die horen
Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik
62. Jahrgang | Ausgabe 265
Interessante Zeiten, könnte man sagen
Fragile. Europäische Korrespondenzen
Zusammengestellt vom Netzwerk der Literaturhäuser
die horen
in der griechischen Antike Töchter des Zeus und der Themis, Göttinnen der Jahreszeiten: Thallo (Göttin des Blühens), Auxo (Göttin des Wachsens), Karpo (Göttin der Früchte); nach Hesiod Dike (Gerechtigkeit), Eunomia (Ordnung) und Eirene (Frieden). Nach diesen ordnungsstiftenden, den Menschen wohlgesonnenen Göttinnen benannte Schiller seine Zeitschrift; »Die Horen« erschienen ab 1795 für drei Jahre.
»die horen« wurden 1955 von Kurt Morawietz in Hannover gegründet, von 1994 bis 2011 herausgegeben von Johann P. Tammen, seit 2012 von Jürgen Krätzer.
»die horen« erscheinen viermal im Jahr, neben »offenen« Bänden gibt es thematische Anthologien, auch zu fremdsprachigen Literaturen.
Redaktion
Jürgen Krätzer | Böttgerweg 4a | 04425 Taucha
diehoren@gmx.de | redaktion@die-horen.de
Beirat
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Katja Lange-Müller, Berlin
Johann P. Tammen, Schiffdorf-Spaden
Verlag, Vertrieb und Anzeigenleitung
»die horen« im Wallstein Verlag | Geiststraße 11 | 37073 Göttingen
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Erscheinungsweise Print 4 × im Jahr, jeweils zu den Jahreszeiten
Nachdruck nur mit Genehmigung der Autoren bei genauer Quellenangabe, Anfragen über den Verlag
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Gestaltung Cornelia Feyll & Friedrich Forssman, Kassel
Titelgrafik © Netzwerk der Literaturhäuser
1. Auflage im 62. Jahrgang | 1. Quartal 2016
Print: 0018-4942 | Print: 978-3-8353-3037-5
E-Book (pdf) 978-3-8353-4127-2 | E-Book (epub) 978-3-8353-4128-9
die horen im Internet: www.die-horen.de
Gefördert vom Land Niedersachsen und der Stadt Hannover
Vorwort
Die Himmelsrichtungen machen den Menschen Angst
Jan Wagner – Nikola Madzirov
Antje Rávic Strubel – Lena Andersson
Kathrin Röggla – A. L. Kennedy
Ingo Schulze – László Györi
Die Festung Europa – ein Zusammenbruch
Georg Klein – Viktor Martinowitsch
Karl-Markus Gauß – Dževad Karahasan
Annika Reich – Zeruya Shalev
Vielleicht sollte man Geschichte studieren
Ruth Schweikert – Cécile Wajsbrot
Björn Bicker – Ece Temelkuran
Martin Pollack – Yevgenia Belorusets
Ich halte den Atem an und warte
Katharina Schultens – Cristina Ali Farah
Irena Brežná – Anna Schor-Tschudnowskaja
Carmen-Francesca Banciu – Mirela Ivanova
Carlo Ihde – Dana Grigorcea
Die Autoren & Übersetzer
Auf ein Wort
Ich wuchs in einem Viertel auf, in dem es mehr Taubenzüchter als Menschen mit Pässen gab. Leidenschaftlich sprachen sie von ihren Brieftauben, die stundenlang über verschiedene Länder fliegen konnten und trotzdem in ihren Schlag zurückfanden.
Nikola Madzirov an Jan Wagner
Im Flügelschlag der Brieftaube schwingt ein zentraler Gedanke der vorliegenden Europäischen Korrespondenzen mit, die wir als Netzwerk der Literaturhäuser im Frühjahr 2016 angeregt haben. Briefe wirken aus der Zeit gefallen. Ihre Inhalte entblättern sich – wider der vorschnellen, laut posaunten These – vielmehr langsam. Der Briefeschreiber tritt wie der Dichter einen Schritt zurück von den weitereilenden Massen, bemerkt der Lyriker Jan Wagner. Auch wenn diese vorliegenden Wechsel von Beginn an öffentlich adressiert waren, stellen sie eine bisweilen überraschende Nähe und Vertrautheit her. So schreibt der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan an seinen österreichischen Kollegen Karl-Markus Gauß: »Während der Belagerung Sarajevos waren Briefe für mich besonders wichtig, damals begriff ich, dass ein Brief viel mehr ist als ein Text und einen Brief zu erhalten ein wertvolles und aufregendes Ereignis sein kann«.
Die vorliegenden Korrespondenzen fragen nach der Doppelbedeutung des Wortes »fragil«. Was in Europa ist so kostbar, dass es geschützt werden muss? Was droht zu zerbrechen? Was steht auf dem Prüfstand? Was ist bereits zerstört? Wie finden wir uns – im Blick zurück und nach vorn – zurecht? Wie können, wie wollen wir leben? So ziehen sich Worte, Werte, Verletzungsgefahren, Versehrtheiten, Wunden und Risse, alte wie neue, innerliche und äußerliche durch viele der Briefe. Der ungarische Autor László Györi schreibt an Ingo Schulze: »Ich lebe seit 62 Jahren im selben Land, in derselben Stadt, seit etwa 37 Jahren sogar in derselben Wohnung – und habe Heimweh.«
Unter dem Titel »FRAGILE. Europäische Korrespondenzen« haben 28 Autor*innen diese doppelte Wortbedeutung in 14 europäischen Briefwechseln aufgegriffen. Vollständig nachzulesen sind sie auf www.fragile-europe.net, für den vorliegenden Band haben wir eine Auswahl zusammengestellt. »Wäre Fragilität doch etwas Persönliches wie in dem Song von Sting! Etwas rein Innerliches. Was für ein Luxus wäre das für die Menschen in der Türkei. Es gibt aber das Phänomen, als große Gruppe von Menschen gemeinsam zu zerbrechen. Diese Erfahrung machen ich und meinesgleichen gerade in meinem Land«, stellt die türkische Autorin Ece Temelkuran in ihrem Brief an Björn Bicker zermürbt fest.
