Techno ist tot, zumindest offiziell. In Wirklichkeit waren elektronische Musik und die nächtliche Subkultur des Ausgehens - jenseits von sozialen Utopien und Love Parade - nie kreativer und interessanter als heute. Und nie so an einem Ort konzentriert: Jedes Wochenende bevölkern junge Leute aus ganz Europa ein paar Kilometer am Berliner Spreeufer; sie kommen mit Billigfliegern und bleiben nicht selten, bis die letzte Afterhour nach Tagen fast wieder ins nächste Wochenende mündet ... Tobias Rapp, ein intimer Kenner der Szene, porträtiert die exzessivste und insgeheim einflussreichste Hauptstadtkultur und ihre Protagonisten: Tänzer und DJs, Musikproduzenten und Stadtplaner.

Tobias Rapp, geboren 1971, war bis Anfang 2009 Musikredakteur der taz. Jetzt arbeitet er als Popredakteur des Spiegel. Er lebt in Berlin und Hamburg.

Tobias Rapp

Lost and Sound

Berlin, Techno
und der Easyjetset

Suhrkamp

Umschlagfoto: © Scott Houston / Corbis

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73395-0

www.suhrkamp.de

Für Harald Fricke

Inhalt

Vorwort

Die Woche beginnt: der Mittwoch

Wie eine Clubmeile entsteht

So viele Sprachen hier ... der Donnerstag

Der Easyjetset und die neue europäische Clubgeografie

Das Berliner Nachtleben ruht auf vier Säulen: der Freitag

Der Ricardo

Das Berghain, die Mitte der Welt (von Alexis Waltz)

Schlange stehen. Ins Berghain gehen. Nie wieder nach Hause wollen. Der Samstag

Das sanfte Glück des posteuphorischen High: der Sonntag

72 Hour Party People. Die Bar 25

Wir treffen uns in der Restrealität

Berlin abroad

Feiern, bis die Haare leuchten: der Montag

Ravemutter, Ravetochter (von Anton Waldt)

Die große Techno-Klötzchenschieberei

Wir verkaufen Geschmack

Zurück auf Start: der Mittwoch (Reprise)

Zwanzig Platten: eine kleine Geschichte des Berliner Sounds der nuller Jahre

Dank

Quellenachweise

Bildnachweise

Vorwort: Berlin, Techno

Ein neues Berlin entsteht, und keiner kriegt es mit. Fast keiner natürlich, irgendjemand muss es ja bauen.

Doch angesichts der Größe des Phänomens und des Rufes wie Donnerhall, der sich überall auf der Welt verbreitet hat, war es doch einigermaßen verwunderlich, wie oft ich bei der Arbeit an diesem Buch von Leuten, die nicht direkt mit elektronischer Musik zu tun haben, erstaunt angeblickt wurde, wenn ich umriss, worum es gehen soll: Techno? Wirklich? Das gibt es noch?

Zur Erinnerung: Berlin war die Stadt, die diese Musik mit prägte. Ob es Westbam war, der schon Mitte der Achtziger anfing, Vorformen von dem aufzulegen, was bald Techno werden sollte. Ob es, nach dem Fall der Mauer, all die illegalen Läden waren oder der legendäre Tresor, in dem Tanith Platten spielte und die Detroiter Techno-Erfinder ihre europäische Anlaufstelle hatten. Die Sache wurde rasch größer, das E-Werk hatte schon einen populistischeren Sound, die Love Parade verwandelte sich innerhalb weniger Jahre vom Insiderscherz zur Millionenveranstaltung und wurde live im Fernsehen übertragen. Währenddessen machten sich Feuilletonisten und Kulturwissenschaftler euphorische Gedanken um neue Geschlechtermodelle und die Ablösung des Rockstars durch den DJ. Als der Schriftsteller Rainald Goetz die Love Parade bejubelte, sorgte das noch für Streit, als Gotthilf Fischer dort auftrat, hatten die Zeitdiagnostiker das Interesse schon lange verloren. Techno, so konnte es einem vorkommen, hatte sich von einer Subkultur in eine Selbstparodie verwandelt. Und im avancierten Pop erlebte der rüpelhafte und charismatische Rockstar sein Comeback. Die Gitarren wurden wieder ausgepackt. Techno war eine Jugendkultur der Neunziger, historisiert und offiziell tot.

Was diese groben Linien der Geschichtsschreibung verbergen: House, Techno, Electro, Minimal - wie auch immer man es nennen möchte - gibt es immer noch, und in Berlin ist diese Musik und die dazugehörige Szene größer, vielfältiger und interessanter als je zuvor. Noch nie hatten die Clubs der Stadt eine solche Anziehungskraft wie das Berghain, das Watergate, das Weekend, die Bar 25 und andere gerade jetzt. Tausende sind es, die Wochenende für Wochenende aus ganz Europa und von weiter her zum Feiern kommen. In ihrer Selbstwahrnehmung tut sich die Stadt allerdings schwer mit dem Phänomen. Und manchmal, wenn man etwa in einer Schlange vor einem Club steht und das babylonische Sprachgewirr der Umstehenden in den Ohren hat, denkt man ohnehin, dass diese Goldene Zeit nicht das Ergebnis lokaler, sondern internationaler Dynamiken ist, die zwar in Berlin kulminieren, aber wesentlich befeuert werden von Menschen, die aus dem Rest der Welt, vor allem den USA, aber auch aus Nord- und Südeuropa hierhergekommen sind. Sei es für ein paar Monate, sei es für länger. Oder eben nur für ein Wochenende. Nirgendwo außerhalb des Diplomatischen Corps dürfte Berlin so international sein wie in der Techno- und Clubszene. Im Grunde ist das natürlich Arbeitsmigration und nicht anders als das, was die Finanzindustrie für New York oder London ist, Hollywood für Los Angeles und Mode für Paris oder Mailand.

