Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Für Dich!
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage Dezember 2011
ISBN 978-3-492-95396-2
Deutschsprachige Ausgabe:
© 2000 Piper Verlag GmbH, München
Umschlagkonzept: semper smile, München
Umschlaggestaltung: Cornelia Niere mit Bettina Steenbeeke
Umschlagfoto: David Johnston / Getty Images (Wegweiser), Anna Khomulo / Shutterstock Images (Blumenwiese)
Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Das Hämmern war rhythmisch. Und brach dann ab. Anna horchte nach oben und warf Lars schließlich einen bedeutungsvollen Blick zu.
Er grinste. »Die treiben’s!«
»Scheint so!«
Es blieb still.
»Schon vorbei?« Anna griff nach ihrem Sektglas und zog die Decke etwas höher.
»Nun ja«, Lars zuckte die Schulter, und es war ihm anzusehen, was er dachte: »Es ist eben nicht jeder so gut wie ich!«
Aber dann ließ sich das Quietschen durch die Zimmerdecke wieder hören.
»Rhythmuswechsel«, stellte Lars fest.
Anna stellte ihr Glas ab.
»Welche Zimmernummer haben wir eigentlich?«
»416 … Wieso?«
Anna grinste. »Dann haben die da oben 516. Und treiben’s am hellichten Nachmittag …«
»… wir doch schließlich auch«, warf Lars ein und schaute sie schräg an. »Was hast du vor?«
Anna hatte nach dem Telefon gegriffen und wählte bereits. Augenblicklich war es über ihnen still. In dem Moment, als abgehoben wurde, legte Anna schnell auf. »Nicht zu fassen«, sagte sie zu Lars, »hebt mitten im Liebesspiel den Hörer ab. Den würde ich aus dem Bett werfen!«
»Du bist abscheulich. Wahrscheinlich hast du ihm das Liebesspiel seines Lebens geliefert!«
»Na, hör mal! Einer, der mittendrin zum Telefon greift, das kann’s doch auch nicht sein!«
Sie schwiegen eine Weile und lauschten.
»Geht nichts mehr«, sagte Lars lapidar und langte nach der Flasche.
»Ehrlich?« Anna grinste ihn an und hielt ihm das Glas hin. Als er nicht sofort reagierte, hakte sie nach: »Bist du sicher?« Schließlich griff sie unter die Decke.
Bevor er sich breit auf das Kopfkissen sinken ließ, sagte er noch: »Sicherlich hat er geglaubt, seine Frau sei ihm auf die Schliche gekommen!«
»Oder sie dachte, ihr Mann!«
Sie schwieg kurz und schaute ihm direkt in die Augen. »Solange uns das nicht passiert«, sagte sie und setzte sich mit einer schnellen Drehung auf ihn.
Die Zeitung schwebte wie jeden Morgen vor ihr. Rainer hatte sich dahinter verschanzt und langte regelmäßig nach seiner Tasse Kaffee oder nach dem mit Honig bestrichenen Brötchen.
»Warst du nicht gestern in Hamburg?« fragte er.
»Ja, warum?« antwortete Anna und hob ungesehen eine Augenbraue.
»Schon wieder ein Mord passiert. In einem Hotel haben sie heute morgen eine Leiche gefunden.«
Anna schaute die Zeitung an. »So?« fragte sie.
»Ja, im Ramses. Nicht mal in den Nobelhäusern kann man mehr übernachten. Schlimm genug!«
»Gib mal her!« Anna streckte die Hand nach der Zeitung aus.
Rainer ließ sie sinken und schaute darüber hinweg. »Typisch! Bei Mord wachen Frauen auf. Blutrünstige Wesen, die ihr seid!«
»Red nicht! Gib her!«
Er protestierte noch kurz, ließ sich die Zeitung aber abnehmen. Anna suchte nach ihrer Lesebrille. In Zimmer 516 war heute morgen vom Personal eine Männerleiche entdeckt worden. Etwa Mitte Vierzig, völlig nackt, ohne Papiere. Erstochen. Vermutet wird ein Verbrechen in der Homosexuellenszene, möglicherweise durch einen Stricher.
Anna starrte auf die Zeitung und überlegte. Sie mußte sofort Lars anrufen. Das war ungeheuerlich. Sie hatte mit dem Typen noch telefoniert, und jetzt war er tot? Oder hatte sie mit dem Mörder telefoniert?
Und hörten sich die Bettgeräusche zweier Männer so an?
Anna wartete ungeduldig, bis Rainer aus dem Haus war. Das dauerte, denn sein Leben war eine einzige Zelebrierung. Sie versuchte, sich solange in der Küche abzulenken, aber sie sah jeden seiner Handgriffe bildlich vor sich. Es nervte sie mal mehr, mal weniger, jetzt hielt sie es kaum aus. Sie hörte die Munddusche, sah ihn vor dem Schrank stehen und nach einer Krawatte greifen, sah, wie er sie langsam vor dem kleinen Spiegel band, geduldig hin und her rückte, bis sie akkurat saß, wie er in seinem kleinen Büro seine Aktentasche durchging, obwohl er sie bereits gestern abend geordnet hatte, wie er dann endlich herunterkam, ihr mit den Worten: »Mach mir keinen Unsinn« einen Kuß auf die Nasenspitze drückte, nach seinem Trenchcoat griff, den er tagein, tagaus trug, und schließlich das Haus verließ. Anna atmete auf, beobachtete durch das Fenster, wie er aus der Garage fuhr, während sie bereits wählte.
Lars meldete sich mit »hallo« und hielt sich bedeckt. Es war klar, daß Bettina noch in der Nähe war. »Ich habe im Moment keinerlei Unterlagen vor mir«, sagte er kühl, »ich rufe Sie später zurück!«
Anna schaute auf die Uhr, während sie die Spülmaschine in Gang setzte. Sie platzte fast vor Ungeduld. Sie war dreiunddreißig Jahre alt, hatte geheiratet, weil sie vor zehn Jahren geglaubt hatte, Rainer sei ihre große Liebe, und weil ihre Mutter gesagt hatte, ein Anwalt sei eine gute Partie, etwas fürs Leben. Rechtschaffen, angesehen, treu. Möglicherweise war er das auch. Aber er war noch etwas anderes: entsetzlich langweilig. Das hatte ihre Mutter zu erwähnen vergessen.
Und Anna hatte einen Ausweg gesucht und auf der Silvesterparty vor einem Jahr im Freundeskreis Lars gefunden. Den Mann fürs Abenteuer. Ständig unterwegs als Vertreter der Pharmaindustrie, mit dem Gesicht und dem Körper eines amerikanischen Baseballspielers. Herbe, kantige Züge mit stechend blauen Augen und sichtbar muskelbepackt. Sie versuchte sich in ihn zu verlieben, denn ihn nur fürs Bett zu wollen erschien ihr, das war eine Mitgift ihrer Erziehung, anstößig. Es gab bei der Geschichte jedoch zwei Schönheitsfehler: Rainer fand Lars auch gut und versuchte ihn ständig für eine Männerfreundschaft zu gewinnen, so kamen die beiden in den Freundeskreis, und – Lars war verheiratet. Das war eigentlich nicht weiter schlimm, denn so blieb das Gleichgewicht erhalten, bloß Bettina war ein fürchterliches Pflänzchen. Alleine kaum lebensfähig. Bis heute war es Anna ein Rätsel, wie sich Lars in sie hatte verlieben können.