Die Themen der Briefwechsel haben sich entwickelt aus der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, aus Erinnerungsspeichern, blinden Flecken und grellen, einschneidenden Ereignissen, aus der Dringlichkeit einer Beschreibung, einer Analyse, aus dem Wunsch, der eigenen Ohnmacht mittels Sprache eine Form zu geben und ihr etwas entgegen zu setzen: Die Autor*innen stellen ihre Linsen scharf und nutzen zugleich die poetische Kraft der Wölbungen und Spiegelungen für ihre Sicht auf die Versuchsanordnung Europa. Denn dieser »Versuch Europa«, die Herausforderung, ein nationenübergreifendes Gemeinschaftsmodell zu imaginieren und dieses langfristig zu stabilisieren, ist heute mehr denn je eine Anordnung von hoher Brisanz. »Wenn belarussische Schriftsteller eine Party geben, kommen in der Regel nicht die Götter, sondern Polizei, KGB und Feuerwehr – unter Berücksichtigung des Regimes ein durchaus überzeugendes Substrat des Göttlichen. Damals hat die Polizei ein zwei Seiten langes Protokoll über mich verfasst. ›Arbeitsstelle?‹, hatten sie mich gefragt. »Schriftsteller«, hatte ich geantwortet. ›Arbeitslos‹, trug der Hrodnaer Polizist in sein Dokument ein und erweiterte damit mein Weltbild um eine zusätzliche Facette«, so der belorussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch an den Autor Georg Klein. Hier schreibt sich die Geschichte und Gegenwart ganz anders in die Leben der Menschen ein als in das westdeutsche Substrat von Björn Bicker »Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der immer alles fragil war, die Beziehungen, der Wohlstand, die Zukunft, die Vergangenheit. Meine Familie ist eine deutsche Nachkriegsfamilie – geteilt, zerhackt, verfressen, versoffen, aber durchweg mit dem starken Willen, alles besser machen zu wollen als die Eltern, die Großeltern, die Urgroßeltern.«
Beteiligt haben sich Autor*innen aus dem deutschsprachigen Raum, aus Ländern Westeuropas sowie aus Süd-, Mittel- und Osteuropa. Aber auch eine israelische Autorin richtet ihren ganz eigenen Blick auf Europa: »Schon viele Jahre begleitet mich dieses absurde Gefühl, dass ich mich in Europa sicherer fühle als in meinem eigenen Land, das dazu gegründet wurde, den aus Europa geflohenen Juden Schutz zu bieten. Und plötzlich habe ich auch in Europa Angst – ich denke manchmal, wie lächerlich das wäre, wenn mich der Terror ausgerechnet dort noch einmal treffen würde«, schreibt Zeruya Shalev an Annika Reich. Sie wiederum findet über die Geste des Schenkens, das Backen eines Kuchens den nötigen Halt für die Grenzüberschreitungen: »Ich saß da, schrieb die ersten Zeilen und plötzlich wollte ich Dir einen Kuchen backen. Das Kuchenbacken lädt Dich zu mir ein, es gibt unserer Abwesenheit einen Körper und mir genau den Halt, den ich brauche, um aus meiner Grenze heraus über Europa zu schreiben. Jetzt verstehe ich das: Der Kuchen ist für Dich, das Backen für mich.«
Diese Briefe nun, die über die Grenzen hin- und zurückgetragenen Augenblickskapseln, wie Jan Wagner sie nennt, sind für Sie!
Stefanie Stegmann für das Netzwerk der Literaturhäuser im Januar 2017
Die Himmelsrichtungen machen den Menschen Angst
Die Städte, in die wir nicht zurückkehren, sind ein primäres Alphabet der Übersiedlungen. Solche Reisen sind ein normales Verteidigungssystem gegen die bekannten Landschaften der Zugehörigkeit. Oft wollen wir sagen, dass wir nicht zu dem Raum gehören, der zu jemandem oder einer historischen Realität gehört, sondern nur zu der Sprache, auch wenn sie möglicherweise schneller migriert als wir – von einem Zeichen in ein Symbol, von einem Befehl in ein Gebet. Jan und ich treffen einander in den Städten Europas, wo wir uns über die Zerbrechlichkeit der poetischen Realität unterhalten, über die Realität der menschlichen Zerbrechlichkeit. Wir sind in einem unterschiedlichen Europa aufgewachsen, auf Plätzen mit unterschiedlichen Denkmälern. Die Erinnerung war unsere Nähe.
Nikola Madzirov
Berlin, 28. 9. 2016
Lieber Nikola,
bei unserer letzten Begegnung, Du wirst Dich erinnern, saßen wir in einem lauschigen Biergarten im Westen Berlins, irgendwo zwischen Nollendorfplatz und Landwehrkanal, und genossen einen der letzten prachtvollen Tage des Sommers, ganz so wie die Wespen, die ihr nahendes Ende schon ahnten und wie angeschlagene Samurai um unsere Gläser torkelten. Wir waren zu dritt, denn ein gemeinsamer Freund aus China, der jedoch schon lange nicht mehr in seiner Heimat lebt, saß mit uns am Tisch, und irgendwie, wohl aus aktuellem Anlass, weil also einer von uns dreien bei einem Konsulat vorstellig zu werden hatte, begann unser Gespräch sich ums Reisen zu drehen, um die Beschaffung von Visa und sonstigen Dokumenten, und ich gestand, welchen Zauber seit jeher die Einträge in Reisepässen auf mich ausgeübt hatten, schon jene im ersatzweise ausgestellten Kinderpass mit dem labberigen gelblichen Papier und dieser kleinen mintgrünen Gebührenmarke in der Ecke, auf der man den Kopf des Freiherrn von Stein erkannte. Ich war, Du hast es sicher bemerkt, kurz davor, meiner Begeisterung die Zügel schießen zu lassen: Für diese seltsame Bürokratenmagie der Stempel in all den Pässen, die man jemals besessen hat, für die Vermerke, die Formen und Farben und Sprachen, die nüchternen grauen Vierecke einer frühen Spanienreise im Jahre 1983, die allerdings durch ein Wort wie »fronteras« und die Zusätze »entrada« und »salida« an Feuer gewannen, dem Amtlichen einen Hauch Flamenco beizumischen schienen; für die peniblen Rechtecke und Ovale, diese seltsame Geometrielehre des Grenzverkehrs, mal meerblau, mal teerschwarz, mal blasser und gelegentlich kaum noch lesbar, hier für einen Rhombus von Beamtenhand, der wie ein Kinderdrachen an der krakeligen Unterschrift zerrt und den es über die Seite hinwegzufliegen drängt, dort für ein winziges gleichschenkeliges Dreieck, das 1978 irgendein »Immigration Officer«, ich vermute: aus England, in die untere linke Ecke gesetzt hat, ein überaus korrekt aufgeschlagenes kleines Pfadfinderzelt nach dem Musterbuch Baden-Powells; auf einer anderen Seite, in einem späteren Pass, ein Alpha, ein Epsilon, ein Rho, die, aber ja, auf einen griechischen Flughafen hinauslaufen, und das Feld dieser attischen Einreiseerlaubnis ist so wohlproportioniert wie der Grundriss eines Tempels, steht selbst seit Jahrzehnten beharrlich da wie ein Miniaturtempel, ruht auf den Säulen seiner griechischen Buchstaben. Auch ein Visum für die Vereinigten