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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74097-649-1
»Mir tut es auch leid, Peterle. Aber du bist doch schon ein großer, verständiger Junge und kannst einsehen, daß es so das Beste für uns beide ist.« Volker Eckstein, der hochgewachsene sechsunddreißigjährige Vater des fast weißblonden Jungen runzelte die Stirn.
Ihm war der Entschluß nicht leicht gefallen, aber er wußte, es mußte sein. Marga, seine Frau, hatte ihre Familie wegen eines anderen Mannes verlassen, und nun mußte er eben sehen, wie er alleine zurechtkam.
Am meisten litt natürlich der zehnjährige Peter unter der Trennung von der Mutter, die im Überschwang der Gefühle sogar auf ihren Sohn verzichtet hatte.
Volker war natürlich auch nicht bereit gewesen, Peter, den er sehr liebte, herzugeben. Trotzdem konnte er sich nicht so um den Jungen kümmern, wie er es gern getan hätte, denn er mußte ja Geld verdienen. Nachdem seine Frau so einfach ohne Streit und ohne Vorwarnung gegangen war, hatte er es in Rothenburg nicht mehr ausgehalten. Zum Glück hatte er in der Tageszeitung das Inserat einer Maibacher Baufirma gelesen, die einen qualifizierten Prokuristen suchte.
Sofort hatte er sich beworben, und nach einem Vorstellungsgespräch, das seiner Meinung nach sehr gut verlaufen war, hatte man ihm den Vertrag vorgelegt.
Bei seiner Fahrt durch Maibach war er dann auch auf ein Hinweisschild gestoßen, das ihn von der Existenz eines privaten Kinderheims unterrichtete, das ihm wie gerufen kam.
Heute nun wollten sich Vater und Sohn, die inzwischen nach Maibach übersiedelt waren, dieses Kinderheim ansehen, denn die Zeit drängte. In einer Woche mußte Volker Eckstein bei der Firma Braun und Sohn anfangen. Bis dahin mußte geregelt sein, was während seiner Arbeitszeit mit seinem Sohn Peter geschah.
»Ich will aber nicht in ein Kinderheim«, begehrte der Junge auf und stampfte mit dem Fuß: »Das sieht ja aus, als ob ich noch ein Baby wäre. Ich kann gut allein zu Hause bleiben, bis du am Abend kommst.«
»Das glaube ich dir sogar, mein Sohn. Trotzdem hätte ich in meinem Büro keine Ruhe, wenn ich dich allein in der Wohnung wüßte. Nein, Peterle, es hilft nichts. Wir werden es uns wenigstens ansehen. Vielleicht gefällt es dir dort besser als du denkst. Und jetzt beeile dich, sonst kommen wir zu spät.«
Peter rührte sich nicht. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schaute seinem Vater bitterböse beim Auspacken ihrer restlichen Habseligkeiten zu. »Wo ist nur mein gutes Hemd hingekommen«, ärgerte sich Volker und legte die Kleidungsstücke fein säuberlich auf den Wohnzimmertisch. »Ich habe es doch selber in die Tasche hineingetan.«
Peter grinste zufrieden. Er hätte seinem Vater ja helfen können, denn er wußte, wo das Hemd versteckt war. Aber damit hätte er nur sich selbst geschadet, denn er wollte um keinen Preis in dieses Heim.
»Peterle, warum lachst du?« fragte der Mann erstaunt. Schon eine ganze Weile hatte er seinen Sohn beobachtet, und der zufriedene Gesichtsausdruck des Jungen hatte ihn stutzig gemacht.
»Peter! Rück sofort mein Hemd heraus. Du weißt genau, daß wir nach Sophienlust fahren müssen. Ich habe mit der Heimleiterin, einer gewissen Frau Rennert, bereits einen Termin fest vereinbart. Die Frau war übrigens sehr nett. Und jetzt gib das Hemd her.«
Volker Eckstein verstand sonst jeden Spaß, aber seit Marga ihn verlassen hatte, fühlte er sich so leer und ausgelaugt, daß er sich am liebsten ins Bett gelegt hätte, um nichts mehr hören und sehen zu müssen.