So gesehen fällt es dann auch gar nicht so sehr ins Gewicht, dass die Berliner Radiosender diese größte und wichtigste musikalische Kultur, die Berlin in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren hervorgebracht hat, fast völlig ignorieren und ihr nur ein paar kleine Nischensendungen zugestehen. Es gibt ja genügend Sender im Internet. Im Herbst 2008 kam Berlin Calling von Hannes Stöhr in die Kinos - nach fast zwanzig Jahren der erste ernstzunehmende Spielfilm über Berlin und Techno.

Diese Wahrnehmungslücke steht in scharfem Kontrast zu den Illusionen, die viele Zugezogene haben. Wie oft ist schon behauptet worden, die Atmosphäre im Berlin der nuller Jahre erinnere an die frühen Achtziger in Manhattan! Das ist zwar nicht völlig aus der Luft gegriffen - damals wie heute war es der künstlerische Nährboden einer wirtschaftlich und finanziell maladen Stadt, dessen Anziehungskraft in die Welt hinausstrahlte und jede Menge Kunstschaffender anlockte, denen der Sinn nicht primär nach Weltkarriere stand, sondern danach, in geschützter Umgebung zu experimentieren und sich auszuleben. Damit enden die Parallelen aber auch schon, denn das Entscheidende im damaligen New York war der Kontakt afroamerikanischer Jugendlicher aus der Bronx und Harlem mit weißen Downtown-Künstlern. HipHop setzte von dort aus zum großen Sprung an und wurde zur weltweit erfolgreichsten Popkultur des vergangenen Vierteljahrhunderts. Und auch der größte Popstar dieser Zeit ging aus der Downtown-Szene hervor: Madonna.

In Berlin ist eine neue Madonna nicht in Sicht, der einzige weltweite Star, den die Berliner Szene hervorgebracht hat, ist die Kanadierin Peaches, und die ist ursprünglich ein Phänomen der Neunziger, von Berlin-Mitte 1.0, wenn man so will, einer Zeit, als andere Konstellationen wirkten als heute.

Nein, dieses Berlin der nuller Jahre unterscheidet sich in vielen Punkten vom New York der Achtziger. Und der größte Unterschied besteht vermutlich darin, dass die Stars dieser Stadt keine Einzelpersonen sind, sondern kollektive Subjekte: die Berliner Clubs und ihr Publikum. Weltberühmt sind sie, einzigartig, Projektionsoberflächen, voller Bedeutung. Von weither reist man an, man steht Schlange, um sie zu sehen, um sie zu feiern und damit sich selbst.

Was ja auch wieder seine Tradition hat: Berlin ist seit den Sechzigern eine Stadt, in der vor allem das soziale Experiment funktioniert. Das wird oft übersehen, abgestritten oder als eine Schwäche gedeutet, die es auszugleichen gelte, um auch in Berlin die Normalität anderer Städte einzuführen. Was auch immer man sich darunter vorzustellen hat. Dabei ist die relative Anonymität und Gesichtslosigkeit der Berliner Technoszene - denn tatsächlich sind ja selbst die Lästereien darüber, dass diesem oder jenem der Ruhm zu Kopf gestiegen sei, im Grunde ein Beleg dafür, dass die Bodenständigkeit sich behauptet - eine große Errungenschaft, die man gar nicht genug betonen kann. In Zeiten, wo ein Großteil der Geschichten, die eine Kultur von sich erzählt, von prominenten Personen handelt, wo ein heiß drehender Celebrity-Kult die gesamte Gesellschaft beherrscht, ist es gut zu wissen, dass zumindest ein kulturelles Segment übrig geblieben ist, in dem man das Promi-Sein für das hält, was es ist: Zeitverschwendung.

Keine Stars also. Und auch keine Werbepartner. Jeder, der in den Neunzigern ausgegangen ist, wird sich erinnern, wie omnipräsent Zigarettenfirmen und Mobiltelefonanbieter damals in den Clubs waren. Auch das ist vorbei. Bis auf den Getränkekonzern Red Bull haben sich die sichtbaren Sponsoren aus der Technoszene zurückgezogen.

Mit ein wenig Willen zur Idealisierung könnte man sagen: Die House- und Technoszene von Berlin hat die guten Seiten einer Independent-Kultur - ökonomische Unabhängigkeit, künstlerische Integrität, Kompromisslosigkeit - bewahrt und die schlechten, also verkürzte Kapitalismuskritik, Idealisierung der Selbstausbeutung und Unprofessionalität einfach weggelassen. Unabhängig sein, ohne Indie zu sein. Der popkulturelle Idealzustand und das genaue Gegenteil jener Rock- und Popmusik, die heute Indie genannt wird und sich zwar meist so anhört, aber nur selten unabhängig ist.

Tatsächlich ist eine andere Parallele zu den amerikanischen Städten der Achtzigerjahre im Fall der Berliner Technoszene durchaus sinnvoll. Nach dem großen Plattenindustrie-Crash von 1979 zog sich Disco dort in den Underground der Clubs zurück, und bildete neue Formen aus. Der Rhythmus wurde maschinisiert, neue Stile und Sounds wurden integriert - eine Entwicklung, die ein paar Jahre später zu House führte, einer Musik, die deutlich in der Tradition von Disco steht und doch etwas ganz Neues war. So ähnlich ist das mit Techno und Berlin in den nuller Jahren. In den Neunzigern gab es Rave mit allem was dazugehört: großer Aufregung, tollen Platten, Weltherrschaftsfantasien, Chartsplatzierungen - bis das Ganze nach großen Erfolgen und Exzessen zum Ende des Jahrzehnts zusammenkrachte. Um die Jahrtausendwende zog sich die Musik in den Underground zurück, um sich zu erneuern.