Staaten gibt es, auf den Seiten vor ihm und nach ihm umschwirrt von zahlreichen kleineren Stempeln der Deutschen Demokratischen Republik, die faltergleich zwischen Dunkelblau und Violett changieren, was entweder auf extravagante zweifarbige Stempelkissen oder auf qualitativ minderwertige Tinte schließen lässt, Stempeln von den Grenzübergängen Zarrentin und Staaken, von Griebnitzsee und Stolpe, vom Bahnhof Friedrichstraße und vom Brandenburger Tor. Dabei sind es, je näher das Ausstellungsdatum der Pässe ans Heute rückt, immer weniger europäische Länder, die auftauchen. Ein Stempel des Grenzübergangs Zgorzelec anlässlich einer weihnachtlichen Reise nach Polen, dann hier und da Einreisegenehmigungen aus Übersee, aus Australien und Kolumbien, aus Indien und Nicaragua, gelegentlich ein Stempel für Bosnien-Herzegowina, für Israel oder für die Ukraine sowie ein frostfarbener Visumsaufkleber aus Weißrussland. Am erstaunlichsten aber ist wirklich zu sehen, wie rar Europa sich in den letzten meiner Dokumente macht, festzustellen, dass der Pass trotz zunehmender Reisetätigkeit durch ein nunmehr grenzenloses Europa der Unionsstaaten geradezu unberührt wirkt, fast gänzlich frei ist von Farben, Formen, Kürzeln, Daten – und das, obwohl ich mich regelmäßig in Amsterdam und Kopenhagen, Dublin und London, Barcelona und Athen aufgehalten habe. Und eben deshalb, weil all diese Grenzüberschreitungen unsichtbar geworden sind, viele Grenzen ja keine mehr sind, bremste ich mich in just dem Augenblick, als ich am Biergartentisch zu schwärmen beginnen wollte – schwante mir doch, dass Du und unser chinesischer Freund dieses amtliche Dokument, den Reisepass, mit weniger Begeisterung, weit nüchterner, skeptischer betrachten könntet, dass die Stempel, die Bewilligungen, die Visa nur für mich verhätschelten Westeuropäer nostalgischen Zauber und die Anmutung von Fremde und Abenteuer haben, für so viele andere hingegen und, wer weiß, vielleicht auch für Euch weniger Freiheit denn Restriktion, ja Willkür bedeuten. Wirklich, lieber Nikola: Wenn wir beide gebeten würden, eine »Ode auf den Reisepass« zu verfassen, einen »Versuch über Pässe« – wir würden wohl zwangsläufig zu grundverschiedenen Ergebnissen kommen, jedes Detail aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachten müssen, das misstrauische oder mürrische Mustern hinter der Glasscheibe, die haarige Hand, die das Dokument entgegennimmt, die Beamtin, die im Reisepass blättert, kurz aufschaut, blättert, sodann den unregelmäßigen Doppelschlag des Stempels zwischen Stempelkissen und Pass, während die Schlange langsam weiterrückt, und wieder, und wieder, und wieder, ta-tam, wie das Humpeln eines Holzbeinigen auf dem Oberdeck.
Wie leicht es doch ist, sich an unwahrscheinlichste Freiheiten zu gewöhnen, sie gar als selbstverständlich zu erachten. Mit welchem Recht also könnte man auf Leute herabblicken, die, jünger noch als man selbst, nie ein Europa mit Grenzen erlebt haben und das Fehlen jeder Kontrolle als Normalität empfinden? Eine europäische Union (ich sage ausdrücklich nicht: Europa) ohne Schlagbäume – welch ein Wunder das angesichts der Geschichte unseres Kontinents ist, muss man sich wohl immer wieder bewusst machen, darf sich dabei auch ruhig in den Arm kneifen. Ein heute Zwanzigjähriger hat nie in der Autoschlange am Brenner darauf gewartet, nach Italien weiterfahren zu dürfen, hat nie sein Schulfranzösisch bemühen und kurz hinter Offenburg ein paar Worte mit dem elsässischen Grenzbeamten wechseln müssen, um den Rhein zu überqueren, ganz zu schweigen von der deutsch-deutschen Grenze, die unüberwindbar und nicht wegdenkbar war und doch irgendwann zu bröckeln begann. An eben jenem Zarrentiner Übergang, der noch als Stempel in meinem Pass überdauert, hatte ich kurz zuvor bei meinem um zehn Jahre älteren und furchtlosen Schwager im Auto gesessen, der den säuerlichen Uniformierten, der uns mit der erhobenen linken Hand zu halten befahl und die Rechte großkaiserlich in die Jacke geschoben hatte, mit einem jovialen »Guten Morgen, Napoleon« begrüßte, was uns Stunden des Wartens und größtmögliche Aufmerksamkeit und Gewissenhaftigkeit bei der Demontage unseres Wagens bescherte.
Seltsam, dieses deutsche und fast nicht mehr gebrauchte, völlig aus der Mode gekommene Wort »Schlagbaum«, für das es auch im Mazedonischen eine Entsprechung geben muss, das im Französischen schlicht »barrière« und im Italienischen »barriera« heißt, im Englischen auch »turnpike«, wobei das »pike«, das ja auch »Hecht« bedeuten kann, nicht mit dem Fisch verwechselt werden darf; es handelt sich also nicht um einen zu wendenden oder sich windenden Hecht, sondern um einen Spieß oder zugespitzten Pfahl, »pike«, der sich beiseitedrehen oder anheben lässt. Das genau ist auch der Sinn des deutschen Worts, wobei die erste Silbe sich vom mittelhochdeutschen Verb »slahen« herleitet und hier so viel wie »zuschlagen, sich herabsenken, schließen« heißt. Natürlich findet man den Schlagbaum auch im Wörterbuch der Brüder Grimm, diesem unentbehrlichen Werk, in dem auf Abertausenden von Seiten die Geschichte und der Reichtum der deutschen Sprache bewahrt wird, das aber zugleich die Wandlungsfähigkeit dieser Sprache zeigt, auch die Einflüsse anderer Sprachen kenntlich macht, die Bereicherung und den steten Wandel, dem jede Sprache unterworfen ist und der sie doch erst lebendig macht, ob es sich um Anleihen aus dem Lateinischen, Französischen oder Niederländischen handelt. Wie immer bringt der Grimm schöne Beispiele, zitiert aus Schillers Tell, führt Hebbel an und Musäus, der die Liebe wunderbarerweise über den Schlagbaum hinwegspringen lässt wie über einen bloßen Strohhalm. Aber die Gewalt des Wortes »slahen« ist schon noch spürbar, die physische Drohung des Erschlagenwerdens, und das Wörterbuch merkt an, dass der Schlagbaum noch eine zweite Sache bezeichnet, nämlich auch »eine Falle für Raubthiere« sein kann, »ein schwerer Baumstamm, der auf einer Stütze ruht und den darunter durchpassierenden Thieren auf den Rücken schlägt und sie zermalmt«, Füchse zum Beispiel oder Dachse. Sodass also die Versehrungen, die eine Begegnung mit dem Schlagbaum nach sich ziehen kann, auch in der sich senkenden Schranke noch anklingen. Und wirklich: Welche Gefahren mit dem Überschreiten von Grenzen verbunden sind, ob sie nun unsichtbar in einem Meer verlaufen oder sich als Zaun manifestieren, können wir Abend für Abend in den Nachrichten sehen.