Das aber ging natürlich nicht, denn er mußte ja für sich und seinen Sohn sorgen. Marga konnte für sich selbst aufkommen, denn sie hatte von ihren Eltern ein nicht unbeträchtliches Vermögen geerbt, das ihr zumindest für die nächsten Jahre ein sorgenfreies Leben garantierte.
»Hier hast du dein Hemd, Vati. Aber gern gebe ich es dir nicht, das kannst du mir glauben.« Zerknirscht und offensichtlich mit größtem Widerwillen hielt Peter seinem Vater das Gewünschte hin. Die dunklen Augen des Zehnjährigen waren zu schmalen Schlitzen zusammengepreßt, und um seinen Mund zuckte es.
»Schau, Peterle«, versuchte es Volker Eckstein noch einmal und setzte sich auf den einzigen Stuhl, der sich bis jetzt in seinem Schlafzimmer befand. »Wir zwei Männer müssen doch zusammenhalten, wenn wir beieinander bleiben wollen. Siehst du das ein?«
»Ja, Vati«, kam die leise Antwort. Der Junge mit dem wirren blonden Haar schaute hartnäckig auf den Boden. Nichts sah er ein, und verstehen konnte er es schon gar nicht, warum auf einmal alles so anders war. Noch an Weihnachten war die Mami bei ihnen gewesen, und sie hatten zusammen gelacht, gesungen und Geschenke ausgepackt. Und jetzt?
»Und weil wir zusammenhalten, darum mußt du jetzt auch in das Kinderheim, vorausgesetzt natürlich, daß es einigermaßen passabel ist«, schränkte Volker ein, um seinen Sohn wenigstens ein bißchen zu trösten.
»Aber wenn es mir nicht gefällt, dann darf ich wieder mit dir zurückfahren, einverstanden?«
»Du sollst nicht mit mir handeln, mein Sohn«, grollte der Mann, obwohl er insgeheim schmunzeln mußte. Was würde er nur anfangen, wenn Marga den Jungen mitgenommen hätte? Für wen würde er dann noch arbeiten gehen? Sein ganzes Leben hätte dann seinen Sinn verloren.
Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, daß sie sich beeilen mußten, wenn sie den Termin noch einhalten wollten. Rasch schlüpfte er aus dem bequemen Pullover und zog das weiße Hemd an. Die Krawatte saß ein bißchen schief, aber das beachtete er in der Eile gar nicht mehr.
»Los jetzt, Peter, zieh deine Schuhe an, damit wir endlich gehen können.« Volker Eckstein holte die Tasche, in die er die nötigsten Dinge seines Sohnes gepackt hatte, denn er hoffte inständig, daß das mit dem Kinderheim klappen würde.
Murrend band sich Peter die Schuhe zu und stand dann auf. »Ich weiß jetzt schon, daß es mir dort nicht gefällt.«
Volker hatte bereits die Eingangstür der vor kurzem gemieteten Wohnung geöffnet und war im Begriff zu gehen. Ihm war dieser Gang mindestens ebenso unangenehm wie seinem Sohn, und darum wollte er ihn auch so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Schweigend marschierten Vater und Sohn die Stufen hinunter und stiegen in das Auto ein. »Du wirst sehen, Peterle...«, versuchte es Volker noch einmal, aber der Junge winkte nur ab.
»Gib dir keine Mühe, Vati. Du mußt genauso erst abwarten wie ich«, antwortete er altklug.
Volker lächelte. »Du hast recht, Peter. Wir werden erst alles ganz genau prüfen, bevor wir uns entschließen. Übrigens habe ich gehört, daß zu diesem Kinderheim auch noch ein Tierheim gehören soll. Das wäre doch was für dich, oder nicht?«
Peter zuckte die Schultern. »Schon«, gab er dann zu, aber seine Miene blieb unbeweglich. »Aber das bringt mir ja nichts, wenn ich viel lieber zu Hause bei dir wäre.«
Volker Eckstein beschloß, daraufhin nichts mehr zu sagen. Es fiel ihm auch beim besten Willen nichts ein, was er noch als Pluspunkt hätte anführen können.