Was danach kam, davon handelt dieses Buch. Es wird um besondere Berliner Konstellationen gehen, die vieles ermöglichen, was woanders undenkbar wäre, um Brachflächen, Leerstand und immer noch billige Mieten, um liberale Behörden, unermüdliche Aktivisten und Institutionen, die einfach immer weitermachen, um Stadtpolitik und die Liberalisierung des europäischen Flugmarkts, die all dies innerhalb kurzer Zeit zu ungeahnter Größe anwachsen lässt. Es wird um Musiktechnologie und die prekäre Ökonomie eines Plattenlabels gehen. Und darum, wie die Protagonisten - DJs, Produzenten, Clubbetreiber, Tänzer - ihre Szene erleben, ob in einer euphorischen Samstagnacht oder während einer Afterhour am Montagabend.

Lost and Sound erzählt dabei auch eine zweite, eher persönliche Geschichte. Ich bin im Sommer 1990 nach Berlin gezogen und seitdem immer viel ausgegangen. Es gab Pausen. Ein paar Jahre lang interessierte mich das Nachtleben nur ganz am Rande. Trotzdem könnte ich einen großen Teil meines Lebens entlang der Läden erzählen, in denen ich meine Nächte verbracht habe. Viele Freundschaften sind mit diesen Nächten verbunden, einige haben es auch ans Tageslicht geschafft.

So wird es vielen Leuten gehen, die seit den frühen Neunzigern in Berlin ausgegangen sind. Jeder und jede hat den Ort, der für ihn oder sie am stärksten mit Wirklichkeit aufgeladen ist. Der Ort, der zählt, an dem die wirklich wichtigen Dinge verhandelt werden, wo man sich als Teil der Welt fühlt, weil von hier aus ein ideeller Kontakt zu anderen, ähnlich gesinnten Räumen besteht und den Menschen, die sie bevölkern. Der Ort, zu dem man die anderen Orte in Beziehung setzt, an denen man sich bewegt. Früher mag das mal die WG-Küche gewesen sein. Oder die Straße. Für mich und viele andere, die ich in den vergangenen zwanzig Jahren in Berlin getroffen habe, war das der Club. Der Ort, an dem Geschichte gemacht wird, an dem man das Gefühl hat, sein eigenes kleines Treiben sei Teil eines großen Jetzt.

Dieses Gefühl ist natürlich, bei nüchternem Tageslicht betrachtet, höchst zweifelhaft und im Großen und Ganzen Quatsch. Was aber nichts an der Wirkmächtigkeit ändert, mit der es Nacht für Nacht immer wieder Tausende von Menschen dazu bringt, rauszugehen und zu feiern. Und es hat übrigens auch weit weniger mit Politik zu tun, als man in den Neunzigern in manch euphorischem Augenblick glaubte.

Auch darum soll es gehen: die Bedingungen der Möglichkeit des Tanzflächenglücks zu beschreiben. Dieses Glück ist flüchtig und nicht planbar. Man weiß zwar, welche DJs man mag und welche Musik einem passt. Aber ob ein Abend diesen bestimmten Moment vorgesehen hat, lässt sich niemals voraussagen. Es passiert oder es passiert eben nicht. Dafür bleibt man dann bis lange in den nächsten Tag hinein.

An der Bezeichnung »Techno« im Untertitel dieses Buches werden sich vielleicht einige Leserinnen und Leser stören. Warum nicht House? Sie haben recht - für mich persönlich genauso wie für die meisten DJs und Produzenten, die ich im Laufe meiner Recherchen gesprochen habe, ist das der Genrebegriff für elektronische Tanzmusik. House Music. Dafür könnte man alle möglichen musikhistorischen Gründe anführen, was aber den Begriff »House« so attraktiv macht, dürften vor allem zwei Dinge sein: Zum einen bezieht er sich auf den Ort, das Warehouse, wo diese Musik zuerst gespielt wurde. Das macht House zu einem offeneren Konzept als »Techno«, ein Begriff, der sich abstrakter und intellektueller auf eine bestimmte Auseinandersetzung mit Technologie bezieht. Zum anderen hat House das historische Subjekt der »House Nation« hervorgebracht: die Leute, die zu dieser Musik tanzen. Auch das ist bis heute ein sehr attraktives Konzept.

Leider ist die Wahrnehmung in Deutschland genau andersherum. Hier ist Techno der Oberbegriff und House das Genre. Das eine ist die Musik mit dem geraden Bummbummbummbumm. Und das andere die Musik mit dem geraden Bummbummbummbumm, über das eine Diva »Release Me!« singt.

Seit einigen Jahren hat es sich bei vielen eingebürgert, diese Musik Electro zu nennen, ungeachtet der Tatsache, dass es sich bei Electro musikhistorisch um ein relativ eigenständiges Genre handelt, das seine Wurzeln in der Breakdance-Musik der späten Siebziger und frühen Achtziger hat und seitdem eigentlich nie wieder verschwunden ist. Electro lebt von retrofuturistischen Klängen, hört sich also so an, wie man sich in den Achtzigern die Zukunft vorstellte, voll einfacher Computerspielsounds und frühem Drummachinegebolze. Außerdem wird Electro meist von einem gebrochenen Vierviertelrhythmus getragen.

Und Minimal, oder gar mnml? Viele Kritiker mögen den Begriff, weil er eine Abkehr von den muskulösen Rave-Sounds der Neunziger suggeriert und am ehesten den Bruch betont, der die Musik der nuller Jahre von der der Neunziger unterscheidet. Dummerweise sind die Kritiker aber auch die einzigen. Sonst benutzt den Begriff fast niemand.