Bereits halb zehn, gleich müßte sie auch aus dem Haus, und Lars hatte sich noch immer nicht gemeldet. Bettina sollte längst in ihrem Kulturamt sitzen. Endlich klingelte Annas Handy, und das Display verriet Lars’ Nummer. »Na, endlich!« sagte sie, kaum daß sie seine Stimme hörte.
»Ging nicht eher!« Es klang abwehrend, der typische Ton in seiner Stimme, sobald er sich angegriffen fühlte. Anna beschloß, nicht weiter zu bohren, sondern lieber gleich zum Wesentlichen zu kommen.
»Hast du heute schon die Zeitung gelesen? Der Typ, den wir gestern im Ramses gehört …«
»… gestört«, unterbrach er sie.
Anna achtete nicht darauf. »… gehört haben«, fuhr sie fort, »ist tot! Erstochen!«
»Und zwar ist er erstochen worden, nachdem er bereits tot war!« Lars’ Stimme klang gleichgültig.
Anna hielt kurz inne. »Was ist denn das für ein Blödsinn?«
»Du solltest, wenn du schon liest, die Zeitung richtig lesen. Mutmaßlicher Todeszeitpunkt war gegen die Mittagszeit. Er wird aber noch obduziert.«
Anna schwieg. Er hatte recht. Demnach hätten sie einen Toten beim Beischlaf gestört.
»Aber das kann nicht sein«, sagte sie schließlich nachdenklich, um sich dann, heftiger werdend, zu wiederholen. »Das kann nicht sein! So ein Quatsch! Wir haben ihn doch noch gehört. Das war, wart mal, gegen vier Uhr!«
»Stimmt!«
»Das müssen wir melden!« Anna kratzte sich ihren Pickel am Nacken auf. Das tat sie immer, wenn sie aufgeregt oder nervös war. Ein Pickel ohne Chance auf Heilung.
Lars dachte nicht an eine Anzeige. »Und wie willst du erklären, was du in der Zeit in Zimmer 416 zu tun hattest, hm? Betten aufschütteln?«
Anna ließ von ihrem Pickel ab und betrachtete das Blut unter ihrem Fingernagel. Da hatte er natürlich recht. Es gab keinen Vorwand, unter dem sie ihre Neuigkeit hätte loswerden können. »Aber ist man nicht gesetzlich zu einer Aussage verpflichtet, wenn man dazu beitragen kann, einen solchen Fall aufzuklären?«
»Kannst ja Rainer fragen!«
»Sei nicht so sarkastisch!«
»Sei nicht so naiv!«
Anna verstummte. Es hatte keinen Sinn, sich mit Lars darüber zu unterhalten. Aber mit wem sonst?
Lars legte auf. Es fehlte noch, daß Anna aus purer Sensationslust ihre kleine Romanze auffliegen ließ. Das war das Ganze wahrlich nicht wert. Der Kerl war tot, was gab es da noch zu retten? Lars steckte sein Handy ein und griff nach seiner Reisetasche. Bettina ließ es sich nicht nehmen, sie vor seinen Reisen für ihn zu packen. Doch was er anfänglich als kleinen Liebesdienst einer fürsorglichen Ehefrau verstanden hatte, wurde ihm zusehends lästig. Es hatte den Nachteil, daß sie über alles informiert war, was er auf seinen Reisen so bei sich trug. Noch nicht einmal einen neuen Slip konnte er einstecken, ohne daß entsprechende Nachfragen kamen.
Er verschloß die Haustür des im englischen Landhausstil gehaltenen Einfamilienhauses hinter sich und öffnete lustlos die Garage. Irgendwie war es nicht mehr sein Leben, nicht sein Beruf, er war dreiundvierzig Jahre alt und hatte das unbehagliche Gefühl, daß alle Möglichkeiten an ihm vorbeizogen. Was nützte ihm das Haus, was das Auto, wenn er schon heute absehen konnte, daß sich in den nächsten zwanzig Jahren nichts mehr ändern würde? Einen anderen Wagen, irgendwann eine andere Anna, Bettina würde ihn weiterhin auf Vernissagen schleppen, die ihn langweilten, er würde schlau über moderne Kunst reden, obwohl er die blauen und grünen Kleckse bescheuert fand, er würde sich weiterhin seine Fußballabende verkneifen, weil Bettina Fußballer dem Proletariat zuordnete. Er würde sein Pils im Stehen trinken und Bettina am Freitag lieben. Und das große Abenteuer seines Daseins würde sich auf den Lottoschein am Samstag beschränken.
Er stieg in seinen Audi A8 und knallte die Tür hinter sich zu. Wie gern würde er einmal in einem Ferrari sitzen. Knallrot, auffallend, Blicke heischend. Keiner der Gynäkologen würde ihm noch ein Präparat abkaufen. Grau und unscheinbar, wie sie sich gaben, um nur nicht aufzufallen. Und man paßte sich an. Nur nicht auffallen. Auto brav in Anthrazit, Anzug in Grau, Schuhe schwarz wie die Aktentasche, edles Leder, aber nicht zu fein, verhaltenes Lächeln, zustimmende Mimik. Überzeugung durch Ausstrahlung. Graue Mäuse durch graue Ausstrahlung überzeugen. Er fuhr auf die Straße hinaus. Neubauviertel, Leben im Viereck, zwischen acht und achtzehn Uhr, Geborgenheit in der Illusion. Er gab Gas und sehnte sich nach Malibu. Strand, Sonne, Meer, einfach nur raus. Manchmal war er nicht weit davon entfernt, alles zu verkaufen, Bettina zu fragen und mit ihr oder ohne sie ein neues Leben zu beginnen. Schließlich hatte er nur eines, es gab kein Leben auf Probe.
Er schaltete das Radio ein. In den Nachrichten wurde der Tote im Ramses kurz erwähnt. Gleich darauf piepste sein Handy zweimal. Es war ihm klar, daß Anna nicht lockerlassen würde. Er griff danach und las die Zeilen, die sie ihm als Kurznachricht geschickt hatte: »Die liegen mit ihren Ermittlungen doch völlig falsch. Zu blöd, daß wir das nicht richtigstellen können.« Lars fand das gar nicht blöd. Er hatte sich mit Anna, wie schon so oft, einen vergnügten Nachmittag gemacht, und damit hatte es sich. Nicht mehr und nicht weniger und sicherlich kein Grund, die Nase aus der Deckung zu strecken.
In den nächsten Tagen beobachtete Anna alles, was ihr mehr über den ominösen Todesfall hätte verraten können. Sie verfolgte die Nachrichten der Lokalsender und durchforstete die Tageszeitung nach kleinen Meldungen. Es lenkte sie ab, denn Lars war auf Geschäftsreise, und Rainer fragte sie jeden Abend so gründlich über ihren Tagesverlauf aus, daß sie den versteckten Vorwurf der Untätigkeit genau spürte. Mochte auch stimmen. Sie hatte im Verkauf einer Computerfirma gearbeitet und war aus Rationalisierungsgründen entlassen worden, obwohl sie kurz zuvor noch wegen besonders guter Eignung und Fähigkeiten von ein und derselben Firma zu Fortbildungslehrgängen geschickt worden war. Sie sollte eine Stufe höher klettern, hieß es damals, Verkaufsleiterin werden. Doch die neuen Herren, über Nacht inthronisiert, sahen nur die Zahlen, und demnach waren von dreihundertfünfzig Angestellten mindestens siebzig überflüssig. Sie, Anna Leicht, war von einer Sekunde auf die andere überflüssig. Und so fühlte sie sich dann auch. Dreiunddreißig, brünett, grauäugig mit durchschnittlicher Figur, üppigem Busen, kinderlos und überflüssig.