Wir schreiben einander ja Briefe zu einer Zeit, da Nationalismus und Engstirnigkeit plötzlich so en vogue scheinen wie lange nicht mehr, da auch in meinem Land eine Partei an Zulauf gewinnt, in deren Anfangsbuchstaben schon ein Schlagbaum querliegt und aus deren Reihen vor Kurzem unter anderem gefordert wurde, das Wort »völkisch« wieder in den Alltagsgebrauch zu überführen. Nur wenige Tage vor Beginn dieser Diskussion hatte ich, weil seit Wochen und Monaten derart belastete Wörter von interessierter Seite wiederholt werden und Eingang finden in die politischen Debatten, ins Feuilleton und ganz ohne Zweifel auch in die privaten Gespräche an den Küchen- und den Stammtischen, abermals Victor Klemperers LTI gelesen, seine Betrachtungen der Lingua Tertii Imperii, also der »Sprache des Dritten Reiches«. »›Volk‹ wird jetzt beim Reden und Schreiben so oft verwandt wie Salz beim Essen«, beobachtet Klemperer 1933, »an alles gibt man eine Prise Volk: Volksfest, Volksgenosse, Volksgemeinschaft, volksnah, volksfremd, volksentstammt …« Ich weiß nicht, wie sehr der Name Victor Klemperers außerhalb Deutschlands ein Begriff ist, lieber Nikola – er war Professor für Sprach- und Literaturwissenschaft in Dresden, wurde 1935 wegen seiner jüdischen Herkunft gezwungen, die Universität zu verlassen, und überlebte nur dank seiner nichtjüdischen Ehefrau, die sich weigerte, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen, und die alle folgenden Schikanen und Demütigungen mit ihm durchzustehen bereit war. Vielleicht sind seine berühmten Tagebücher, in denen er diese zwölf lebensbedrohlichen Jahre beschreibt, sogar ins Mazedonische übersetzt worden? In seinen Texten zur LTI jedenfalls setzt sich Klemperer damit auseinander, welcher Art die Sprache war, die solche Taten vorzubereiten imstande war. »Und wenn nun«, fragt er, »die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.« Schwer vorstellbar, dass nicht auch heute der Hass und die Verachtung, die in die Wörter getröpfelt werden, ihren Ausdruck in hässlichen und verachtenswerten Taten finden. Die Brandanschläge jedenfalls sind so alltäglich geworden, dass sie fast nicht mehr zu zählen sind. Bei einem der letzten, ausgerechnet in Berlin, hatte der Täter vor dem Anreißen des Streichholzes die Aufforderung »Go to Home« auf die Wand der Flüchtlingsunterkunft geschmiert – im Grunde natürlich ein wunderbarer germanism und bizarr mit seinem Willen, weltläufig, jedenfalls international verständlich zu wirken, dabei aber auf fast rührende Weise falsch zu sein. Aber kann man von einem Brandstifter verlangen, korrektes Englisch zu verwenden? Und darf man darüber lachen? Sollte man vielleicht darüber lachen, damit einem das Lachen nicht vergeht?
Dass Worte weit mehr als eine simple Bedeutung, den Hinweis auf einen Sachverhalt oder Ding enthalten – wer wüsste das besser als Lyriker, die ja für gewöhnlich wenige Wörter benutzen, dafür jedoch mit allen Bedeutungsebenen dieser Wörter spielen, mit den Klängen und Anklängen, den Brüchen und Brücken, die also der Etymologie nachforschen, die geschichtlichen Ebenen des Wortes freizulegen versuchen, all die verborgenen Echokammern, deren Metier also das Abwägen, Feineinstellen, die Nuance ist. Freuden und Schwierigkeiten ohne Ende, die sich noch multiplizieren, wenn man Gedichte übersetzt, ein Gedicht von einer in die andere Sprache trägt, ihm sprachliche Grenzen zu überwinden hilft und dafür sorgt, dass ein fremdsprachiges Gedicht in der eigenen Muttersprache heimisch wird. Eine unserer ersten Begegnungen fand in Deiner Heimat statt, im mazedonischen Struga, und ich habe sehr deutlich vor Augen, wie wir eines warmen Abends zu sechst, mit nahezu allen jüngeren Teilnehmern des gerade dort stattfindenden Poesiefestivals, am gewaltigen Ohridsee saßen und die Sonne untergehen sahen, als irgendjemand, vielleicht warst sogar Du es, beiläufig erwähnte, er übersetze gerade die Gedichte des israelischen Dichters Jehuda Amichai – worauf eine Dichterin einwarf, sie ebenfalls, und ein Dritter sich einmischte, und plötzlich wurden Gedichte Amichais, den, wie sich herausstellte, alle gleichermaßen bewunderten, auf Mazedonisch, Deutsch, Englisch und Ukrainisch zitiert, dass es eine vielstimmige Freude war. Auf der anderen Seite des Sees, in der Ferne, begann Albanien, doch saßen wir natürlich auch wenig mehr als einen herkuleischen Steinwurf entfernt von Griechenland, wo Hölderlin seinen Hyperion als Eremit leben und auf sein Leben zurückblicken lässt, das er, übrigens in Briefen, wir mir jetzt einfällt, seinem Freund in Deutschland schildert: »O Bellarmin! wo ein Volk das Schöne liebt, wo es den Genius in seinen Künstlern ehrt, da weht, wie Lebensluft, ein allgemeiner Geist, da öffnet sich der scheue Sinn, der Eigendünkel schmilzt, und fromm und groß sind alle Herzen und Helden gebiert die Begeisterung. Die Heimat aller Menschen ist bei solchem Volk und gerne mag der Fremde sich verweilen.« Fast wie ein Kommentar zur Stunde liest sich das, auch wenn man von Helden heute kaum noch reden wollen wird, die besser im Epos oder einer vergangenen Epoche aufgehoben sind. Als ich vor Kurzem bei polnischen Freunden zu Besuch war und sie mir nachmittags ihre Stadt zeigten, begannen wir, was natürlich reiner Zufall war, auf dem »Platz der Helden«, spazierten über den »Platz der Freiheit« bis hin zum »Platz der Freundschaft«, wo unser Stadtrundgang endete, und so hatten wir ganz nebenbei einen Gang durch die europäische Geschichte und die Entwicklung unseres Kontinents unternommen, bis hin zum glücklichen Ende. So schien es mir jedenfalls an diesem Tag.
