Impressum

Klaus Möckel

Geschichte eines knorrigen Lebens

ISBN 978-3-86394-164-2 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 1989 bei
Verlag Neues Leben, Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2011 EDITION digital®
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1. Kapitel

"Kennst du das Gebet Australiens?"

" Er sitzt auf der Bank, das schmerzende Bein von sich gestreckt, leicht nach vorn gebeugt und auf den Stock gestützt, der noch aus den Zeiten langer Fußmärsche stammt. Jetzt geht's mit Mühe bis zu den Hügeln hinterm Haus hoch, durch die Schrebergärten zur nächsten waldgesäumten Kuppe. Es ist heiß, er hat das Hemd durchgeschwitzt, der Jackenkragen ist feucht, aber ohne Jackett verlässt er die Wohnung nie. Aus Eitelkeit, um den Bauch zu verdecken. Auch schleppt er allerhand Zeug in den Taschen mit, auf das er nicht verzichten will: Bonbons, Kolapastillen, Schlüssel, eine billige Taschenuhr, Eisenstücke, aus Hufeisen herausgebrochen, so genannte Glücksbringer, an die er eigentlich nicht mehr glaubt. Wenn man die Jacke anhebt, spürt man das Gewicht. Außerdem trägt er stets eine Mütze, so eine flache mit Dach, selbst bei der größten Hitze. Sie schützt die Augen und den Kopf vor der Sonne. Er sitzt da und schaut mich mit gespielter Erwartung an. Lauernd fast, in den hellbraunen Kugelaugen glitzern Funken.

Was weiß ich schon von Australien. Sydney, Melbourne, wo vor Jahren eine Olympiade stattfand, dann die weitgedehnten Steppen und Buschgebiete im Innern mit den Aborigenes, den ums Überleben ringenden Ureinwohnern. Schafherden. Kängurus und die putzigen, nach Eukalyptus duftenden Koalas - Vorbild für unsere Teddybären. Irgendwo in den tropischen Regenwäldern soll es das sagenumwobene Schnabeltier geben, eine Art Otter mit breitem Entenschnabel. Kleinster Erdteil, von Ozeanen umspült. Mitglied im Commonwealth und zurzeit von einer Labourregierung geführt. Aber da bin ich mir schon nicht mal mehr sicher.

Nicht gerade viel, was ich von Australien weiß, ein paar Brocken aus Büchern, Zeitschriften und dem Fernsehen. Genaueres müsste ich dem Lexikon entnehmen. Ich tröste mich damit, dass sie dort von uns bestimmt gleich gar keine Ahnung haben. Vielleicht kennen Eingeweihte die Namen einiger Sportler.

Er schaut mich erwartungsvoll an, der Alte, und nimmt nun die Mütze ab. Mit einem großen blaukarierten Taschentuch wischt er sich die Stirn und die Halbglatze trocken. Der Wind fächelt, bewegt die Baumkronen. Uns zu Füßen liegt die Stadt, von leichtem Dunst überzogen.

"Wasser!", sagt er mit nicht zu überhörendem Triumph in der Stimme.

"Was?"

"Wasser", wiederholt er, "das Gebet Australiens heißt Wasser, verstehst du!"

"Nicht ganz."

"Ist doch klar. Ringsum das Meer, zum Teil auch die Berge, im Landesinnern aber, in den riesigen Wüsten, die Glut. Die unerbittlich brennende Sonne. Und die Tiere, die Menschen mit ihrem gewaltigen Durst."

Er hebt die Hand, deutet mit ausholender Geste die Weiten australischer Ödnis an. Er war nie dort, wahrscheinlich nicht einmal im Traum, hat es aus Reisebüchern, die im Schrank in der Wohnstube stehn. In beträchtlicher Anzahl, jährlich kommen ein paar neue hinzu. Der Mensch, ferne Länder, die erbarmungslose Natur. Er liebt solche dramatischen Effekte.

Wir erheben uns, gehn ein Stück durch den Wald. An den Eichen und Buchen vorbei, die in vollem Grün leuchten, um die Hagebuttensträucher herum. In kleinem Bogen und langsam - er schafft's nicht mehr anders. Das Rheuma im Knie und im Hüftgelenk zwingt ihn zum Humpeln, zu häufigen Pausen. Ein wenig ist's auch schon die mangelnde Luft, nur will er das nicht wahrhaben. Innerlich hält er sich für gesund. Dagegen schimpft und knurrt er in ohnmächtiger Wut wegen der Laufbeschwerden. "Das Reißen, das Reißen, die elenden Knochen machen nicht mehr mit." Den Ärzten, zu denen man ihn fast mit Gewalt treiben muss, wirft er vor, ihre Medizin tauge nichts. Ein Heilmittel muss bei ihm sofort anschlagen, sonst fliegt es in den Ofen. Geduld war noch nie seine Sache.