Ob Techno, House, Electro oder Minimal - wer hofft, in diesem Buch vor allem etwas über Musik zu lesen, wird ohnehin enttäuscht werden. Technokultur ist, wie jede funktionierende Popkultur, äußerst schnelllebig: Eine Platte ist einige Wochenenden lang groß, seltener eine Saison lang, und dazu muss es schon richtig gut laufen. Dann verschwindet sie, macht Platz für neue Platten, taucht vielleicht nach ein paar Jahren wieder auf, weil irgendein Element sich wieder als kompatibel mit dem neuesten Klang erweist und DJs sie wieder hervorholen können, um eine Tanzfläche zu überraschen. Aber diese Diskussionen haben ihre Öffentlichkeit in den verschiedenen Magazinen, in Internetforen und nicht zuletzt im Plattenladen und im Club selbst. Ein Buch ist dafür zu langsam.

Dieses Buch hat auch keinen Vollständigkeitsanspruch. Die ganze Szene rund um die Friedrichstraße habe ich beispielsweise weggelassen, das Cookies, das Picknick, das Violet und die Scala kommen nicht vor. Auch das Tape wird man vergeblich suchen. Dahinter steckt kein böser Wille - diese Clubs liegen nur nicht in der Ausgehmeile, die im Zentrum dieses Buchs steht. Vieles, was hier beschrieben wird, gilt für sie natürlich trotzdem. Auch die neuen Wege, die Clubs aus der Gegend herauszuführen, zurück in die Stadt hinein, kommen zu kurz. Das Ritter Butzke wird keine Rolle spielen, die Wilde Renate auch nicht.

Dasselbe gilt für die Künstler. Es gibt Hunderte aktiver DJs in Berlin. Wer in diesem Buch vorkommt, ist nicht wichtiger als andere, die nicht vorkommen. Sieht man mal von herausragenden Figuren wie Ricardo Villalobos ab, der eine zentrale Rolle spielt, egal wie man diese Szene betrachtet, ist vieles schlicht dem Zufall und der persönlichen Präferenz geschuldet. Lost and Sound ist kein Lexikon.

Und auch kein Geschichtsbuch. Auch wenn ich bei der Recherche festgestellt habe, dass der Wunsch nach einer Historisierung weit verbreitet ist - mir kommt die Gegenwart im Augenblick noch so reich vor, dass ich gar nicht wüsste, was man mit einem Geschichtsbuch anfangen sollte. Es passiert einfach noch zu viel. Diese Musik und diese spezielle Kultur des Feierns, die mit dem Berlin der nuller Jahre identifiziert wird, macht noch immer so überzeugend ihren Anspruch auf Zeitgenossenschaft geltend, dass man sich die Beschäftigung mit der Geschichte guten Gewissens für die Tage aufheben kann, an denen weniger los ist. Das popkulturelle Gestern läuft einem nicht weg. Ganz anders als das Heute.

»Vergesst nicht, nach Hause zu gehen«, ermahnte der britische DJ und Produzent Ewan Pearson - einer der vielen Engländer und Amerikaner, die es in den vergangenen Jahren nach Berlin verschlagen hat - in dem Dokumentarfilm Feiern von Maja Classen die Berliner Feiergemeinde. Ein Glück, das endlos verlängert wird, ist trügerisch. Einige Monate später ruderte Pearson in einer Kolumne für das Magazin Groove zurück: In Anbetracht der Einmaligkeit vieler Berliner Clubs und der Gefahr, dass sie womöglich bald schließen müssen, sei es erste Raverpflicht, für den Erhalt zu kämpfen, sich an der Schönheit dieser Orte zu freuen und auszugehen.

Dem habe ich wenig hinzuzufügen. Dieses Buch ist das eine. Das Feiern das andere. Lost in Sound, lost and sound.

Die Woche beginnt: der Mittwoch

Es ist kurz nach Mitternacht, und falls die Stadt schon schlafen sollte, macht sie das woanders. Auf der Stahltrasse, die zur Oberbaumbrücke führt, rumpelt die letzte U-Bahn in Richtung Friedrichshain. Wir sind am Schlesischen Tor in Berlin-Kreuzberg. Lange ist es noch nicht her, da sagten sich hier Fuchs und Hase gute Nacht; der Wrangelkiez, eingequetscht zwischen Görlitzer Park, Spree, Landwehrkanal und dem Verkehrsstrom der Skalitzer Straße, war eine der vergessenen Ecken des Bezirks. Auch noch Ende der Neunziger, als das Clubleben in Mitte spielte und Techno over war. Kleinere Gruppen von Menschen schieben sich durch die Falckensteinstraße in Richtung Spreeufer. Zwei Engländer fragen nach dem Weg, sie kommen etwas ratlos aus einer Hofeinfahrt. Das Watergate? Die Tür da vorne, die Treppe hoch. Es ist Mittwoch, das Wochenende ist noch zwei Arbeitstage weg, das Kribbeln ist schon da.

Es hat immer wieder etwas Feierliches, einen Club zu betreten. Man geht die Treppe hinunter, am Zigarettenautomaten vorbei in Richtung Bar und schaut sich um: Der erste Blick, wenn man einen Laden betritt, gilt immer den anderen. Wer ist da? Wen kenne ich? Was geht heute?

Das Watergate liegt direkt an der Spree, und der Waterfloor, die untere seiner beiden Etagen, hat eine Tanzfläche, von der aus man aufs Wasser gucken kann. Man ist vielleicht zwei Meter über dem Wasserspiegel. Die Fassade ist komplett verglast, vom Boden bis zur Decke. So schaut man auf den Fluss und das große Gebäude auf der anderen Flussseite, in dem der Musikkonzern Universal seine Deutschlandzentrale hat. Ein riesiges, mehrere Stockwerke hohes Konzernlogo leuchtet in wechselnden Farben. Schiffe fahren nachts keine, die U-Bahn nimmt ihren Verkehr erst in einigen Stunden wieder auf, wenn die ersten zur Arbeit müssen, den Autofahrern auf der Oberbaumbrücke ist der Blick durch die Backsteinbögen fast völlig verstellt. Das Logo leuchtet nur für die Tänzer im Watergate. Für uns.

