreue ich dich morgen in der Schule wieder mit meiner Präsenz«, verabschiedete Molly sich melodramatisch wie eine Soap-Darstellerin, ehe sie ging.

»Tschüss, du Spinnerin!«

Ich zog heftiger an der Glocke. »Macht auch mal jemand auf?«, schrie ich und schlug gegen das Glas der Tür, obwohl Mom das überhaupt nicht mochte. Nur, weil ich sie als Kind unabsichtlich einmal dabei kaputtgemacht hatte.

Unser Nachbar Simon kam nach Hause und grinste mir zu, während er mit einer geschmeidigen Bewegung seinen Wagen mit der Fernbedienung versperrte. Peinlich berührt nickte ich zurück und starrte auf unsere abgetretene Comicwal-Fußmatte. Seitdem ich Simon kiffend am Parkplatz hinter dem Supermarkt entdeckt hatte, sprachen wir kaum noch miteinander.

Die Glocke schwankte hin und her. Gleich würde ich sie abreißen und gegen eine richtige Klingel ersetzen. Die den Ton eines Maschinengewehrs abspielte.

Simons Haustür öffnete sich und seine Frau Lisa empfing ihn fürsorglich, als wäre er ein weiteres ihrer drei Kinder. Selbstverständlich hatte ich nur Molly von meinem Zusammentreffen mit Simon erzählt. In meiner Heimat Bar Harbor machte man keine Probleme. In unserer winzigen Hafenstadt auf Mount Desert Island in Maine mit den fünftausendirgendwas Einwohnern war nie was los. Weswegen kleinste Ereignisse eindrucksvolles Aufsehen erregten. Alles drehte sich darum, den Schein zu wahren.

»Mom!«, brüllte ich genervt und bemerkte, wie sich der saure Geschmack der Wut auf meine Zunge legte.

Ruhig, Lanea!

Schnaubend drehte ich mich im Kreis und erkannte die alte Henriette, die die Flagge unserer Vereinigten Staaten neu aufhängte. Ich sah vor mir, wie sie ihrem Mann Hugo erzählen würde, dass die rüpelhafte Lanea vor ihrem Haus randaliert hatte. Ich warf ihr ein falsches Grinsen zu.

»Mom, Hilfe! Ich brenne!«, winselte ich, aber selbst das half nicht.

Bar Harbor erstreckte sich ziemlich weitläufig, dafür war aber auch beinah alles Wald und Grünfläche. Nur die Häuser reihten sich die Küste entlang eng aneinander. Warum konnte unser Haus nicht außerhalb liegen wie die MDI-Highschool? Die lag mitten im Wald, von Bäumen umgeben. Mit dem Auto zwar nur fünfzehn Minuten, aber zu Fuß über eine Stunde entfernt. Besser als eingepfercht und von allen beobachtet.

Ich überlegte mir eine Ausrede dafür, warum ich mir das Shirt über meine Faust gelegt und das Glas der Tür eingeschlagen hatte, als ich sah, wie meine Mom seelenruhig im Flur vorbeischlenderte. Und sang sie etwa?

»Das darf nicht wahr sein. Sie hört über ihre Kopfhörer Musik?«, regte ich mich lauthals auf.

Ich brauchte definitiv einen neuen Schlüssel. Um in ihren Fokus zu gelangen, hampelte ich auf und ab. Mein Schatten, der sich in den Flur warf, erregte ihr Interesse.

Endlich!

Mom schob ihre weißen Kopfhörer von ihren knallroten Haaren hinunter und legte sie um ihren Nacken. Die Musik dröhnte noch daraus: Fergie – ihre Lieblingssängerin.

»Wird auch Zeit.«

»Ja, ja, reg dich ab«, begrüßte sie mich herzlich und voller Mutterliebe. Wenn heute Gegenteiltag wäre.

»Gibt es etwas zu essen?«, fragte ich, während ich meine Schuhe auszog.

»Bin ich die Wohlfahrt? Du bist heute mit Kochen dran. Ich bin im Wohnzimmer und ersteigere für Bill eine Sandale aus Ben Hur.« Der mürrische Unterton warnte mich.

Ich schmiss mich in unsere hellblau gestrichene Holzküche und beäugte mit kritischem Blick die neuen Pakete, die sich dort stapelten. Bill, mein Dad, sammelte Filmrequisiten und Mom litt an einem Online-Shopping-Fable. Als hätten wir ohnehin nicht zu wenig Geld. Das zeigte mir auch der Blick in den Kühlschrank. Gähnende Leere. Verzweifelt legte ich mein Gesicht in meine Hände und knetete es. Mir fehlten nicht nur die Motivation zum Kochen, sondern auch die Nahrungsmittel.

Mit einem Sprung setzte ich mich auf die kalte Arbeitsplatte. Das Geschirr in der Spüle stank nach Schimmel, der sich selbst ausgekotzt hatte. Mir reichte es, bis der Grund herantapste, warum ich doch jedes Mal wieder nachgab.

»Lanea«, quietschte Peyton, meine kleine Schwester.

Sie reckte mir ihre Hände entgegen. Ich hob sie hoch und stahl mir ein wenig Geld aus der Keksdose. Eigentlich ein geheimes Versteck, aber es war ebenso geheim wie die Tatsache, dass man starb, wenn man sich den Kopf abhackte.