»Und wie soll das mit der Schule weitergehen?« fragte der Junge nach einer Weile aggressiv. Er hatte bereits die Wegweiser entdeckt, die das Kinderheim Sophienlust ankündigten.
»Jetzt warte doch erst mal ab. Das müssen wir alles mit Frau von Schoenecker besprechen. Soviel ich mitbekommen habe, ist sie für alles verantwortlich. Dann wird sie uns auch sagen können, wie du in die Schule kommst.«
»Du weißt aber, daß ich nächstes Schuljahr ins Gymnasium will. So etwas gibt es in diesem Maibach bestimmt nicht.«
»Jetzt hör aber auf mit deiner Unkerei, Peter. So langsam reißt mir nämlich der Geduldsfaden, das kann ich dir sagen. Wenn dieses Kinderheim nichts ist, dann nehme ich dich selbstverständlich wieder mit. Aber wenigstens ansehen können wir es uns doch.« Volker wurde nun wirklich ärgerlich. Ihm fiel es ja auch nicht leicht, seinen Sohn bei fremden Leuten unterzubringen. Aber in diesem Fall ging es eben nicht anders. Peter war noch zu jung, um für sich selbst zu sorgen, während er selbst bei der Arbeit war.
»Da vorne das hohe, schmiedeeiserne Tor, da werden wir hinmüssen«, überlegte Volker laut, während er auf den zweiten Gang herunterschaltete.
»Schon möglich«, gab Peter mürrisch zu und fuhr sich noch rasch mit den Fingern durch seine lockigen Haare.
Volker beobachtete es aus den Augenwinkeln, und mit schmerzhafter Deutlichkeit wurde er wieder an Marga erinnert. Auch sie hatte sich ihre blonden Locken immer so zurückgestrichen, wenn sie erregt oder wütend gewesen war.
Entschlossen zog Volker Eckstein die Handbremse an, nachdem er den Wagen vor dem Tor geparkt hatte. Er war gespannt, was sie in dem großen Haus, von dem er noch kaum etwas erkennen konnte, erwartete.
Kindergeschrei schallte zu ihnen herüber, und Peter horchte erstaunt auf. Das hatte er nicht erwartet, daß Kinder in einem Kinderheim auch lustig sein konnten.
»Komm, mein Sohn, dann stürzen wir uns mal in die Höhle des Löwen. Fressen werden die uns bestimmt nicht gleich, und wenn es gefährlich werden sollte, dann flüchten wir einfach.«
Peter verzog den Mund, aber es wurde kein rechtes Grinsen daraus. Irgendwie war ihm unbehaglich zumute, obwohl ihm die ganze Umgebung eigentlich gut gefiel. Die hohen alten Bäume rauschten bedächtig im Frühlingswind, und der weiße Kies knirschte unter den Schritten von Vater und Sohn.
Es hätte alles so schön und interessant sein können, wenn dieses prächtige Gebäude, das an das alte Herrenhaus, das es einmal war, erinnerte, nicht gerade ein Kinderheim gewesen wäre.
Und dann sah er sie. Ein kleines Stück vom Haus entfernt war eine ganze Schar Kinder aller Altersklassen. Unbeschwert spielten sie, turnten und bauten Burgen in dem großen Sandkasten. Unbändige Lust, mit ihnen zu spielen, überkam den Jungen, der noch nie besonders kontaktfreudig gewesen war.
Sofort merkte Volker, was seinen Sohn bewegte, denn er hatte dessen sehnsüchtigen Blick wohl gemerkt. Fast hatte er den Eindruck, daß dieses Sophienlust genau das Richtige war für Peter, der für sein Alter viel zu ernst und verschlossen war. Vielleicht würde er hier aus sich herausgehen und Anschluß an andere Kinder finden.
»Willst du nicht zu ihnen hinübergehen, während ich das Büro der Heimleiterin suche? Vielleicht kannst du dich schon mal mit ihnen anfreunden.«
Zögernd schaute Peter zu seinem Vater auf. Sein Gesicht war ungewöhnlich blaß, aber das kam von der inneren Zerstreutheit. Volker kannte das von seinem Sohn.
