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2. Auflage 2015
 
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© der Originalausgabe 2013 by Arnoldo Mondadori Editore S. p. A., Milano

Die italienische Originalausgabe erschien 2013 bei Mondadori unter dem Titel Penso quindi gioco.
 
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, ­Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
 
Übersetzung: Elisabeth Liebl
Redaktion: Manuela Kahle
Umschlaggestaltung: Kristin Hoffmann, München
Umschlagabbildung: © Vivien Lavau
Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
 
ISBN Print 978-3-86883-557-1
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86413-725-9
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86413-726-6
 
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Meiner Familie, meiner Frau, meinen Kindern.

Eine einfache Widmung für besondere Menschen.

Andrea

 




Für Niccolò,

weil jeden Tag Weihnachten ist.

Alessandro

Inhalt

Titel
Impressum
Widmungen
Inhalt
Vorwort
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Danksagung

Vorwort

von Cesare Prandelli

Andrea Pirlo gehört zu einer schützenswerten Spezies: Er ist der Spieler aller Menschen. Jedes Stadion ist sein Stadion. Die Tifosi erblicken in ihm einen Meister aller Klassen, der sie vergessen lässt, dass sie Fans eines bestimmten Klubs sind. Er verkörpert Italien für sie. Es würde mich nicht wundern, wenn er nachts in einem blauen Pyjama schlafen würde, der Farbe der italienischen Nationalmannschaft, die er über alles liebt.

Doch bevor wir vom Andrea von heute sprechen können (oder dem von morgen und aller Zeit), müssen wir einen Schritt zurück in die Vergangenheit tun. Wir kehren zurück in die Zeit, als ich die Jugendmannschaft von Atalanta Bergamo trainiert habe. Ich war zuständig für die Allievi (U 17). Die Themen, die uns damals am meisten beschäftigten, waren zum einen die stärksten Gegner, auf die wir im Laufe der Saison treffen würden, zum anderen die hochkarätigsten Talente mit großer Zukunft. Wir hatten dabei vorzugsweise Inter und Milan im Auge, was uns aber am meisten auf den Nägeln brannte, war Brescia. Da ging es sozusagen um unseren Lokalstolz.

Eines Tages kam einer meiner Mitarbeiter vor dem Training zu mir. Er keuchte fast vor Aufregung: »Cesare, ich habe gerade einen hochbegabten Jungen beobachtet, total irre, sage ich dir. Leider spielt er für die Giovanissimi von Brescia ...« Dabei blieb mir weniger die Wortwahl im Gedächtnis als der geradezu ungläubige Ausdruck auf dem Gesicht jenes Mannes, der schon Hunderte von Spielen gesehen hatte. Der Zufall wollte es, dass die Giovanissimi von Brescia noch in derselben Woche bei unserer U 15/14 zu Gast sein sollte. Und für Brescia trippelte ebendieser schmächtige Bursche aufs Feld, zwei bis drei Jahre jünger noch als seine Gefährten. Es war Andrea Pirlo.

Ich war sprachlos, als ich ihn zum ersten Mal spielen sah. Und ich kann mich nicht erinnern, dass mir das je einmal passiert wäre. Ich hatte das Gefühl, als müssten sich die Augen aller Zuschauer allein auf ihn richten, und alle dächten nur das Eine: »Das ist er. Das ist der neue Spieler.« In den Augen der anderen war Pirlo nie ein Kind.

Er schweißt die Fans zusammen wie kein anderer, weil er der technisch ausgereifteste Spieler ist, weil er sich nie einen wirklich groben Schnitzer geleistet hat und weil er einfach die Essenz des Fußballs selbst ist. Er findet als Spieler weltweit Anerkennung, weil er mit seinem Ballkontakt eine positive Botschaft aussendet: Auch ein ganz normaler Typ kann ein Genie sein. Wir hatten damals in Bergamo das Glück, sein junges Talent bewundern zu können. Auf dem Feld verübt er mit der größten Selbstverständlichkeit wahre Geniestreiche. Es gibt nur wenige Fußballer, bei denen der Kopf ebenso mitspielt wie bei ihm. Und wenn für die Squadra Azzurra abgepfiffen wurde, versammelten sich mit schöner Regelmäßigkeit Spieler der gegnerischen Mannschaft vor Andreas Kabine, weil sie mit ihm das Trikot tauschen wollten. Er beeindruckt selbst sie.

