Noch nie konnten so viele Menschen wie heute ihre Meinung auf der ganzen Welt verbreiten. Eine neue Epoche der Redefreiheit ist angebrochen, gleichzeitig brechen neue kulturelle und religiöse Konflikte aus. Müssen wir rassistische Kommentare auf Facebook hinnehmen? Darf Satire den Propheten Mohammed verhöhnen? 2011 hat Timothy Garton Ash eine Debatte über die Redefreiheit angestoßen. Teilnehmer aus der ganzen Welt diskutieren seitdem Konflikte, die aus der Kollision unterschiedlicher Überzeugungen entstehen. Aus den Erfahrungen dieser internationalen Diskussion hat er Prinzipien entwickelt, die das Recht auf Redefreiheit genauso wie die Würde Andersdenkender sichern sollen. Diese Debatte lieferte Timothy Garton Ash den Stoff für sein neues Buch: Ein Standardwerk über die Frage, wie wir in Zukunft vernünftig unsere Standpunkte austauschen wollen.
Hanser E-Book
TIMOTHY GARTON ASH
REDEFREIHEIT
PRINZIPIEN FÜR EINE
VERNETZTE WELT
Aus dem Englischen von
Helmut Dierlamm
und Thomas Pfeiffer
Carl Hanser Verlag
Titel der Originalausgabe:
Free Speech:
Ten Principles for a Connected World
Yale University Press, New Haven & London 2016
Die Seiten 11–174, 275–596 (Mitte) sowie 607–664 wurden von Helmut Dierlamm, die Seiten 177–273 und 596 (Mitte)–606 von Thomas Pfeiffer übersetzt.
Die Texte aus Nina Simones Song »I Wish I Knew How It Would Feel To Be Free« (S. 115), verfasst von Billy Taylor und Dick Dallas, werden mit freundlicher Genehmigung zitiert.
Die Texte für Eminems Song »White America« (S. 369f.), verfasst von Steven King, Jeffrey Bass, Luis Resto und Marshall Mathers, © veröffentlicht von Eight Mile Style LLC und Martin Affiliated LLC, verwaltet von Kobalt Music Publishing Limited, werden mit freundlicher Genehmigung zitiert.
ISBN 978-3-446-25425-1
Copyright © Timothy Garton Ash 2016
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München 2016
2. E-Book-Version Februar 2017
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München
Satz: Greiner & Reichel, Köln
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Allen, die bei Free Speech Debate
auf freespeechdebate.com mitarbeiten
POST-GUTENBERG
Teil I
KOSMOPOLIS
Sprache
Kosmopolis
Cyberspace, CA 94305
Der Kampf um die Wortmacht
Die großen Hunde
Die großen Katzen
M2
Die Macht der Maus
»Innocence of the Muslims« und die verlorene Unschuld von YouTube
IDEALE
Warum sollte die Meinungsäußerung frei sein?
Wie frei sollte die Rede sein? Wie sollte die freie Rede sein?
Nicht nur per Gesetz
Gesetze und Normen
Beleidigt? Was soll daran schlimm sein?
Ein Seminar über John Stuart Mill in Peking
Zu einem universelleren Universalismus
Teil II
EINE BEDIENUNGSANLEITUNG
1. DER LEBENSSAFT
In der Lage und befähigt
In der eigenen Sprache
Ersuchen, empfangen und mitteilen
Ohne Rücksicht auf Grenzen
2. GEWALT
Das Veto des Mörders
Den Brandenburg-Test modernisieren
Gefährliche Rede
Gerechter Krieg?
Dem Veto des Mörders entgegentreten
Karikaturen und das Dilemma der Neuveröffentlichung
Den friedlichen Konflikt praktizieren
3. WISSEN
Wissenschaftlich gesprochen
Auf dem Campus
Vergangenheit per Gesetz
Alles offen für alle?
Öffentliche Güter durch private Mächte
Von Babel zu Babble
Homo Zappiens
4. JOURNALISMUS
Medien
Unzensiert, aber nicht unbeschränkt
Vielfältig: Medienpluralismus zwischen Geld und Politik
Vom Daily Me zum täglichen Kiosk
Vertrauenswürdig: Was ist ein Journalist? Was ist guter Journalismus?
Unterwegs zu einer vernetzten Pnyx
5. VIELFALT
Offenheit und robuste Zivilität
Zivilität erzwingen?
Warum reife Demokratien Gesetze gegen Hassrede überwinden sollten
Die Schaffung einer Zivilgesellschaft
Kunst und Humor
Pornografie
Zivilität und Macht
6. RELIGION
Das Argument für eine besondere Behandlung der Religion
Aber was ist eine Religion?