Für Lars war sie nicht überflüssig, das stand fest. Er gierte förmlich nach ihr. Rainer suchte derweil nach einer Lösung für ihr Problem, das mit der Zeit anfing, gar keines mehr zu sein. Sie füllte ihre Stunden mit Aerobic und Shopping, besuchte ihre Freundinnen und dachte über Selbständigkeit nach. In welcher Form, wußte sie noch nicht, aber bislang bezog sie noch Arbeitslosengeld, und die Abfindung war nicht schlecht gewesen. Vielleicht mußte man das Ganze als Chance betrachten. Nur Rainers Sendungsbewußtsein störte sie bisweilen – die allabendlichen Schnipsel, die er ihr hinlegte. Keine Stellenanzeige, die nicht millimeterexakt ausgeschnitten auf ihrem Tischset neben dem Abendessen gelandet wäre. Anna las sie durch, versprach ihrem Mann, sich darum zu kümmern, und warf sie anschließend zerknüllt mit den Essensresten fort. Sie fühlte keine Schuld. Rainer verdiente nicht schlecht, und sie war schließlich nicht die einzige Arbeitslose in Deutschland, also kein ungewöhnlicher Schandfleck im Wirtschaftswunderland.
Sie vertrieb sich die Zeit mit Mutmaßungen und schrieb Lars eine SMS nach der anderen. Zwischendurch ermahnte sie ihn, alles zu löschen, weil sie Bettina nicht traute. Wer seinem Mann den Koffer packte, würde auch im Anzug nach Zetteln suchen oder in seiner elektronischen Datenbank herumschnüffeln. Lars lachte darüber. Bettina wisse noch nicht einmal, wie man ein Handy einschalte. Zudem könne sich Anna mit ihren SMS auch etwas zurückhalten und statt dessen lieber ein nächstes Treffen ersinnen. Das war natürlich auch eine Aufgabe, und Anna buchte umgehend im Ramses. Sie fragte sofort nach dem Zimmer 416 und bekam es auch wieder. Pure Neugierde, gestand sie sich dabei ein, und der heimliche Wunsch, am Tatort etwas zu erfahren.
Rainer war Anwalt geworden, weil er schon als Schüler den Beruf spannend fand. Sein Onkel hatte eine gutgehende Kanzlei und erzählte immer Geschichten, die jeden Krimi in den Schatten stellten. Rainer bewunderte ihn, mehr sogar als seinen eigenen Vater, der es nur bis zum Bankangestellten gebracht hatte und dessen Erlebnisse in der kleinen Filiale eher lau waren. Während des Studiums fand er die Materie nicht mehr ganz so spannend. Jura war trockener, als er gedacht hatte, er zog sich aber an der Aussicht hoch, später einmal bedeutende Fälle bearbeiten zu können und damit berühmt zu werden. Eine Art Bossi schwebte ihm vor, und er spezialisierte sich auf Strafrecht. Mit seinem Berufseintritt als vierter in einer Sozietät mußte er feststellen, daß mehr Ehescheidungen als Verbrechen anfielen. Familienrecht war nie sein Favorit gewesen, aber es brachte Geld. Also hörte er sich zigfach die gleichen Geschichten an. Sexuelle Untreue, Betrug, Lieblosigkeit, Gleichgültigkeit, Brutalität, und er wertete aus. Überlegte, welche Strategie für seinen Mandanten und gleichzeitig auch für seinen Geldbeutel die beste sei, und gab sein Bestes.
Aber wenn er, so wie heute, seinen Nachmittagskaffee trank und den Berg seiner Akten anschaute, dann überfiel ihn doch manchmal ein frustrierendes Gefühl. Es war nichts darunter, was ihn wirklich gefesselt hätte. Nichts, mit dem er einen kleinen Neffen hätte beeindrucken können, wenn er einen gehabt hätte. Es kam den Geschichten seines Onkels nicht einmal im entferntesten nah. Seine Berufsträume hatten sich nicht erfüllt, die Realität war völlig anders, langweilig und dröge. Ein Beruf zum Geldverdienen, mehr nicht. Manchmal beneidete er seine Frau, wie sie so selbstzufrieden ihren selbst auferlegten Terminen nachging, als ob sie von irgendeiner Bedeutung wären. Und im selben Augenblick ärgerte er sich darüber, denn sie verkörperte in ihrer Arbeitslosenwelt genau das, was ihm an manchen Mandanten so aufstieß: achselzuckende Gleichgültigkeit. Irgendeiner wird’s schon richten. Bei Anna war’s zweifellos er, bei anderen gegebenenfalls der Staat.
Rainer wollte eben nach der zuoberst liegenden Akte und dem Diktiergerät greifen, als aus der Gegensprechanlage eine »Frau Engesser« angekündigt wurde. Rainer stand schnell auf. Gudrun in der Kanzlei, das war außergewöhnlich. Er öffnete rasch die Tür, um sie möglichst schnell der Neugier der Sekretärinnen zu entziehen. Gudrun schwebte an ihm vorbei, einen Hauch von warmem Körperduft verströmend. Die Tür klappte hinter ihr ins Schloß. Sie sah gut aus, wie sie sich jetzt nach ihm umdrehte, das kurze schwarze Haar lässig nach hinten gestrichen, der knappe Lederrock schmiegte sich eng um ihren Hintern und ließ viel von ihren langen, schlanken Beinen sehen, die kurze Jeansjacke mit hochgestelltem Kragen stand offen.
»Ich wollte dich sehen«, sagte sie und zog ihn mit einer schnellen Bewegung an sich.
Rainer küßte sie hastig auf den Mund, während ihm tausend Dinge durch den Kopf schossen. »Meinst du, das ist passend hier?« fragte er sie und fuhr sich schnell mit dem Handrücken über den Mund in der Befürchtung, er könnte Lippenstiftspuren davontragen.
»So passend wie sonstwo«, antwortete sie und lächelte spöttisch.
»Ich hol dir schnell einen Kaffee!« Er benutzte die Tür als Fluchtweg aus der Situation.
Das war neu. Gudrun war noch nie in sein Refugium eingedrungen. Er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte.
Als er mit einer Tasse Kaffee zurückkam, saß sie bereits in seinem Ledersessel.
Er räusperte sich, aber sie reagierte nicht auf seine Sprachlosigkeit.
Statt dessen sagte sie fordernd: »Komm her!«, und er leistete ihr Folge, mit einer Mischung aus Unterwürfigkeit und Trotz. »Du bist gestern nicht gekommen!« warf sie ihm vor und senkte die Stimme. »Ich mag das nicht!«
»Tut mir leid«, Rainer fühlte das Kribbeln, das er immer spürte, wenn Gudrun in seiner Nähe war. »Ich kam hier nicht raus!«
»Wenn du hier nicht rauskommst, komme ich zu dir!« Es klang wie eine Drohung.
