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Seraphim, Marie Sophia:
Gute-Nacht-Geschichten vom Wassermann. Teil 2. Das Volk der
Meere / Norderstedt: Books on Demand GmbH 2016
© 2016 Marie Sophia Seraphim, 71254 Ditzingen
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Umschlaggestaltung: Sabine Krell, BoD
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ISBN 978-3-7412304-4-8
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Für Joachim
Hinter den Ufern des großen Meeres schlief ein Wassermann mit lustigen Glubschaugen und einem grünen Haarschopf. Er hatte sein Heim am Grunde eines Teiches, etwas entfernt vom Meer hinter einer Sandbank. Und dort stand sein weiches Bett aus Moos und Algen. Der Winter neigte sich dem Ende und der lange Schlaf des Wassermannes war bald vorüber. Hörst Du sein leises Schnarchen? Es hört sich unter Wasser an wie „galub, galub, galub“.
Vielleicht weißt Du schon einiges über den Wassermann. Zum Beispiel, dass er dreiundvierzig Jahre alt ist und dass das für Wassermänner erst die Jugend bedeutet, denn sie werden oft dreihundert Jahre oder älter. Denn drei Wassermannjahre zählen so viel wie ein Menschenjahr.
Bestimmt weißt Du auch schon, dass der Wassermann im vergangenen Sommer einen Jungen kennen gelernt hatte, der Tim hieß. Er trieb genau so viel Schabernack wie der Wassermann und deshalb waren die beiden gute Freunde geworden. Tim hatte ihn gemeinsam mit seinen Eltern kurz vor dem Winterschlaf zurück zum Teich gebracht. Der Wassermann hatte nämlich den Sommer bei den Menschen verbracht, viele Abenteuer erlebt und sich oft über sie gewundert.
Als er im Herbst zurückkam, da freuten sich zwei sehr: Die Kröte Lux und die Schildkröte Kassiopeia. Das nämlich waren die beiden anderen Freunde des Wassermannes.
Auch diese beiden hielten übrigens gerade noch ihren Winterschlaf.
Doch es dauerte nicht lange und eines Morgens erhellte die Frühlingssonne den Teich, so dass er gar nicht mehr dunkel und still dalag wie im Winter. Nein, von seinem dunklen Grund her schimmerte es jetzt bläulich-grün wie ein geheimnisvolles Leuchten.
Und was war das? Auf einmal stieg eine dicke, trübe Wolke vom Grunde des Teiches auf und jetzt: Tatsächlich, ein Grasbüschel, nein, Haare tauchten auf und darunter ein runder, grüner Kopf, gleichmäßig bedeckt mit glänzenden Fischschuppen und mitten darin eine dicke, runde Nase.
Der Wassermann war aufgewacht! Er war aufgewacht und jetzt rieb er sich im Wasser verschlafen seine großen, runden Augen.
Hättest Du ihn sehen können, so wären Dir bestimmt die Schwimmhäute zwischen seinen Fingern aufgefallen. Die braucht ein Wassermann, klar, sonst kommt er unter Wasser schlecht voran. Probier es einmal aus und schwimme mit gespreizten Fingern, dann wirst Du es sehen.
Jetzt machte der Wassermann seinen Mund auf und gähnte nach Herzenslust. Dann streckte und reckte er seine Arme nach oben und paddelte kräftig mit den Füßen, damit er nicht wieder versank. Die Sonne kitzelte ihn an der Nase und er machte „Hatschi!“. Dann musste er lachen.
„Hatschi!“ machte er noch einmal und rieb sich die Nase.
Er sah sich um. Das Wasser kräuselte sich, das Schilfgras hatte noch keine Triebe, die aus der glatten Fläche hervorguckten und er konnte durch das vertrocknete Schilf weit bis auf die Sandbank hinaussehen, die vor dem Teich im Meer lag. Ein paar Fische kitzelten ihn an den Beinen. Er strampelte und gluckste, ging unter, tauchte wieder auf und spritzte mit gespitzten Lippen Wasser im hohen Bogen aus seinem Mund.