Was ihn aber eigentlich zur Ausnahmeerscheinung auf dem Platz macht, ist, dass Andrea ein stiller Dirigent ist, wie es sie im Fußball nur selten gibt. Bevor ich Trainer wurde, habe ich während meiner Zeit als aktiver Spieler einen anderen wirklich beeindruckenden Fußballer kennengelernt: Gaetano Scirea, den Weltmeister und langjährigen Rekordlibero von Juventus Turin. Pirlo erinnert mich ungemein an ihn. Er sieht ihm äußerlich ähnlich, gleicht ihm aber auch im Wesen. Vor diesen unaufgeregten Führungsgestalten verstummen alle, wenn sie es tatsächlich einmal für nötig halten, in der Kabine das Wort zu ergreifen. Einige solcher Gelegenheiten habe ich selbst miterlebt: einmal als Teamkamerad von Gaetano und dann als Nationaltrainer von Andrea Pirlo. Ich werde beide Szenen nie vergessen. Im ersten Fall tat ich, was mir aufgetragen worden war, im zweiten erntete ich durch mein Verhalten bewundernde Anerkennung. Gelernt habe ich in beiden Fällen dasselbe: Wer sein Anliegen ruhig vorbringt, erreicht mehr – unter anderem erlangt er den uneingeschränkten Respekt seiner Umgebung.

In diesem Buch schreibt Andrea wörtlich: »Nach der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien werde ich meine Karriere in der Nationalmannschaft beenden. Ich werde mein Herz an den Nagel hängen. Bis dahin aber sollte sich niemand erlauben – abgesehen von Cesare Prandelli, wenn er dafür technische Gründe haben sollte –, mich auf einen eventuellen Rücktritt anzusprechen.« Meine Antwort darauf ist: Diese Verantwortung werde ich ganz sicher nicht auf mich nehmen. Das Schwierigste für einen Trainer ist ganz sicher, ein Ausnahmetalent zum Aufhören aufzufordern. Eine solche Entscheidung müsste mit dem Betroffenen abgesprochen werden. Aber das ist ohnehin alles sinnloses Gerede. Ich kann mir nicht einen Grund vorstellen, warum ich Andrea Pirlo bis 2014 nicht in der Nationalmannschaft würde haben wollen.

Menschen wie Andrea und Gigi Buffon stehen für den sportlichen Geist Italiens. Würde jeder dem azurblauen Trikot jenen Respekt entgegenbringen, den diese beiden ihm zollen, stünde es besser um uns. Nach zahllosen Schlachten ist ihre Motivation immer noch unerschütterlich dieselbe wie zu Anfang, wie am allerersten Tag.

Andrea ist der geborene Träumer, und als solcher lässt er uns träumen. Und wenn ich es genau bedenke, so ist er immer noch derselbe wie an jenem ersten Tag, an dem ich ihn in seinem viel zu großen Brescia-Trikot sah. Es gab durchaus einen Moment, in dem er in der Jugendmannschaft von Atalanta ein Thema war, aber das wäre ein ziemlicher Affront gegenüber Brescia gewesen. In Bergamo berief man eine Versammlung ein, um über die Angelegenheit zu diskutieren. Aber Präsident Percassi, eine ausgesprochen scharfsinnige Führungspersönlichkeit, war klar, dass sich ein eventueller Transfer sozusagen zu einer diplomatischen Krise hätte auswachsen können. Ich werde seine Worte nie vergessen: »Pirlo bleibt, wo er ist. Einen solchen Kerl bringt man nicht in Schwierigkeiten. Er muss frisch und munter weiterspielen und sich amüsieren. Ich will nicht, dass irgendjemand Druck auf ihn ausübt. Er muss der Spieler aller bleiben.«

Percassi hatte es gleich verstanden. Percassi hatte das Phänomen Andrea Pirlo verstanden.