Peyton legte ihre winzige Hand auf mein Dekolleté und ihre helle Haut, anders als meine, wirkte heute rötlich.

»Hast du dir weh getan?«

Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten.

»Aua«, stimmte Peyton mir zu.

»Verbrannt?«, tippte ich. »Wasser?«

»Heiß!« Peyton sog die Luft ein und machte ein zischendes Geräusch wie bei einem Teekessel.

»Gut gemacht, Mom«, murmelte ich und lächelte Peyton zu, damit sie sich keine Sorgen machte.

Dank einiger Kunststücke, die ich vollführte, um an keine Requisite meines Dads zu stoßen, wich ich jeder Lärmquelle aus. Vor der Haustür zog ich Peyton die Schuhe an, aber mein Plan wurde durchkreuzt.

»Was denkst du, was das wird?«, wollte Mom wissen.

»Wir haben nichts im Kühlschrank«, konterte ich kühl.

»Dann improvisiere! Wir leben nicht im Luxus!«

Das merkte ich.

»Wie soll ich mit Luft improvisieren?«

»Müsstest du nicht, wenn du deine Mitgliedschaft beim Bogenverein aufgeben würdest.«

Sie reckte herausfordernd ihre tätowierten Augenbrauen in die Höhe.

»Die bezahle ich doch mit meinem Kellnerjob!«

»Schrei mich nicht an, Lanea!«

Verständnislos schüttelte ich den Kopf, aber es gelang mir nicht, der Präsenz meiner Mutter auszuweichen, da überall Fotos von ihr oder meinem Dad hingen.

»Ich werde gehen, meine Schwester hat Hunger.«

Das sollte mein letztes Wort sein, doch als ich kehrtmachte, hielt sie mich auf.

»Sie ist nicht deine Schwester!«

Wow! Sie zog wieder mal diese Karte.

Nicht der Zorn, sondern die Trauer stieg in mir hoch und drohte herauszuplatzen wie ein Geysir. Meine Augen und meine Nase brannten, während ich meine Tränen zurückhielt. Diese Genugtuung würde ich ihr nicht geben. Meinen Mund zu einem Strich verzogen, drehte ich mich um und drückte ihr Peyton in die Arme. Mom hielt mit ihrer Verblüffung über meine Kapitulation nicht hinter dem Berg.

Einige Sekunden, die ewig schienen, schaute ich in ihre blauen Augen. In der Hoffnung, sie würde es zurücknehmen oder Mitgefühl zeigen. Nichts.

Als ich an ihr vorbeiging, strafte ich sie mit einem bösen Blick. Auf dem Weg nach oben in mein Zimmer kickte ich bescheuerte Pappsteine aus irgendwelchen Filmen, die Dad sich angeschafft hatte und das gesamte Haus belagerten, die Treppe hinunter.

Ich schnappte mir meinen Bogen und zog einen Pfeil aus dem Köcher. Erst mit der Sehne an meiner Wange löste sich ein Teil meines Missmuts wieder auf. Ich visierte aus Reflex das Erstbeste durch mein Fenster an, als ich jemanden entdeckte, der mir zuwinkte.

»Ups!«, entfuhr es mir.

Mit einem Ruck warf ich den Bogen samt Pfeil aufs Bett. Ich öffnete das Fenster und wedelte mit einer Socke, die verloren auf dem Sims lag, wie mit einer weißen Fahne hinaus.

»Ms Hall! Wollten Sie mich etwa mit einem Pfeil durchbohren?«

»Übertreib deine Rolle nicht, Molly!«

Ja, meine beste Freundin war auch meine andere Nachbarin und trotzdem fand sie die Entfernung zu weit.

»Als deine Nachbarin bitte ich um einen höflichen Umgang«, fuhr sie fort und hob empört den Zeigefinger.

Lange hielt sie es selbst nicht aus, dann prustete sie laut los und ich stimmte mit ein. Ihr hohes Gelächter steckte mich jedes Mal an. Wobei mein Lachen eher klang, als würde Hulk ersticken.

»Was ist los? Stress mit Tanya?« Tanya war meine Mom.

In meiner Straße, der Myrtle Avenue, standen die Häuser noch dichter aneinander, als es in Bar Harbor ohnehin der Fall war. Deshalb hatten wir als Kinder das Dosentelefon mit der gespannten Schnur ausprobiert. Zumindest konnten wir einigermaßen miteinander sprechen, ohne uns anzuschreien. Unsere Häuser glichen sich beinah wie ein Ei dem anderen. Der Unterschied lag eher darin, dass ihres hellblau, sauber und makellos aussah. Unseres baufällig, heruntergekommen und schmutzig.

»Was sonst?«

Mein Seufzer dauerte länger als geplant. Molly trommelte mit den Fingern auf die Fensterbank, während ich an ihren Gesichtszügen merkte, wie sie angestrengt überlegte. Wahrscheinlich, wie sie mir helfen konnte. Was sie ohnehin so oft tat, dass es mir peinlich war.

»Soll ich zu dir kommen?«, schlug Molly vor.

»Sie würde weder dich hinein- noch mich hinauslassen, wenn sie so drauf ist.«

»Spring durchs Fenster!«, forderte sie mich heraus.

»Wir wissen beide, wie das enden würde. Wie eines dieser Fail-Videos auf YouTube«, lehnte ich ab.