Die Sonnenstrahlen glitzerten auf dem Wasser wie kleine Sterne und der Wassermann versuchte, sie mit seinen Händen zu fangen. Da zersprangen sie in tausend helle Funken.
Dann nahm er Schwung und schoss wie ein Delphin aus dem Wasser und wieder hinein. Er jauchzte vor Vergnügen. Der Winterschlaf war zu Ende und ein herrlicher Sommer lag vor ihm!
Am Ufer des Teiches stand eine mächtige, alte Weide, die ihre langen, nackten Äste in das Wasser hing. Bald würden an ihr tausende winziger Blättchen sprießen, die im Sommer wunderbar kühlen Schatten spendeten. Der Baum hatte dicke Wurzeln und an einer davon zog sich der Wassermann hinauf. Sie waren noch kalt, aber die Sonne schien angenehm warm und der Wassermann kletterte die kahlen Äste hinauf und suchte sich ein bequemes Plätzchen in einer Astgabel. Dorthin setzte er sich und blickte in die Ferne.
Wie still das Meer vor ihm lag. Gar nicht so rau wie im Herbst, als er schlafen gegangen war. Ein paar Möwen landeten auf der Sandbank und pickten im seichten Wasser nach Würmern und Muscheln.
Von dieser Seite war Tim immer gekommen, mit seinem Ruderboot. Der Wassermann erinnerte sich noch genau an die erste Begegnung mit ihm. Tim wohnte am anderen Ufer des Meeres, hatte den Teich entdeckt und wollte wissen, was es hier so gäbe. Da war er mit seinem Boot durch das Schilf gefahren und eingeschlafen. Der Weg hierher war weit gewesen und er war auf einmal so müde geworden. Nachdem er aufgewacht war, hatte er den Wassermann gesehen und war in den nahen Wald geflüchtet. Und der Wassermann war schnell weggetaucht. Aber schließlich hatten die beiden doch die Scheu voreinander verloren.
Der Wassermann lächelte. Es war schön gewesen in der Welt der Menschen. Schön und komisch zugleich. Ob er wohl noch einmal dorthin ginge? Ob Tim wohl wieder käme? Und wann? Oder hatte er ihn womöglich vergessen?
Unten vom Ufer her hörte der Wassermann ein Schmatzen. Morast und Blätter wurden zur Seite geschoben. Er spähte hinunter und neigte den Kopf Richtung Wasser. Das Geräusch kam aber mehr von hinten, so dass er den Kopf immer mehr neigen musste. Er hielt sich mit seinen dünnen Ärmchen an den Ästen der Weide fest und neigte den Kopf noch mehr und noch mehr… und auf einmal machte es Platsch! Der Wassermann war in den Teich geplumpst und das Wasser spritzte nach allen Seiten. Er tauchte auf und wieder unter und strampelte vor Vergnügen kopfüber mit den Füßen, so dass immer mehr Wasser an das Ufer spritzte.
„Das ist ja eine schöne Begrüßung“, hörte er eine Stimme hinter sich, als er seinen Kopf gerade wieder aus dem Wasser herausgestreckt hatte. Er drehte sich um und wer saß da am Ufer, noch ganz verschlafen, ganz von Erde und Schlamm bedeckt und ziemlich nass?
„Kassiopeia!“, rief der Wassermann, schwamm zum Ufer und umarmte seine Freundin stürmisch. Die Schildkröte hatte ihren Kopf weit unter ihrem Panzer hervorgestreckt und erwiderte die Begrüßung mit einem leisen Lachen.