Dabei unterlaufen ihm Dinge, über die alle, auch er selber, lachen. Wie kürzlich, als er die mühsam ergatterten Tabletten wegschmiss. Da hatte er sich wegen der unerträglichen Schmerzen im Bein doch einmal zum Arzt aufgerafft. Wäscht sich von Kopf bis Fuß, zieht neue Sachen an, greift zum Stock und humpelt den Berg hinunter zur Poliklinik. Entschlossen, die Hilfe dort in Anspruch zu nehmen. Aber die große Anzahl der Wartenden, das Gewirr auf den Gängen jagen ihn zunächst wieder auf die Straße zurück. Ich stell mir vor, wie er vor dem Eingang steht und überlegt. Die Hüfte jault, also meldet er sich letztlich an.

Die Untersuchung ist gründlich, erstreckt sich keineswegs nur auf das Bein. Als der Arzt ausgiebig Brust und Rücken abhorcht, beschwert sich der Patient: "Was suchen Sie da? Die Hüfte und das Knie tun weh, sonst fehlt mir nichts."

"Na, ganz so ist es nicht, ich werd Sie besser mal zum Röntgen schicken."

"Röntgen brauch ich nicht, ich brauch was fürs Bein."

"Und was ist mit dem Atem, wenn Sie die Treppe hochgehn?"

"Luft hab ich genug."

Das stimmt nicht ganz, und der Arzt, der das Pfeifen in der Lunge durchaus zu deuten weiß, erwidert: "Das sollte mich wundern, auf jeden Fall schreibe ich Ihnen ein Rezept aus. Das nehmen Sie mit und gehn noch ins Haus 11 zum Durchleuchten. Ich ruf dort an."

Der Patient zieht sich etwas irritiert in die Kabine zurück, steigt in die Hosen, lässt dabei aber die Tür offen. Nicht mit Absicht und nicht weit, gerade mal einen Spalt. Und obwohl er schlecht hört, versteht er einiges von dem laut geführten Telefongespräch des Arztes mit der Röntgenabteilung: "Ich schick euch da einen alten Schachter, er hat bestimmt Staublunge, schaut ihn mal genau an. Einen dicken Bauch schleppt er auch mit sich rum."

Einen dicken Bauch - was bildet der sich ein, Max protestiert insgeheim. Natürlich wird er nicht zum Röntgen gehn. Sein Rezept hat er, und das ist die Hauptsache. Ist auch alles zu anstrengend, das Bein feuert wie verrückt. Zur Apotheke noch, die liegt am Weg, und dann schnell nach Hause. Die Frau wartet mit dem Essen. Im Topf auf dem Gasherd kocht ein fettes Stück Schweinefleisch, dazu gibt's Salzkartoffeln und Sauerkraut.

"Na, was hat der Doktor gesagt?", fragt seine Frau, als er zu Hause anlangt. "Können sie was machen?"

"Ach, von denen erfährt man doch nichts, er behauptet, mein Bauch sei zu dick."

Das stimmt zwar, wir kritisieren ihn deswegen auch, beschwören die beiden Alten, nicht so fett zu essen, aber gegen seine Frau ist Max noch schlank. Sie ist fast eine Kugel, klein und rund. Bei einer Größe von einssechzig wiegt sie im Hemd fünfundneunzig Kilo. Er hat neun Zentimeter mehr und bringt dreißig Pfund weniger auf die Waage.

Deshalb enthält sie sich eines Kommentars zu diesem Punkt, fragt nur: "Hat er dir nichts verschrieben?"

"Doch, Einreibung und Tabletten."

Eingerieben hat er das Bein bisher auch schon, mit allen möglichen selbstgebrauten Mixturen oder mit Salben, die es ohne Rezept gab. Tabletten, gleichfalls rezeptfrei, hat er gegen die Schmerzen eingenommen.

"Rheunavol, Aminophyllin", buchstabiert seine Frau.