Anstatt zu lachen, schien Molly verdutzt. Erst dachte ich, etwas Falsches gesagt zu haben, dann entdeckte ich wieder die alte Henriette, die unser Gespräch belauschte. Molly machte das Peace-Zeichen. Einen Moment später verstand ich, was das sollte.

Meine beste Freundin streckte ihre Zunge zwischen den beiden Peace-Fingern heraus und bewegte ihre Zunge flink auf und ab. Unsere Nachbarin wandte sich angewidert ab und stocherte mit dem Rechen im Gras.

»Unglaublich! Als würde sie dafür bezahlt werden, uns auszuhorchen«, grölte ich, damit Henriette es ja auch hörte.

»Lass uns skypen, da hört wenigstens nur das FBI mit.«

Mollys belustigtes Grunzen nahm ich als Zustimmung an und schloss mein Fenster. Ich ließ mich zurückfallen und landete in meinem quietschenden Bett. Die Federn bohrten sich in meinen Rücken, aber ich liebte es. Einen Moment blickte ich auf die olivgrüne Tapete, die abblätterte, und setzte mich dann im Schneidersitz vor den Laptop.

Normalerweise öffnete ich Skype und wählte Molly blind an. Warum? Weil ich sonst keinen Kontakt drinnen hatte. Nicht heute. Als wäre der Tag nicht merkwürdig genug, hatte sich ein weiterer Kontakt in eine Liste geschlichen. Ich verengte meine Augen.

»BinGarNichtDa2018«, las ich den Benutzernamen vor.

What the F…?

Ich wischte über das Touchpad und zuckte bei dem lauten Ton zusammen, als Mollys Anruf einging. Sofort nahm ich ihren Anruf an.

»Molly!«

»Wach lohs?«, fragte sie mit vollem Mund.

Blöd, dass es nichts mehr zu erzählen gab. Der Kontakt war gelöscht. Verschwunden!

»Das glaubst du mir nicht«, sagte ich abwesend.

Das werde ich definitiv nicht ignorieren!

Ich hasse Karamell

Molly stützte sich gedankenverloren neben meinem grünen Spind ab.

»Ich bin nicht verrückt«, wiederholte ich.

Der Spind krachte beim Zuschlagen und riss sie aus ihren Überlegungen. Verübeln konnte ich es ihr nicht, wenn sie meine geistige Zurechnungsfähigkeit in Frage stellte. Dennoch beharrte ich darauf.

»Das habe ich auch nicht gesagt«, verteidigte Molly sich.

»Aber auch nicht, dass du mir glaubst.«

Sie beschleunigte ihren Gang. Nein, so kam sie mir nicht davon. Ich strich mir die Haare hinters Ohr und schloss zu ihr auf.

»Molly!«

Ohne Vorwarnung blieb sie stehen. Einige der MDI-Highschool-Schüler beäugten uns argwöhnisch, aber wir fielen ohnehin dauernd negativ auf.

»Sagen wir …«, Molly sprach nicht weiter, als sie Olly bemerkte, der am Wasserspender stand und mithörte.

Harsch packte sie mich an meiner Jeansjacke und zog mich in den nächsten Flur.

»Sagen wir mal, das stimmt alles. Was willst du machen? Dich mit deinem Laptop und Skype in den Wald setzen und wünschen, es würde sich wiederholen?«

Ich blinzelte in der Hoffnung, eine Erwiderung würde mir wie Schuppen von den Augen fallen. Fehlanzeige!

»Das klingt nicht nach einem perfekten Plan«, gab ich zu.

»Warte einfach ab, bis du nochmal etwas Merkwürdiges bemerkst«, schlug Molly vor und zog ihr weißes, luftiges Kleid in die Länge.

Widerwillig stimmte ich zu und tauchte mit ihr ein in das Meer der Schüler am Hauptgang. Gesprächsfetzen von Cliquen, an denen wir vorbeikamen, prasselten auf mich ein. Sie sprachen über Partys oder Unternehmungen, zu denen Molly und ich selten eingeladen wurden. Bar Harbor gab sich ziemlich offen aufgrund seiner Touristen, die im Sommer zur Erholung kamen, aber in der Kerngemeinde brachte es den eigenen Einwohnern weniger Toleranz entgegen.

Als wir an einer Mädchengang vorbeigingen, deren abfällige Blicke wie Flammenwerfer auf meinem Rücken brannten, stieg mir eine Flutwelle von süßlichem Parfüm und Haarspray in die Nase. Zum Glück verflüchtigte diese sich schnell wieder.

Vor dem Klassenzimmer, in dem wir Geschichte hatten, versperrte Molly mir den Weg und musterte mich.

»Was?«

Ich sah über ihre Schulter in die Klasse. Auf den Zehenspitzen wie eine Ballerina balancierend, verstellte sie mir den Blick.

»Ich glaube dir.« Das brachte sie nicht leicht über ihre Lippen. Ich versuchte zu erkennen, was sie dazu bewegt hatte, ihre Meinung zu ändern.

Hmm, ich kann ihre Miene nicht deuten.

Skepsis breitete sich in mir aus, wie ein Tropfen, der im ruhigen Gewässer landete und seine Kreise zog.

