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Mit 59 farbigen Fotos, 39 Schwarz-Weiß-Abbildungen und einer Karte
Bei der Bezeichnung »Couchsurfing« handelt es sich um eine eingetragene Marke der Couchsurfing International, Inc. Der Titel dieses Buches und der Verlag stehen in keiner Beziehung zur Marke. Weiterhin besteht keine Partnerschaft, Zugehörigkeit, Lizenz oder sonstige Beziehung zu Couchsurfing International, Inc.
© Piper Verlag GmbH, München 2017
Fotos im Bildteil: Stephan Orth; mit Ausnahme der Fotos mit Copyright Gulliver Theis
Innenteilfotos: Stephan Orth; mit Ausnahme der Fotos von Gulliver Theis im Kapitel Grosny (erstes und drittes Bild), sowie die ersten beiden Bilder im Kapitel Machatschkala.
Karte: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de, nach einer Vorlage von Marlise Kunkel
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de
Covermotiv: Gulliver Theis
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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»Überraschend.«
Hinter der Absperrung geht es 500 Meter in die Tiefe, wir stehen am Rand eines riesigen Kraters. »Willkommen am Arschloch der Welt!«, ruft die Leiterin der Dezernate Kultur und Jugend der Stadtverwaltung. Sie hält ihr Handy hoch, um ein paar Selfies unserer kleinen Gruppe zu knipsen. Lächeln. Klick. Victory-Zeichen. Klick. Arme hochreißen, »Ein bisschen näher zusammen!«. Klick. »Und jetzt alle richtig bescheuert gucken!« Klickklickklick. Wie Teenager am Schloss Neuschwanstein oder am Roten Platz.
Die Luft riecht nach Schwefel und verbranntem Holz, die Abendsonne hängt tief am Himmel und taucht den staubigen Dunst ringsum in rötliches Licht. Sonnenuntergangsromantik auf Apokalyptisch. Am Geländer der Aussichtsplattform hängen Liebesschlösser mit den Namen von Hochzeitspaaren. Julija und Sascha. Schenja und Sweta. Wjatscheslaw und Marija. Der Bund fürs Leben, besiegelt am Eingang zur Hölle, ein Treueschwur an der absurdesten Touristenattraktion des Planeten.
Ich kenne die Menschen nicht, mit denen ich Gruppenfotos mache. Gerade haben sie mich an einem winzigen Flughafen abgeholt, an dem mehr Hubschrauber als Flugzeuge parken und mehr ausrangierte Flugzeuge als solche, die noch starten und landen können.
Sie kamen zu dritt: die Kulturbeauftragte, die Referentin für industrielle Angelegenheiten und der Student. Unterhalten haben wir uns bislang nicht, dafür war die Musik zu laut. Im Lada Priora mit der Heckscheibenaufschrift »Street Hunters« vibrierten die Sitzpolster. Der Fahrstil des Studenten und seine Angewohnheit, bei Tempo 75 beide Hände vom Lenker zu nehmen, um sie im Takt in der Luft herumwirbeln zu lassen, kennzeichneten ihn als jemanden, der schon mit zwanzig nicht mehr viel vom Leben erwartet.
Wo zum Teufel bin ich?
Antwort von Wikipedia: Mirny, Republik Jakutien, Ferner Osten Russlands, 37 188 Einwohner laut Zensus von 2010. Bürgermeister Sergej Alexandrow, Postleitzahlen 678 170 bis 678 175 sowie 678 179.
Antwort von Google Maps: zwischen Tschernyschewskij, Almasny, Tas-Jurjach, Tschamtscha, Lensk, Suntar, Scheja Malykaj, Njurba, Werchnewiljujsk, Nakanno, Oljokminsk und Morkoka. Die Bezeichnung »Nachbarorte« wäre allerdings irreführend, sie befinden sich in einem Radius von 400 Kilometern um Mirny verteilt.
Der Reiseführer antwortet: nichts. Dem »Lonely Planet« ist Mirny ein bisschen zu lonely.
Und meine Antwort? Genau da, wo ich hinwollte. Selfies vor Neuschwanstein kann jeder, zum Taj Mahal muss niemand mehr hinfahren, weil es schon sieben Milliarden Fotos davon gibt. Ich habe genug Schönheit auf Reisen gesehen, um nun bereit für das andere Extrem zu sein. Nicht die Hässlichkeit einer Kakerlake auf dem Küchenboden oder eines kaputten Autoreifens im Straßengraben. Peanuts. Ich meine Anti-Ästhetik von einem Ausmaß, dass einem die Sinne schwinden. Reisen als Horrorfilm oder Thriller, David Fincher statt Rosamunde Pilcher, Hässlichkeit mit Wow-Effekt, Hässlichkeit mit Geschichte. Nur die Normalnull ist langweilig, interessant wird es an den Extrempunkten der Ästhetikskala. Alles eine Frage der Wahrnehmung, nach welchen Kriterien man ein Reiseziel auswählt.
Das »Arschloch der Welt«, so lautet der lokale Spitzname, ist eine Meisterleistung der Ingenieurskunst. Jahrzehntelange Arbeit, ausgefuchste Statik. Die zweitgrößte Anlage ihrer Art, weltweit. Und einen versteckten Schatz gibt es auch. So weit, so Weltkulturerbe-Kandidat. Gleichzeitig ist die offene Mine von Mirny nun wirklich keine Augenweide, allein das Wort »Weide« würde ja implizieren, dass hier irgendetwas wächst. Jahrzehntelang wurden Diamanten ausgebuddelt, ein paar Gramm Edelstein pro Tonne Boden. Glitzernde Reichtümer, verborgen irgendwo im Morast.