Er erhofft sich vor allem von diesen Aminopillen etwas, obwohl sie ihm im Grunde zu klein sind, nur wenige Millimeter Durchmesser haben - was sollen die schon bewirken. Vorsichtshalber nimmt er die doppelte Portion, dann wartet er, dass der Schmerz nachlässt. Legt das Bein hoch, liest, um sich abzulenken, in "Afrika, Kontinent im Aufbruch". Doch keine Veränderung ist festzustellen, das Ziehen und Stechen in den Knochen dauert an. Noch zweimal an diesem Tag versucht er es mit den Tabletten, dann mitten in der Nacht und am Morgen. Schließlich, als keine Besserung eintritt, hat er es satt. "Hilft nichts, hilft überhaupt nichts, das Zeug, ins Feuer damit." Er packt die drei Röhrchen, humpelt ins Bad, wirft die Pillen in die Asche. Dass er in den letzten Stunden recht frei geatmet hat, merkt er nicht. Erst Tage danach erfährt er von der Schwiegertochter, dass Aminophyllin kein Mittel gegen Rheuma, sondern ein Medikament für die Bronchien ist.

Später geht er doch zum Röntgen, in die Bergarbeiterpoliklinik, die etwas weiter weg liegt, und irgendwann kommt ein Brief aus der Bezirksstadt. Wegen Staublunge hat Max Anspruch auf eine Zusatzrente, er soll sich dort nur noch einmal gründlich untersuchen lassen.

"Kommt nicht in Frage, die Knochen links tun mir weh, sonst bin ich gesund."

"Eine Antwort musst du ihnen aber geben", drängt seine Frau.

Das weiß Max auch. Wenn Behörden etwas wollen, kann man das nicht einfach übergehn. Außerdem verlangt es ihn geradezu nach einer Erwiderung. Er setzt sich hin, schreibt mit großen und ungelenken Buchstaben seinen Antwortbrief. Dass er nicht krank ist, bis aufs Bein und die Hüfte, "die allerdings sehr schmerzt", dass er sein Auskommen hat und keine Zusatzrente braucht. Dass er nicht zur Untersuchung in die Bezirksstadt fährt, "nicht heute und nicht morgen". Und so weiter und so fort. Ein solches Schreiben hatten die Leute von der Sozialversicherung dort bestimmt noch nicht auf dem Tisch.

"So was abzulehnen, du bist verrückt", sagen die Nachbarn und die Bekannten.

"Du hast dir's doch durch deine Schufterei ein Leben lang verdient", drängen die Verwandten.

"Das bringst auch bloß du fertig", erklärt Ewald, sein Freund.

"Er will's nicht, also ist es gut", sagt seine Frau, und obwohl noch eine zweite Aufforderung eintrifft, sich untersuchen zu lassen, bleibt es bei der einmal getroffenen Entscheidung.

Max täuscht sich, die Lunge ist angegriffen, das Herz in Mitleidenschaft gezogen, ein, zwei Jahre später wird er's selbst merken. Aber jetzt, als wir um den Hügel herum zum Haus zurückkehren, beschäftigen ihn andere Dinge. Er bückt sich, hebt einen Knüppel vom Waldboden auf, steckt ihn in den Beutel, den er stets dabei hat. Seit er Rentner ist, sammelt er Holz, um es nicht umkommen zu lassen. Im Grunde braucht er's nicht, die zu seinem "Brikettdeputat" gehörige Menge reicht für den Haushalt. Doch ihn ärgert, dass im Wald die dicken Äste einfach dahinfaulen. Rucksackweise hat er früher das Holz heimgeschleppt, jetzt, da die Kraft nachlässt, begnügt er sich mit dem Leinenbeutel, nimmt nur noch die festen und trockenen Stücke. Um das, was liegenbleibt, tut's ihm trotzdem leid.

"Über mich willst du was schreiben? Warum?"

"Weil ich dich als dein Sohn gut kenne, und weil du vielleicht eine literarische Figur wärst."

Damit weiß er nichts Rechtes anzufangen, er bleibt stehn, stützt sich mit beiden Händen auf seinen Stock. "Ein feiner Mann bin ich immer gewesen."

Wer ihn so sieht und hört, den feinen Mann mit dem stoppligen Kinn, den zerschrammten Händen, dem durchgeschwitzten Hemd, mag sich wundern. Ich lache.