Langsam wird es voller, und gegen ein Uhr gibt es diesen magischen Augenblick, in dem sich die Tanzfläche füllt. Das geht ganz schnell, und niemand weiß so richtig, wie es passiert. Es ist, als hätte jemand einen Hebel umgelegt. Erst sind es nur drei Leute, die tanzen, ein paar Minuten später sind es ein paar Dutzend. Man hört Jubelrufe. Was ist denn jetzt los? Ist es die Gruppe Engländer, die gerade gekommen ist? Ist es ein bestimmtes Stück? Oder ein bestimmter Sound in einem Stück, das House-Piano etwa? So oder so: Die Tanzfläche ist voll und so wird es bleiben, bis bei Universal die ersten Rechner hochgefahren werden.

»My My & Friends« heißt die Nacht, es ist die Veranstaltung des DJ- und Produzentenduos My My, Nick Höppner und Lee Jones. Höppner kommt aus Hamburg, legt seit langem Platten auf, war zwischendurch mal Redakteur bei Groove, einem Magazin für elektronische Tanzmusik, und arbeitet für Ostgut Ton, das Label des berühmten Berghain, das mittwochs allerdings geschlossen hat. 2006 erschien Songs Of The Gentle, das Debütalbum von My My, seitdem wird er überall auf der Welt gebucht. Lee Jones ist Engländer, er kam Anfang der nuller Jahre nach Berlin. Damals war er eigentlich in der Downtempo- und Broken-Beats-Szene zu Hause, veröffentlichte einige Platten unter dem Namen Hefner. In Berlin tauchte er in die Minimal-House-Szene ein, ging immer häufiger aus, begann live aufzutreten, und seit einiger Zeit legt er auch Platten auf. Heute stellt er sein Soloalbum Electronic Frank vor. Es ist bei Aus Records erschienen, einem britischen Label, das von dem DJ Will Saul betrieben wird. Der ist auch gekommen.

Es gibt einige Clubs, die für die Tage in der Mitte der Woche ähnliche Verabredungen treffen, wie das Watergate sie mit Jones und Höppner hat. Einem DJ-Team oder einem kleinen Label wird ein Abend übertragen, womit der Laden seine Auslastung steigert, denn Miete muss ja auch am Mittwoch und Donnerstag gezahlt werden, ob eine Veranstaltung stattfindet oder nicht. Die DJs haben ihrerseits eine konstante Einnahmequelle, je nachdem, wie gut ihr Abend läuft. Im Grunde eine Win-Win-Situation. Der Laden ist nicht nur ausgelastet, sondern arbeitet, ohne irgendein Risiko einzugehen, an seinem guten Ruf. Die DJs bekommen eine Plattform, um befreundete Künstler einzuladen, die dann möglicherweise die Einladung erwidern.

Auflegen ist für die wenigsten DJs reines Geschäft. Es geht immer auch um den Spaß, die Party, die Freude an den Platten, die man gerne spielen möchte, darum, die Reaktion auf neue Musik auszuprobieren. Man macht ja nicht nur sein Hobby, sondern sein Nachtleben zum Beruf. Wer einen regelmäßigen Termin hat, kann sich weiterentwickeln, Dinge ausprobieren, an seinen Fähigkeiten arbeiten. Um die Welt zu touren ist das eine. Glamourös und toll. Das andere ist eine Residency zu Hause. Daran wächst man.

»My My & Friends« findet einmal im Monat statt, nur der Waterfloor ist geöffnet, aber zweihundert bis dreihundert Gäste kommen eigentlich immer. Wer sind diese Leute, die offensichtlich am kommenden Morgen nicht aufstehen müssen, um zur Arbeit zu gehen? Wie setzt sich dieses soziale Subjekt zusammen, das in Ermangelung eines anderen Begriffs meistens einfach »Szene« genannt wird?

Am einfachsten und sofort erkennbar: Eine Reihe von Musikern und DJs sind da. Mittwoch ist ein Tag, an dem sonst wenig los ist, wo man auch nicht für Auftritte außerhalb der Stadt gebucht wird, also kann man privat feiern gehen. Ein paar der DJs haben eine kleine Entourage dabei, ihre Freundinnen, Booker oder Labelmacher.

Dazu kommen Gäste von außerhalb, all die Menschen, die der Ruf Berlins als Ausgehmetropole in die Stadt und hierher gelockt hat. Das japanische Pärchen etwa, das sich später vom DJ ein Autogramm holen wird. Oder eine Gruppe Italiener, die aussieht wie eine Agentur auf Betriebsausflug: zwei Herren und eine Dame Mitte fünfzig, drei Männer um die dreißig und zwei Frauen um die zwanzig. Sie amüsieren sich prächtig. Außerdem die Szenetouristen, Engländer, Skandinavier und Spanier vor allem, die man ohne Weiteres gar nicht von den Einheimischen unterscheiden kann. Man kleidet sich ähnlich und hat ähnliche kulturelle Vorlieben wie die Studenten und Freiberufler, die in Berlin wohnen, obwohl sie in den meisten Fällen auch nicht von hier sind.

Und zwischendrin: ein paar echte Berliner. Nicht, dass man sie an ihrer Kleidung erkennen würde. Eher an ihren Gesprächsthemen. Zwei Hartz-IV-Empfänger scherzen darüber, dass sie die Einzigen im Laden seien, die sich ernsthafte Sorgen über den nächsten Morgen machen müssten, für alle anderen würden ja die Eltern geradestehen. Im Grunde geht es ihnen aber prima, sonst würden sie hier nicht gut gelaunt durch die Gegend tanzen. Der eine ist Künstler, der andere hält sich mit Schwarzarbeit über Wasser. Der Künstler hat morgen am frühen Nachmittag einen Termin, den er nicht verpassen darf, irgendein Existenzgründerseminar.