Schrägwände aus grauem Erdreich führen nach unten, ein paar rostige Rohre sind noch von den Förderanlagen übrig. Am gegenüberliegenden Kraterrand, 1200 Meter entfernt, wirken die achtstöckigen Wohnblocks von Mirny wie eine Legolandschaft.
Im Jahr 2004 legte Russlands Edelstein-Gigant Alrosa die »Mir«-Mine – der Name bedeutet »Frieden« – aus einem simplen Grund still: weil der Abgrund bald Gebäude der Stadt verschlungen hätte, wenn die Bagger ihn noch weiter ausgebaut hätten. Nun arbeiten die Diamantenschürfer im Untertagebau weiter.
»Kommen viele Touristen her?«, frage ich die Kulturbeauftragte.
»Haha, nein, eigentlich nur die Einwohner«, antwortet sie. »Deshalb haben wir dich zu dritt abgeholt, das ist schon etwas Besonderes.« Aber gerade sei ein Filmemacher aus Italien da, der nächstes Jahr einen Spielfilm drehen will. »Ich gehe morgen zum Casting, kannst ja mitkommen. Aber jetzt machen wir erst mal eine Stadttour!«
In ihren besten Jahren galt »Mir« als die ertragreichste Diamantenmine der Welt. 342,5 Karat wog der größte Diamant, der hier ausgegraben wurde. Er ist zitronengelb, so groß wie eine Cocktailtomate und mehrere Millionen Euro wert. Ein Sensationsfund verdient einen sensationellen Namen, also nannte man ihn »26. Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion«. Auch der »60. Jahrestag des Komsomol« (200,7 Karat) wurde hier freigesprengt. Nicht jedoch »70 Jahre Sieg im Großen Patriotischen Krieg« (76,07 Karat), der stammt aus der Jubilejnaja-Mine weiter nördlich.
»Bist du angeschnallt?«, fragt der Student, dann rasen wir in Schlangenlinien über Schotterpisten Richtung Stadt. Vorbei an einem Hügel mit der Aufschrift »Mir 1957 – 2004«, auf dem riesige ausrangierte Bagger stehen. Der Lada hüpft über Schlaglöcher, die Reifen quietschen, und die Arme des Studenten tanzen. Die beiden Damen von der Stadtverwaltung singen lauthals einen Song von Elbrus Dschanmirsojew mit: Ich bin ein brodjaga, ein Landstreicher ohne Geld, und ich heirate trotzdem die schönste Frau. Nach einigen Wochen unterwegs bin ich es gewohnt, herzlich begrüßt zu werden, aber ein solches Empfangskomitee habe ich noch nicht erlebt. Wegen der Musikbegleitung fällt die erste Stadtführung wenig detailliert aus und besteht darin, dass die beiden Frauen von der Rückbank Ortsbezeichnungen nach vorne brüllen. »Hauptstraße, Uliza Lenina! Stadtzentrum! Schule! Bibliothek! Kirche! Feuerwache! Kriegsdenkmal! Stalinbüste!«
Schmucklose Beton-Hochhäuser, viele ziemlich neu, und zweistöckige lang gezogene Holzbauten aus früheren Jahren säumen die Straßen. Kein Eingang ist ebenerdig, denn alle Häuser sind auf Stelzen gebaut, wegen des Permafrostbodens. Ohne diese Podeste würde durch die Heizungswärme im ostsibirischen Winter der Boden schmelzen, die Gebäude würden absinken. »Du solltest im Januar wiederkommen, da wird es minus vierzig, manchmal minus fünfzig Grad!«, ruft die Referentin für industrielle Angelegenheiten.
Bei Stalin steigen wir kurz aus. Der bärtige Diktator aus dunkelgrauem Stein blickt stolz in Richtung Stadtzentrum, er trägt eine oben zugeknöpfte Uniform mit Sowjetstern am Revers. Auf Stalins Befehl wurde in den Fünfzigerjahren in der Republik Jakutien massiv nach Diamanten gesucht, weil Sanktionen des Westens Russland in eine Wirtschaftskrise katapultiert hatten. Nur deshalb entdeckte man hier die Mine, nur deshalb errichtete man eine Stadt.
Laut Sockel wurde die überlebensgroße Büste 2005 aufgestellt, zum sechzigsten Jahrestag des Kriegsendes. Ich bringe meine Überraschung zum Ausdruck, hier ein Denkmal des Schreckensherrschers vorzufinden. »Im ganzen Land gibt es nur zwei oder drei Stalinstatuen, eine andere steht in Murmansk«, sagt die Kulturbeauftragte. Es habe zunächst Proteste gegeben. »Dann wurde abgestimmt, und viele Kriegsveteranen waren dafür. Bei uns geht es noch etwas kommunistischer zu als anderswo. Komm, wir zeigen dir dein Zimmer.«
Kurz darauf biegt der Lada mit Discosound in die Straße »40 Jahre Oktober« ein. Das wäre auch ein schöner Name für einen Diamanten, gemeint ist nicht der Monat, sondern die Revolution. Wir halten vor einem Holzhaus mit blauen Wänden, natürlich auf Stelzen. Die Kulturbeauftragte führt mich in den ersten Stock und schließt die schief in den Angeln hängende Tür mit der Nummer elf auf. »Normalerweise ist das eine Unterkunft für Lehrer, die in Mirny arbeiten«, sagt sie und gibt mir den Schlüssel. Mein Zimmer ist auf mindestens 35 Grad geheizt und enthält eine Schlafcouch, einen Kleiderständer und einen Flachbildfernseher. Hier darf ich kostenlos für die nächsten drei Tage wohnen.
Wahrheit Nummer 18:
Ich fühle mich willkommen. Willkommen am Arschloch der Welt.