"Wer nämlich mit mir nicht auskommt, kommt mit keinem aus."

"Angeber!"

"Da kannst du fragen, wen du willst."

Diese harmlose Prahlerei kenne ich, und er weiß, dass ich sie kenne. In gewisser Weise stimmt ja auch, was er sagt. Er verträgt sich mit den Leuten, hat nie jemandem was weggenommen, eher selber zugesetzt. Nur denen, die ihm nahe stehen, tötet er mit seinen Schrullen und seiner Starrköpfigkeit manchmal ganz schön den Nerv.

"Sagen wir's so. Du hast in deinem Leben gerackert wie kaum einer, gehörst zu den Menschen, die den Fortbestand der Gesellschaft sichern, dabei besitzt du, na ja, Individualität."

"Indivi..."

"...dualität. Deinen eigenen Kopf. Was Besonderes."

"Hm." Er ist geschmeichelt und beeindruckt.

"Du bist neunzehnhundertsieben geboren, musstest durch zwei Weltkriege durch."

"Da gibt's manchen."

"Ich weiß ja auch noch nicht, ob aus dem Buch was wird", sage ich, um mir eine Hintertür offenzulassen. "Auf jeden Fall zeig ich dir das Manuskript, bevor ich's aus der Hand gebe, und du teilst mir deine Meinung mit. Einverstanden?"

"Wenn's denn sein muss."

Aber seine Meinung kann ich nun nicht mehr einholen.

2. Kapitel

Sein Vater war Hausbesitzer - die windschiefe Bude mit den winzigen Zimmern, der wackligen Treppe, dem Bretterklo auf dem Hof, den kleinen Fenstern vorn, einen Meter überm Huckelpflaster der bergigen Kleinstadtstraße hab ich noch kennen gelernt. Hausbesitzer - lachhaft!

Bauernknecht, dann Bergarbeiter untertage, Frührentner auf Grund der Arbeitslosigkeit in den zwanziger Jahren - nimm deine Pension, aber geh! Er wurde Ziegenhalter und Bierverkäufer; in der Kate, halb ererbt, halb mühsam abgezahlt, drängten sich die Kinder und Haustiere, später die Kunden. Es gab keinen Schankraum. Das Bier wurde vom Händler, einem der Schwiegersöhne, in Flaschen geliefert und von den Gästen im Wohnzimmer getrunken. Ein paar Stühle, eine Bank standen im vorderen Teil des Raumes, der klobige Tisch war mit Blech beschlagen und diente gleichzeitig fürs Kartenspielen. Lärm herrschte in der Stube, Tabakdunst füllte sie aus. Die Hausfrau hielt sich in der Küche auf, der Hausherr unter den Gästen. Zu dieser Zeit waren die Kinder, drei Söhne, zwei Töchter, schon erwachsen und nur noch selten anwesend. Bis auf Kurt und Max, die beiden Jüngsten, die aber gleichfalls bereits arbeiten gingen.

Politisch war Großvater konservativ, wenn das überhaupt so genannt werden kann, er hielt sich wohl aus allem raus, man hatte immerhin was zu verlieren. Ein Familientyrann, jähzornig, nicht mit Schlägen geizend. Die Schwiegertochter später, meine Mutter, mochte ihn nicht, suchte ihn nur auf, wenn's unbedingt sein musste. "Ich war verwöhnt, bei uns ging's friedlich und freundlich zu", erzählt sie, "es konnte über alles geredet werden. Dort durfte man nicht das Maul aufmachen. Einmal war ich zum Abendbrot bei ihnen. Er sagte was, die Schwiegermutter widersprach. Er wies sie zurecht, sie gab nicht nach. Da zogen sich seine Augen unter den buschigen Brauen zusammen - er war dunkelhaarig und guckte sowieso immer finster -, er fasste in die Hosentasche, holte sein Klappmesser heraus. Ich, zu Tode erschrocken, kroch in mich zusammen, dachte, was passiert denn jetzt, um Himmels willen. Er sagte keinen Ton, klappte nur das Messer auf. Sah seine Frau, die längst verstummt war, mit durchdringendem Blick an. Zehn Sekunden, zwanzig Sekunden, bis sie die Augen senkte. Dann bohrte er das Messer mit voller Wucht vor sich in den Küchentisch. Ich hab keinen Bissen mehr runtergebracht."