Dabei habe ich wirklich allzu leicht leben, reisen, reden und schreiben, denn Krieg und Diktatur blieben mir erspart, und aufgewachsen bin ich in einer der seltenen glücklichen, windstillen Phasen der Historie. Ein Grund mehr vielleicht, das Reisen nicht nur als Vergnügen, sondern auch als Verpflichtung zu begreifen – zum Lernen, zum Wertschätzen. Und so lehrreich wie heilsam ist es ja, aus der Distanz auf Europa zurückzuschauen, von den nachts wie Leuchtalgen funkelnden Hängen Medellíns oder vom riesigen Shanghai, in dem allein ein Drittel der deutschen Gesamtbevölkerung Platz fände. Am liebsten aber reiste man natürlich mit Seamus Heaney, den Du sicherlich genauso verehrst wie ich, in die »Republik des Gewissens«, der er ein langes, wunderbares Gedicht gewidmet hat, From the Republic of Conscience, in dem nach der Landung ein Brachhuhn zu hören ist, der alte Mann am Schalter verblüffenderweise Fotos von den Ahnen des Reisenden aus dem Mantel zieht, die Dame vom Zoll darum bittet, die traditionellen irischen Zaubersprüche gegen Stummheit und gegen den bösen Blick zu hören. Der dritte und letzte Teil des Gedichts klingt so:
I came back from that frugal republic
with my two arms the one length, the customs woman
having insisted my allowance was myself.
The old man rose and gazed into my face
and said that was official recognition
that I was now a dual citizen.
He therefore desired me when I got home
to consider myself a representative
and to speak on their behalf in my own tongue.
Their embassies, he said, were everywhere
but operated independently
and no ambassador would ever be relieved.
Ich verließ diese karge Republik
von keiner Last bedrückt; die Frau am Zoll
hatte darauf beharrt, mein Freigut sei ich selbst.
Der Alte erhob sich und fixierte mich:
Dies sei die offizielle Anerkennung
meiner jetzt doppelten Nationalität.
Er wünsche daher, dass ich nach meiner Heimkehr
mich als Beauftragten verstehen möge
und für sie das Wort in meiner Sprache ergreife.
Ihre Botschaften, sagte er, seien überall,
arbeiteten jedoch ganz unabhängig,
und kein Botschafter werde jemals abberufen.
Aus der Republik des Gewissens, übersetzt von Ditte und Giovanni Bandini
Da »relieve« ja beides bedeuten kann, »ablösen«, aber auch »erleichtern«, ahnt man: Dieses Amt ist durchaus eine Bürde. Noch schwieriger aber dürfte es sein, fürchte ich, sich überhaupt erst als Botschafter dieser erstaunlichen und notwendigen Republik zu qualifizieren. Man müsste vielleicht damit anfangen, selber Formeln gegen die Stummheit zu finden, auch die eigene, sich dem bösen Blick zu verweigern.
Nicht zuletzt zeigt ein Gedicht wie dieses natürlich, dass die herrlichsten, unvergesslichsten Reisen im Kopf stattfinden. Und für die benötigt man nicht einmal einen Pass.
Sei herzlichst gegrüßt:
Dein Jan
Berlin, im Dezember 2016
Lieber Jan,
sobald ich Deinen Brief erhielt, schlug ich meinen neuen Pass auf und betrachtete mein eigenes Gesicht mit anderen Augen, nicht jenen der Fotos auf Bucheinbänden oder im Familienalbum, die die Beständigkeit des Erbguts bestätigen sollen. Das Auge bleibt auch nach dem Tod geöffnet, auf dem Passfoto aber muss der Mund geschlossen sein, obwohl du gern schreien würdest, die Augen jedoch müssen weit geöffnet sein, als stünde man vor einem Gemälde von Bruegel. Das latente Lächeln auf dem Passbild sollte vor den Augen des Grenzpolizeioffiziers auf dem Flughafen meine Unschuld aggressiv betonen. Ich musste das erstarrte Gesicht des Hirsches vor den dynamischen Augen des Jägers sein. Passfotos waren Museen des Bemitleidens. Ich bin in einem Land geboren, wo das Bemitleiden eine Art zu lieben ist, wo man auf die Frage »Wie geht es Ihnen?« mit »Gott bewahre uns vor Schlimmerem!« antwortet. Ich wuchs in einer Stadt an einem Grenzübergang zwischen drei Staaten und vom Wind und dem ererbten Hass zerrissenen Flaggen auf. Die Stille der Angst war an den Grenzen am stärksten, wo Luftkrieg zwischen den verschiedenen staatlichen Radiosendern geführt wurde, und der Raum, der vom Rauschen zwischen zwei Radiosendern erfüllt war, war mein Zuhause. Ich wollte, dass mich niemand versteht, wünschte mir, die Sprachen nicht zu verstehen, wenn ich vor einem Grenzübergang stand oder vor der Stille an Brodskys Grab, nahe dem Wasser und der Zeit, die verfloss. Bei meiner ersten Reise nach Venedig verneigte ich mich vor der Lebendigkeit des Wassers und seiner Erinnerung, ich suchte Tizian in den Straßen und auf den Mauern der Kirchen, obwohl sein Raub der Europa längst auf die andere Seite des Atlantischen Ozeans übersiedelt war. Bevor ich mit dem mythologischen und später auch mit dem geopolitischen europäischen Narrativ konfrontiert wurde, war Europa für mich nur der Name der einzigen Schokoladenfabrik in Skopje vor dem Zerfall Jugoslawiens. Etwas Süßes. Später erzählte mir mein Großvater, der berühmteste Konditor und Kontrabassist der Stadt (andere gab es nicht), dass es dort in Europa auch bittere Schokolade gebe – ein Oxymoron, das uns Kindern fremd war, die wir mit dem Puritanismus der staatlichen sozialistischen Ideologie aufgewachsen waren, dass Suppe nur salzig, Käse nur weiß und der Dichter nur herrlich sein kann wie auch der Staat. Seit bereits fünfzehn Jahren lebe ich außerhalb der Kontexte eines dauerhaften Zuhauses und der Geografien der Zugehörigkeit. Mein Zuhause waren die Flughäfen mit dem immer gleichen Geruch nach den Parfums aus den Duty-free-Shops; die Wartehäuschen an Bushaltestellen voller Obdachloser und Tauben; die sauberen, aber sterilen Hotelzimmer mit Balkons, die gerade groß genug für einen Vogel sind; die Zimmer für Writers in Residence voller Bücher, die den Geruch von Zigaretten und angebranntem Öl der vorhergehenden Schriftsteller aufgesogen haben; die Krankenhäuser, in denen die Stille Angst bedeutete und das Sprechen Schmerz … Auf den Wegen der Poetik der Ungewissheit traf ich Menschen, die um Brot und Aufmerksamkeit baten, doch auch reiche Fahnenträger des Übergangs vom Sozialismus zum Kapitalismus, die sich zwar Aufmerksamkeit erarbeiteten, aber in ihren Büros vor den