Vorwort

Renate Schepker

»Essen hält Leib und Seele zusammen«, »Weil Liebe durch den Magen geht«, »Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird« – Sprichworte wie diese machen unmittelbar einsichtig, dass Essen in unserer Kultur viel mehr bedeutet als eine Zufuhr von Nahrungsmitteln zum Ausgleich der Energiebilanz. Essen ist in der Nachkriegszeit in den Generationen mit übervollem Nahrungsangebot auf den Märkten zum Zentrum des Familienlebens geworden. Kochsendungen durchziehen die Bildmedien, Kochbücher verkaufen sich millionenweise. Das »perfekte Dinner« von Prominenten ist ein Identifikationsangebot für eine gewünschte, gute soziale Akzeptanz.

Für Familien, in denen sich soziales Leben und Kommunikation vor allem am Esstisch abspielen, ist essgestörtes Verhalten von Kindern ein stiller Vorwurf, der sich bei einer traditioneller Rollenteilung vor allem gegen die Mutter richtet.

Für Therapeuten von Essgestörten, Kinder- und Jugendpsychiater, sind Patienten mit diesen Störungsbildern deswegen eine besondere Herausforderung, weil sie zunächst an ihrer Störung stark festhalten (dies wird an den nur im Deutschen anzutreffenden Begrifflichkeiten »Ess-, Brech-, Mager sucht« erkennbar, obwohl die meisten anderen »Suchtkriterien« nicht zutreffen), stark von Chronifizierung und von sekundären Folgeschäden bedroht sind und weil die Anorexia nervosa nach wie vor eine Langzeitmortalität von um die 10 % im Verlauf von über zwanzig Jahren aufweist (Birmingham et al. 2005). Die Langzeitprognose hängt nachweislich von dem frühen Einsetzen der ersten Behandlung, insbesondere einem noch höheren Gewicht bei Behandlungsbeginn und der erzielten Veränderungsmotivation ab (Berkmann et al. 2007).

Hinsichtlich der Behandlungsstrategien besteht in wissenschaftlicher Hinsicht Unsicherheit. Die Evidenzbasierung ist mäßig und vor allem hinsichtlich der Langzeiterfolge sind die Erkenntnisse eher gering. Die noch bis Ende 2011 gültigen S1-Leitlinien der DGKJP verweisen auf den Vorrang der Gewichtsrehabilitation und die Indikationen zur stationären Behandlung – ambulante Behandlung wird ebenfalls als multimodal unter Einbezug von Ernährungstherapie, Psychotherapie und familienorientierten Verfahren (Elternberatung oder Familientherapie) empfohlen. Gruppentherapie wird nur im Rahmen der kognitiv-behavioralen Therapie als evidenzbasiert beschrieben. »Nach stationärer Therapie« wird eine »mindestens einmal wöchentlich stattfindende Therapie (auch als Gruppentherapie)« als obligat angesehen. Die meisten Autoren, die sich dazu äußern, weisen darauf hin, dass es zur Interaktion der verschiedenen Therapiekomponenten kaum belastbare Daten gibt (Gowers et al. 2010, Halmi 2009, Herpertz-Dahlmann und Salbach-Andrae 2009).

Das rein ambulante Vorgehen bietet sich in vielen Fällen an, in denen die Gewichtsentwicklung oder die Erbrechensfrequenz noch keine absoluten Aufnahmekriterien darstellen, keine gravierende Komorbidität besteht und in denen Aspekte des Kinderschutzes keine Rolle spielen. Es ist in den Leitlinien noch nicht gut beschrieben, insbesondere nicht bezüglich der Abfolge oder Priorisierung der Behandlungsschritte, z. B. hinsichtlich des Einzel-, Gruppen- oder Familiensettings oder derer Kombinationen.

Eine randomisierte, jüngere britische Studie (Gowers et al. 2010) kommt zum Schluss, dass die Mehrzahl der Jugendlichen mit Anorexia nervosa keine stationäre Behandlung benötigt und dass sich durch die Ergebnisse darüber hinaus kaum belegen lasse, dass bei Nicht-Ansprechen auf eine ambulante Therapie die stationäre besser sei. Stationäre Behandlung zeigte die geringste Akzeptanz. Deutlich am effektivsten hinsichtlich der Patienten- und Elternzufriedenheit und der Kosteneffektivität stellte sich die ambulante Behandlung durch kinder- und jugendpsychiatrische Spezialisten dar. Hinsichtlich der Outcome-Parameter auch im 5-Jahres-Langzeitverlauf war keine Behandlungsbedingung überlegen. Auch Gowers et al. (2010) erwähnen jedoch die notwendige stationäre Aufnahmebereitschaft bei medizinischer Indikation.