»Wenn du meinst, Vati, dann geh ich halt. Aber… aber du läßt mich nicht allein hier, versprich mir das.«
»Keine Angst, Peterle. Wenn ich mit dieser Frau von Schoenecker gesprochen habe, dann komme ich sofort zu dir und erzähle dir alles. Dann können wir uns immer noch überlegen, was zu tun ist.«
Volker winkte seinem Sohn zu, der langsam auf die Kinderschar zuging, dann machte er sich zielstrebig auf den Weg zu der breiten Freitreppe, die er immer wieder bewundernd anschauen mußte. So ein herrliches, herrschaftliches Haus und dieser wunderbare Park, dessen Ende gar nicht abzusehen war, das beeindruckte ihn. Wie wurde aus so einem pompösen Besitz ein Kinderheim?
Leise quietschte die Tür, als er sie öffnete. Verwundert blieb der Mann in der Halle stehen, die sofort einen behaglichen Eindruck auf ihn machte. Vor dem offenen Kamin lag ein großes Bärenfell, und rechts davon stand ein Tisch, ein bequemes hochlehniges Sofa und mehrere passende Sessel, die mit braunem Leder bezogen waren. Es war angenehm kühl in diesem Raum, der der Mittelpunkt des Kinderheims war.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Überrascht schaute Volker Eckstein, der ganz in die Betrachtung der Bilder an den Wänden vertieft war, auf und entdeckte die hübsche junge Frau, die die teppichbespannte Treppe herunterkam. Der Kleidung nach mußte sie eine Krankenschwester oder sonst irgendeine Aufsichtsperson sein, stellte er für sich fest.
»Mein Name ist Eckstein«, antwortete Volker zögernd. »Ich bin angemeldet.«
»Ach ja, Herr Eckstein, guten Tag. Frau Rennert hat mir von Ihrem Anruf erzählt. Ich bin Schwester Regine. Kommen Sie bitte mit. Frau von Schoenecker erwartet Sie.«
Regine Nielsen, eine blonde, aparte Frau von achtundzwanzig Jahren, führte Volker Eckstein zum Biedermeierzimmer, in dem Denise von Schoenecker gewöhnlich ihre Gäste empfing. Die Kinderschwester klopfte kurz an und ließ dann den Mann eintreten.
»Herr Eckstein«, stellte sie ihn noch vor und zog sich dann aber zurück.
Die Frau, die sich bei seinem Eintreten erhoben hatte, war groß und schlank, und ihr schwarzes Haar, das in weichen Wellen bis auf die Schultern fiel, verlieh ihr ein apartes, temperamentvolles Aussehen.
»Guten Tag, Herr Eckstein. Ich bin Denise von Schoenecker. Bitte, kommen Sie doch näher.« Freundlich reichte ihm die Frau ihre Hand und deutete auf den zierlichen weißen Biedermeierstuhl, der vor ihrem Schreibtisch stand.
»Haben Sie Ihren Sohn mitgebracht?« fragte die Verwalterin, als der Besucher immer noch schwieg.
Volker nickte. »Ja, Peter ist im Park bei den anderen Kindern. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«
»Aber natürlich nicht.« Denise lächelte verbindlich. Ihr gefiel dieser etwas ernste Mann zwar gut, aber sie wurde nicht so recht schlau aus seinem Verhalten.
»Peter ist...« Der Mann brach ab und kratzte sich verlegen am Kinn. »Er wollte eigentlich nicht so recht hierher«, gestand er dann.