Hinterm Haus befand sich ein grasbewachsener Hang, der ziemlich steil abfiel. Dort waren mehrere Ziegen angepflockt, sie weideten das Grün, die stachligen Gräser ab. Die Ziegen gehörten dem Großvater, ihre Milch wurde verkauft, der eigene Sohn musste seinen Groschen hinlegen, wenn er fürs Kind einen halben Liter abhaben wollte. Abends wurden die Ziegen in den Stall gebracht. Ich seh sie zottig und gesättigt den Hang hinaufklettern. Die Hausfrau hat sie losgebunden, ihnen das Fell gezaust, sie gibt Mia, der hübschesten, einen Klaps aufs Hinterteil, und die Schwarzgefleckte hoppelt mit einem kurzen Meckern davon. Oben aber, auf der Straße, befinden sich schon die beiden anderen Ziegen, denn sie gehn nie von hinten auf den kleinen Hof, sondern immer von vorn, durchs Haus. Vielleicht weil vorn die Küche ist, in die sie zuerst laufen, bevor sie durch den schmalen, dunklen Flur ihren Stall erreichen. In der Küche schnuppern sie, suchen nach einem letzten Leckerbissen gekochten Kartoffeln, Brotrinden - und verrichten manchmal ihr Geschäft. Die runden Ziegenlorbern rollen in alle Ecken.

Großvater schuftete und versuchte das Geld zusammenzuhalten, das nicht da war. Ein Prolet mit dem Wunsch, selbständig Handel zu treiben, vielleicht auch bloß bestrebt, mit der Familie über die Runden zu kommen. Großmutter schuftete gleichfalls und duckte sich, nur manchmal muckte sie störrisch auf. Ans Geld durfte sie nicht ran, vermochte angeblich nicht damit umzugehn. Bezahlte einen Taler für einen Kohlkopf, gab den Wochenlohn für einen Schweineschwanz, wie er behauptete. Nach Aussage von Mutter verstand sie auch nichts vom Kochen. Klöße wie Gummibälle, zäh und hart, keine anständige Mahlzeit, Mampf. Wenn Gäste da waren, wurde um sieben überlegt, was zum Abendbrot auf den Tisch kommen sollte. Man aß irgendwas. Viel musste es sein und billig. Sauerkraut zum Brot, einen großen Topf Pellkartoffeln, dazu gebratenen Hering oder nur Salz. Dicke Mehlsuppen, Freibankfleisch. Max, der Jüngste und Kleinste, aß schon damals am meisten. Einen Magen hatte er, unergründlich und wie mit Eisen ausgeschlagen. Einmal schaffte er sein Teil nicht, weil wir ausgehn wollten. Da griff er sich zu meinem Entsetzen noch einen Kloß aus der Schüssel und verschlang ihn unterwegs einfach aus der Hand."

3. Kapitel

"Was hättest du werden wollen, wenn die Möglichkeiten anders gewesen wären, Max?"

"Der konnte nichts anderes werden, dem fehlte die Geduld und das Geschick", sagt Mutter, die er ein Leben lang nur Frau nennt. "Frau, was kostet das Rotkraut?" - "Frau, die Bananen kaufen wir nicht, die sind zu teuer."

"Vielleicht Tischler oder noch besser Dachdecker, von oben auf die Leute runterschaun, auf die Straßen und ins Land, immer an der frischen Luft."

"Hättest du nicht eine Schule besuchen wollen, etwas studieren, vielleicht Geographie?"

"Weiter die Schule besuchen ging nicht, ich konnte nicht rechnen, das weißt du."

Es stimmt, und er macht kein Geheimnis draus. Wenn's etwas zusammenzuzählen oder abzuziehen gab, musste immer die Frau ran. Er brauchte bei den einfachsten Additionen ein Blatt Papier. Sie war schneller mit dem Kopf und mit der Zunge, hatte einst Lehrerin werden sollen, wie sie immer wieder mal mit einem gewissen Stolz erzählt. Doch das Geld für die Ausbildung war nicht vorhanden.

"Ich war froh, dass ich meine acht Klassen geschafft hatte", ergänzt Max.