Ein dem hier beschriebenen Vorgehen bei Jugendlichen mit Essstörungen sehr ähnliches gruppentherapeutisches Konzept wurde im deutschsprachigen Raum bisher nur von Michler et al. (2007) beschrieben. Die Autoren bieten auf der Basis eines verhaltenstherapeutischen Ansatzes eine hochfrequente und langdauernde Gruppentherapie mit zusätzlichen klientenzentrierten Elementen an, darüber hinaus auch eine parallele Psychoedukationsgruppe für Eltern. Kreativtherapeutische Einheiten sowie praktische Ernährungstherapie werden zusätzlich eingeführt und bedingen die deutlich höhere Therapiefrequenz und Verweildauer im Vergleich zu dem im vorliegenden Band geschilderten Konzept. Allerdings ist das Setting klinikbasiert als Teil des Angebotes der Institutsambulanz konzipiert. Aus Kliniksicht wird betont, dass durch die Existenz der Gruppe eine frühere Entlassung aus stationärer Behandlung möglich sei. Dieses trifft für das in diesem Band vorgestellte Vorgehen durch die klaren Kooperationsabsprachen ebenfalls zu, jedoch wird derzeit im vorliegenden Konzept noch im Falle einer Klinikaufnahme ein vollständiges Erreichen des Zielgewichts angestrebt, und eine Entlassung erfolgt zunächst in die Individualtherapie.

Psychoedukationsgruppen für Eltern wurden von Hagenah et al. (2003) erstmals beschrieben und sind dort Teil des stationären Settings bzw. der Institutsambulanz. Ebenso wie bei Michler (2007) finden etwa doppelt so viele Sitzungen mit den Eltern statt wie im hier vorgestellten Rahmen, in dem die Leistungen für die Eltern als IGEL-Leistungen abgerechnet werden und die Eltern zur Finanzierung herangezogen werden müssen. Daher stellt der hier vorgestellte Rahmen möglicherweise die Untergrenze einer vertretbaren »Therapiedosis« im Rahmen des derzeitigen ambulanten Systems dar, was sich auch in den Rückmeldungen der Beteiligten widerspiegelt – die Mehrheit hätte sich eine Verlängerung der Intervention gewünscht.

Im Gegensatz zum Vorgehen der beiden anderen Arbeitsgruppen werden im hier vorgestellten Konzept die Eltern-Psychoedukationsgruppe und die Jugendlichen-Gruppentherapie von denselben Therapeutinnen geleitet. Auch dieses Vorgehen ist dem Rahmen der SPV-Praxis geschuldet und hat den großen Vorteile für die durchführenden Therapeutinnen, dass ein Gesamtbild der behandelten Familien entsteht. Auf die Vertraulichkeit der Inhalte der Jugendlichengruppentherapie gegenüber den Eltern wird großer Wert gelegt, was selbstverständlich auch umgekehrt gilt. Darüber hinaus kommen die Teilnehmer der Elterngruppe und die der Jugendlichengruppen nicht aus denselben Familien. Im Gegensatz zum kliniknahen Kontext erlaubt die Praxis auch einen präventiven Zugang für Eltern, deren Kinder noch nicht zu einer Therapie zu motivieren sind oder deren Problematik noch an der Schwelle zur Krankheitswertigkeit anzusiedeln ist.

Des Weiteren wird im hier praktizierten Setting aus Gründen der Ortsnähe der Prozess der Gewichtskontrolle an den Hausarzt delegiert, was für den Rahmen von Station und Institutsambulanz nicht empfohlen wird. Nach der hier vorliegenden Erfahrung erfordert dieses Vorgehen gute Kooperationsabsprachen und eine belastbare und verlässliche Weitergabe der Daten.