Zwei Arten von Respekt
Per Gesetz oder aus Gewohnheit?
Das Problem mit dem Islam
Toleranz
7. PRIVATSPHÄRE
Sind Sie je allein?
Privatsphäre, Ruf und öffentliches Interesse
Schlachtfelder der Mächtigen
Von Twitter verurteilt
Kampf gegen Rufmord
Ein »Recht auf Vergessenwerden«?
Lasst euch nicht verzuckern
Janus Anonymus
8. GEHEIMHALTUNG
Die Sicherheit und das Prinzip der Hinterfragung
Der Preis der Geheimhaltung
Auf diesem Gebiet sind Gesetze erforderlich
Wer wacht über die Wächter?
Whistleblower und Leaker, eine wichtige Sicherung
Das Problem mit »gut informierten Quellen«
Warum es wichtig ist, nicht anonym zu sein
9. EISBERGE
Eisberge
Ein Internet, unter wem?
Netzneutralität
Privatisierung und Zensurexport
Ethische Algorithmen?
Die Macht des Geldes (ist zu groß)
10. MUT
Mut
Zwei Geister der Freiheit
DIE HERAUSFORDERUNG
Anmerkungen
Bibliografie
Dank
Abbildungen
Karten
Register
Wir sind heute alle Nachbarn. Es gibt mehr Telefone als Menschen, und fast die Hälfte der Menschheit hat Zugang zum Internet.1 In unseren Städten leben wir mit Menschen aus aller Herren Länder und den unterschiedlichsten Kulturen und Religionen auf engstem Raum. Die Welt ist kein globales Dorf, sondern eine globale Großstadt – eine virtuelle Kosmopolis. Auch können die meisten von uns heute Autoren und Verleger sein. Wir können unsere Gedanken und Fotos online posten, wo sie theoretisch Milliarden Menschen erreichen. Noch nie in der Menschheitsgeschichte gab es solche Möglichkeiten zur freien Meinungsäußerung. Und noch nie waren die Nachteile der schrankenlosen freien Meinungsäußerung – Todesdrohungen, pädophile Bilder, ganze Schlammfluten von Beschimpfungen und Beleidigungen – so leicht über alle Grenzen zu verbreiten.
Diese beispiellose Welt-als-Großstadt ist insbesondere von den Vereinigten Staaten, dem liberalen Leviathan, und in geringerem Ausmaß auch von den anderen Ländern des historischen Westens geprägt. Heute jedoch werden das Recht und die Macht des Westens, die Verhältnisse in der Kosmopolis zu bestimmen, massiv in Frage gestellt: insbesondere durch China, aber auch durch aufsteigende Mächte wie Brasilien und Indien. Jede neue und jede alte Macht bringt ihr eigenes kulturelles Erbe und ihre eigenen historischen Erfahrungen in die Diskussion um die Redefreiheit ein. Dabei ist es freilich auch innerhalb all dieser Länder höchst umstritten, welche Lehren aus diesen Erfahrungen zu ziehen sind.
Einige Konzerne haben mehr Macht als die meisten Staaten, wenn es darum geht, die freie Meinungsäußerung weltweit zu ermöglichen oder einzuschränken. Würde man die Nutzer von Facebook als dessen Bürger betrachten, hätte es eine größere Bevölkerung als China.2 Was Facebook tut, hat mehr Wirkung als alles, was Frankreich tut, und die Entscheidungen von Google wirken sich stärker aus als die der deutschen Regierung. Konzerne wie Facebook und Google sind private Supermächte. Doch sie sind wie der riesige Monarch auf dem Frontispiz von Thomas Hobbes’ Leviathan aus zahllosen Einzelpersonen zusammengesetzt.3 Ohne ihre Nutzer, also ohne uns, wären diese Giganten nichts.
Dieses Buch erklärt, warum wir die Redefreiheit in unserer neuen Kosmopolis mehr denn je brauchen und lädt zu einem Gespräch über dieses Thema ein. Es beginnt mit der Geschichte der dramatischen technologischen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Veränderungen, die sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts und mit gesteigerter Intensität seit 1989 vollzogen haben und immer noch vollziehen. Im Jahr 1989 spielten nicht weniger als vier Ereignisse in Bezug auf die freie Meinungsäußerung im 21. Jahrhundert eine grundlegende Rolle: der Fall der Berliner Mauer, die Erfindung des World Wide Web, die Fatwa, die Ajatollah Chomeini gegen Salman Rushdie erließ, und das seltsame Überleben der kommunistischen Herrschaft in China. Das Pferd der Geschichte galoppiert seither unermüdlich weiter, und ich bin mir der Warnung von Walter Raleigh lebhaft bewusst, dass sich, »wer immer eine moderne Geschichte schreibt und der Wahrheit zu dicht auf den Fersen folgt, leicht die Zähne ausschlagen kann«4. Dennoch behaupte ich, dass die Herausforderungen, mit denen wir in dieser Welt von Nachbarn konfrontiert sind, heute im Wesentlichen klar sind.