In der Tat, ich kann ihn mir nicht im Büro, am Schreibtisch vorstellen, sondern immer nur als einen Arbeiter mit Rucksack, Joppe, Dachmütze und schweren Lederschuhn, der morgens von der Nachtschicht kommt oder am späten Nachmittag aufbricht. Der kräftige Wollsocken trägt, derbe Unterwäsche und die stark beanspruchte Arbeitskleidung zum Waschen, zum Ausbessern mit nach Hause bringt. Der von der Grube erzählt, vom Gestein, das lebt und sich bewegt, von der Kohle. Der dicke Scheiben Brot, mit Honig bestrichen, mit Marmelade oder Schmalz, in seinen Brotsack packt, nicht etwa dünne Schullehrerschnittchen in eine Stullenbüchse.

Als fünfzehn-, sechzehnjähriger Bengel hatte er es mit einem seinerzeit angeseheneren Beruf versucht. Zwar auch "nur" als Arbeiter, doch gewissermaßen in einer höheren Kategorie. Schlosser, das war schon was für jemanden, dessen Verwandte und Bekannte, sofern sie zum männlichen Geschlecht gezählt wurden, meist "auf den Schacht" gingen. Schlosser bei "Werfel & Co.", dem größten Metallbetrieb im Ort, renommiert mit seinen fast achtzig Arbeitern und Angestellten; später, nach dem II. Weltkrieg, rückte dann ich dort ein, begann eine Werkzeugmacherlehre.

Max konnte keine Lehre aufnehmen, er sollte Geld ins Haus bringen, nicht noch jahrelang Geld kosten. Er wurde als Hilfsarbeiter eingestellt, dennoch - Schlosserei blieb Schlosserei. Da steht er auf dem Hof hinterm Materiallager, ein kleiner untersetzter Bursche in Schlotterhosen und zu weiter Jacke, und lädt mit dem Gesellen Rohre vom Kleinbahnwaggon ab. Da schleppt er Bleche, Eisenplatten durch die große Halle mit dem dicken Glasdach, im ohrenbetäubenden Lärm der Metallsägen und -scheren, der großen Pressen mit ihrem "Tack-tack-wumm", der Schmiedehämmer und Drehbänke, der Bohr- und Fräsmaschinen beim Zischen der blaugelben Schneidbrennerflammen, in Roststaub, Brandgeruch und dem Dampf, der sich bildet, wenn glühendes Eisen zum Härten ins Wasser getaucht wird.

Das muss einige Jahre nach dem I. Weltkrieg gewesen sein, das Land darbt noch und zuckt in sozialen Krämpfen, aber die Leute essen schon wieder etwas anderes als Kohlrüben. Im Betrieb, wo man Teile für Feldbetten hergestellt hat, zweitrangiges Armeezubehör, werden nun, wie bereits früher, Gewächshausgerüste gefertigt. Die Arbeit ist schwer, Max eifrig, er kann zupacken, so klein er ist. Aber er ist nicht immer der Schnellste im Reagieren, packt falsch zu, ungestüm. So auch an jenem Tag, als sie den Eisenträger schleppen, der Altgeselle und er. Da richtet er die Augen nur nach links, wo die Fräse steht, und stößt rechts fast das Wasserfass um. Danach die Sauerstoffflasche, ein Klang hebt sich zur Decke, hell und langtönend wie von der kleinsten der drei Kirchenglocken im Ort.

"Saukerl, verdammter, der Wasserpott, kannst du nicht aufpassen!"

"Mensch, die Flasche, sieh dich doch vor, die knallt uns ja zwischen die Maschinen."

Der Altgeselle schimpft, er regt sich auf, aber noch ist's nicht schlimm, erst als der Träger abgelegt werden soll, passiert es wirklich. Vielleicht lauscht Max zu lange dem Klang der stählernen Flasche nach, vielleicht will er's, des Tadels wegen, besonders gut machen, jedenfalls setzt er das schwere Stück Eisen zu plötzlich ab, reißt dem Gesellen das andere Ende aus den Händen. Der zum Glück halb gebückt dasteht, nicht mehr aufgerichtet, sondern gleichfalls im Begriff, sich der Last zu entledigen, weshalb der Träger nur aus geringer Höhe niederfällt. Dennoch, den Fuß kriegt er nicht mehr ganz drunter weg. Der große Zeh, durch das Leder des Holzpantoffels nur schlecht geschützt, wird vom Eisen getroffen, so dass der Mann aufjault, den Pantoffel abschüttelt, den Fuß in beide Hände nimmt, auf dem anderen Bein wild herumhüpft, ein Rumpelstilz.

"Du Riesenheupferd, Hornochse, Esel, aufpassen sollst du, och, tut das weh!"