Das in diesem Manual beschriebene Vorgehen beinhaltet drei verschiedene Komponenten: Die (hier nicht beschriebene) initiale, individuelle Therapie, die Gruppentherapie, und die Elterninterventionen (individuell und psychoedukativ in der Gruppe). Die Ergebnisse der internationalen Literatur belegen, dass bezogen auf gruppentherapeutische und Elterninterventionen eine hinreichende empirische Basis besteht.

Lock und Mitarbeiter (2010) wiesen in einem katamnesekontrollierten, großen RCT-Design nach, dass hinsichtlich des Outcomes an Gewicht und Essverhalten bei Jugendlichen ein familienbasierter Zugang überlegen gegenüber dem individualtherapeutischen war, wenngleich bei Therapieende beide gleiche Effekte aufwiesen Hierbei wurde als »Treatment as usual« einerseits der in den meisten Praxen übliche therapeutische Zugang einer psychodynamisch orientierten, individuellen Psychotherapie mit Fokus auf Steigerung der Autonomieentwicklung, Selbsteffizienz, Individuation and Ich-Stärkung mit unterstützenden bifokalen Elternsitzungen angeboten. In der Randomisierungsbedingung wurde die drei Schritte umfassende, familienbasierte Behandlung mit Fokus auf Unterstützung der Eltern hinsichtlich der Kontrolle des Essverhaltens und der Förderung der Familienfunktion mit Fokus auf der adoleszenten Entwicklung gewählt. Die Kontrolle sollte dabei schrittweise an die Jugendlichen zurückgegeben werden (Lock et al. 2001). Somit erscheit es günstig, beide Zugänge zu integrieren, was für eine deutliche Ausdehnung der Familienarbeit in der Praxis sprechen würde.

Interessanterweise haben wir in keiner der bislang veröffentlichten Studien den hier verfolgten Weg einer alters- und entwicklungsadaptierten Familienintervention finden können. Obwohl in der großen Studie von Lock et al. (2010) auch 12-Jährige behandelt wurden, wurde zwischen der Übergabe von Kontrolle an die Eltern und der autonomen Regulation der Essstörung nicht differenziert, sondern alle Familien durchliefen die gleiche 3-Schritt-Folge. Ähnlich verhält es sich bei Le Grange et al. (2005), die eine Gruppe von 9- bis 18-Jährigen mit einem Durchschnittsalter von 14,4 Jahren ambulant familientherapeutisch mit dem identischen manualisierten Vorgehen behandelten.

Möglicherweise liegt das unter anderem daran, dass die üblichen RCT-Designs eher kleine Stichprobengrößen aufweisen, deren weitere Unterteilung für die statistische wissenschaftliche Erkenntnis abträglich wäre (vgl. Cochrane Review der Literatur bis 2008 durch Fisher et al. 2010, Rhodes et al. 2009a). Unterstützung erfährt die hier gewählte Strategie der Betonung der Autonomie von Beginn an bei den älteren Patienten durch die exploratorische Studie von Perkins et al. (2005), die vor allem bei älteren bulimischen Patientinnen mit chronischem Verlauf eine Ablehnung des Elterneinbezugs in ihre Behandlung – und damit auch eines familientherapeutischen Ansatzes – feststellten.

Parallel zu den hier geschilderten positiven Erfahrungen mit der kurzzeitigen Eltern-Psychoedukationsgruppe schildern Rhodes et al. (2009b) zunächst qualitativ gute Erfahrungen mit »parent-to-parent consultation« vor allem hinsichtlich der emotionalen Entlastung. Zucker und Mitarbeiter (2006) berichten ebenfalls von einer hohen Elternzufriedenheit mit einem – allerdings 16 Sitzungen umfassenden – Elterngruppentraining.

Vielversprechend erscheint der Ansatz von Salbach und Mitarbeitern (2006) im Sinne eines Mehrfamilien-Gruppentherapiekonzeptes in Kombination mit Psychoedukation. Dieses sieht – allerdings im stationären Rahmen – sechs Sitzungen à 100 Minuten mit jeweils vier Familien vor. Das Angebot und ist thematisch offener und nicht ausschließlich auf Psychoedukation ausgerichtet, sondern umfasst im zweiten Teil eine verhaltensanalytische Gruppentherapie.