improvisierten Altären mit kitschigen Ikonen um dauerhafte Wahrheit beteten. Ich wurde am helllichten Tag unerwartet und unerbittlich von ausländerfeindlichen jungen Leuten in Vilnius angegriffen, die den scharfen Geruch der Kriege nicht kennen; etwa zehn Tage lebte ich umringt von Paramilitärs und wohlgesonnenen Leguanen im Dschungel an der Grenze zwischen Kolumbien und Panama; einige Tage flohen wir vor den Kidnappern durch die Straßen von Bagdad, um uns herum junge Soldaten, deren Gesichter hinter den im Anschlag gehaltenen Sturmgewehren nicht zu sehen waren; ich wanderte durch die Dörfer in den Gelben Bergen Chinas, sah die Häuser mit kleinen Fenstern und offenen Dachböden; ich blickte auf die tiefen Himmel über Berlin und New York – Städte, in denen die Zeit nicht stirbt und nicht tötet; ich sprach mit den Imamen in Indonesien, die es liebten, sich mit Dichtern und Offizieren fotografieren zu lassen; ich ging durch die Straßen an der unsichtbaren Grenze im israelischen Haifa, wo der Staub auf den Schuhen für Israelis und Palästinenser gleichermaßen mythisch war; ich pflückte Granatäpfel am Checkpoint von Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan, während ich die Reflexion vom Fernglas des Soldaten im Wachturm betrachtete; auf dem Platz der Verfassung in Mexico City las ich Gedichte über die Vergänglichkeit der Rückkehr, während auf der anderen Straßenseite Tausende von Menschen mit Kerzen in den Händen die Kidnapper darum anflehten, ihnen die verschwundenen Studenten zurückzugeben; in Istanbul lasen wir in einer unterirdischen byzantinischen Zisterne Lyrik, während die Touristen das Mundstück einer Wasserpfeife zwischen die Lippen nahmen und auf das Klicken des Fotoapparats warteten, bevor sie husten müssten; wir sagten Verse auf im Licht der aktiven Vulkane Nicaraguas und einige Hundert Meter von den Vierteln in Mumbai entfernt, wo sowohl die Kinder als auch der Tod Hunger leiden. Aber immer kehrte ich nach Hause zurück, um zu sehen, wie mein Sohn schneller wuchs als meine Sehnsucht nach einem sicheren Heim, ich kehrte zurück in die Sprache meiner Kindheit, in die Wörter, die es mir erlaubten, durch die Zwischenräume und die verschiedenen Stillen zu reisen – die beiden Dinge, die mich erschaffen, während ich erschaffe. »Die Stille ist meine majestätischste, meine friedlichste, aber auch meine deutlichste Kriegserklärung oder Bekundung von Verachtung«, schrieb Derrida. In der Stille fühle ich mich sicher, trotz des lauten Geräuschs beim Stempeln des Passes als zivilisatorischem Zeichen, dass jetzt die Grenzen überquert werden können, die nach den Kriegen gezogen wurden. Vor ungefähr zwanzig Jahren streifte ich die Uniform über, weil der Staat sagte, ich müsse es tun. Ich war Soldat zwischen zwei Kriegen auf dem Balkan. Es ist einfacher, es so auszudrücken, als zu sagen, dass ich Soldat in Friedenszeiten war. Jetzt ist die Zerbrechlichkeit meine einzige Waffe. Lange Zeit war das Wort FRAGILE für mich ein Aufkleber auf den Pappkartons, in denen mein Vater Fernseher verkaufte oder Glasvitrinen, die die Leute mit haufenweise Tellern und Gläsern füllten, die sie nur verwendeten, wenn zu Hause Hochzeiten und Beerdigungen anstanden. Bevor ich mir das Alphabet der Bedeutungen aneignete, war FRAGILE für mich ein Zeichen für Unberührbarkeit, ein Synonym für Gefahr statt für Zerbrechlichkeit. Die Zerbrechlichkeit Europas ist gefährlich, lieber Jan, weil man sie nicht sehen kann, wie einen geborstenen Stein in einem Mosaik, das sich der Zeit und den Raubgräbern widersetzt. Ich liebe Europa wegen seiner imaginativen und wirklichen Weite, die es mir erlaubt, allein zu sein, wenn ich nicht in das Zimmer der engen geografischen oder literarischen Definiertheit zurückkehren will. Ich reise mit der Sprache dorthin, wo ich mir wünschen würde, dass wir uns mit einem Blick verständigen könnten, dem Blick auf die Schönheit oder den Himmel als Tiefe oder Symbol, diesen Himmelskontrapunkt aller Aggressionen, wie die Himmel Kurosawas in Rashomon. Europa ist aus Sprachen gebaut, und vielleicht ist es deshalb zerbrechlich, organisch, unbezähmbar. Vielleicht klinge ich romantisch naiv, doch ich denke, dass wir reisen, um Wörter, Steine, Staub, Hoffnungen zu transportieren. Der Tourist kommt oft in die Stadt, um zu übernachten, der Reisende, um wach zu bleiben. Ich begegne Dir in Städten mit Flüssen, in Städten mit Seen und Regen. Wie ist es, über die Dynamik des Wassers in den unbekannten Städten und in unseren Körpern zu sprechen? Wie ist es, die abgenutzten Metaphern über Brücken zu leben, wenn immer noch Mauern gebaut werden als vorübergehende Tätowierungen der Angst und Unsicherheit? Wir leben schon länger das Zuhause als dynamische Realität, als Baum, der die Wurzeln in die Luft streckt. In Paris war mein Zuhause der Gebäudekomplex »Récollets«, einst Unterkünfte eines Klosters, später umgebaut zu einem Militärkrankenhaus – ein Raum, der durch die Zeiten den Widerstreit zwischen der Stille der Mönche und den Schreien der verwundeten Soldaten konserviert hat. In welcher Sprache haben die Mönche in »Récollets« wohl ihr Schweigegelübde abgelegt, in welcher Sprache haben die verwundeten Soldaten die Ärzte oder Gott beschworen? Stille ist nicht die Abwesenheit von Worten, sondern ein lang andauernder Versuch, etwas zu sagen. Mandelstam schrieb, dass die Exkommunikation aus der Sprache eine Exkommunikation aus der Geschichte sei. In diesen Zwischenräumen der Sprachen sind die Geschichten Totems trügerischer Anwesenheiten. Nomaden glauben nicht an Monumente, obwohl meine Flüchtlingsvorfahren den Schlüssel jedes verlorenen Zuhauses aufbewahrten, jeder Leere des Lebens. Doch die Leere hat keinen Anfang und kein Ende, so wie die wahren Helden keine Denkmäler haben, sondern nur Erinnerungen. Das Wasser erinnert mehr als die Museen, lieber Jan. In Paris lebte ich am Kanal Saint-Martin, der dazu vorbereitet wurde, um ein Mal in fünfzehn Jahren gereinigt zu werden. Man hatte ihn abgelassen, und das Fehlen des Palimpsests des Wassers deckte viele Gegenstände am Grund des Kanals