Überdies eröffnen sich durch die Transformation der Kommunikation selbst neue Möglichkeiten, um sich mit diesen Veränderungen schon auseinanderzusetzen, während sie sich vollziehen. Als ich dieses Buch zu schreiben begann, dachte ich, dass ich einfach nur ein Buch schreiben würde. In diesem Fall wäre etwa neun Monate, nachdem ich es bei meinem Verleger ablieferte (das Abliefern ist für ein Manuskript traditionell das, was die Geburt für ein Baby ist), ein erfreuliches kleines Objekt, in Windeln gewickelt, in meinem Briefkasten gelandet. Was Johannes Gutenberg »das Werk der Bücher« nannte, hätte fortbestanden, wie es seit Jahrhunderten bestand.5 Dann jedoch, als ich an der Stanford University, im Herzen des Silicon Valley, recherchierte, stellte ich mir folgende Frage: Wenn dein Gegenstand die Post-Gutenberg-Welt ist, wie kannst du dich dann damit begnügen, dein Buch nur auf die alte gutenbergsche Art zu schreiben? Wenn das Internet Menschen auf der ganzen Welt beispiellose Möglichkeiten bietet, frei zu sprechen und über freie Meinungsäußerung zu debattieren, warum erkundest du diese Möglichkeiten dann nicht und machst sie zu einem integralen Bestandteil der Arbeit an diesem Buch?
Also machte ich den Umweg, mit einem Team an der Oxford University die experimentelle Website freespeechdebate.com zu entwickeln. Sie enthält Fallstudien, Audio- und Videointerviews, Analysen und persönliche Kommentare aus der ganzen Welt und lädt zu einer Online-Debatte ein. Ein großer Teil ihrer Inhalte ist in 13 Sprachen übersetzt, von denen etwa zwei Drittel der heutigen Internetnutzer mindestens eine sprechen.6 Ermöglicht hat dies eine inspirierende Gruppe von Studenten, die eine der 13 Sprachen als Muttersprache haben und von Ideen, Beispielen und Einwänden förmlich übersprudeln. Auf meinem Weg über freespeechdebate.com reiste ich von Kairo bis Berlin, von Peking bis Delhi, von New York bis Yangon, hielt Vorträge über das Projekt und lauschte aufmerksam den Ansichten anderer, eine Erfahrung, die dieses Buch bereichert und verwandelt hat. Als Ergebnis der, live wie online, geführten Debatten wurden die ursprünglich auf der Website vorgeschlagenen zehn Prinzipien neu formuliert und neu geordnet.7 Etliche der Geschichten, die ich zu ihrer Illustration erzähle, sind, insbesondere wenn sie aus nichtwestlichen Ländern stammen, im Lauf dieses Experiments aufgetaucht.
Wenn Sie, lieber Leser, diese Worte in der traditionellen Gutenberg-Form auf Papier gedruckt lesen, finden Sie in den Anmerkungen neben vielen anderen Quellen auch das Material der Website Free Speech Debate. Wenn Sie sie jedoch auf einem Gerät mit Internetzugang lesen, haben sie es mit einem Post-Gutenberg-Buch zu tun. Die Post-Gutenberg-Bücher der Zukunft werden zweifellos viele unterschiedliche Formen haben, aber dieses Buch würde ich als eine elektronische Pyramide visualisieren.
Abb. 1: Ein Post-Gutenberg-Buch
Wenn Sie im Online-Text zum Beispiel auf diesen Punkt klicken, kommen Sie zu einem Essay auf freespeechdebate.com. Dort wird berichtet, dass der amerikanische Historiker Bernard Lewis 1995 von einem französischen Gericht verurteilt wurde, weil er in einem Interview mit der Zeitung Le Monde bezweifelte, dass das schreckliche Leid, das in den letzten Jahren des Osmanischen Reiches den Armeniern begegnet ist, ganz präzise mit dem Wort »Genozid« zu beschreiben ist. Klicken Sie auf einen Link in dem Essay, und Sie können das Urteil des französischen Gerichts im Original lesen.8 Bei anderen Themen sind vielleicht ein oder zwei Klicks mehr notwendig, je nachdem, wie viele Ebenen oder versteckte Kammern der Pyramide man erkunden will. Dass man sich durchklickt, ist eine völlig vertraute Praxis im Online-Journalismus, hat sich aber beim E-Book noch nicht durchgesetzt, also ist die Einbettung von Links in den Haupttext als solche schon eine Erkundung der Möglichkeiten einer vernetzten Welt.