»Das ist verständlich. Welches Kind geht schon gern in ein Kinderheim«, antwortete Denise. »Aber ich bin sicher, daß sich Peter schnell bei uns eingewöhnen wird. Bis jetzt haben sich noch alle Kinder eingelebt, auch wenn sie sich am Anfang gegen einen Aufenthalt bei uns gesträubt haben. Unser Heim ist auch nicht mit anderen zu vergleichen«, fuhr Denise nicht ohne Stolz fort. »Wir leben mehr wie eine große Familie zusammen. Das merken die Kinder bald.«
»Als meine Frau uns vor gut zwei Monaten verließ, da wußte ich nicht, was ich anfangen sollte. Zuerst gab ich die Wohnung auf, denn dort erinnerte uns alles an Marga. Das Angebot der Firma Braun und Sohn erschien mir wie ein Geschenk des Himmels und ab übernächster Woche arbeite ich dort als ein Prokurist.«
»Das ist ein sehr guter Betrieb«, stimmte Denise zu und machte sich ein paar Notizen. »Wie hat Peter eigentlich die Trennung von seiner Mutter verkraftet?«
»Ach, eigentlich ganz gut, soweit ich das beurteilen kann. Nur manchmal fällt mir auf, daß sein Blick ganz leer und ausdruckslos wird. Und wenn ich ihn darauf anspreche, dann stottert er, daß ich ihn kaum verstehen kann.«
»Armer Junge«, murmelte die Verwalterin mitfühlend. »Peter leidet wahrscheinlich mehr als Sie ahnen. Er kann es nur nicht zeigen, daher die Sprachstörungen und der abwesende Blick. Hoffentlich können wir ihm helfen.« Denise von Schoenecker legte Volker Eckstein den Aufnahmebogen hin, den er noch unterschreiben mußte.
Einen Augenblick lang zögerte der Mann noch. Das schlechtes Gewissen plagte ihn, weil er Peter versprochen hatte, erst noch mit ihm darüber zu sprechen, ehe er sich entschied.
Aber in seiner Situation gab es nicht viel zu entscheiden, weil er gar keine andere Möglichkeit hatte. Er mußte Peter hierlassen, weil er niemanden kannte, der sonst für den Jungen sorgen sollte.
Grenzenlose Wut auf Marga überkam ihn. Er knirschte mit den Zähnen, weil er das Gefühl hatte, alles zerschlagen zu müssen, um sich auf diese Weise abzureagieren.
Denise ahnte, was in dem Mann vorging, der plötzlich bleich geworden war. Er tat ihr leid, aber mehr noch bemitleidete sie den Jungen, den sie noch gar nicht kannte.
»Sie können ganz beruhigt sein, Herr Eckstein. Ihrem Sohn wird es hier gefallen, da bin ich ganz sicher. Und Sie dürfen ihn auch so oft besuchen, wie Sie mögen und Zeit haben.«
»Ach, da fällt mir noch etwas ein, das ich Sie fragen muß.«
Er lächelte ein bißchen. »Peter hat es mir extra ans Herz gelegt. Wie ist das mit der Schule? Nächstes Jahr möchte mein Sohn aufs Gymnasium, falls er gut genug abschneidet.«
»Und wo ist da das Problem? Maibach hat eine sehr gute Volksschule, in die mein Sohn Henrik übrigens auch noch geht. Nächstes Jahr wird er auch, vorausgesetzt er schafft es, aufs Gymnasium überwechseln. Haben Sie Peter noch nicht angemeldet?«
»Das werde ich in absehbarer Zeit tun«, gab Volker ein bißchen kleinlaut zu. Er hatte es total vergessen, aber das war nicht weiter verwunderlich, nach allem, was in den letzten Wochen auf ihn eingestürmt war.
»Mit dem Schulweg wird es auch keine Schwierigkeit geben. Zu unserem Kinderheim gehören rote Kleinbusse, mit denen unsere Kinder in die Schule gefahren und auch wieder abgeholt werden. Sie sehen also, daß Sie sich gar keine Sorgen zu machen brauchen. Möchten Sie sich jetzt noch die Räume ansehen?« fragte die Gutsbesitzerin, nachdem Volker Eckstein den Aufnahmeantrag unterschrieben hatte.
Volker nahm dankend an und ließ sich von Denise durch das ganze Haus führen. Er war überrascht, wie gemütlich und vor allem kindgerecht die Zimmer eingerichtet waren.
»Da wird sich mein Peter bestimmt wohl fühlen«, gestand er, als sie sich in der Halle voneinander verabschiedeten.