Wir stehen an der Bar und sprechen darüber, wie es früher war. War es anders? Besser? Kann man mit der Euphorie älter werden? Was ist eigentlich aus Drum’n’Bass geworden? Wir unterhalten uns über Goa Raves, kommen auf den Nahostkonflikt zu sprechen, von da auf New York, wo der Künstler und ich beide eine Weile gelebt haben, in dieser bizarren Stadt, die beschlossen hat, sich vor lauter Reichtum kein Nachtleben mehr zu leisten, und die sich so faul und fett im Licht ihrer legendären Vergangenheit sonnt, dass ihr das Bedürfnis nach popkultureller Zeitgenossenschaft abhandengekommen ist. Und wir sprechen darüber, wie die New Yorker, selbst wenn sie woanders hinkommen, nach Berlin etwa, doch immer nur New York suchen. In Berlin ist das dann bevorzugt das New York der Achtziger. Oder suchen sie doch das Berlin der Zwanziger? Einmal um die Welt in acht Minuten.

Ausgehgespräche haben ja die Tendenz, vor allem vom Ausgehen selbst zu handeln. Wie super gerade wieder alles ist und dass man später vielleicht noch mal in diesen neuen Laden gehen will, von dem einem jemand erzählt hat, der da jemanden getroffen hat. Oder man spricht über das Gegenteil. Wie sehr man neulich das Gefühl hatte, es könne so nicht weitergehen. Dass man sich nach all der Feierei doch wieder ein bisschen mehr auf die Arbeit, das Studium, die Beziehung konzentrieren wolle. Die Eltern, die alt werden. Dass so eine Auszeit ja auch total gut sei. Währenddessen schaut man sich um und sieht diese Frau, der man vorhin vorgestellt worden ist, und denkt sich: Okay, nicht den Namen vergessen.

Das Watergate hat noch einen zweiten, größeren Floor, der mit seinem riesigen LED-Band, unter dem man sich beim Tanzen vorkommt wie in einem R&B-Videoclip, im richtigen Augenblick wirklichen Glamour besitzt. Obwohl der nur am Wochenende öffnet, gehen wir hinauf, jemand hat einen Schlüssel. Erstaunlicherweise ist auch hier was los: Es gibt zwar kein Publikum, aber ein paar Leute, die sonst im Watergate arbeiten, haben sich getroffen, um Platten auf der großen Anlage laufen zu lassen und die Lichtanlage einzuschalten. Besser als Musik hören, sei ja immer, Musik laut zu hören, sagt jemand.

Dann wieder runter, zurück zur Tanzfläche. Es ist halb vier, und das Geschehen hat sich fast vollständig dorthin verlagert, nur ein paar Leute stehen noch an der Bar, der kleine Floor vor dem DJ-Pult ist voll. Leute tanzen sich an, kleine Kommunikationscluster ergeben sich, man bringt sich gegenseitig Bier, Wasser und Schnäpse mit, feuert den DJ an und jubelt, wenn er den Bass herausnimmt, um ihn nach ein paar Takten wieder reinknallen zu lassen.

Es hat etwas angenehm Beiläufiges und zugleich etwas Extremes, mittwochs auszugehen, nicht zuletzt wegen des parallelgesellschaftlichen Charmes. Im Grunde öffnet sich hier ein Raum, der zwei Gruppen in ziemlich reiner Form zusammenführt, die man so ohne Weiteres nicht zusammen denken würde: die DJs und die Ausgehtouristen. Es ist nicht so, dass die Einheimischen den Touristen die langweiligen Orte von gestern überlassen hätten und selbst zu neueren und cooleren Orten weitergezogen wären, im Gegenteil: Die Nacht bezieht ihre Dynamik daraus, dass die DJs das Gefühl haben, ziemlich frei experimentieren zu können, während die Ausgehtouristen - die im Übrigen genau wissen, welcher Club gerade angesagt ist, schließlich ist kein Underground mehr zu unsichtbar für das Internet - tanzen, als gäbe es kein Morgen. Schließlich sind sie ja vor allem deshalb in die Stadt gekommen. Dorthin, wo die Leute, die sie zu Hause nur alle Jubeljahre mal in einer Samstagnacht zu sehen bekommen, schon mittwochs in intimer Atmosphäre auflegen ... Eine Situation mit Potenzial. So kann man sich gegenseitig hochschaukeln.

Natürlich hat das, je länger der Abend dauert, auch seine zunehmend wirren Momente. Irgendwann erklärt mir jemand das Konzept von Hedge-Fund-House. Auch wenn ihm einzelne Stücke mal nicht gefallen, sagt er, sei das Tolle an DJ-Sets, dass sie als Ganzes immer noch gut sein können. Das sei wie auf Verluste wetten, man könne gar nicht verlieren. Logisch.

Später steht die Japanerin, die sich vorhin ein Autogramm geholt hat, am Rand der Tanzfläche, hat ihre Jacke angezogen, ihre Tasche übergeworfen und wartet darauf, dass ihr Freund endlich den Absprung schafft. Mehrmals diskutieren sie, ohne dass einer der beiden sichtbar schlechte Laune bekommt. In dem kleinen gläsernen Nebenraum hinter den Toiletten, in den man vom DJ-Pult aus hineinschauen kann, lümmeln Pärchen knutschend auf den Sofas.

Dann dämmert es. Der Himmel ist wolkenlos, langsam hellt sich das schwärzliche Blau auf, und wenn man die Spree hinunter in Richtung Osten schaut, kann man sehen, wie sich das Morgendämmerungsrosa allmählich in jenes gelbliche Beige verwandelt, von dem man nie so genau weiß, ob es eigentlich den Abgasen geschuldet ist oder dem märkischen Sand, der hier ja auch immer in der Luft ist. »Hey, guck mal«, sage ich zu meinem Nebenmann und zeige nach draußen. »Was denn?«, sagt der. »Himmel, klar, kenn ich.«

Zeit zu gehen. Man verabredet sich fürs Wochenende. Die Woche hat ja gerade erst begonnen.