»Warum?«

»Weil da ein neuer Junge im Klassenzimmer steht, und wie wir aus jedem Romantasybuch wissen, bedeuten neue Mitschüler magische Gefahren.«

Ich schürzte meine Lippen, während meine Arme sich zu einer Schleife verschlangen und meine Augenbraue hochschoss. Meine beste Freundin hielt ihre starre Miene der Ernsthaftigkeit noch einige Sekunden, bis sie es nicht mehr aushielt.

»Witzig, Molly.«

Bevor sie merkte, dass auch ich mir das Lachen verkniff, schob ich sie sanft zur Seite und trat ein. Es stank nach hunderten Tüten voll übelriechender Pausenbrote.

»Ist heute Leberwurstbrottag?«, ätzte ich.

Wir setzten uns an den Rand zum Fenster. Das Regal mit den offenen Fächern neben mir würde bald platzen vor Überfüllung. Papier stand so weit heraus, dass es mich in die Schulter pikste. Ich rutschte nach links und mein Stuhl quietschte. Was war überhaupt der Sinn von Schränken, die vor dem Fenster standen, damit niemand sie mehr öffnen konnte?

Molly tippte mich mit einem Stift an, damit ich mich umdrehte. Ihr freudiges Gesicht erwartete mich.

»Dein Boy auf drei Uhr! Oder fünf Uhr? Keine Ahnung, ich kenne mich bei solchen Sachen nicht aus«, meinte sie freudig.

Kurz vergaß ich, dass ich meinen Kopf nicht 360 Grad in eine Richtung drehen konnte. Der Schmerz erinnerte mich daran. Endlich geschafft, erkannte ich ihn sofort: Danny!

»Keine Ahnung, was du an dem findest.«

»Was findest du an seiner Freundin?«

Wir funkelten uns gegenseitig an.

»Schachmatt«, gab Molly nach und widmete sich wieder ihrem Smartphone.

Obwohl ich mich dafür hasste, schwärmte ich für den Football-Star an der MDI-High. Wie nahezu jedes Mädchen an meiner Schule. Wie oft hatte ich bereits vergeblich versucht, in diesem Punkt keine klischeehafte Siebzehnjährige zu sein? Hundertmal? Es gelang mir nicht. Dannys frecher Blick, seine Haare, die im Sonnenlicht gerade wie flüssige Vollmilchschokolade schimmerten, und diese Grübchen! Vom Körper wollte ich erst gar nicht anfangen. Zu meiner Verteidigung muss ich aber gestehen, dass sein Äußeres nur zweitrangig war.

Mein Herz hatte er im Kindergarten erobert, als er mich vor allen verteidigt hatte. Der Sandkasten war kurzerhand zu einem Kampfring umfunktioniert worden, in dem er zwei Mobber verscheucht hatte.

Eigentlich eine romantische Geschichte, wäre er nicht kontinuierlich beliebter geworden und ich mehr und mehr zur Außenseiterin.

Der Neue stand vor der Tafel und wirkte wie bestellt und nicht abgeholt. Er rieb sich den Arm und schien einerseits eingeschüchtert, andererseits froh, kein Aufsehen zu erregen. Vermutlich hatte Mr Nguyen, der Geschichte unterrichtete, ihn mit den Worten »Ich bin sofort wieder zurück!« stehengelassen. Das bedeutete bei ihm leider, dass er mindestens drei Zigaretten rauchen gehen würde.

»Wer ist das denn?«, lärmte Mike, einer der Typen, die zu Dannys Crew gehörten. Um seine Unwissenheit zu verdeutlichen, kratzte er sich fragend an seinem Schädel.

Da ging sie dahin, sie süße Ruhe für den Neuen. Er schreckte zurück, als würden sie ihn mit einer Flinte bedrohten.

»Noel«, hauchte er.

»Kein Wort verstanden, ihr?« Mike verzog seine Mundwinkel und drehte sich fragend in die Runde seiner Kumpels.

»Nöö«, tönte Nicole, Dannys unausstehliche Freundin und Mollys Schwarm, während sie ihre glatten, blond-rosa Ombré-Haare streichelte, die bis zu ihrem Bauchnabel reichten.

Es wurde totenstill. Jeder hielt seinen Mund und das wahre Gesicht meiner Klasse zeigte sich. Wie zwei Armeen, bereit zur Schlacht, stand auf einer Seite Noel und auf der anderen Seite der gesamte Rest.

Die Flamme der Wut loderte in mir auf. Das konnte ich nicht zulassen. Ich kannte dieses Gefühl nur zu deutlich. Die Hitze der Scham, wenn man vor allen zur Lachnummer gemacht wurde. Wenn einem das, was man sich ersehnte, genommen wurde: die Chance auf Zugehörigkeit. Denn ein Teil unserer Schule würde Noel niemals werden, sollte diese Situation sich nicht schnellstens auflösen.

»Kannst du dein Maul weiter aufmachen und sprechen, damit wir es auch hören?«, stichelte Nicole.

»Oder nuschelst du, weil du etwas im Mund hast?«, ergänzte Mike dämlich lachend und deutete hüftschwingend in seinen Schritt.

Die meisten gackerten im Chor wie Schafe, die ihrem Henker folgten. Vereinzelt gab es Schüler, die nicht lachten, aber sie mischten sich auch nicht ein.

Noel schluckte laut und pulte an dem Nagelbett seines Zeigefingers herum. Seine etwas zu großen Augen irrten verunsichert im Raum umher.