1

Ein Stift. Schön anzusehen, aber trotzdem nichts weiter als ein Stift. Ein Füllfederhalter von Cartier, edel glänzend, schwerer als ein Kugel­schreiber, mit dem Wappen von Milan (dem AC Mailand) darauf. Aber eben halt nur ein Stift. Gefüllt mit blauer Tinte, simpler blauer Tinte. Ich sah ihn, drehte ihn hin und her, spielte ein wenig damit − wie ein Kind mit seinem ersten Teddybären. Ich betrachtete ihn von allen Seiten, versuchte, ihm seinen tieferen Sinn zu entlocken. Zu begreifen. Ich bekam Kopfweh, so intensiv versuchte ich zu verstehen. Ich glaube, mir perlte sogar der eine oder andere Schweißtropfen von der Stirn. Am Ende aber kam mir die Erleuchtung. Das Rätsel war gelöst: Es war nur ein Stift. Sein Erfinder hatte keine tieferen Geheimnisse in ihm verborgen. Mit Absicht? Wer weiß.

»Ich bitte mir jedoch aus, dass du ihn nicht dazu benutzt, um deinen neuen Vertrag bei Juventus zu unterschreiben.«

Wenigstens einen guten Spruch hatte Adriano Galliani parat. Als Abschiedsgeschenk hatte ich zwar ein wenig mehr erwartet als diese Anspielung, die nicht eines gewissen Humors entbehrte, aber immerhin. Zehn Jahre bei Milan vorbei. Einfach so. Doch ich habe gelächelt. Denn das kann ich, und gut. »Und danke für alles, Andrea.«

Während der Vizepräsident des Klubs noch hinter seinem Schreibtisch hervortönte, ließ ich den Blick durch sein Büro schweifen, in dem ich mich blind zurechtgefunden hätte. Es war sozusagen die Schatzkammer des alten Milan-Hauptquartiers in der Via Turati: Hier hatte ich glückliche Momente verlebt, mit anderen Füllern und anderen Verträgen. Und doch hatte ich bestimmte Fotos an den Wänden nie oder nur so am Rande bemerkt. Bilder, die mit dem Nimbus der Lässigkeit von der Bürde der Geschichte sprachen. Alle möglichen Fotos hingen da, meist waren darauf einzigartige und anscheinend nicht zu wiederholende Erfolge verewigt. Von Pokalen, die in den Himmel gestemmt wurden. Um damit die finstere Wolkenwand wieder mal einen Meter weiter wegzuschieben. Sie zogen mich runter, aber nicht allzu sehr. Ich wollte das Risiko nicht eingehen, mich bei Milan zu langweilen. Daher war ich bei diesem letzten Treffen zwar traurig, aber es hielt sich in Grenzen. Wie mir ging es auch Galliani. Und meinem Berater Tullio Tinti. Wir haben uns ohne Bedauern getrennt. In ungefähr einer halben Stunde war ich draußen. Wenn man verliebt ist, braucht man Zeit. Ist das Gefühl erstorben, ist eine gute Ausrede besser.

»Andrea, unser Trainer Allegri glaubt, dass du künftig nicht mehr vor der Abwehr spielen kannst. Er hat eine andere Rolle für dich vorgesehen: immer noch im Mittelfeld, aber auf der linken Seite.«

Dazu muss man wissen: Ich fand, dass ich mein Bestes immer noch auf der Position vor der Abwehr geben konnte. Ein Tiefseefisch kann in der Tiefe atmen. Wenn man ihn unter die Oberfläche versetzt, kommt er zwar zurecht, aber es ist nicht mehr dasselbe.

»Wir haben die Meisterschaft schließlich auch gewonnen, während du auf der Bank gesessen hast oder auf der Tribüne. Außerdem hat sich die Politik im Verein seit diesem Jahr geändert. Jeder, der älter als dreißig ist, bekommt nur noch einen Zwölfmonatsvertrag.«

Und noch eine Kleinigkeit: Ich habe mich nie alt gefühlt, nicht einmal in jenem Augenblick. Erst im Laufe des Gesprächs drängte sich mir allmählich der Eindruck auf, dass einige Leute mich hier gern als ausgelutscht hinstellen wollten. Und diese Sicht der Dinge verblüffte mich.