Max steht da, käsebleich vor Schreck, ein anderer Arbeiter kommt von hinten, gibt ihm eine Ohrfeige. Er hat alles beobachtet, hätte die Sauerstoffflasche eben beinahe selbst ans Bein gekriegt. "Das gibt's nicht", schreit er, "soviel Dummheit gibt's nicht!"

Der verletzte Mann, nun auf einer Kiste sitzend, stöhnt, sein Zeh läuft blau an. Die Kollegen um ihn herum regen sich auf. Max, der ja doch nicht helfen kann, steht betreten dabei, schließlich verdrückt er sich. Dummheit, Ungeschicklichkeit, schon richtig, doch ihm fehlt vor allem die Erfahrung. Und den andern die Geduld, die Stimmung insgesamt ist gereizt, das Land treibt auf die Inflation zu. Das Geld wird in Tausendern ausgezahlt, in Millionen-, Billionenscheinen! 1923 gibt's für die Arbeiter dreimal in der Woche Lohn, damit sie wenigstens das Notwendigste kaufen können. Trotzdem verlieren die Scheine bereits auf dem Nachhauseweg einen Teil ihres Wertes.

Ein Unfall, das kann passieren, aber Max hat Schwierigkeiten mit diesen stets unter Spannung stehenden Männern, kommt insgesamt nicht zurecht. Er ist zu hastig, versteht die Anweisungen falsch. Einen glatten Feilstrich kriegt er nicht hin, an der großen Blechschere schneidet er die Bleche zu kurz ab. Dazu kommt, dass er aufmuckt, wenn man ihn anmeckert, mit den Alten zu streiten beginnt. Als wenn es im Betrieb, auch unter den Arbeitern, keinerlei Rangordnung gäbe. Nein, er hat seinen Stolz. Und zieht eilige Schlussfolgerungen: Die Schlosserei ist nichts für ihn. Nach ein paar Monaten schon schmeißt er alles hin. Den Eltern zu Hause erklärt er, dass er sich was Besseres suchen will. Sie schimpfen, nehmen's aber hin, der Vater hat seinerzeit gleichfalls alles mögliche ausprobiert und es anfangs nirgends lange ausgehalten.

"Wärst du damals ein bisschen ausdauernder und vor allem einsichtiger gewesen, hätten wir später anders dagestanden", sagt Mutter, als wir auf dieses Thema zu sprechen kommen.

"Denkst du! Ich wär trotzdem bloß Hilfsarbeiter geblieben."

"Aber du hättest nicht runter in die Grube gemusst."

"Der eine so, der andre so."

"Vielleicht hätten sie dich irgendwann die Gesellenprüfung machen lassen", bohrt sie weiter.

"Vielleicht, vielleicht... Ist ja alles nur Spekulation. Ich war nicht in der Lage, diese Arbeit zu bewältigen, nicht befähigt dazu, versteh doch. Eher noch für die Landwirtschaft, mit Tieren umgehn und so. Aber das ergab sich nicht, und als Knecht zu rackern hätte mich genauso wenig befriedigt."

4. Kapitel

Eine andere Möglichkeit boten die Textilfabriken. Drei oder vier gab's davon im Ort, zwei Drittel der Männer und viele Frauen waren dort beschäftigt. Das Tuchmachergewerbe hatte in dieser Gegend eine jahrhundertealte Tradition, bis nach Leipzig waren die Meister mit ihren Leinwandballen auf den Karren einst gewandert, sie hatten ihre Ware auch auf den Messen von Frankfurt am Main, Hannover und Hamburg verkauft. Später hatten sich die Manufakturen entwickelt und die größeren Textilbetriebe. Magerer Lohn für anstrengende Arbeit, doch nicht so anstrengend wie in den Kohlengruben.

Aber Weber, Zwirner, Spinner, das kam für Max nicht in Frage. Die Hände waren zu grob, hätten die Fäden zerrissen und durcheinander gebracht. Kurt, der um zwei Jahre ältere Bruder, eignete sich schon besser für diese Berufe, er war bei "Mohdes" als Angelernter tätig. Er besorgte für den Jüngeren auch den Platz in der Wollkämmerei. Dort saß Max allerdings nicht wie die Frauen und jungen Mädchen an langen Tischen und zupfte Wolle auseinander, sondern werkte als Transportarbeiter.