»Das glaube ich auch. Am besten, ich begleite Sie noch durch den Park, dann können Sie mir Ihren Sohn gleich vorstellen.«
Peter saß bei den anderen Kindern am Sandkasten und schaute ihnen beim Spielen zu. Selbst beteiligte er sich daran nicht, aber das war auch nicht weiter verwunderlich. Als Einzelkind war er nicht besonders kontaktfreudig.
Als er seinen Vater mit Frau von Schoenecker auf ihn zukommen sah, stand er sofort auf und lief ihnen entgegen.
»So, du bist also der Peter«, sagte Denise freundlich und reichte dem Jungen die Hand. »Grüß dich, Peter. Wie ich sehe, hast du dich mit einem Teil unserer Kinder schon angefreundet.«
Schüchtern gab der Junge der fremden Frau seine Hand, die noch ganz sauber war.
Ein enttäuschter Blick traf seinen Vater, der unbehaglich daneben stand. Volker wußte, was er zu bedeuten hatte, und er kam sich abgrundtief schlecht vor. Am liebsten hätte er seinen Sohn auf der Stelle wieder mitgenommen.
»Also, Peterle, morgen abend komme ich wieder. Sei schön lieb und halt die Ohren steif.« Zärtlich wühlte er in dem dichten Haar seines Sohnes. Dann drehte er sich hastig um und ging davon. Er konnte den beinahe verächtlichen Blick seines Sohnes nicht mehr ertragen.
*
Seufzend packte Denise von Schoenecker die letzten Sachen, die sie noch in dem Schrank vorfand, in die Tasche, die sie mitgebracht hatte. Heute mußte die kinderliebe Frau eine traurige Pflicht erfüllen. Sie sollte den kleinen Haushalt von einer früheren Angestellten von Sophienlust auflösen, die vor einer Woche an einer unheilbaren Krankheit gestorben war.
Agnes, das fünfjährige Töchterchen von Gisela Müller, stand mit hinter dem Rücken verschränkten Ärmchen dabei und beobachtete neugierig das Treiben der fremden Frau. Sie war ein niedliches Mädchen mit fast schwarzen Kulleraugen und dunklem, stark gelocktem Haar.
»Du wirst staunen, Agnes, wie schön es in Sophienlust ist«, erzählte Denise der Kleinen, die willig mit dem Kopf nickte.
»Ich freue mich auch schon darauf, Tante Isi«, antwortete das Mädchen artig. »Kommt die Mami auch mit?«
»Nein, Herzchen, die Mami kann nicht mitkommen. Weißt du, sie ist jetzt im Himmel. Der liebe Gott hat sie ganz dringend gebraucht, darum nehme ich dich jetzt zu mir. Ich habe schon ganz viele Kinder. Es wird dir sicher gut gefallen.«
»Da hast du bestimmt auch viel Arbeit«, stellte das Mädchen treuherzig fest. »Meine Mami sagt immer, daß ich ihr soviel Arbeit mache, daß sie es gar nicht schaffen kann.«
»Weißt du, Herzchen, deine Mami war sehr krank und müde. Darum hat sie das gesagt. Aber jetzt geht es ihr wieder gut.« Denise zog eine Schublade des kleinen Schreibtisches auf. Vielleicht waren auch hier noch Dinge darin, die Agnes später einmal brauchen würde.
»Was ist denn das?« Überrascht holte die Frau ein schon ziemlich zerlesenes Album heraus, das sich bei genauerem Hinsehen als Photoalbum entpuppte. Denise blätterte kurz darin, aber dann klappte sie es doch wieder zu. Die Bilder weckten wehmütige Erinnerungen in der Frau, denn sie hatte Gisela Müller immer sehr gern gehabt.
Als die junge Frau dann überraschend von Sophienlust weggegangen war, da hatte Denise es lang nicht verstehen können. Sie hatte wohl vermutet, daß da ein Mann dahinterstecken mußte, aber warum Gisela so ein Geheimnis daraus gemacht hatte, das war ihr nicht ganz klar gewesen.