»Was los, Glupschauge?«

Ernsthaft, Danny? Du machst auch mit?

Ich war enttäuscht. Sein Ansehen hatte einen derart hohen Stellenwert in seinem Leben angenommen, dass er zu solchen Mitteln griff, um an der Spitze der Beliebtheitsskala zu bleiben.

»Noel«, wiederholte er angestrengt lautstark.

Die Flamme wandelte sich zu einem Waldbrand. Ich entwickelte mich von Glutexo zu Glurak und verkrampfte meine Hände in den Taschen meiner Jeansjacke.

»Lanea! Deine Aggro-Ader an der Stirn kommt wieder hervor. Du mischst dich …«

Molly verstummte, als ich, ohne auf ihre Worte zu hören, aufstand.

»… nicht ein«, beendete sie ihren Satz.

Mein friedliebendes, scheues Ich verließ meinen Körper und schwebte neben mir. Genauso das Bewusstsein darüber, mich noch mehr ins Aus zu schießen, als ich es ohnehin schon war.

Nicole schnalzte mit der Zunge und wackelte mit ihrem Kopf, während sie mich abfällig mit gerümpfter Nase anglotzte. Die unpassende dunkelblaue Wandfarbe erdrückte mich und machte die Atmosphäre im Raum unerträglich. Ich fühlte reine, ehrliche Wut.

Meine beste Freundin räusperte sich und ich drehte mich zu ihr.

»Lanea, bitte setzen Sie sich«, zischelte Molly hinter vorgehaltener Hand.

»Was ist mit dir?«, wollte Mike kaugummikauend wissen.

Ich widmete mich wieder den Idioten und sah sie genauer an.

»Sie will sich nur die Beine vertreten, beachtet sie nicht«, kämpfte Molly um meine Sicherheit.

»Kann das Hula-Mädchen nicht für sich reden?«, grätschte Nicole dazwischen.

Ich schüttelte leicht den Kopf. Ich hatte diese Seitenhiebe satt!

Leises Tuscheln raunte durch die Klasse, gemischt mit nervigem Gekicher. Danny schaute auf seine Freundin hinab.

Und er sagt nichts dazu?

»Das hast du nicht gesagt«, kam es von Molly.

Ich hörte ihren Stuhl über den Linoleumboden kratzen, als sie sich erhob und neben mich stellte. Molly sah aus, als würde sie gleich zu einer Bombe mutieren.

»So spricht niemand mit meiner besten Freundin!«, schimpfte Molly.

»Streitet euch nicht wegen mir. Ich bin nur wegen eines Schüleraustauschs da«, mischte sich Noel ein und näherte sich uns.

»Wer hat dich denn gefragt?« Mike stieß Noel gegen die Brust, sodass er zurücktorkelte.

»Hört auf, bitte!«, beharrte Noel und packte Danny am Ärmel, um seinem Wunsch Nachdruck zu verleihen.

»Fass mich nicht an!«, platzte Danny, der seine Hand wegriss, was Mike als Aufforderung sah, Noel gegen einen leeren Einzeltisch zu schleudern.

Die, die noch saßen, sprangen auf und zogen sich zurück. Nicole sorgte dafür, dass niemand die Klasse verließ.

Wie ein Vulkan, der seine Lava ohne Unterschied auf alles und jeden spuckte, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich wollte es, aber ich verlor die Kontrolle über mich, was mir mehr Angst denn je machte. In diesem Zustand erkannte ich mich selbst nicht wieder.

Die gesamte Szene bekam ich wie unter Stroboskoplicht mit. Ich stürmte auf die Gruppe zu. Im nächsten Augenblick sah ich mich, wie ich Mike an der Hand packte und sie umdrehte, bis er vor Schmerzen in die Knie ging. Beim nächsten Aufleuchten saß Nicole auf ihrem Hintern und ich drückte Danny gegen die Pinnwand. Papier und Flyer flogen wie bunter Schnee über unseren Köpfen umher.

»Lanea!« Mollys Kreischen holte mich zurück.

Dannys angsterfüllter Blick bewirkte, dass ich wieder die Kontrolle über mich bekam. Geschockt sprang ich zurück und ließ ihn frei. Nach und nach wurde mir erst bewusst, was ich getan hatte.

Alle, selbst Noel, wirkten verängstigt, aber nicht mehr wegen Mike & Co, sondern wegen mir. Was stimmte nicht mit mir? Ich war doch der friedliebendste Mensch der Welt und verabscheute Gewalt.

»Spinnst du?«

Danny! Nicht er!

Als ich ihn ansah, tat es mir unendlich leid.

»Ich, bitte … Es tut mir leid, Danny. Das –«

»Halt den Mund und geh dorthin zurück, wo auch immer du herkommst.«

Seine Worte trafen mich wie Säure im Gesicht. Er sammelte Nicole und seine Freunde ein und verließ den Raum.