Rainer kniete vor ihr nieder und umfaßte ihren Schoß. Ihr Lederrock war etwas hochgerutscht, und er legte sein Gesicht zwischen ihre Beine. Er roch sie, ihr eigener Duft vermischt mit dem Leder ihres Rockes und dem des Sessels. Es verwirrte und erregte ihn zugleich.
In diesem Moment ging hinter ihm die Tür auf. Seine Sekretärin kam eiligen Schrittes herein, erfaßte die Situation, blieb unentschlossen stehen.
»Herr Leicht hat seine Kontaktlinsen verloren«, sagte Gudrun ohne Zögern. »Kein Grund, nicht wieder zu gehen!«
Rainer war blutrot angelaufen. Schlagartig war er ernüchtert. Er richtete sich auf, sah aber nur noch, wie seine langjährige Mitarbeiterin wortlos den Raum verließ. Das war vernichtend! Ausgerechnet sie, die ihm jahrelang die Treue gehalten hatte.
Zunächst sagte er nichts, stand auf und klopfte sich die Hosen ab.
»Besser hätte es nicht laufen können«, knurrte er und war selbst erstaunt über den aggressiven Unterton in seiner Stimme.
»Es scheint normal zu sein, daß man hier ein und aus geht, wie man will«, Gudrun erhob sich ohne größere Eile aus dem Sessel und strich sich den Lederrock glatt. Ein amüsierter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, und wenn Rainer sie nicht für völlig emotionslos gehalten hätte, hätte er auf den leichten Anflug einer Schadenfreude getippt.
Er warf Gudrun einen mißbilligenden Blick zu. »Mein Gott, ich habe einen Ruf zu verlieren!«
Sie lachte kurz auf. Ein kurzes, heiseres Bellen tief aus ihrer Kehle. »Das hättest du dir vorher überlegen müssen. Ein seriöser Anwalt braucht keine Domina.« Sie ging an ihm vorbei zur Tür, blieb dort stehen und drehte sich nach ihm um. »Oder doch? Vielleicht gerade?« Sie griff zur Türklinke. »Wir sehen uns«, sagte sie und war draußen.
Rainer ließ sich auf die Kante seines Schreibtisches sinken. Das zu erklären war unmöglich. Er konnte es ja selbst kaum verstehen.
Es war reiner Zufall gewesen, daß er an Gudrun geraten war und an ihrer dominanten Art Gefallen fand. Warum das so war, wußte er nicht. Er hätte diese Neigung auch niemals Anna beichten können. Beim Gedanken an sie wurde es ihm fast schlecht. Wie würde sie reagieren, wenn es aus irgendeinem Grund herauskäme? Wenn seine Sekretärin in Annas Gegenwart eine entsprechende Bemerkung fallen lassen würde?
Er drückte die Gegensprechanlage. »Frau Schenk, kommen Sie doch bitte mal herein!«
Sie kam, war blaß und blieb gleich an der Tür stehen. Eine Frau, wie man sie sich als Sekretärin nur wünschen konnte. Fähig, aufgeschlossen, anpackend. Aber davon war jetzt nichts zu spüren, sie wirkte nicht nur reserviert, sondern geradezu eisig.
»Es tut mir leid, daß ich so hereingeplatzt bin. Ich habe die Dame«, dieses Wort ging ihr spürbar schwer über die Lippen, »nicht kommen sehen, und im Terminkalender war sie nicht eingetragen.«
»Es ist nicht Ihre Schuld«, Rainer fuhr sich kurz durchs Haar. »Ich hätte mich nicht so gehenlassen dürfen. Sie ist eine alte Freundin, und heute ist der Todestag meines Vaters. Sie war damals dabei …« Er machte eine Pause und ein schmerzbewegtes Gesicht.
Ingrid Schenk betrachtete ihn kurz, dann nickte sie andeutungsweise. »Das tut mir leid für Sie!«
»Danke!« Rainer drehte sich um. Länger hätte er ihr nicht in die Augen schauen können. Er blickte zu Boden und hörte, wie sie leise hinausging.
Lars genoß das Frühstück. Samstag war immer sein Tag. Da hatte er alles hinter sich und bereits wieder aufgetankt: Die Heimkehr am Freitag, wenn er auf einer längeren Route unterwegs gewesen war, das ausgiebige Abendessen, das Bettina meistens festlich gestaltete, und anschließend die Nacht mit ihr, nicht so heiß wie mit Anna, aber doch befriedigend. Samstag war der Tag, an dem es ihm gutging und er es sich gutgehen lassen konnte. Er lächelte Bettina zu, die ein Frühstücksei neben seinen Teller stellte, und griff zur Zeitung.
In diesem Moment hörte er das zweimalige Piepsen seines Handys, das Zeichen für eine eingegangene Kurznachricht. Und irgendwie wußte er noch, bevor er die Zeitung aufgeschlagen hatte, was er gleich lesen würde. Tatsächlich, sie hatten den mutmaßlichen Mörder des Hotelgastes gefaßt. Ein junger Stricher soll es gewesen sein. Und die Todeszeit war mit zwei Uhr nachmittags angegeben. Das stimmte nicht, und es gab wohl nur zwei Menschen, die das wußten. Das heißt, drei. Der Mörder wußte es auch.
Lars hätte jetzt lieber nach seinem Handy als nach dem Frühstücksei gegriffen, aber er traute sich das nicht. Bettina hatte sich ihm gegenüber hingesetzt, sie trug ein leicht durchsichtiges T-Shirt, hatte ihr mittellanges Haar offen und fühlte sich ganz offensichtlich gut. Sie strahlte förmlich.
»Hübsch siehst du aus«, Lars nickte ihr anerkennend zu.
»Danke!« Sie streckte ihren kleinen Busen etwas hervor, so daß sich die Brustwarzen unter dem leichten Stoff abzeichneten. »Es ist neu, und ich dachte, ich trage es mal Probe. Eigentlich habe ich vor, es bei dem nächsten Jazzabend – du ahnst ja nicht, wer kommt … – der Mann ist einfach eine Sensation!«
Lars verschluckte sich an seinem Eigelb.
»Was???« fragte er und griff nach der Serviette. Er war der Probelauf für einen Jazzer?
»Gefällt’s dir wirklich?« fragte sie statt dessen und drehte sich ein wenig. Das Ding schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihren Körper. Ganz ohne wäre weniger erotisch gewesen.
»Du willst doch nicht allen Ernstes diesen Fetzen in der Öffentlichkeit tragen, bist du noch zu retten? Das Ding bleibt schön zu Hause!«
»Was heißt hier Fetzen!« Bettina schaute ihn ungläubig an. »Das ist ein Designerteil! Runtergesetzt. Ein Schnäppchen, wenn du es genau wissen willst!«
»Will ich überhaupt nicht. So gehst du mir jedenfalls nicht aus dem Haus! Jazzer! Ich hör wohl nicht recht! Was ist das überhaupt für ein Kerl?!«
Bettina hatte sich aufgerichtet. Drohhaltung hatte er das immer im stillen genannt.