Wie eine Clubmeile entsteht

Auf knapp fünf Kilometern zwischen Alexanderplatz und Oberbaumbrücke haben sich fast alle Clubs angesiedelt. Im Niemandsland entlang der Spree überlagern sich Investorenträume und Politik, Stadtplanung und linker Aktivismus, Durchgangsverkehr und Raver-Idylle

Eine Stadt möchte gelesen werden. Sie gibt die Bedeutung ihrer Zeichen nicht jedem preis. Man muss sie zu entziffern wissen. Mitten in Berlin hat sich eine neue Ausgehzone entwickelt, eine Clubmeile, die jedes Wochenende viele tausend Menschen anzieht, deren Ruf sich längst auf der ganzen Welt verbreitet hat. Und doch ist sie für die Uneingeweihten so gut wie unsichtbar: eine geheime, verborgene Welt, mitten im Zentrum der Hauptstadt.

Wer von denen, die an einem sommerlichen Montagmorgen im Berufsverkehr unterwegs sind, würde auf die Idee kommen, dass ein paar versprengte Leute, die auf einer Verkehrsinsel direkt an einer viel befahrenen Ausfallstraße zwischen Treptow und Innenstadt sitzen, damit zu tun haben könnten? Oder das unauffällige, mehrfarbige Blitzen, dass man nachts sehen kann, wenn man in Richtung Norden am Alexanderplatz entlangfährt, an der Ampel stehen bleibt und an einer Hochhausfassade nach oben schaut? Oder die kleinen Grüppchen, die sonntagnachmittags neben dem alten Plattenbau-Bürogebäude, in dem die Tageszeitung Neues Deutschland ihre Redaktionsräume hat, aus einem dahinterliegenden Gewerbegebiet biegen? Man kann sich durch die neue Berliner Clubmeile bewegen, ohne sie zu bemerken. Man kann sie in einer guten Viertelstunde mit dem Fahrrad durchqueren und nichts von ihr sehen außer Baustellen. Tagsüber sowieso, aber auch nachts. Nur gelegentliche größere Ansammlungen von Taxis signalisieren: Hier irgendwo wird gefeiert.

Das nördliche Ende der Clubmeile markiert das Weekend am Alexanderplatz, ein Club, der sich im Haus des Reisens befindet, einem alten DDR-Hochhaus, und sich dort über drei obere Etagen erstreckt. In der Straße davor klafft ein riesiges Loch (»Baustelle noch bis 2011« steht auf einem Schild), gegenüber wird ein neues Geschäftshaus errichtet - vereinzelte Vorhaben aus dem sogenannten Masterplan für die Gegend, der Mitte der Neunziger beschlossen wurde und dem irgendwann auch das Hochhaus zum Opfer fallen soll, in dem sich das Weekend befindet. Theoretisch zumindest, denn zuerst müssten sich mal Investoren für ein neues Hochhaus finden, und das kann dauern.

Nicht einmal einen Kilometer weiter südlich, in einem S-Bahnbogen in der Nähe der Jannowitzbrücke, verbirgt sich die Tür zum Golden Gate zwischen seinen mit Graffiti übersäten Wänden. Der Eingang zum Sage Club, noch ein paar Hundert Meter weiter in dieselbe Richtung, sieht sowieso aus wie früher, als er noch Boogaloo oder Walfisch hieß: eine unauffällige Tür in einer U-Bahnstation. Hier, an der Heinrich-Heine-Straße, biegt man links ab in die Köpenicker Straße und steht zwei, drei Steinwürfe weiter vor dem neuen Tresor. Abgesehen von einem Schild an der Einfahrt sieht man den Laden von der Straße aus eigentlich nur nachts, wenn ein Scheinwerfer das riesige Club-Logo an die Fassade des ehemaligen Heizkraftwerks wirft. Tagsüber ist er fast unsichtbar. Ein Stückchen die Straße runter, auf der anderen Seite: das Relais. Und am gegenüberliegenden Spreeufer, an der Holzmarktstraße, befindet sich die Bar 25, weltberühmt, doch für unkundige Berliner unsichtbar: Von der Straße aus ist nichts zu sehen als ein Lattenzaun mit einem Tor. Auch das Maria an der Schillingbrücke, zwei weitere Minuten Fußmarsch entfernt, sieht aus, als gehöre es zur Kulisse eines Neunziger-Jahre-Themenparks: eine abgerockte Baracke an der Spree.

Ein Lattenzaun an der Ausfallstraße: Eingang zur Bar 25

Schräg gegenüber ist der Ostbahnhof, dort biegt man ab in Richtung Nordosten, um nach wiederum nur einem halben Kilometer ein industrielles Halbbrachland zu betreten, wo zwischen Baustellen, Parkplätzen, einer Wiese und einem kleinen Bach das Berghain steht, ein Club, der sich in dem Gebäude eines alten Heizkraftwerks aus den Fünfzigern befindet, das allerdings nie ans Netz ging. Eine majestätische Betonburg. Geht man von hier aus zurück zum Fluss, dann noch ein Stück stadtauswärts und wechselt abermals aufs andere Ufer, dann ist links das Watergate. Es liegt an der Oberbaumbrücke, die Friedrichshain und Kreuzberg verbindet, und kommt einem vor, als hätte es sich an den äußersten Zipfel des Herr-Lehmann-Bezirks gedrängelt, um sich möglichst nah an jenes unbewohnte Gebiet zu schmiegen, das sich an der Ostseite der Spree ein paar Kilometer weit durch die Stadt zieht. Gleich um die Ecke ist der Club der Visionäre. Ein Spaziergang durch drei Stadtbezirke, vom Alex bis zum Schlesischen Tor oder auch, nimmt man noch den Arena-Club hinter dem Badeschiff hinzu und den Schlesischen Busch, wo man im Sommer nachmittags zwischen zwei Afterhours im Gras liegt, bis kurz vor den Treptower Park. Mühelos zu bewältigen in einer dreiviertel Stunde. Alles in einem zwei große Straßen, die einen Korridor bilden. Dort sind sie unterwegs, nächtelang, tagelang.