Geist und Mitarbeiter (2000) beschreiben einen randomisierten Vergleich von Familientherapie mit Eltern, Indexpatienten, Geschwistern und Familien-Gruppen-Psychodukation für bis zu sieben Familien. Die Sitzungen wurden nach einem, wo erforderlich, kurzen stationären Aufenthalt überwiegend ambulant durchgeführt. Unter-12-Jährige wurden in die Studie nicht eingeschlossen. Interessanterweise wurde die Psychoedukationsgruppe für die ersten 45 Minuten mit Eltern und Kindern, im zweiten Teil mit Jugendlichen und Eltern separat durchgeführt, so dass sich daraus eine neue Kombination der Methoden ergibt. Hinsichtlich der Behandlungsergebnisse (Gewicht und Essstörungspathologie) konnte zwischen beiden Bedingungen bei allerdings sehr kleinem Studienkollektiv kein signifikanter Unterschied nachgewiesen werden

Aussagefähige Studien über gruppentherapeutische Ansätze bei Essstörungen mit ambulanten Patientengruppen, die über eine reine Beschreibung des therapeutischen Vorgehens hinausgehen, sind in der internationalen Literatur dünn gesät. Eine spezifische Gruppentherapie zeigte sich hinsichtlich des Selbstwertgefühls und der Sozialkompetenz bei essgestörten Jugendlichen im teilstationären Rahmen prä- und postinterventionell als effizient (Lazaro et al. 2010).

Nur eine RCT-Studie verglich die Effekte ambulanter individueller und ambulanter Gruppentherapie. Nevonen und Broberg (2006) untersuchten einen manualisierten, sequentiellen Ansatz aus kognitiv-behavioraler Therapie gefolgt von interpersoneller Therapie (IPT) in Einzel- versus Gruppentherapie bei jugendlichen Bulimikerinnen in Schweden. Während die Remissionsraten vergleichbar ausfielen, war die individuelle Behandlung in den meisten Zielvariablen in der 1-Jahres-Katamnese dem Gruppenansatz überlegen. Das unterstützt das hier gewählte Vorgehen, die Gruppentherapie nicht als ausschließliche Behandlungsform anzubieten.

Das hier vorliegende Manual wurde von Praktikern für Praktiker erstellt. Es beschreibt ein kombiniertes Vorgehen aus der Perspektive einer SPV-Praxis, das nach diagnostischer Erstuntersuchung zunächst individuelle Psychotherapie und in deren Anschluss eine manualisierte Gruppentherapie sowie eine möglichst frühzeitig angebotene Eltern-Psychoedukationsgruppe vorsieht. All dies geschieht vor dem Hintergrund einer engen und verlässlichen Kooperation mit der zuständigen Klinik, d. h. in stetiger Aufnahmebereitschaft nach individuell festgelegten Kriterien und berücksichtig dabei nach Lock et al. (2010) einen bedeutsamen Kontextfaktor. Das Manual bietet sich für den Gebrauch in Institutsambulanzen ebenso an wie für SPV-Praxen. Die mögliche Durchführung im deutschen Gesundheitswesen ist bereits durch etliche erfolgreich beendete Gruppen erwiesen.

Ziel des vorgelegten Bandes ist es, auch im ambulanten Rahmen flächendeckend ein multimodales Behandlungsspektrum etablieren zu helfen, welches autonomie- und entwicklungsfördernd die Heilung unterstützt und einer Chronifizierung juveniler Essstörungen entgegentritt.