»Nur weil du so ein Kunstbanause bist, hast du noch lange kein Recht, dich so aufzuspielen!« fuhr sie ihn an. »Dieser Jazzer ist kein Kerl, sondern ein international bekannter Musiker. Der Lothar Matthäus des Third Stream. Aber da du nicht weißt, was das ist, hat es auch keinen Sinn, mit dir darüber zu diskutieren!«
Lars schob sein geköpftes Ei von sich. Eben war doch noch alles so schön in Ordnung gewesen. »Und wenn er der wiederauferstandene Elvis Presley wäre oder James Dean. Mir egal. Du ziehst …«, er spürte, wie seine Ader an der Stirn anschwoll. Gleich würde er übers Ziel hinausschießen. Er stockte kurz und sagte dann begütigend: »Du ziehst doch eine Jacke darüber, nicht wahr?«
Sie warf ihm einen Blick zu, als säße sie mit einem Orang-Utan am Tisch, der gerade noch des Kopfkratzens mächtig ist.
»Ein Dolce&Gabbana-Teil und dann eine Jacke darüber ziehen! Du … hast sie wohl nicht mehr alle. Wozu sollte man sich dann so etwas überhaupt kaufen?«
»Hat mich vielleicht jemand gefragt?« Er stand ruckartig auf und warf die Serviette neben den Teller. »Toll! Da kommt man nach einer anstrengenden Woche nach Hause, freut sich auf ein geruhsames Wochenende und hat nur Streß!«
»Hatte ich etwa keine anstrengende Woche?« Sie blieb sitzen. Er warf ihr einen Blick zu, ihre Brustwarzen hatten sich deutlich zusammengezogen. Das machte ihn noch verrückter.
»Wenn du diesen Kerl anmachen willst, dann geh doch gleich nackt hin. Dann geht’s schneller!«
»Du bist geschmacklos!« Sie sagte es langsam und prononciert, strich sich die Haare hinter die Ohren und griff seelenruhig nach der Tageszeitung.
Anna saß zur selben Zeit in ihrem Wohnzimmer am ungedeckten Frühstückstisch, hatte die Zeitung und das Handy vor sich liegen und fieberte vor Aufregung. Da hatten sie doch tatsächlich so einen kleinen Junkie geschnappt, der wahrscheinlich überhaupt nichts mit der Sache zu tun hatte.
Wirklich klar schien bisher nur die Identität der Leiche zu sein. Ein Geschäftsmann aus Frankfurt, siebenundvierzig Jahre alt, verheiratet, kein auffallender Lebenswandel, nichts, wodurch er schon einmal bei der Polizei aktenkundig geworden wäre. Anna versuchte sich diesen Mann vorzustellen, und sie rief sich immer wieder die Situation im Ramses vor Augen. Die rhythmischen, quietschenden Geräusche, ganz offensichtlich Sex, ihr Griff zum Telefon und die abrupt einsetzende Stille. Es brachte sie fast um, daß sie mit niemandem darüber reden konnte. Lars hatte bis jetzt noch nicht auf ihre SMS reagiert, und ihre Freundin kam auch nicht in Frage – sie war frisch verheiratet und hätte Annas Verhältnis sicherlich nicht gutgeheißen. Zumal sie oft bei ihnen zu Gast war und es sicherlich als Problem empfunden hätte, weiterhin zwanglos mit Rainer umzugehen.
Anna stand auf und ging in die Küche, um eine Kanne Kaffee aufzusetzen. Kaum hatte sie den gehäuften Kaffeelöffel in der Hand, piepste das Handy zweimal. Es war wie eine Erlösung. Sie lief schnell hin.
»Wird wohl so gewesen sein«, stand da. Und: »Nur ein bißchen früher. Irrtum der Pathologie.« Anna starrte darauf. Irrtum der Pathologie! Typisch. Er wollte schlicht seine Ruhe haben. Von wegen Pathologie! Da waren ganz andere Mächte am Werk, dessen war sie sich sicher. Sie begann eben, Lars einen entsprechenden Satz zu schreiben, als sie die Tür hinter sich klappen hörte. Dafür hatte Rainer einen Riecher, das mußte man ihm lassen. Kaum hatte sie das Handy in der Hand, stand er auch schon hinter ihr.
»Mit wem hast du es heute morgen denn schon wieder so wichtig?« wollte er wissen und nestelte an seinem Bademantel herum.
»Patricia wollte mit mir in die Stadt, ein Geschenk aussuchen.« Sie drehte sich nach ihm um und drückte gleichzeitig das Display weg. Nicht auszudenken, wenn er das Ding jemals in die Finger bekäme.
»Ich glaube, heute sind eher wir dran!« Er nahm ihr das Telefon aus der Hand, legte es auf den Tisch und suchte ihren Mund. »Was hältst du von ein bißchen Liebe und einem anschließenden Mittagessen beim Italiener?« Das bedeutete, daß sie heute aufs Frühstück verzichten mußte. Aber ihrem Kalorienhaushalt konnte das ja nur guttun.
Lars war schnell an der Rezeption des Ramses vorbeigegangen und drückte jetzt im Lift den Knopf für die vierte Etage. Er freute sich auf Anna. Nicht zuletzt deshalb, weil er noch immer eine Wut auf Bettina hatte. Es war ihm einfach unverständlich, wozu sie sich für einen fremden Kerl so anziehen mußte. Oder besser gesagt ausziehen. Aber je mehr er ihr nahegelegt hatte, etwas anderes anzuziehen, ihr zum Schluß sogar gedroht hatte, um so mehr versteifte sie sich darauf, in exakt diesem Pullover zu diesem Jazzabend zu gehen. Schlußendlich hatte sie ihn mit der Bemerkung, er solle sein blödes Machogehabe an einer anderen ausprobieren, einfach stehenlassen. »Da kannst du Gift drauf nehmen«, hatte er ihr nachgebrüllt und sofort Anna angerufen. Ihre höchst erfreuliche Nachricht war, daß das Zimmer für Montag nachmittag klar sei, und Lars hatte aufgeatmet. Es gab also doch auch noch unkomplizierte Frauen. Und er würde seinen Spaß haben. Durch den einen oder anderen Rachegedanken sogar noch angeheizt.
Den Rest des Wochenendes hatte er Bettina seinen Unwillen zu verstehen gegeben, worauf sie aber nicht reagierte. Eine Verhaltensweise, die ihn noch mehr anstachelte. So ging er jetzt, wie fast jeden Montag, den Gang entlang auf Zimmer 416 zu. Unter seinem Mantel drückte er eine Flasche Champagner an den Körper, die Kälte der Flasche spürte er durch das dünne Hemd hindurch. Es behagte ihm nicht ganz, daß Anna ausgerechnet dieses Zimmer ausgesucht hatte, aber vielleicht konnte er noch froh sein, daß es nicht das darüberliegende Zimmer war. Er klopfte kurz und trat ein.
Anna hatte schon im Bett gelegen, jetzt schälte sie sich unter ihrer Decke hervor und kam ihm entgegen. Sie war nackt, und es erregte ihn, wie sich ihre Brüste beim Gehen bewegten. Er liebte auch Bettinas kleinen Busen, aber das hier war einfach etwas anderes. Das fuhr ihm sofort in die Lenden. Sie öffnete seinen Mantel und schmiegte sich an ihn. Er hielt ihr die kalte Flasche an den Rücken.
»Oh!« Sie machte einen Satz zurück. »Mistkerl!« Lachend nahm sie ihm die Flasche ab und ging damit zum Bett.
Lars sah ihr nach und begann sich auszuziehen.
Anna stellte Gläser bereit und beobachtete ihn dabei. Der Samstagmorgen mit Rainer war auch schön gewesen. Aber irgendwie etwas leidenschaftslos – wie ein Paar eben, das sich schon zehn Jahre lang kennt, eingespielt ist und jedes Detail im voraus kennt. Das hatte zwar etwas Beruhigendes, aber gleichzeitig war es auch reizlos.