Meine These ist, dass wir mehr Meinungsfreiheit von besserer Qualität brauchen, um in dieser Welt-als-Großstadt gut zusammenzuleben. Da Meinungsfreiheit nie unbeschränkte Redefreiheit bedeutet hat (jeder gibt alles von sich, was ihm in den Sinn kommt: globaler Sprechdurchfall), muss diskutiert werden, welche Grenzen die Meinungs- und Informationsfreiheit in wichtigen Bereichen wie etwa der Privatsphäre, der Religion, der nationalen Sicherheit oder der Art, wie wir über die Unterschiede zwischen Menschen reden, haben sollte. Genauso wichtig ist die Bestimmung positiver Methoden und Stile, mit denen wir die Sprache als grundlegende Gabe der Menschheit unter den heutigen Bedingungen beispielloser Möglichkeiten und Risiken optimal nutzen können.
Nach dem Philosophen Michel Foucault vertrat der epikureische Denker Philodemos (der wiederum die Lehren Zenos von Sidon wiedergab) die Ansicht, dass die freie Rede wie Medizin oder Navigation als eine Fertigkeit gelehrt werden sollte. Ich weiß nicht, was von dem Gedanken von Zeno oder Philodemos stammt und was von Foucault, aber mir kommt er für unsere Zeit besonders wertvoll vor.9 In dieser überfüllten Welt müssen wir lernen, mit Sprache zu navigieren, wie die Seeleute der Antike sich beibrachten, über das Ägäische Meer zu segeln. Doch wir werden es nie lernen, wenn wir nicht mit dem Schiff aufs Meer hinausfahren dürfen.
Ziel dieser Reise kann es nicht sein, die Konflikte zwischen menschlichen Sehnsüchten, Werten und Ideologien aufzuheben. Das wäre nicht nur unmöglich, sondern auch nicht wünschenswert, weil dabei eine sterile Welt herauskäme, monoton, unkreativ und unfrei. Stattdessen sollten wir einen Rahmen für die friedliche und zivilisierte Austragung von Konflikten erarbeiten, der in dieser Welt von Nachbarn anwendbar und nachhaltig ist.
Ich behaupte selbstverständlich nicht, dass ich einen unparteiischen universalen Standpunkt im Nirgendwo (oder überall) anbieten könnte. Ich habe einen festen Standpunkt, den liberal zu nennen und für den zu kämpfen ich stolz bin. Dieser starke individuelle Standpunkt ist absolut vereinbar mit der Überzeugung, dass es wichtig ist, die Grenzen einer nur auf den Westen beschränkten Debatte zu überschreiten. Soweit ich sehen kann, gibt es keinen besseren Weg zu einem universaleren Universalismus als dem heutigen (der unverzichtbar ist, wenn wir in der Welt-als-Großstadt des 21. Jahrhunderts gut zusammenleben wollen), als die Regeln auszuformulieren, die für uns alle am besten wären, wenn sie von allen angewendet würden. Danach können andere unsere Behauptungen bestreiten und ihre eigenen Regeln vorschlagen.
Der Philosoph Isaiah Berlin ist für die Ansicht berühmt, nach der es eine Pluralität von Werten gibt, die nicht alle gleichzeitig vollständig realisiert werden können. Persönlich war Berlin immer von den Unterschieden zwischen Denkern und Kulturen fasziniert. Dennoch bemerkte er gegen Ende seines Lebens, dass »mehr Menschen in mehr Ländern öfter gemeinsame Werte akzeptieren, als oft angenommen wird«.10 Vielleicht hatte er recht. Ich jedenfalls bin zu demselben Schluss gekommen, nachdem ich viele Jahre lang viele Länder bereist hatte. Wenn Sie an einen neuen Ort kommen, fällt Ihnen zunächst alles auf, was im Vergleich zu Ihrem eigenen Zuhause anders und merkwürdig ist. Bleiben Sie etwas länger, entdecken Sie das allgemein Menschliche unter der Oberfläche. Aber vielleicht hatte Berlin auch unrecht, und was gelegentlich als »moralische Globalisierung« bezeichnet wird, ist ein naives liberales Hirngespinst. Eines ist jedoch sicher: Wir werden es nie wissen, wenn wir nicht versuchen, es herauszufinden.