A Einführung

1 Rahmenbedingungen in der sozialpsychiatrischen Praxis

Dagmar Hoehne

1.1 Theoretische Einführung

Essstörungen (Anorexia nervosa und Bulimia nervosa) sind bei insbesondere weiblichen Jugendlichen Störungsbilder mit hoher Prävalenz und stellen in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis ca. 10 % des Inanspruchnahmeklientels dar. Es werden hier bereits Vorläufer einer Essstörung gesehen sowie alle Schweregrade des Störungsbildes in den verschiedenen Altersstufen. Aus der Literatur ist bekannt, dass sich bereits in der frühen Adoleszenz genau die problematischen Einstellungen und Verhaltensweisen der Mädchen entwickeln, die letztlich zu einem Vollbild einer Essstörung führen (Herpertz et al. 2008). Dies kann im ambulanten Bereich eine Chance bieten, vor Ausprägung des Vollbilds der Störung bereits frühzeitig Interaktionsmuster und Einstellungen der Jugendlichen und ihrer Familien zu beleuchten und gegebenenfalls im Sinne einer indizierten Prävention niedrigschwellige therapeutische Angebote zu machen. Insbesondere frühe psychoedukative Angebote, wie Elterngruppen, sowie Trainings sozialer Fertigkeiten für Kinder und Jugendliche und familienbasierte Interventionen sind dabei hilfreich. Oft ist eine Gruppe mit psychoedukativer Zielsetzung als sogenannte IGEL-Leistung ein niedrigschwelliges Angebot an die Eltern zum Einstieg. Sie können hierfür eher gewonnen werden als die Jugendlichen selbst.

Bei einem bereits manifesten Störungsbild einer Anorexie oder Bulimie entsprechend den Kriterien des ICD-10 bzw. DSM-IV ist ein langfristig angelegtes Therapiekonzept notwendig, welches sowohl ambulante als auch gegebenenfalls stationäre Maßnahmen mit einbezieht. Da es sich um chronische Verläufe handelt, sollte eine langfristige Anbindung an eine Praxis erfolgen, mit der Funktion des Case Managements im Sinne einer therapeutischen Führung unter Einbezug aller notwendigen Aspekte. Durch das multiprofessionelle Team einer sozialpsychiatrischen Praxis ist gewährleistet, dass alle Aspekte einer Essstörungstherapie bereitgehalten und individuell angepasst werden können.

Es besteht fachlicher Konsens, dass sich bei der Behandlung von Essstörungen ein multimodaler Therapieansatz aus Gewichtsstabilisierung oder »Gewichtsrehabilitation«, Normalisierung der Essgewohnheiten, Psychoedukation sowohl der Patientin als auch der Familie, Einzelpsychotherapie, Gruppenpsychotherapie und familientherapeutischen Interventionen bewährt hat (DGKJP S1-Leitlinien 2007; S3-Leitlinie Essstörungen 2011). Daneben gilt es, häufige Komorbiditäten wie depressive Störungen, Zwangsstörungen und Angststörungen im Blickfeld zu behalten und gegebenenfalls (bei noch im Toleranzbereich befindlichem Gewicht) eine begleitende medikamentöse Behandlung einzuleiten. Durch eine enge und abgestimmte Zusammenarbeit mit der zuständigen stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie und/oder -psychosomatik ist es möglich, bei Eintreten der Indikation zur stationären Behandlung rasch zu reagieren und keine langen Wartezeiten in Kauf nehmen zu müssen. Diese strukturierte Zusammenarbeit ist eine unabdingbare Voraussetzung für das Konzept einer ambulanten Essstörungstherapie, die allen Beteiligten Sicherheit vermittelt und im Rahmen einer Gesamtkonzeption eine deutlich verbesserte Akzeptanz bei den Betroffenen erzeugt. Die in diesem Buch vorgestellte Gruppentherapie von essgestörten Jugendlichen im ambulanten Setting ist in eine Gesamtkonzeption der Behandlung eingebettet und setzt eine erste Auseinandersetzung mit der Erkrankung in der Einzelpsychotherapie oder im Rahmen eines klinischen Aufenthaltes voraus. Insofern sehen wir sie als Intervall im Rahmen eines längeren Therapieprozesses, der einen Baustein im Gesamtprozess darstellt.