Sie beobachtete, wie Lars sein Hemd auszog. Das war das beste Vorspiel für sie. Sein Körper war einfach makellos. Muskulös, aber nicht aufgepumpt. Einige Haare kringelten sich über seiner Brust und wuchsen von dort als schmaler Strich den Bauch hinunter. Sie mochte diese Stelle, seinen großen, runden Nabel, die weiche, warme Haut und die Gewißheit, gleich, wenn man dieser Spur folgte, auf sein Spielzeug zu stoßen. Sie grinste in sich hinein, denn genau das war er für sie. Ein großes, lustvolles Spielzeug. Der ganze Kerl. Er warf das Hemd über den nächsten Stuhl und öffnete den Gürtel seiner Hose. Anna entkorkte die Flasche. Es war der genußreichste Wochenbeginn, den sie sich vorstellen konnte. Schon aus diesem Grund war es eigentlich unmöglich, wieder einer geregelten Arbeit nachzugehen. Oder ob sie es einem Arbeitgeber gegenüber als regelmäßige Therapiestunde rechtfertigen konnte? Über die Krankenkasse abzurechnen?
Er hatte Schuhe und Socken ausgezogen, die Hose nebst Slip fallen lassen und kam auf sie zu. »Gefällt mir«, sagte sie und hielt ihm die Flasche hin. Er schenkte die Gläser halbvoll und küßte ihren Nacken. Es verursachte ihr eine Gänsehaut, alles an ihr stellte sich auf, sie lachte und hob das Glas.
»Weißt du noch? Letzte Woche?«
»Ähm«, er betrachtete sie und beschloß nicht weiter darauf einzugehen.
»Zu der Zeit lebte er noch, obwohl alle behaupten, er sei schon tot gewesen!«
Er stieß mit ihr an, nahm ihr das Glas aus den Händen und begann, an ihrem Busen zu knabbern.
»Ist doch ’ne irre Geschichte. Findest du nicht?«
Lars tat, als höre er nichts. Die Brustwarze reckte sich seiner Zunge entgegen, er spielte mit ihr und fand das weitaus interessanter als tote Liebhaber.
»Hab ich dir schon gesagt, daß ich mir überlege, eine Privatdetektei zu gründen? Das wäre doch ein toller Fall für den Anfang!«
»Was?« Lars ließ von ihr ab und blickte auf.
»Findest du nicht?«
»Ich …«, er musterte sie kurz. Ihr Blick war träumerisch. Sie war überhaupt nicht bei der Sache. Es lag ihm auf der Zunge, etwas Entsprechendes zu sagen, denn schließlich hätten sie sich für Fragen einer Existenzgründung auch im Café treffen können. Aber eines glaubte er in den vergangenen Jahren über Frauen gelernt zu haben: Verständnis war gefragt, in welcher Situation auch immer – andernfalls konnte der Schuß nach hinten losgehen. »Ich weiß nicht«, beendete er seinen Satz in der Hoffnung, daß damit auch das Thema beendet sei. Sie griff nach ihrem Glas statt nach ihm und fuhr ihm mit der anderen Hand kurz durch die Haare.
»Meinst du nicht, es könnte eine Chance für mich sein? Schließlich weiß ich mehr als jeder andere!«
Lars seufzte und spürte, wie seine Erregung abklang. Das war ja heiter. Zu Hause Bettina, die herumzickte, und jetzt auch noch Anna, die Privatdetektivin spielte. Er ließ sich neben sie auf den Rücken sinken. »Du weißt nicht mehr als jeder andere. Nur das, was aus der Zeitung zu erfahren war. Und? Was bringt dir das?«
»Zumindest wissen wir, daß er hier oben«, sie deutete zur Decke, »zwei Stunden später, als die Polizei glaubt, lebhaftesten Sex hatte.«
Richtig, zurück zum Thema, dachte Lars, warf ihr einen schnellen Seitenblick zu und brummelte etwas Unverständliches.
Anna schwieg eine Zeitlang. Dann richtete sie sich auf und deutete mit ihrem Zeigefinger auf seinen Penis, der sich zwischen den Haaren ein Schlafplätzchen gesucht hatte. »Was ist denn das?«
»Ja, entschuldige, es waren eben nicht gerade die erregendsten Themen …«
Anna schüttelte den Kopf und glitt auf Augenkontakt herunter. »He, du!« Sie musterte ihn ausführlich und stippte ihn kurz mit ihrem Zeigefinger an. »Steh gefälligst auf, wenn ich mit dir rede!«
Der Appell zeigte keine Wirkung, und Lars stützte sich auf die Ellenbogen. »Passiert dir das öfter?« wollte er mit gerunzelter Stirn wissen.
»Ohh!« Anna warf sich mit ihrem ganzen Körper auf ihn und packte ihn bei den Handgelenken. »Das wollen wir doch mal sehen!«
»Ich bitte darum!«
Rainer saß zu dieser Zeit in seinem Büro und wußte nicht, wie er das Ganze bewerten sollte. Er hatte die Pflichtverteidigung dieses jungen Junkies übertragen bekommen, der angeblich genau vor einer Woche den Frankfurter Geschäftsmann im Ramses umgebracht haben sollte. Jetzt war er unsicher. Auf der einen Seite freute er sich, endlich mal wieder eine Strafsache auf dem Tisch zu haben, auf der anderen Seite hatte er ein ungutes Gefühl. Es handelte sich um einen reinen Indizienprozeß, denn der Junge beteuerte natürlich seine Unschuld. Zudem belastete ihn die Sache mit der Homosexuellen- und Stricherszene. Und um das Ganze noch zu toppen, auch noch eine Pflichtverteidigung. Das zahlte sich nicht einmal finanziell aus. Der Ärger schien vorprogrammiert.
Sowieso war es heute nicht sein Tag. Warum, wußte er eigentlich auch nicht. Es gelang ihm nichts, die Dinge entwickelten irgendwie eine Eigendynamik. Rainer schob es auf den Montag, aber gleichzeitig vermutete er, daß ihm auch die unvermutete Begegnung mit Gudrun noch in den Knochen steckte. Irgendwie hatte die Szene einen bedrohlichen Eindruck hinterlassen. Er sah seine sichere Basis gefährdet, und das war das letzte, was er wollte. Am späten Nachmittag beschloß er, ausnahmsweise früher zu gehen.
Rainer und Anna trafen gleichzeitig zu Hause ein. Anna stieg beschwingt aus ihrem Wagen, ein Lächeln auf den Lippen. Sie sah Rainer, wie er aus der Garage kam, und eine ungute Vorahnung beschlich sie. Irgendwas war nicht in Ordnung, das war schon aus der Ferne zu sehen. Ob er was wußte? Und weshalb kam er so früh aus dem Büro?
Sie lief ihm entgegen. »Na, mein Schatz – heute so früh? Ist was passiert?«
Er gab ihr einen flüchtigen Kuß. »Nein, nichts!« Seine Stimme klang abweisend, und er sah ihr dabei nicht in die Augen, sondern ging in Richtung Haustür.