»Danke, aber dieses Angebot kann ich nun wirklich nicht annehmen. Außerdem will Juventus mir einen Dreijahresvertrag geben.«

Ich habe abgelehnt. Ohne über Geld zu reden an jenem Frühlingsnachmittag im Jahr 2011. Nie. In diesen dreißig Minuten mit Galliani wurde nicht über finanzielle Dinge gesprochen. Ich wollte einfach eine gewisse Bedeutung haben, wollte Schlüsselspieler sein in der Strategie des Klubs. Und nicht als Kandidat für eine baldige Ausmusterung gehandelt werden.

Der Zyklus war offensichtlich an sein Ende gelangt, und mich verlangte nach etwas Neuem. Die Alarmglocken hatten schon früher geschrillt. An einem Tag, an dem ich nach Milanello gekommen war, um zu trainieren. Mitten in der Saison (offensichtlich der letzten dort), die von zwei Verletzungen ruiniert worden war. Da merkte ich plötzlich, dass ich keine Lust hatte, mich umzuziehen und zu arbeiten. Ich verstand mich mit allen. Zu Allegri hatte ich ein normales Verhältnis. Das Problem war eher die Stimmung. Ich kannte die Mauern, die mir über all die Jahre Schutz geboten hatten. Nur sah ich immer öfter die Risse darin, konnte den Luftzug fühlen, der hereinwehte und mich fast krank machte. Der innere Drang weiterzuziehen, eine andere Luft zu schnuppern, meldete sich und wurde immer deutlicher. Die Poesie, die mich immer getragen hatte, verflachte allmählich zur Routine, und dies darf man nicht unterschätzen. Sogar die Fans, die mir jahrelang am Sonntag in San Siro applaudiert hatten (und auch am Samstag, am Dienstag und am Mittwoch), hatten vermutlich Lust auf etwas anderes. Sie wollten andere Gesichter in ihre Fußballalben kleben, andere Geschichten hören. Sie hatten sich mittlerweile an das gewöhnt, was ich machte, an meine Bewegungen, meine Ideen. Ich überraschte sie nicht mehr. In ihren Augen war das Außergewöhnliche Alltag geworden. »Den Pirlo machen« war in Italien ein geflügeltes Wort für jeden technisch brillanten, einfallsreichen Spielzug. Offensichtlich gelang mir das hier nicht mehr. Und das konnte ich nicht akzeptieren, fand es auch zutiefst ungerecht. Es verursachte mir Bauchschmerzen, nach meinem ursprünglichen spielerischen Impuls suchen zu müssen.

Ich habe darüber auch gleich mit Alessandro Nesta gesprochen, meinem Freund und Bruder, meinem Mannschaftskameraden, mit dem ich sogar meine Snacks teilte, von tausend Abenteuern mal ganz abgesehen. Zwischen der ersten und zweiten Halbzeit einer unserer zahllosen Playstation-Partien gestand ich ihm: »Sandrino, ich werde gehen.«

Er war nicht überrascht: »Das tut mir leid, aber ich glaube, es ist schon richtig.«

Er war der Erste, der es erfuhr, nach meiner Familie. Ich habe alles mit ihm besprochen, immer, jeden Schritt, in jeder Phase der Trauer. Manche Wochen waren schwieriger als andere. In mir lief der Countdown, aber es ist nie einfach, einen Ort zu verlassen, an dem du buchstäblich alles kennst, auch die verborgenen Geheimnisse. Eine kleine Welt für sich, die mir mehr gegeben als genommen hat. Und die für mich zweifellos mit starken Emotionen verbunden ist. Manchmal war ich niedergeschlagen und traurig, manchmal einfach nur tief gerührt. In jedem Fall aber habe ich eine Lektion vom Leben gelernt: Weinen tut gut. Tränen sind sichtbarer Ausdruck dessen, was du bist, sind deine unumstößliche Wahrheit. Und ich hielt sie nicht zurück. Ich weinte und schämte mich dessen nicht. Meine Bordkarte hatte ich eher im Kopf als in der Hand. Ich fühlte mich wie jemand, der am Flughafen steht, eine Sekunde bevor er sich noch einmal umdreht, um Freunden, Verwandten und Feinden ein letztes Mal zuzuwinken. Ob im Guten oder im Schlechten, irgendetwas lässt man immer zurück.