Meine hawaiianischen Wurzeln waren ständig ein Thema. Einer der Gründe, warum mich niemand hier haben wollte, auch wenn es keiner aussprach, weil es sich nicht gehörte. Traurig blickte ich hinab auf meine Hände und ihre Farbe. Der Grund, warum ich Karamell hasste! Jeder beschrieb mich damit und es nervte mich. Als wäre das alles, was mich ausmachte. Als wäre es ein Phänomen, das es mir unmöglich machte, jemals vollständig dazuzugehören, egal wie intensiv ich es auch versuchte. Die ganzen Sprüche und Andeutungen von Menschen mit null Empathie hatten mir Ängste in den Kopf gepflanzt, die wohl für immer Narben in mir hinterlassen würden. Bedenken, die sie mir anerzogen hatten und die ich nie wieder ablegen können würde. Selbst kleine Seitenhiebe, die von allen als witzig empfunden wurden, nervten. Niemand anderer musste sie ertragen. Auf die Jahre summierten sich diese Aussagen und ließen mich geduckt durchs Leben schreiten. Immer auf der Hut vor neuen Spitzen. Gepaart mit den bekannten Wutausbrüchen passte ich perfekt in ihr überholtes Klischee und lieferte ihnen genug Gründe, mich nicht zu mögen. Allerdings erreichte all das eine neue Dimension, jetzt da ich es aus Dannys Mund gehört hatte. Wie ein Spiegel zerbrach die Hoffnung, dass wir irgendwann zueinanderfinden würden.

Dannys Freundin reckte ihren Kopf nochmal ins Klassenzimmer.

»Kein Wunder, dass deine Eltern dich nicht wollten, du Freak«, drückte mir Nicole zwischen mehreren Schluchzern noch hinein. Dann verschwand sie endgültig aus der Klasse.

Sie hatten meinen wunden Punkt ins Scheinwerferlicht gerückt. Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich unmöglich dorthin zurückgehen können, wo ich herkam. Ich wusste nämlich nicht, wo ich herkam.

Mr Nguyen betrat die Klasse und verschaffte sich einen Überblick. Aufgrund der Herkunft seiner Eltern verstand er meine Sorgen und verteidigte mich oft, aber das ging anscheinend selbst ihm zu weit. Denn als er mich mitten im Chaos erkannte, ahnte er wohl, dass ich die Ursache dafür war.

Molly legte ihren Arm um mich und hob mit ihrem Finger mein Kinn an.

»Du bist meine«, sie betonte das meine, »beste Freundin! Hör sofort auf Schlechtes über dich zu denken, in Ordnung?« Ihre Besorgnis verbarg sie hinter einem nervösen Grinsen.

Ein angestrengtes Lächeln huschte über meine Lippen.

»Ms Hall? Wir müssen uns unterhalten.« Nguyen bedeutete mir mit seinem Zeigefinger, ihm zu folgen. Er schien enttäuscht. Als ob er sich dächte: Hatten sie alle recht?

Bin ich ein edler Mensch? Was ist das dann in mir?

»Danke!«, hörte ich Noel dennoch hinter mir rufen, bevor ich mit Mr Nguyen das Zimmer verließ. Ich schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Was er mir raten würde? Vermutlich meine zwanzigste Therapie. Mittlerweile hatte ich jeden Therapeuten und Psychologen in Bar Harbor durch.

»Lanea.« Nguyen setzte sich auf seinen knarrenden Stuhl im kahlsten Raum der MDI-High.

Sein Büro hatte das Flair eines Vernehmungszimmers in einem Polizeibüro. Selbst die Neonröhre flackerte.

»In Maine habe ich einen Spezialisten gefunden«, startete er seine Rede, noch bevor ich eine bequeme Sitzposition auf dem Metallstuhl finden konnte.

»Der wird mir dasselbe sagen wie alle zuvor. Ich habe versteckte Aggressionen in mir, weil ich adoptiert bin und eine Wut auf meine Eltern habe, die ich nicht kenne.«

»Ist es denn nicht so?«

Ich lehnte mich zurück. War es so?

»Mein Vater bestand angeblich bei meiner Abgabe«, ein besseres Wort fiel mir nicht ein, »darauf, dass ich Lanea heiße. Dazu fand ich in Google lediglich, dass meine Wurzeln höchstwahrscheinlich in Hawaii liegen.«

Ich pausierte. Worauf wollte ich eigentlich hinaus? Der metallene Stuhl erhitzte sich unter mir. Ich rutschte darauf herum, wobei meine Haut jedes Mal ein schmatzendes Geräusch von sich gab.

»Selbstverständlich will ich herausfinden, warum mein Vater mich abgegeben hat und ob Lanea nur ein Name ist oder ob ich tatsächlich irgendetwas Hawaiianisches in mir habe. Trotzdem bin ich nicht wütend«, erklärte ich eindringlich.

»Ich habe gehört, du hast es schwer mit deinen Adoptiveltern?«

Wieso musste er nun damit anfangen? War heute Steckt-euren-Finger-in-Salz-und-bohrt-in-Laneas-offenen-Wunden-Tag? Ich würde den Teufel tun und mit ihm darüber reden. Wenn ich etwas nicht brauchte, dann waren es noch mehr Probleme mit Mom und Dad.

»Da müssen Sie wohl eine Fehlinformation haben.«

Nguyen verschränkte seine Arme und sagte nichts. Es handelte sich wohl um einen Psychotrick aus einem Lehrerseminar. Schweigen, damit ich meinen Mund öffnete, aber das würde nicht geschehen. Meine Adoptiveltern hatten ihre Fehler, aber es gab einen wichtigen Grund dafür, sie nicht an den Pranger zu stellen.

Wer wohl den Wettbewerb des gegenseitigen Anschweigens gewinnen würde?