„Guten Morgen“, sagte sie dann. „Hast du ausgeschlafen?“
„Und wie!“, entgegnete der Wassermann. „Ich bin erst aufgewacht, als das Wasser schon geleuchtet hat.“
Kassiopeia blinzelte in den Himmel. „Ja, die Sonne hat schon Kraft“, stellte sie fest. „Du hast lange geschlafen. Und was macht unsere Kröte Lux?“
„Keine Ahnung“, sagte der Wassermann. „Die habe ich noch nicht gesehen. Ich dachte, sie ist es, die sich unter der Weide bewegt hat. Aber das warst du.“
„Ich?“ Kassiopeia schüttelte den Kopf. „Ich habe im Wald geschlafen. Nicht hier.“
Beide sahen sich um. Wenn Kassiopeia im Wald geschlafen hatte, dann gab es eigentlich nur eine Möglichkeit, wer sich da unter der Weide bewegt haben konnte. Der Wassermann kletterte hinüber zu den Wurzeln des riesigen Baumes und suchte den Boden ab. Da entdeckte er eine Mulde. Hier war sie gesessen, ganz sicher, hier hatte sich etwas bewegt. Das musste die Kröte Lux gewesen sein. Aber wo war sie jetzt? Hatte sie sich versteckt oder war sie womöglich weggegangen?
Wenn Du es wissen möchtest, dann musst Du das nächste Kapitel lesen. Dort erfährst Du es ganz bestimmt.
Als der Wassermann das leere Nest der Kröte Lux gefunden hatte, sah er zu Kassiopeia hinüber und zuckte mit den Schultern. Sie hatte hier gelegen, daran gab es keinen Zweifel. Und man sah auch eine Spur aus nassen Blättern, die in Richtung Wald führte. War sie dorthin gegangen?
Die beiden lauschten. Die Tannen ragten neben den anderen Bäumen hoch in den Himmel und davor lag ein breiter Streifen Wiese. Eine sanfte Brise strich über das kurze Gras und der Wassermann meinte, ein zartes Grün an den Laubbäumen zu erkennen, die ersten Triebe der Blätter.
Die Sonne stand in einem gleißend hellen Gelb am Himmel und schien genau auf diesen Flecken Wiese, den Kassiopeia und der Wassermann soeben betrachteten.
Auf einmal hörten sie leise Musik. Zuerst dachten sie, es wäre der Wind, der in den Blättern rauschte, wie im Herbst, wenn die Stürme wehten. Doch es bewegte sich kein Grashalm, kein Ästchen.
Sie hörten genauer hin und erkannten Flötentöne wie von weit her. Es klang sehr lieblich und zart und weil Wassermänner ziemlich neugierig sind, machte er sich auf, um herauszufinden, woher die Töne kamen.
Er hatte erwartet, dass Kassiopeia, die immer sehr vorsichtig war, ihn zurückrief. So, wie sie es damals getan hatte, als der Wassermann zu Tims Boot hinaufgetaucht war.
Doch diesmal hielt sie ihn nicht zurück. Und warum das diesmal anders war, das sollst Du gleich erfahren. Kassiopeia nämlich war eine sehr alte und sehr weise Schildkröte, und deshalb wusste sie, woher die Töne kamen.
Und Du?Kannst auch Du ahnen, woher mitten auf einer Wiese, in der Nähe von Bäumen, leise Flötenmusik erklingt?
Der Wassermann lief in Richtung des Waldes. Zu lange durfte er nicht bleiben, denn seine Haut trocknete sehr schnell aus.
Doch er machte nur ein paar Schritte und die Musik wurde lauter. Er konnte sie jetzt deutlich hören und weil er gute Ohren hatte, hörte er nun auch zarte Stimmen.
Der Wassermann ging noch näher auf den Wald zu und jetzt sah er eine kleine Gruppe junger Bäumchen, die im letzten Sommer noch nicht hier gestanden hatten. Es mussten Nachkommen der großen Bäume sein, die in der Nähe wuchsen. Am Fuße dieser kleinen Bäumchen lag ein Haufen verrottetes Laub, das die zarten Würzelchen wärmte, während sich die Bäumchen zur Frühlingssonne hin streckten.
Doch was war das? Etwas bewegte sich. Gleichzeitig verklang die Musik. Der Wassermann machte große Augen: Die Kröte Lux saß direkt vor ihm! Er hatte sie erst jetzt entdeckt, weil ihre Hautfarbe genau der des Laubhaufens glich. In ihren kleinen, weichen Händen hielt sie eine Flöte.
„Quak!“, sagte sie, „guten Morgen“. Ihr Herz klopfte genau so, wie das des Wassermannes vor lauter Wiedersehensfreude. Die beiden fielen sich um den Hals und der Wassermann rief: „Du bist es! Und ich dachte schon, du wärst weggegangen.“
Sie hörten Schritte hinter sich, die im schlammigen Boden matschten.