Bezüglich der Verursachung von Essstörungen werden biologische, soziokulturelle, familiäre und individuelle Faktoren diskutiert (Herpertz et al. 2008). Zu den individuellen Faktoren zählen insbesondere ein niedriger Selbstwert, Perfektionismus, dysfunktionale Gedanken und Impulsivität (insbesondere bei Bulimie) sowie ein ausgeprägt negatives Körperbild. Dazu kommt die Auseinandersetzung mit der Lebensphase der Adoleszenz und dem häufig damit verbundenen Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt, der im Rahmen einer problematischen innerfamiliären Situation mit hohen elterlichen Erwartungen zur Symptomausprägung führt. Es ist Aufgabe der Einzeltherapie diese vorliegenden Muster individuell zu erarbeiten und korrektive Erfahrungen anzuregen. Die Gruppentherapie ermöglicht zusätzlich die Chance, über die dort wirksamen Faktoren in der Interaktion mit den anderen Betroffenen die soziale Isolation zu beenden, über Modelllernen neue Muster auszuprobieren und unter therapeutischer Anleitung den Selbstwert zu korrigieren. Gerade im Jugendalter hat die Auseinandersetzung in der Gruppe der Gleichaltrigen einen hohen Wirkungsgrad, der durch eine alleinige Einzeltherapie nicht erzeugt werden kann (Fiedler 2005). Die jugendtypische Auseinandersetzung mit der eigenen Identität sowie die größer werdende Distanz zu den Eltern (Fegert et al. 2009) und andererseits Auseinandersetzungen mit den Gleichaltrigen sind Entwicklungsaufgaben, die jeden treffen, aber speziell bei Essgestörten auf Grund ihrer sozialen Isolation und dysfunktionalen Muster zu einer Selbstwertkrise führen. Die gute Integration in eine Gruppe von Gleichaltrigen erweist sich im Verlauf als Basis für einen positiven Selbstwert (Tarrant et al. 2006) und erleichtert die weiteren Behandlungsschritte, könnte sogar therapeutische Ressourcen einsparen helfen.

Wir haben uns für eine geschlossene Gruppe entschieden, die als Intervall einer Gesamtbehandlung durchgeführt werden kann. Grundsätzlich ist auch eine offene Gruppe denkbar (Michler et al. 2007), im ambulanten Bereich einer sozialpsychiatrischen Kassenpraxis aber eher schwierig umsetzbar. Sowohl davor als auch danach, im Bedarfsfall auch während der Gruppentherapie findet eine einzeltherapeutische Behandlung statt. Auch die Kontrolle der Gewichtssituation sowie der Erbrechenshäufigkeit ist durchgehend gewährleistet.

Das 2-Therapeuten-Prinzip wurde bewusst gewählt, da dadurch ein individualisierteres Vorgehen ermöglicht wird. In den einzelnen Therapiemodulen wird deutlich, wobei dieses Vorgehen hilfreich ist. Ferner kann jederzeit eine gegenseitige Intervision erfolgen und können kritische Situationen wie auch die Bildung von Koalitionen und Außenseiterphänomene verhindert werden. Die Gruppengröße sollte sechs Patientinnen nicht unterschreiten, um gerade für den Bereich des Modelllernens und der Rollenspiele ausreichend Interaktionsmöglichkeiten zu haben.

1.2 Ambulantes Therapiekonzept in der sozialpsychiatrischen Praxis

1.2.1 Einleitung

Die Gruppentherapie von Essstörungen in der sozialpsychiatrischen Praxis (SPV) ist eingebettet in ein Gesamtkonzept der Behandlung von jugendlichen Essstörungen unter den gegebenen ökonomischen Voraussetzungen einer Kassenpraxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (KJPP). Sie ist Teil eines Gesamtbehandlungsplanes (Abb. 1), welcher an die jeweilige Ausgangslage (Schweregrad, Compliance und Motivationslage, elterliche Besorgnis, Alter der Patientin) mit der Patientin und ihrer Familie angepasst wird. Dabei orientiert sich dieser an den Leitlinien der Fachgesellschaft und weist einen multimodalen Therapieansatz auf. Neben Ernährungsberatung und Psychoedukation, auch mit der Zielsetzung einer Stabilisierung des Gewichtes und Reduktion der Erbrechenshäufigkeit, findet im Rahmen des multiprofessionellen Ansatzes in der SPV-Praxis Einzelpsychotherapie sowie Elternarbeit in unterschiedlicher Ausprägung statt. Dies wird durch ein gruppentherapeutisches Angebot vervollständigt, welches aus unserer Erfahrung heraus die Fortschritte der anderen Maßnahmen festigt und einen wesentlichen Anteil an der Verbesserung der sozialen Kompetenzen und der Stabilisierung des Selbstwertes und der realistischen Selbsteinschätzung hat. Die verschiedenen Bausteine der Therapie werden in ihrer Rollenverteilung bezüglich der verschiedenen Akteure und mit definierten Verantwortlichkeiten innerhalb und außerhalb der Praxis festgelegt, so dass diese eine jeweils klare Zuschreibung haben und damit etwaigen Spaltungstendenzen oder auch Tendenzen der Problemvermeidung und zu Delegationsketten entgegengewirkt wird. Dies hat sich aus unserer Sicht bewährt, um den Familien und der Betroffenen von Anfang an die Bedeutung der verschiedenen Bausteine zur Gesundung zu verdeutlichen, den Behandlungssrahmen abzustecken und auch die Begrenzungen einer ambulanten Versorgung eindeutig zu klären. In diese Verantwortlichkeit wird die zuständige stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie von Anfang an mit einbezogen in Form einer Stationsführung, da sehr häufig auch eine stationäre Phase notwendig werden kann, insbesondere bei anorektischen Patientinnen. Auch der Haus- und/oder Kinderarzt ist Teil des Konzeptes, an ihn wird der somatische Teil delegiert. Durch dieses Netz an Verantwortlichkeit und Kompetenz fällt es Eltern deutlich leichter, partiell loszulassen und damit den Prozess der Autonomisierung zu akzeptieren. Auch im Falle einer Verschlechterung kann rasch gehandelt werden und alle Beteiligten kennen ihre Verantwortlichkeit.