Der Schulkümmerer

Nguyen. Er hatte den Wettbewerb gewonnen. Irgendwann überkam mich eine Prise würziger Zorn und ich gab auf. Mit der Visitenkarte eines neuen Psychologen bewaffnet, krallte ich mich in dem silbernen Drahtzaun des Footballfeldes fest.

»Trotzdem hattest du mit Nguyen noch Glück. Ein anderer Lehrer wäre härter mit dir ins Gericht gegangen. Du hast Danny & Co ziemlich rangenommen.«

»Ich weiß«, antwortete ich nachdenklich.

Ich streckte mein Gesicht ins Sonnenlicht und tankte Energie. Molly sprach zwar die Wahrheit, aber in mir sah es deutlich komplizierter aus. Es war meine Schuld, keine Frage. Trotzdem fühlte es sich nicht an, als wäre das ich gewesen, die das gemacht hatte.

»Zumindest können wir ausschließen, dass Noel ein Werwolf oder so was Ähnliches ist, sonst hätte er sich wohl gewehrt«, sagte Molly mehr zu sich selbst als zu mir. Meine beste Freundin und ihre Mystery-Serien.

Ich wandte mich von der Sonne ab und schaute zu ihr hinunter. Sie bewegte ihre Arme und Beine, als würde sie einen Schneeengel im Gras machen, nur ohne Schnee.

»Das stand doch nicht ernsthaft zur Debatte, oder?«

Ihre Finger bewegten sich im Takt zu Man Down von Rihanna, das im Hintergrund lief.

Wenigstens nutzte ich die Freistunde, um mir friedvoll und ohne Stress die Akkus zu laden. Mit der Musik in geringer Lautstärke drehte ich mich langsam und mit ausgebreiteten Armen im Kreis. Die Sonne, für andere zu heiß, für mich perfekt, beruhigte meine Seele. Rundum erstreckte sich der sattgrüne, weitläufige Wald, in dem die MDI-Highschool lag. Dieser Anblick vergrub die wütende Lanea ganz tief in mir.

Je länger ich mich um meine eigene Achse bewegte, desto mehr kam es mir vor, als näherte sich uns jemand vom Parkplatz aus.

»Molly«, warnte ich meine beste Freundin und hielt an.

Mir war schwindelig und es dauerte, bis ich die Person genau fokussierte.

Eilig machte Molly die Musik aus. Im ersten Moment wirkte es, als wäre alles verstummt. Bis auf die Schritte des Unbekannten. Nach und nach drangen nicht nur die Geräusche der Schüler zu mir durch, sondern auch der intensive Geruch der Bäume.

»Wer ist das?«, erkundigte sich Molly.

»Keine Ahnung. Geht der hier überhaupt zu Schule?«

Wir kannten nicht jeden an der MDI-High, aber bei knapp sechshundert Schülern dachte ich, doch jeden wenigstens einmal gesehen zu haben.

Sein dunkelgelbes Shirt hatte einen V-Ausschnitt. Weshalb das von Bedeutung war? Unzählige Tattoos rankten sich überall auf seiner Haut entlang. Bis hin zu seiner Schläfe. Sein direktes Gesicht blieb davon verschont.

»Hey!«, rief ich ihm zu.

Keine Antwort. Ohne Scham starrte er mir direkt in die Augen und ich tat es ihm gleich. Obwohl seine schwarzen Iris mich schaudern ließ, hielt ich stand. Trotz Sonne überkam die Kälte mich wie eine unfreiwillig angelegte Tunika. Selbst die Sonne verschanzte sich hinter Wolken und erlaubte dem Grau, über die Welt zu gleiten.

»Es wird uns doch niemand am Schulgelände umbringen, oder? Ich meine, wir leben in Bar Harbor, nicht in New York.«

Sein arroganter Blick machte etwas mit mir. Jeder Schritt, der einer erneut ausgesprochenen Bedrohung gleichkam, kochte den Groll in mir hoch.

»Wir könnten auch weglaufen?«, warf Molly ein.

Dafür wäre es zu spät gewesen.

»Können wir dir helfen?«, ignorierte ich sie und wandte mich an den tätowierten Kerl.

»Das könnte ich euch auch fragen.«

Eigentlich hatte ich mit einer tieferen Stimme gerechnet. Sie klang sanft und zu jung.

»Ich bin neu. Mein erster Arbeitstag.«

Er log wohl. Eine innere Stimme verriet es mir wie ein Instinkt.

Die scharfen Gesichtszüge wichen. Seine Mimik hellte sich auf und damit kam auch die Sonne zurück. Schüchtern kratzte er sich am Hinterkopf, was noch mehr Tattoos offenbarte.

»Ah! Wir haben gedacht, du wärest ein Mörder aus den Wäldern«, platzte es aus Molly, die mich kichernd am Oberarm knuffte. »Nicht wahr, Lanea?«

Der behutsame Schlag auf den Arm holte mich zurück auf den Boden der Tatsachen.

»Ähm, ja!«

»Lanea?«, hakte er nach.

»Ja, und wie heißt du?«

»Cliff.«

»Molly! Ich heiße Molly. Eigentlich Margaret Mallory, aber alle sagen Molly«, erklärte sie ungefragt.