„Wie könnte sie? Wir gehören doch zusammen!“
Es war Kassiopeia, die jetzt mit ihrem schweren Panzer und den kurzen Beinchen zu den beiden krabbelte. In ihren Augen lag ein geheimnisvolles Licht und der Wassermann fühlte, dass etwas Besonderes in der Luft lag, aber so sehr er sich auch anstrengte, er hatte keine Idee, was es sein könnte.
So sah er aufgeregt von der Kröte Lux zu Kassiopeia und vergaß sogar, sich darüber zu wundern, dass die Kröte Lux Flöte spielen konnte. Oder war sie es gar nicht gewesen? Und warum war sie überhaupt weggehüpft?
Zu seinem Erstaunen sagten die beiden Freunde kein Wort, sondern warteten, bis der Wassermann ganz still war. Dann begann Kassiopeia mit ihrer klangvollen Stimme zu sprechen.
Die Wesen der Natur
warten darauf,
dass du auf ihrer Spur
wandelst. Drum, wach auf!
Die Wesen des Meeres
lehren dich,
dass es noch mehr gibt,
als dich und mich.
Heut ist dein Geburtstag,
erinnerst du dich?
Vor vierundvierzig Jahren,
entsinne dich!
Jetzt bist du alt genug,
wie jeder Wassermann,
um zu begreifen,
was einer wie du alles kann.
Drum öffne die Augen
für die Welt um dich her
und du wirst sehen,
es gibt noch viel, viel mehr.
Meine Güte! Das hatte er ganz vergessen! Natürlich! Heute war sein Geburtstag. Das musste so sein! Denn bis zum vierundvierzigsten Geburtstag schlafen die Wassermänner länger als üblich. Ihre Sinne werden vorbereitet, um Dinge sehen zu können, die man mit gewöhnlichen Augen nicht sehen kann. Und er hatte viel länger geschlafen! Deshalb war das Leuchten im Teich auch so ungewöhnlich gewesen. Es kam von der Sonne, die schon so hoch stand!
Kannst Du Dir das vorstellen, dass Du Deinen Geburtstag vergisst? Dazu müsste schon etwas ganz Besonderes passieren, stimmt’s?
Der Wassermann staunte nicht schlecht. „Dann seid ihr beide also schon lange vor mir aufgewacht?“
Er betrachtete seine Freunde schweigend. Irgendwie sahen sie merkwürdig älter aus, mit viel mehr Runzeln und Furchen auf der Haut. Doch die beiden schwiegen und lächelten. Und darüber vergaß der Wassermann den Gedanken von der runzligen Haut und ihm wurde klar, dass die Kröte Lux vorhin nicht aus dem Winterschlaf, sondern aus ihrem gewöhnlichen Tagschlaf erwacht war.
Kassiopeia sah ihn mit ihren gütigen Augen an. „Das geht allen Wassermännern so. Sie schlafen im vierundvierzigsten Jahr tiefer als sonst und länger.“ Dann machte sie eine kleine Pause und trat einen Schritt auf ihn zu. „Alles Gute zum Geburtstag“, sagte sie.
„Alles Gute, Quak, zum Geburtstag“, sagte nun auch die Kröte Lux und reichte dem Wassermann die Flöte. „Das hier ist unser Geschenk.“
Der Wassermann wusste nicht, ob er träumte oder ob das alles wirklich wahr sein sollte. Aber jetzt war keine Zeit zum Nachdenken. Er nahm die Flöte vorsichtig in die Hand und betrachtete sie mit leuchtenden Augen.
„Danke“, sagte er mit einem tiefen Seufzer. Denn so viel wusste er ganz genau: Wenn ein Wassermann das vierundvierzigste Lebensjahr erreicht hat, dann erfährt er vieles über die Geheimnisse der Natur, der Erde und der Meere und aller Wesen darin. Und weil der Wassermann so neugierig war, hatte er es nicht erwarten können, diesen Geburtstag zu erreichen.