Bei Anna schrillten alle Alarmsysteme. »Kann doch nicht nichts sein«, sagte sie, in ihrer großen Handtasche nach dem Haustürschlüssel kramend. »Irgendwas ist doch!«
»Es ist nichts!« Er schaute ihr bei ihren Bemühungen kurz zu und zog dann seinen eigenen Schlüssel aus der Manteltasche. »Nichts nervender, als Frauen bei ihrer Schlüsselsuche zuschauen zu müssen!«
»Es ist doch was!«
»Nein. Wenn ich’s doch sage!« Er schloß auf, ging hinein, hängte seinen Trenchcoat ordentlich in der Garderobe auf einen Bügel.
Anna blieb unentschlossen hinter ihm stehen. Er wirkte anders als sonst. Verschlossen wie eine Auster.
»Soll ich uns einen Tee machen?«
»Nein. Ich geh in mein Zimmer, ich brauch nichts!«
Anna zog langsam ihre Jacke aus und hängte sie an einen freien Haken.
»Red doch darüber«, sagte sie dabei. »Wenn was ist, muß man darüber reden. Ich kann dir nicht helfen, wenn ich nicht weiß, was los ist. Also sag’s!«
»Du brauchst mir nicht zu helfen. Laß mich einfach in Ruhe!«
Damit nahm er seine Aktentasche und ging die Treppe hinauf zu seinem Zimmer.
Anna schaute ihm nach. »Es hilft dir auch nichts, wenn du dich in deine Höhle verziehst!« rief sie ihm nach, bevor die Tür hinter ihm zufiel.
»Woher willst denn du das wissen«, hörte sie ihn noch sagen.
Völlig ratlos griff Anna zu ihrem Handy und ging damit in die Küche. Während sie mit der linken Hand nach dem Wasserkocher griff, um sich einen Tee aufzubrühen, schrieb sie mit der rechten eine Kurznachricht an Lars: »Bin völlig fertig. Glaube, Rainer ist uns auf die Spur gekommen. Küsse dich trotzdem – na, du weißt schon wo …« Inzwischen kochte das Wasser, sie fingerte einen Teebeutel heraus, stellte sich einen Becher parat und drückte auf »Senden«. Im selben Moment schoß ihr ein, daß es der falsche Name war. Sie hatte die Message in ihrer Zerstreutheit an Patricia geschickt und nicht an Lars, wie beabsichtigt. Anna legte das Handy aus der Hand. Da war jetzt nichts mehr zu retten. Verdammt! Das kam daher, daß Patricia in ihrem Namensregister direkt hinter Lars stand. Sie war zu schnell gewesen. Patricia würde aus allen Wolken fallen.
Anna überlegte, aber sie war zu aufgeregt, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Ob sie Patricia sonstwas erzählen konnte, es als Witz deklarierte? Schließlich stand zumindest der Name von Lars nicht dabei. Aber konnte sie ihre beste Freundin anlügen? Eine studierte Psychologin zu allem Überfluß?
Das Handy piepste zweimal. Anna warf nur einen Blick darauf und goß sich jetzt erst einmal ihren Tee auf. Nur mit der Ruhe. Nichts überstürzen. Sie konnte sich schon denken, wer da so schnell reagiert hatte. Das Display gab ihr recht: Patricia. Sie drückte auf »Zeigen« und schielte mit einem Auge hin. »Anna!!?!!« stand da. Sonst nichts. Aber eigentlich reichte es schon. Anna!!?!! Bedeutete soviel wie: Du wirst doch nicht?! Bist du bescheuert?! Erzähl, was los ist!
Gleich darauf klingelte es. Anna seufzte und griff nach dem Handy. »Ja, ja, ja«, kam sie ihrer Freundin zuvor. »Ich weiß schon, was du sagen willst. Laß es!«
»Und was sagt Rainer?« fragte Patricia völlig gelassen.
»Er sitzt in seiner Höhle!«
»Denk ich mir!«
»Aber nicht deswegen!«
»Weswegen dann?«
»Keine Ahnung. Er spricht ja nicht mit mir! Erzählt nichts, der alte Sauertopf!«
»Laß ihn. Männer brauchen das zuweilen!«
»Und ich? Brauch ich nichts?«
»Hast du nicht schon was?«
Es blieb kurz still.
»Und mir hast du nichts davon erzählt, du Rabenfreundin! Per Zufall muß ich’s rauskriegen …«
Anna begann, in ihrem Becher herumzurühren.
»Hmmm«, sagte sie nach einer kurzen Denkpause, »besser du kriegst es per Zufall heraus als er. Das heißt … wenn er nicht schon. Er verhält sich so seltsam!«
»Wer ist es denn?« Jetzt begann sich Patricias Stimme zu verändern, bekam einen höheren Klang. Sie war neugierig, das war Anna klar. Aber Lars als Liebhaber anzugeben war so einfallslos. Der Junge von nebenan, weil sich nichts Besseres bot. Ausgerechnet einen aus dem Freundeskreis, es war zu peinlich.
»Können wir das nicht demnächst mal …?«
»Kommst du zu mir in den Kreis?«
Klar, ihre Selbsterfahrungsstunden. Immer am Montagnachmittag, wo sie seit Wochen regelmäßig teilnahm – wie Rainer glaubte. Es wäre sowieso nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er Patricia mal nach ihren Fortschritten gefragt hätte.
»Du weißt doch …«
»Klar, du bist unverbesserlich und weiß Gott schon selbsterfahren genug …«
»Ich will das ja nicht abtun, Patricia, ich bin halt nicht der Typ …, du kennst mich doch. Treffen wir uns lieber so.«
Derweil saß Rainer in seinem Zimmer an seinem Schreibtisch, hatte die Beine hochgelegt, hielt die Augen geschlossen und versuchte, sich über manches klarzuwerden. Er haßte es, wenn er sich selbst nicht kannte. Normalerweise war er klar durchstrukturiert, das Leben lief in geordneten Bahnen, nicht immer, aber doch zumindest fast. Es irritierte ihn, wenn sich Dinge veränderten. Zumal wenn er nur ein unbestimmtes Gefühl hatte und es keinen konkreten Anlaß gab, daß es tatsächlich so war. Er versuchte, herauszufinden, was in ihm bohrte. Gudruns Auftritt ärgerte ihn, die Pflichtverteidigung lag ihm auch im Magen – aber das waren die Dinge an der Oberfläche. Jetzt müßte er vielleicht ein bißchen kratzen, aber er war nicht der Typ, der tief in sich hineinhorchen konnte. Vielleicht wollte er sich selbst auch überhaupt nicht so gründlich kennenlernen.
Auf der anderen Seite ärgerte ihn dieser Zustand. Seine Psyche spielte ihm einen Streich, und er kam nicht damit zurecht. So blieb er sitzen und hoffte auf eine Eingebung.
Anna wartete auf Rainers Erscheinen und begann, nachdem er nach über einer Stunde noch immer nicht aufgetaucht war, sein Lieblingsessen vorzubereiten: selbstgemachte Rouladen mit Grünkohl. Das kostete Zeit und lenkte sie von ihrem schlechten Gewissen ab. Wenn er tatsächlich etwas wußte, warum verkroch er sich dann in seinem Zimmer, anstatt sie mit seinem Wissen zu konfrontieren? Sie haßte solche Spielchen, überhaupt jede Form von Ungewißheit. Es erinnerte sie an ihre Kindheit mit der immer wiederkehrenden blöden Drohung ihrer Mutter: »Warte nur, bis Papa nach Hause kommt!« Das hörte sich stets an, als käme die Inquisition ins Haus geschritten. Lieber hätte sie sich mit ihrer Mutter auf der Stelle gefetzt, anstatt auf einen Mann zu warten, der ihre Entwicklung sowieso nur am Rande mitbekommen hatte. Was wußte ihr Vater schon von ihr. Er war kaum zu Hause, und wenn doch, dann wurde sie, als sie noch klein war, ins Bett geschickt. Später war es umgekehrt. Da war er schon im Bett, wenn sie nachts aus ihrer Lieblingsdiskothek den Weg ins Bett zurückfand.