auf: Fahrräder, Uhren, Fernseher, die in dem Kanal ohne Wasser nur wertlose Denkmäler des Alltäglichen waren. Die Uhr maß die Zeit nicht, der Fernseher übertrug die offenen Kriege nicht, das Fahrrad bewahrte die alte Luft zwischen den Speichen der Räder. In diesem neuen, um es wie Baudrillard zu sagen, »System der Dinge« verbarg sich die alternative Sprache der Stadt, jene außerhalb der Fotoapparate des kurzen touristischen Gedächtnisses. Die Seine sprach im Namen der Straßen und abgelassenen Kanäle, sie war die Träne in einem großen Auge der Menschlichkeit. Ich kehrte einige Male nach Paris zurück, um die Angst vor der vollkommenen Balance zwischen der Symmetrie der Monumente und der gezähmten Natur, zwischen den lächelnden Touristen vor dem Grab Jim Morrisons und den Blumen, die vor dem Bataclan niedergelegt wurden, zu überwinden. Wenn ich von Mazedonien aus reise, lande ich wegen der Vormachtstellung der Billigfluglinien in meinem Heimatland auf den abgelegensten Flughäfen Europas, und das brachte mich dazu, mir zu überlegen, dass das Entfernt-Sein billig ist, wenngleich schwer zu erreichen, vielleicht noch schwerer als das Nahe-Sein. Ich füllte meinen Pass mit Stempeln von Flughäfen, von denen ich nicht wusste, dass sie existieren, und die keine Namen großer Helden tragen, noch weniger solche von Literaten. Gleichwohl stand ich einmal vor einem riesigen Porträt von Rubén Darío an den Wänden des Flughafens in Managua, und der brasilianische Flughafen in Belo Horizonte trägt das semantische Gewicht des Namens von Carlos Drummond de Andrade. Ich kann mir vorstellen, wie die Struktur der Flughäfen, die Kafkas oder Borges Namen tragen, aussehen müsste, obwohl manchmal die Flughäfen selbst die Spannungen von beleuchteten Labyrinthen mit sich bringen, deren Wächter weder Fragen noch Antworten haben. In mir hallt noch immer das Geräusch des Stempelns in den Pass wider wie die Faust eines Generals, der auf die auf dem Tisch ausgebreitete Karte schlägt. Mallarmé nannte das weiße Feld rund um die Verse »umgebende Stille«, etwas, was auf den gefüllten Seiten meiner Pässe mit halb ausgebleichten Stempeln nicht existiert. Ich reise schon lang nicht mehr, um den Durst auf zu Hause zu vergrößern. Nostalgie wurde in Europa lange Zeit wie eine Krankheit behandelt, aber es gibt keinen Raum mehr, um krank zu sein, weil die Rückkehr nach Hause schneller ist als die Melancholie einer Ortsveränderung. Die Nähe und Entfernung der Städte, in denen wir gelebt haben, wird nicht nur darin gemessen, wie oft wir sie verlassen haben und wie viele Fahrscheine wir verwendet haben, sondern auch darin, wie oft unsere Rückkehr unvollendet geblieben ist. Berlin ist eine Stadt, in die ich nach jeder Reise nach Mazedonien zurückkehre, erschöpft von der idealisierten Kindheit und der aufgedrängten Schuld, die mich wie ein verwundetes Tier verfolgt. Berlin ist eine Stadt, in die man öfter zurückkehrt als man aus ihr fortgeht. Das abgeschlossene Fahrrad am Zaun eines Gebäudes, das seine Gestalt ändert, oder die vergessenen Fotos in den Fotoautomaten am Straßenrand erzählen, dass vielleicht jemand zurückkehren wird, während die Metallspitzen auf den Fensterbrettern die Tauben dazu zwingen, lange zu fliegen wie Engel ohne Fresken. Im Augenblick bin ich immer noch unterwegs zwischen Venedig und Berlin – so verkündet es die uniformierte Stimme der Stewardess, die sich die Stille für ihren Geliebten aufhebt. Aber vielleicht befinde ich mich zwischen zwei Kriegen, zwischen zwei Kolonnen von Migranten. Bevor ich reise, öffne ich den Koffer immer schnell, und mein Schatten ist schon eingepackt. Wenn ich nach Hause zurückkehre, erfolgt das Öffnen des Koffers langsam, so wie man den versiegelten Sarg eines Kriegsopfers öffnet. Und alles ist darin. Sogar der Schatten.
Dein Nikola
Berlin, im Dezember 2016
Lieber Nikola,
so sehr ich das betrübliche Thema im ersten Brief vermieden habe, will ich nun doch noch einmal leise über Großbritanniens Abschied jammern – auch deshalb, weil vielerorts jenes niederschmetternde britische Referendum vom Juni bereits als Selbstverständlichkeit, als schicksalhafte Gegebenheit gesehen und schulterzuckend akzeptiert wird, ich hingegen immer noch einen Stich verspüre, wenn mir einmal mehr bewusst wird, dass die schöne Insel sich plötzlich um ein paar Hundert gefühlte Seemeilen von uns anderen Europäern entfernt hat, dass sie weit in den Atlantik hinaustreibt und unser Kontinent ein bisschen einsamer scheint; auch will ich mich nicht zu jenen gesellen, die mit kaum verhohlener Häme die ersten üblen Vorzeichen begrüßen und den wirtschaftlichen Niedergang des Königreiches herbeisehnen, um sagen zu können: seht her, das habt ihr davon. Nein, mir ist einfach nur traurig zumute, auch wenn es ja wahr ist, dass ich nie in Großbritannien gelebt habe, lediglich auf der anderen Seite der irischen See, in Dublin nämlich, dass es sich also, denke ich darüber nach, vor allem um eine literarische Liebe handelt, um die eines Lesers und Übersetzers. Für mich setzt sich die britische Landschaft aus dem London von Charles Dickens, dem Yorkshire von Ted Hughes und dem Wales von Dylan Thomas zusammen, sie erhebt sich aus dem Lake District der Romantiker Wordsworth und Coleridge, wohin ich es nie geschafft habe, doch vielleicht, wer weiß, macht die Tatsache, dass ich eher poetische denn wirkliche Landschaften durchstreift habe, diese tiefe Zuneigung nur umso beständiger. Vor wenigen Tagen erst war ich in Winchester, im wirklichen Winchester, meine ich, in der Grafschaft Hampshire südlich von London zu Gast, und schon bei der Ankunft am Flughafen Heathrow, beim ersten Gewahrwerden englischer Dialekte und während der ganzen dann folgenden Bahnfahrt stieg etwas Wehmut ins Herz. Wie erst also musste es den Freunden in Winchester gehen, den alten und den neu gewonnenen, von denen nicht ein Einziger für den Austritt votiert hatte, die allesamt noch immer unter Schock zu stehen schienen, es nicht wahrhaben wollten. Das Thema ließ uns den ganzen Abend nicht los und begleitete uns über die Tage hinweg.