Schleppte die Ballen hin und her, rollte mit der zweirädrigen Handkarre die Säcke ins Lager. Eine einfache Sache, man schiebt die Karre mit der kurzen, rechtwinklig über den beiden Rädern angebrachten Stahlschiene unter den Sack, hebt ihn mit einem Ruck aus, kippt ihn leicht, damit er nicht zurückrutscht, rollt ihn weg. Den einen dahin, den andern dorthin, Hauptsache an die richtige Stelle. Was Max, der mit Energie bei der Sache ist, auch genau befolgt. Obwohl er bisweilen abgelenkt wird. Einmal zum Beispiel scheucht er den Meixner-Franz auf, einen Weber aus dem Hauptgebäude, als der gerade der Lisa unter die Röcke will. Sie ist ein strammes Mädchen und das Lager mit den Wollballen schon ein gepolsterter Platz für solche Spiele. Ein verbotener allerdings auch. Max ist mehr verblüfft als erschrocken, als der Meixner, ein Familienvater, plötzlich vor ihm hochfährt, mit rotem Gesicht und verrutschter Hose, und noch verblüffter ist er über die Lisa. Sie hat ihm von ihrem Platz am Tisch mit der Wolle aus mehr als einmal sanft zugelächelt. Jetzt allerdings ist sie verlegen und ärgerlich. Ihre Frisur ist eingedrückt, sie streicht fahrig den Rock glatt und wendet ihm schnell den Rücken zu.

So was lenkt Max tatsächlich von der Arbeit ab, auch im Nachhinein noch, denn er denkt sehr über Lisa nach, von der er enttäuscht ist. Trotzdem ist er überzeugt, seine Säcke richtig gelagert zu haben, eine Meinung, die sein Meister aber nicht teilt. Er stellt fest, dass Säcke mit weißer Wolle neuerdings ständig zwischen denen mit brauner liegen.

"Ihr müsst doch die Gedanken im Arsch haben, wenn ihr das durcheinander bringt. Die bunte gehört zur bunten, die weiße zur weißen."

"Ich war's nicht, Meister, ich bin nicht farbenblind."

"Schieb's noch auf den Erwin. Der macht das seit drei Jahren richtig."

Max hat Erwin keineswegs im Verdacht, eher schon gewisse Leute, die sich hier ein weiches Pfühl bereiten. "Ich war's jedenfalls nicht."

"Die weiße liegt zwischen der braunen, das dritte Mal in dieser Woche."

"Aber ich bin nicht dran schuld", versteift sich der junge Mann, der nichts und niemanden verrät. Mag sich diese Lisa zehnmal als ein Flittchen erwiesen haben.

Der Meister jedoch ist nicht zu überzeugen, er schimpft und streitet. Max, dem das Streiten kaum zusteht, hebt nun seinerseits die Stimme. Lauter Wortwechsel, unkontrollierte Gesten, und mit einem Mal geschieht es. Versehen oder Absicht, will Max einen Wollballen greifen, um dem Gespräch ein Ende zu machen, oder ruckt er nur ungeschickt an der Karre - auf jeden Fall erwischt er den Meister. Schiebt ihm die Schiene unter die Sohlen, hebt ihn aus. Muss ein drolliges Bild gewesen sein, als der Mann so unvermutet zwischen die Säcke segelte. Ein Ruck, ein Zuck, emporgewippt, plumpsend, selber ein Sack.

"Du Knallhorn, was fällt dir ein! Das ist die Höhe, na warte, das büßt du mir!"

"Hab's nicht mit Absicht gemacht."

Der Meister rappelt sich auf, glutroter Schädel, passiert ist ihm zum Glück nichts, er ist weich gefallen. Max steht da, den Blick gesenkt; grient er etwa noch? Zum Lachen ist die Situation schon, wenn auch weniger für den Meister, der sich für eine Respektsperson hält. "Ich geh ins Büro, du bist gefeuert, ein für allemal."

"Ich hab die Säcke nicht falsch hingepackt, ich lass mich nicht rausschmeißen, da geh ich lieber selber."

Und Max marschiert mit erhobenem Kopf davon, ins Büro, um zu kündigen. Damit aber sind seine Möglichkeiten, eine Arbeit außerhalb der Grube aufzunehmen, erschöpft. Und selbst im Bergwerk unterzukommen ist bei der wachsenden Arbeitslosigkeit Mitte der zwanziger Jahre nicht einfach.