Sie kämpfte mit den widerspenstigen Salatblättern, die sich einfach nicht bändigen ließen, und dachte nach. Genaugenommen hatten sie und ihr Vater nie wirklich miteinander gesprochen. Er hat sie nie nach ihrem Leben gefragt, nach ihren Wünschen, ihren Sehnsüchten, Gedanken, und sie wußte von ihm auch nichts. Dinge wurden ausgehandelt. Wann man zu Hause zu sein hatte, welcher Umgang gebilligt wurde, was man sich zum Geburtstag wünschte. Sie kannten Hobbys und Lieblingsspeisen des anderen.
Zumindest sie die von ihrem Vater.
Sie hackte sich durch den Salat und hätte im Moment jeden darunterlegen können. Sie fühlte sich von der Welt unverstanden. Vor allem von Rainer. Und Patricia. Welche Ahnung konnte eine Psychologin von der wirklichen Welt haben, zumal wenn sie frisch verliebt war? Und Lars war sowieso jenseits von Gut und Böse. Er betrog Bettina, ohne mit der Wimper zu zucken! Männer!
»Autsch!« Anna hatte sich in den Finger gehackt. Knapp unterhalb des Mittelknochens vom linken Zeigefinger klaffte eine Wunde. Es tat scheußlich weh, noch scheußlicher allerdings war der Anblick. Anna hielt den Finger unter fließendes Wasser und beobachtete, wie sich die Wunde von Fischfleischweiß in Rindfleischrot verfärbte. Dann rannte sie hoch zu Rainer und stieß seine Tür auf.
Er saß noch immer am Schreibtisch, die Füße auf der Tischplatte, und ließ sich treiben.
»Schau, was mir passiert ist!« Anna hielt ihm den Finger unter die Nase.
Rainer mußte sich erst sammeln, bevor er reagieren konnte. »Ich mag’s nicht, wenn du so hereinstürzt!«
»Ich hätte mir fast den Finger abgehackt. Da, schau her! Nur wegen deinem Grünkohl!«
»Grünkohl? Wer will denn Grünkohl!«
»Was soll das denn heißen? Ich hab eine Wunde! Also tu gefälligst was und sitz hier nicht so rum!«
Rainer nahm die Beine vom Tisch und suchte nach seiner Brille, die er irgendwo abgelegt hatte.
Anna preßte ihren Finger auf die Wunde, denn jetzt begann das Blut wieder zu tropfen.
»Du blutest ja«, sagte Rainer und schaute erstaunt zu ihr auf.
»Nicht möglich!!!« Anna verzog den Mund. Rainer schien nicht unglücklich über die Situation. Das gab ihm Auftrieb, hier konnte er etwas tun.
»Geh ins Bad, halt den Finger unters Wasser, ich hol Verbandszeug. Wir müssen zum Arzt!«
Eine Stunde später waren sie bereits wieder auf der Rückfahrt vom Krankenhaus. Anna saß erleichtert auf dem Beifahrersitz. Sie hatte eine Tetanusspritze bekommen, der Hautlappen war mit wenigen Stichen angenäht worden. Es sehe wilder aus, als es sei, hatte der Arzt in der Notaufnahme gemeint. Sein fast abschätziger Tonfall bestärkte Anna in dem Eindruck, der Schnitt sei eine zu lächerliche Lappalie für einen wie ihn. Er sah nicht schlecht aus, ein junger Aufsteiger, aber seiner Karriere zuliebe würde sie sich ihren Finger auch beim nächsten Mal nicht ganz abhacken. Sie war versucht gewesen, ihm das zu sagen, biß sich aber im letzten Moment auf die Lippe. Möglicherweise hätte er diese Art von Humor nicht verstanden. Zu feinsinnig für einen Mann.
Jetzt fühlte sie sich in ihrem Beifahrersitz wohlig schläfrig, hatte ihre Hand mit dem verbundenen Finger in den Schoß gelegt und betrachtete Rainer von der Seite. Es war erstaunlich, daß sie zwei so unterschiedliche Männer zur gleichen Zeit lieben konnte. Rainer war feingliedrig, sein Gesicht oval, schmal, seine Hände langfingrig wie die eines Künstlers oder was man dafür hielt. Er war mit seinen 182 Zentimetern fast so groß wie Lars, wenn er auch nicht so wirkte. Er hatte dünnes, braunes Haar, das er durch regelmäßige Friseurbesuche auf Länge hielt und sorgsam scheitelte.
Eigentlich war er ja ein Spießer, dachte Anna, aber er hatte auch etwas sehr Verführerisches auf seine Art. Zumindest hatte sie das damals so empfunden, und auch heute blitzte es manchmal noch durch. Seinen braunen Augen war sie verfallen, bevor ihre Mutter ihr erklärt hatte, daß dies der Mann fürs Leben sei. Eigentlich war diese mütterliche Aussage nur lästig und provozierte Widerstand. Um ein Haar hätte sie ihn nur aus diesem Grund nicht genommen. Schließlich hatte sie es sich jedoch anders überlegt und zehn Kinder anvisiert, die sie alle bei Omi abzugeben gedachte.
Sie lächelte vor sich hin, während die Straßenlaternen Rainers Gesichtszüge abwechselnd in Licht und Schatten tauchten. Ihr Finger pochte ein bißchen, aber Anna fühlte sich wohl. Rainer hatte noch kein einziges Wort darüber verloren, was ihn so beschäftigte. Also hatte sich das Ganze erübrigt. Sie legte ihre Hand auf sein Bein, und er lächelte ihr zu.
»Kannst du dich an das Hotel Ramses erinnern?« fragte er plötzlich.
O mein Gott! Sie spürte, wie sie erstarrte.
»Ramses?« fragte sie gedämpft.
»Da ist ein Geschäftsmann umgebracht worden. Vor exakt einer Woche. Es stand in der Zeitung. Erinnerst du dich?«
Anna deutete ein Nicken an.
»Beschuldigt wird ein Junkie. Er soll den Geschäftsmann umgebracht haben, und mir wurde heute die Pflichtverteidigung übertragen.«
»O mein Gott!«
Ihr Ton hatte so erschrocken geklungen, daß Rainer impulsiv nach ihrer Hand griff, was einen Schmerzensschrei zur Folge hatte.
»Tut mir leid, tut mir leid, das wollte ich nicht!«
Anna hielt ihre Hand hoch und überlegte. Tausend Gedanken schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf.
»War er’s denn?«
»Keine Ahnung. Ich habe die Akte noch nicht. Kommt wahrscheinlich morgen.«
Anna warf ihm einen Blick zu. Da saß er nun, ihr Held. Verdammt dazu, im dunkeln zu stochern, wo sie ihm doch so leicht auf die Sprünge helfen könnte.
»Hast du den Kerl schon gesehen?«