Das machte sie aus Kalkül. Molly war keine naive Idiotin. Sie spürte ebenfalls, dass etwas Merkwürdiges vor sich ging. Es war ihre Art, die Situation zu entschärfen.

»Wisst ihr, wo ich mich melden muss?«

»Geh doch dorthin, wo du dein Vorstellungsgespräch hattest«, schlug ich vor, um Cliff zu testen.

Cliff kratzte sich seitlich am Kopf, wo seine dunkelblonden Haare wegen des Undercuts abrasiert waren. Oben hatte er sie wild nach hinten gestylt. Er grinste.

»Prima Idee, Lanea. Kommt ihr mit?«

»Klar, wir müssen ohnehin wieder hinein«, antwortete Molly.

Der Weg ins Gebäude zog sich. Wir schwiegen uns an und ich verfluchte Molly für ihren wenig brillanten Einfall. Cliff, der zwischen uns ging, überragte uns beide um einen ganzen Kopf.

Drinnen angekommen, waren uns die erstaunten Blicke der anderen gewiss. Alle im Flur unterbrachen ihre Gespräche oder was sie sonst taten und schauten uns nach. Als wäre ich heute nicht schon genug aufgefallen. Molly spielte mit ihrem Zopf, was sie meistens tat, sobald sie nervös wurde.

»Molly, kommst du?«

Clark aus dem Chemieunterricht hielt uns auf. Warum ausgerechnet jetzt?

Bitte, geh nicht, Molly!

»Kann das nicht warten?«, brüllte sie in den Chemiesaal.

»Du hast gesagt, du hilfst mir mit den Mischverhältnissen!« Mit seinem Kittel, Haarnetz und Mundschutz hätte man meinen können, Clark bastele an einer Atombombe.

»Geh ruhig, wir kommen alleine zurecht«, ermutigte Cliff sie mit hochgezogenen Mundwinkeln.

Molly und ich unterhielten uns ohne Worte. Ich riss meine Augen weit auf. Sie antwortete mit hochgezogenen Schultern und einem Stirnrunzeln, das zeigte, wie zwiegespalten sie war. Woraufhin ich meinen Kopf schief legte und das Kinn vor reckte. Auf ihre gequälte Miene rollte ich mit den Augen und entließ sie. Dankbar flitzte sie in den Raum.

Cliff, der während unseres Gespräches, das nur wenige Sekunden gedauert hatte, die Spinde unter die Lupe genommen hatte, wandte sich wieder mir zu.

»Gehen wir weiter?«

Seine blendende Laune nervte mich. Nicht, weil ich ein mürrischer, zickiger Teenager war, sondern weil ich ahnte, dass er log.

»Und du bist als Lehrer angestellt?«

»Nein, als … äh …«

»Ja?«

»Schulkümmerer.«

»Hausmeister?«

»Ja, genau!«

Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Das klatschende Geräusch, gefolgt von unsicherem Grunzen, bewies, dass etwas nicht stimmte.

»Fein.« Ich blieb stehen, schaute mich um und als ich mir sicher war, dass sich niemand auf mich konzentrierte, zog ich ihn mit mir in den Korridor, in dem die Pokale der Schulmannschaften aufbewahrt wurden.

»Lanea. So gut kennen wir uns aber noch nicht.«

Idiot!

»Du lügst doch. Du kannst mir nicht erzählen, dass du Hausmeister bist. Du …« Ich musterte ihn und erkannte seine angeberischen Muskeln. Nicht mein Typ. »… bemühst dich, älter auszusehen, aber du bist doch nicht viel älter als ich«, beendete ich meine Sherlock-Holmes-Schlussfolgerungen.

»Das sagen dir deine Instinkte, nicht wahr?«

Diese Reaktion hatte ich nicht erwartet. Freute Cliff sich etwa, ertappt worden zu sein?

»Meine … was?«

Das brachte mich aus dem Konzept. Der schwach belichtete Pokalflur, der aussah, als würden gleich Zombies aus ihren Löchern gekrochen kommen, tat sein Übriges.

»Ich habe dich gesucht, Lanea!«

»Willst du mich verarschen?« Unsicheren Schrittes entfernte ich mich von ihm.

»Hör zu, wir haben nicht massenhaft Zeit und du musst mir für den Anfang einfach glauben.« Sein kantiges, glattes Gesicht, so frei und noch nie von Tätowierfarbe berührt, sprach Bände. Er meinte es ernst.

»Für was haben wir keine Zeit?«

Der Geruch des frischen Glasreinigers der Vitrinen stieg mir wohl zu Kopf. Die Welt um mich wankte. Was ging vor sich? Was passierte mit mir? Wer war er?

»Um dir beizubringen, wer du wirklich bist«, antwortete Cliff kalt.

Die rote Lotusblüte an seinem Hals blinkte. Was ich war?

»Du bist offensichtlich irre!«

Ich drückte die aufsteigende Wut wie Sodbrennen hinunter und stampfte an ihm vorbei. Cliff packte mich am Unterarm, riss ihn hoch und hielt ihn vor meine Augen.

»Sie dich an! Willst du nicht erfahren, wo du herkommst?«

Zuerst dachte ich, er meinte meine Haut, bis ich erkannte, dass die Stelle, an der er mich berührte, leuchtete. Nein, glühte wie flüssige Lava. Mein Gesicht heizte sich auf.

»Was …«

»Deshalb bin ich hier, Lanea.«