Niemand mag das Wort Clubmeile, das klingt nach Ballermann. So wie die Simon-Dach-Straße in Friedrichshain oder die Oranienburger Straße in Mitte, wo sich Kneipe an Kneipe reiht und riesige Touristengruppen von ihren Stadtführern zu epischen Besäufnissen hingerissen werden, den sogenannten Pub Crawls. Das sind Straßen, die sich innerhalb weniger Jahre von Szenetreffs zu Gegenden entwickelten, wo man nur noch Ortsunkundige trifft. Wo selbst die meisten Wirte nur noch arbeiten, weil das Schmerzensgeld, das Abend für Abend in die Kasse gespült wird, hoch genug ist.

Davon handelt die neue Berliner Clubmeile nicht - auch wenn sie ebenfalls Nacht für Nacht jede Menge Touristen anzieht, an denen, davon darf man getrost ausgehen, nicht schlecht verdient wird. Trotzdem hat sie mit den Kneipenmeilen anderer Stadtteile nichts zu tun. Zum einen ist sie zu weitläufig. Zum anderen geht es hier um Clubs. Sie machen spät auf, eigentlich nie vor Mitternacht, sie nehmen Eintritt, sie haben Türsteher, die Gäste kommen meistens gezielt, weil der Name eines DJs oder der Ruf des Clubs sie lockt. Auch wenn sie von weither kommen, wissen die meisten ziemlich genau, wohin sie wollen.

Zum Beispiel ins Berghain, dem gegenwärtig berühmtesten Techno-Club der Welt. Mit heiligem Ernst wird hier dem Exzess und der immer wieder neuen Auslegung dieser Musik gefrönt. Oder in die Bar 25, dem nicht minder legendären Gegenstück zum monumentalen Berghain: Es ist kleiner, sonniger und verspielter, ein Afterhour-Laden direkt am Spreeufer, in dem die Partys nicht selten bis in den Dienstagmorgen reichen.

Die meisten Clubs liegen im Grenzgebiet zwischen Friedrichshain und Kreuzberg, diesem ungleichen Paar innerstädtischer Underdog-Viertel. Die beiden Stadtteile werden durch mehrere große Straßen, einige Bahnlinien, die Spree und vierzig Jahre Teilung voneinander getrennt. Sie verbindet ein ausgeprägtes Gefühl regionaler Identität und eine miserable Sozialstatistik. Die Bezirksreform der Neunzigerjahre hat sie zu einer Verwaltungseinheit zusammengefügt.

Clubmiles & More

Die neue Berliner Clubmeile hat eine Vorgängerin. Schon einmal hat sich das Clubleben in einer Gegend konzentriert, auf den Kilometer der Leipziger Straße zwischen Potsdamer Platz - damals noch Brachfläche - und Friedrichstraße, wo in den frühen Neunzigern zwischen den Clubs Tresor, E-Werk, WMF und anderen nachts mehr Menschen unterwegs waren als tagsüber. Ein urbanes Niemandsland, das kurz davor stand, von Investoren entwickelt zu werden, und in dem sich für einige Jahre eine ungeheure popkulturelle Dynamik entfaltete. Ja, auch im Rest der Stadt wurde damals Techno gespielt, aber hätte es nicht diese Ansammlung von kleinen und großen Läden in unmittelbarer Nähe und die damit einhergehenden Freundschaften und Feindschaften, Konkurrenzen und Bündnisse gegeben, und natürlich die Exzesse, die sich dort abspielten, dann wäre aus Techno wahrscheinlich nie jener hegemoniale Sound geworden, der eine Weile durch die Charts geisterte und zur Love Parade die Raver zu Hunderttausenden in die Stadt lockte. Ein popkulturelles System, das den Begriff von der »Ravenden Gesellschaft« hervorbrachte und genauso rasch wieder verschwand, wie es aufgetaucht war.

Es gibt durchaus weitere Parallelen zur Gegenwart, die Musik zum Beispiel: Der Sound der neuen Berliner Clubmeile ist fest im Techno verwurzelt. Dass er ähnlichen Mainstream-Erfolg haben könnte, ist zwar nicht abzusehen, doch die Tonträgerindustrie ist ohnehin zusammengebrochen - wie also will man den Erfolg im Vergleich zu damals messen? Schaut man sich an, wie viele Menschen diese Musik jedes Wochenende bewegt, hat sie jedenfalls längst wieder die Attraktivität der frühen Neunziger.

Auch sonst erinnert einiges in der Gegend zwischen Holzmarktstraße und Köpenicker Straße an damals. Die Gegend, in der sich die Clubs heute so dicht drängen, ist nämlich auch in weiten Teilen eine städtische Brachlandschaft. Dies soll - auch das eine Parallele - nicht mehr lange so bleiben, Investoren haben schon angefangen, die sogenannte MediaSpree zu bauen, ein neues Stadtviertel mit Büros für Medienfirmen. Anders als damals gibt es aber heftigen Widerstand gegen diese Pläne. In einem Referendum entschieden die Kreuzberger und Friedrichshainer im Sommer 2008, dass die Bebauungspläne zurückgenommen werden sollen.

Die Clubs damals waren temporär, jeder wusste, dass der Zauber rasch vorbei sein konnte. Dementsprechend provisorisch