Ich sprach jeden Tag mit meinem Berater, vor allem in der Zeit des Abschiednehmens, doch irgendwie fehlte es mir am Willen, alles zu tun, um wieder auf die Beine zu kommen. Zumindest war er nicht mehr so stark wie früher. Ambrosini und dann Van Bommel übernahmen ­meinen Platz vor der Abwehr. Man war in meine Domäne eingedrungen (Es waren ja Freunde und es geschah alles zum Besten), aber dennoch. Ich war von meinem geliebten Grün verdrängt worden.

»Gibt es Neuigkeiten, Tullio?«

Es gab immer welche, gute und noch bessere. Je unwohler ich mich bei meinem Verein fühlte, desto mehr Anfragen gab es. Eine der eigenartigen Regeln des Fußballs. Ich war mehr oder weniger zum Kreuz auf der Schatzkarte geworden. Alle streckten ihre Fühler nach mir aus, sogar Inter, der Lokalrivale des AC Mailand. Das wäre allerdings ein Erdbeben in Mailand, das den Seismografen lahmlegen würde. Man rief meinen Berater an und stellte die einfache Frage: »Würde Andrea zu uns zurückkommen?« Tullio gab diese Frage wortwörtlich an mich weiter:

»Andrea, würdest du dorthin zurückkehren?«

Wir schlossen nichts von vornherein aus. Stets hatte ich dieselbe, für alle Anfragen passende Antwort parat:

»Hören wir mal, was sie wollen.«

Sie wollten mich. Aber sie waren langsam (beeindruckend, aber langsam). Bevor sie ernsthaft in Verhandlungen eintreten konnten, mussten sie abwarten, wie die Meisterschaft lief, und klären, wer in der nächsten Saison die Mannschaft trainieren würde bzw. welche Programme und Ziele der Verein festlegen würde. Ich hatte nur einmal direkten Kontakt mit Inter. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Es war an einem Montagvormittag, die Saison war gerade zu Ende gegangen.

»Hallo, Andrea. Leo am Apparat.«

Am anderen Ende der Leitung war Leonardo, damals Trainer von Inter Mailand.

»Ciao, Leo.«

»Hör mal, endlich ist alles geregelt. Ich habe von Präsident Moratti freie Hand bekommen. Jetzt können wir endlich miteinander verhandeln.«

Er erzählte mir tolle Sachen über Inter. Wie wohl er sich dort fühle und wie hart er arbeiten wolle. Das hätte durchaus eine schöne Her­ausforderung werden können. Faszinierend: dorthin zurückkehren, wo ich schon einmal gespielt hatte. Nach zehn Jahren bei Milan – neun davon mit unglaublichen Erfolgen - zur anderen Seite übergehen. Sogar dabei hätte Leonardo mir helfen können, wenn er nicht wenige Wochen später zum Verein der Scheiche Paris Saint-Germain gegangen wäre.

»Andrea, du wirst in der neuen Inter-Mannschaft eine herausragende Rolle spielen.«

Ja, ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, aber ich hätte das nicht tun können. Das wäre für die Fans von Milan wirklich ein zu starkes Stück gewesen. Das hatten sie nicht verdient.

»Ich danke dir, Leo, aber ich kann nicht. Auch weil ich gestern Abend schon bei Juventus unterschrieben habe ...«

Mit welchem Stift ich das gemacht habe, wird für immer mein Geheimnis bleiben.

2

Ausgemustert. Weggeworfen. Auf den Schrottplatz entsorgt. Oder gestrichen, kaputt gemacht, stillgelegt. Vielleicht auch abgeheftet, aufgegeben, begraben. Ausrangiert. Wenn jemand bei Milan tatsächlich mit mir etwas in dieser Richtung vorhatte, hat er Schiffbruch erlitten. Wie die Titanic. Mit der Mailänder Dunstglocke in der Rolle des Eisbergs. Und doch: Ich möchte mich bei der Person bedanken, die sich da so gründlich verkalkuliert hat. Wäre ihre Rechnung nicht so glamourös danebengegangen, hätte sie mit ihren klebrigen Händen den Fall der Würfel und deren Orakel nicht so verfälscht, würde mir jetzt eine wichtige Erfahrung fehlen. Ich hätte mich dann wohl nie so gefühlt wie ein normaler Mensch. Ein Durchschnittsspieler. Für eine kurze Zeit habe ich in dieser virtuellen Realität gelebt. Ich war der andere Andrea Pirlo, der, den sie in mir sehen wollten. Der, der ich hätte sein können, aber nicht geworden bin. Sie haben mich behandelt wie alle anderen, und ich habe mit angehaltenem Atem gewartet, was nun passiert: Aber sie haben damit das genaue Gegenteil erreicht. Sie haben bei allen anderen die Überzeugung gestärkt, dass ich mehr bin.