Abb. 1: Struktur des Therapeutischen Gesamtkonzeptes zur Behandlung von Essstörungen in der sozialpsychiatrischen KJPP-Praxis

1.2.2 Ärztliche Begleitung

Erstgespräch

Meist erfolgt die Anfrage zur Therapie durch die Eltern, teilweise auch durch die Jugendlichen selbst (eher bei Bulimie), den Haus- und/oder Kinderarzt oder die psychologische Beratungsstelle. Teilweise werden die Patientinnen auch von der zuständigen Kinderklinik überwiesen.

Dabei beschreiben die folgenden Kriterien für das Sekretariat, welches die telefonische Anfrage entgegennimmt eine »Notfallsituation« – mit der Konsequenz eines raschen Termins (innerhalb einer Woche):

Der Ersttermin erfolgt durch den KJPP. Die Jugendliche erscheint meist mit den Eltern oder einem Elternteil, eher selten alleine, dies allerdings fast ausschließlich bei Patientinnen mit bulimischem Verhalten. Für dieses Gespräch muss genügend Zeit zur Verfügung stehen, alle Anwesenden sollten mit ihren Ängsten und Befürchtungen sowie mit ihrem Widerstand ausreichend wahrgenommen und wertgeschätzt werden. Dies gestaltet sich teilweise sehr schwierig, da einerseits insbesondere anorektische Patientinnen die Sorge der Eltern für völlig übertrieben halten und einer Therapie sehr negativ gegenüberstehen, andererseits die Eltern in höchster Sorge um das Wohl ihrer Tochter sind und sich ein Machtwort der Fachleute wünschen. Die Vorstellungen zur Störungsgeschichte der einzelnen Familienmitglieder und die im Ersttermin erlebte familiäre Kommunikationsstruktur machen sehr rasch die dahinterstehende Interaktionsdynamik deutlich, wobei zunächst das Verstehen der Motive aller Beteiligten und die Akzeptanz der Sorge ganz im Vordergrund steht. Folgende Aufgaben sind Teil des Ersttermins:

Die Erhebung der Krankengeschichte, der aktuellen psychischen und körperlichen Situation, der Differentialdiagnosen sowie die Gefahreneinschätzung erfolgt auf der Basis der Leitlinien für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (DGKJP 2007). Dabei sollte weder bagatellisiert noch aggraviert werden, es geht um einen Realitätscheck anhand der Faktenlage in Korrelation zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, und damit in dieser Erstsituation um eine möglichst realitätsnahe Einschätzung der aktuellen Befunde, insbesondere auch bezüglich einer vorliegenden vitalen Gefährdung. Dies hilft den Beteiligten in dieser sehr sorgenvollen Situation ihre bereits vorhandenen Schuldgefühle nicht noch zusätzlich zu verstärken und damit handlungsunfähig zu werden, sondern durch Benennung und kognitive Bearbeitung die hoch emotional geladene Situation zu entschärfen. Dabei zeigt sich der Balanceakt der Wahrung größtmöglicher Neutralität im Rahmen der familiären Schuldzuschreibungen und Konflikte als besonders schwierig – aber auch als besonders wichtig! Bei Solidarisierung mit einer der beiden – oder gar mehr – Parteien ist eine konstruktive Therapiegrundlage mit dem Gesamtsystem nicht erreichbar und führt erfahrungsgemäß zu raschen Therapieabbrüchen oder zur Ablehnung eines Behandlungsbündnisses, womit eine wichtige Chance vertan wäre. Praktisch erfolgt das Erstgespräch in drei Abschnitten:

  1. Gemeinsamer Beginn und Einschätzung der aktuellen Situation
  2. Alleiniges Gespräch mit der Jugendlichen selbst zur Klärung ihrer Therapiemotivation und erstes Verstehen der störungsspezifischen Dynamik aus ihrer Sicht, sowie aushandeln der Eckpunkte der ambulanten Möglichkeiten
  3. Gemeinsame Reflexion der gewonnenen Erkenntnisse und Festlegung der weiteren Schritte

An dieser Stelle werden Verantwortlichkeiten für die verschiedenen Bausteine festgelegt, sowie insbesondere die untere Gewichtsgrenze für die unabdingbare stationäre Einweisung gemeinsam bestimmt. Auch ist die Einholung einer gegenseitigen Schweigepflichtsentbindung mit der zuständigen Klinik notwendig.

Das Erstgespräch:

Bereits in diesem Erstgespräch geht es um die Entwicklung und Gewährung von Autonomie im Sinne einer therapeutischen Haltung, die sich sowohl in der Interaktion mit der Betroffenen selbst, als auch im Umgang mit den Eltern ausdrückt. Bei der Patientin geht es um Verantwortungsübernahme für den eigenen Körper und das Leben insgesamt, bei den Eltern um Loslassen und Aushalten, d. h. die Befähigung zu einer »optimistischen Distanzierung«. Dieser Prozess ist auf die Belastbarkeit der Patientin sowie der Eltern abzustimmen, wobei das Alter der Patientin an dieser Stelle eine wichtige Rolle spielt: Je jünger die Patientin ist, desto mehr Einbezug der Eltern und Stärkung einer klareren Haltung derselben ist angebracht. Je älter die Patientin ist, desto autonomer sollten die weiteren Schritte festgelegt werden. Dabei muss sorgfältig darauf geachtet werden, dass niemand diesbezüglich überfordert wird und ein Arbeitsbündnis entsteht, dem alle Beteiligten zustimmen können.

Fallbeispiel: Anita, 11 Jahre (restriktive Essstörung)

Anita lebte mit ihrer alleinerziehenden Mutter seit frühester Kindheit in einer Art »symbiotischer« Zweisamkeit, die für beide im Alltag bisher viele Vorteile bot. Die schon länger bestehende Essensrestriktion im Sinne eines sehr selektiven Essverhaltens hatte sich im Alter von elf Jahren zu einer deutlichen Essstörung mit Körperschemastörung entwickelt, die der äußerst besorgten Mutter große Probleme bereitete und dazu führte, dass sie ihre Kontrollen verstärkte und jeglichem Ansatz von auch nur minimalen Autonomiebestrebungen angstvoll begegnete. Der Kinderarzt überwies Anita, nachdem die 3. Gewichtsperzentile unterschritten war. Anitas Motivation war sehr gering, die Erwartungen der Mutter sehr einseitig: Sie wünschte, dass Anita (wieder bzw. endlich) normal essen solle – ansonsten solle sich möglichst wenig verändern. Zunächst war nur die Vereinbarung des Wiegens beim Kinderarzt möglich, die Zurückhaltung bei den Mahlzeiten bezüglich Essensvorgaben und Kommentaren anfangs nicht verhandelbar – und wurde auch von der Tochter als Ausdruck ihres Sicherheitsbedürfnisses weiterhin klar eingefordert. Es wurde unter heftigen Protesten Anitas gemeinsam ein unteres Einweisungsgewicht festgelegt, die Mutter fühlte sich hierdurch jedoch gut unterstützt und war in der Lage, mit dem Widerstand Anitas positiv umzugehen.

Es empfiehlt sich beim Gewicht anfangs je nach Situation einen Spielraum von 1–2