Auch Winchester ist, das weißt Du so gut wie ich, lieber Nikola, in literarischer Hinsicht nicht unbedeutend. Keats hat hier eine Zeit lang gelebt (Keats, der angesichts seines kurzen Lebens und seines allzu frühen Todes fast als Verkörperung von »fragility«, von Zerbrechlichkeit und Flüchtigkeit gelten könnte – »Here lies one whose name was writ in water«, lautet die berühmte und berührende Inschrift auf seinem römischen Grabstein unter Pinien), und auch Jane Austen hat in Winchester ihre letzten Jahre verbracht. Sie wohnte in einem Haus unweit der imposanten Kathedrale, in der noch heute ihr Grab zu betrachten ist, eine Platte im Boden, die sich von einem zu eiligen Besucher übersehen ließe und in der Austens Romankunst mit keiner Silbe erwähnt wird. Ich pilgerte früh am Sonntagmorgen dorthin, noch vor dem ersten Gottesdienst, und der Küster war so freundlich, mir trotz der noch unbesetzten Kasse Einlass zu gewähren, sodass ich ganz allein mit den Gräbern, mit dem jungen Licht in den Buntglasfenstern und den steinernen Heiligen im gewaltigsten aller englischen Kirchenschiffe stand.
Dass Winchester ausgerechnet die Stadt von Keats und Austen ist, war auch deshalb nicht unpassend, weil ich beider Namen mit meiner vorangegangenen Reise nach England verband, einer Reise nach Cambridge nämlich, wo ich anderthalb Jahre zuvor das hübsche Fitzwilliam Museum besucht und unter dem bordeauxroten Samt einer Vitrine vollkommen unvermutet zwei Handschriften entdeckt hatte. Eine davon war erschütternderweise das Blatt Papier, auf dem Keats, offenbar wirklich in einem Durchgang und ohne größere Korrekturen, mit nur wenigen Streichungen, seine Ode to a Nightingale niedergeschrieben hatte, unter einem Baum sitzend und dem Gesang eben jenes Vogels lauschend. Der andere Bogen war um einiges größer und, wie die zahlreichen Knickspuren zeigten, offenbar so oft gefaltet worden, bis er als winziges, viellagiges Papierpaket mit Wachs versiegelt werden konnte. Es handelte sich um einen Brief Jane Austens an ihre Schwester, verfasst während einer Rast auf einer Kutschfahrt durch England, ein langer, überbordender Brief mit einer insektenhaft zarten Handschrift, in dem, so weit ich sie zu entziffern vermochte, mit Eloquenz und Ausdauer lediglich zwei Themen verhandelt wurden – Austens Hut und die Tatsache, dass er die mühevolle Reise bislang ohne Fleck und Delle überstanden hatte, sowie das ausgezeichnete Roastbeef, das man während der besagten Pause verzehrte und dessen Qualität und Beschaffenheit mit vielen Worten beschrieben und gepriesen wurde. Kurzum: Es war ein herrliches Beispiel für die altehrwürdige Kunst des Briefeschreibens, die wir ja mit unserem kleinen Austausch wieder aufzugreifen versuchen – und der man sich vielleicht ganz allgemein wieder mit mehr Verve widmen sollte, tritt doch der Briefeschreiber, ganz wie der Dichter, einen Schritt zurück von der rasenden Hast und den weitereilenden Massen und hält für einen Augenblick die Zeit an, betrachtet, reflektiert, resümiert und wählt seine Worte mit so viel Bedacht, dass sogar das Flüchtigste Gewicht und Dauer erhält, selbst Hutmoden und Roastbeef zu Trägern einer Botschaft werden, weil sich dem Empfänger durch sie und ihre Beschreibung etwas mitteilt vom flüchtigen Moment und vom Gemüt des Absenders. Sollten wir nicht alle wieder mehr Briefe quer durch Europa schicken, mittels solcher Augenblickskapseln, über die Grenzen hin- und zurückgetragen, das Verständnis für einander und das Wissen umeinander derart vertiefen, dass ein Missverstehen kaum noch möglich wäre? Und wer weiß, ob nicht die Entwicklung so oder so, nach all den technischen Fortschritten, in einer gewaltigen, ironischen Kreisbewegung schon bald zurückführt zu einem längst vergessenen Nachrichtenwesen, zu den Brieftauben, deren leere Türme in ganz Europa, ich denke etwa an die schönen gemauerten pigeonniers im Süden Frankreichs, sich dann erneut mit Leben füllen? All die urzeitlichen Techniken sind ja gerade mal ein paar Jahre alt, und so sollte man aus der Mode gekommene Verfahren vielleicht nicht voreilig verlachen und vergessen. Ich jedenfalls habe vor ein paar Wochen, denn sicher ist sicher, meine alte Remington-Schreibmaschine aus der Kammer geholt und zum letzten verbliebenen Reparateur Berlins gebracht, einem älteren Herrn im Stadtteil Kreuzberg, dessen kleine Werkstatt voller Olivettis und Underwoods, Triumph-Adlers und Optimas steht, lauter gewichtige, eiserne, schweigende Geräte, die den gesamten Raum mit der bleiernen Schwere eines Lokschuppens füllen. Noch könne er mir ein paar Farbbänder anbieten, noch ließen sie sich bestellen, murmelte er durch seinen gewaltigen Schnurrbart und versprach, die verhärtete und unbrauchbar gewordene Gummiwalze schleunigst durch eine frisch gegossene zu ersetzen.
just in time