Als Kind und später als Junge habe ich stets versucht, gegen eine Vorstellung anzukämpfen, die in den unterschiedlichsten Formen an mich herangetragen wurde: einzigartig, besonders, vorherbestimmt. Mit der Zeit lernte ich, damit zu leben und diese Vorstellung zu meinen Gunsten zu nutzen. Das war nicht leicht, nicht für mich und nicht für die Menschen, die mich lieben. Schon als Kind wusste ich, dass ich als Spieler mehr kann als die anderen. Aus diesem Grund haben alle recht bald von mir gesprochen. Viel zu viel. Und nicht immer nur Gutes. Das ging so weit, dass mein Vater Luigi mehr als einmal die Tribüne verlassen hat und auf die andere Seite des Platzes ging. Nur um sich die boshaften Kommentare, welche die Eltern meiner Vereinskameraden über mich machten, nicht anhören zu müssen. Er floh, um nicht reagieren zu müssen. Oder vielleicht, um weniger traurig zu werden. Es gab ja nichts, wofür er sich hätte schämen müssen. Also ignorierte er sie und ging weg, immer schneller, wie Forrest Gump, und blieb erst dann wieder stehen, wenn er einen ruhigeren Platz gefunden hatte. Geschützt und sicher. Aber nicht einmal meiner Mutter Lidia blieben bissige Kommentare erspart.

»Was glaubt denn der, wer er ist? Maradona vielleicht?« Das war die häufigste Frage, die unweigerlich mit lauter Stimme gestellt wurde, um uns zu provozieren. Aus Neid natürlich, dabei machte man mir damit das größtmögliche Kompliment. Scheiße, ­Maradona! Das wäre, als würde man einen Turner mit Juri Chechi vergleichen, einen Basketballer mit Michael Jordan, ein Model mit Naomi Campbell oder Berlusconi mit einem Massai-Krieger. Erwachsene gegen ein Kind. Das ist ein ungleicher Kampf. Ich konnte mich nicht anders zur Wehr setzen, als zu versuchen, die anderen zu beeindrucken. Ich tat genau das, was man mir vorwarf. Von einer nicht existierenden Schuld getrieben. Geschützt von einem unsichtbaren Panzer, der dennoch hin und wieder einen Messerstich durchließ – oder einen Giftpfeil. Einige davon trafen mich, als ich vierzehn war, während eines Spiels in der Meisterschaft der U 17. Ich spielte eigentlich für Brescia, nur dieses Mal spielte Brescia gegen mich.

»Gebt mir den Ball.« Schweigen. Dabei hatte ich laut gebrüllt. Und mein Italienisch war durchaus korrekt.

»Jungs, gebt mir den Ball.« Wieder Schweigen. Ein so bedrückendes Schweigen, dass darin meine Worte nachzuhallen schienen.

»Hallo!?« Wieder keine Reaktion. Alle schienen plötzlich taub geworden zu sein.

Und den Ball gab mir niemand. Meine Teamkameraden spielten ihn sich untereinander zu, ohne mich einzubinden. Ich war da, aber sie übersahen mich. Genauer gesagt: Ich war da, aber sie verhielten sich, als wäre ich nicht da. Sie schlossen mich aus wie einen Leprakranken, nur weil ich besser war als sie. Ich bewegte mich wie ein Gespenst, innerlich halb tot. Rund um mich eine Mauer des Schweigens. Kein Wort, kein Blick in meine Richtung. Nichts.

»Gebt ihr mir jetzt den Ball oder nicht?« Wieder Schweigen.