»So, das meiste hätten wir«, stellte die Verwalterin nach einer Weile erleichtert fest. Sie trug die beiden Taschen und den kleinen Koffer zur Eingangstür und ging dann noch einmal durch alle Zimmer. Die Möbel würde die Hausbesitzerin zum Sperrmüll geben, denn allzuviel waren sie bestimmt nicht mehr wert. Und die meisten persönlichen Dinge hatte Denise schon eingepackt.
»Agnes, wo steckst du denn?« Suchend schaute sich Denise von Schoenecker um. Gerade hatte sie das Kind noch gesehen, und nun war es plötzlich verschwunden.
»Agnes?« Aus dem Schlafzimmer hörte die Frau hastiges Hin- und Herlaufen. Was tat die Kleine nur?
Vorsichtig schlich Denise zur Tür. »Was ist denn, Schätzchen?«
»Ich kann meinen Teddy einfach nicht finden, den mir die Mami gekauft hat«, klagte das Mädchen. »Gestern war er noch da, und jetzt ist er fort.«
»Bestimmt haben wir ihn schon eingepackt, Agnes. Wenn wir zu Hause sind, werden wir gleich nachsehen, einverstanden?«
Aber das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ohne meinen Teddy darf ich nicht weggehen«, beharrte sie. »Meine Mami hat gesagt, ich darf ihn nicht verlieren, weil er viel Geld gekostet hat.«
Seufzend schaute sich Denise um. Sie konnte sich beim besten Willen nicht an einen Teddy erinnern. Eingepackt hatte sie ihn auf jeden Fall nicht. Aber wo sollte sie ihn suchen?
Sie ging zum Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Der Feierabendverkehr hatte bereits eingesetzt, und jetzt, Anfang März, begann es noch immer ziemlich früh zu dämmern.
Nachtfahrten waren für Denise ein Greuel, aber heute würde sie nicht drum herumkommen. Sie mußte noch den Teddy suchen, den Agnes unbedingt mitnehmen wollte.
»Wo hast du ihn denn hingelegt? Kannst du dich nicht mehr erinnern?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Vielleicht hat ihn die Mami mitgenommen.«
»Ja, vielleicht, Herzchen«, antwortete Denise, der diese Möglichkeit wie ein Rettungsanker vorkam. »Dann brauchen wir ihn aber auch nicht mehr länger zu suchen. Komm, Agnes, du wirst in Sophienlust soviel Spielsachen finden, daß du den Teddy nicht mehr vermissen wirst.«
Das bildhübsche Mädchen mit den wirren dunklen Locken zuckte die Schultern. »Ich hätte ihn aber so gern.« Sie machte ein paar Schritte auf die Frau zu. Plötzlich hellte sich ihre Miene auf. »Ich weiß«, jubelte sie und rannte davon. Wenige Sekunden später kam sie mit ihrem Teddy auf den Arm zurück. »Er hat in Mamis Bett geschlafen. Jetzt ist es mir wieder eingefallen.«
Das Mitleid mit dem kleinen, heimatlosen Kind trieb Denise die Tränen in die Augen. Zärtlich preßte sie den schmächtigen Körper des Mädchens an sich. »Kleine Agnes«, flüsterte sie, »du sollst es wunderschön haben in Sophienlust, das verspreche ich dir.«
Sie nahm das Mädchen bei der Hand, und dann gingen sie einträchtig zum Auto, das Denise vor dem Haus geparkt hatte. Frau Gerold, die Hauswirtin, hatte schon die Koffer und Taschen hinuntergetragen und auf dem Gehweg abgestellt.
»Sie wissen ja, was mit dem Rest zu machen ist«, sagte Denise mit einem bedeutungsvollen Blick auf Agnes.
»Selbstverständlich, Frau von Schoenecker. Es tut mir ja so leid. Fräulein Müller war ein so reizendes Persönchen. Ich kann gar nicht glauben...«
»Leben Sie wohl, Frau Gerold. Und danke, daß Sie sich um Agnes gekümmert haben.« Die beiden Frauen reichten sich die Hände, und auch Agnes wollte sich von der Frau verabschieden, die so lieb zu ihr gewesen war.
Sie drückte der alten Frau einen schmatzenden Kuß auf die Wange. »Auf Wiedersehen, Tante Gerold. Ich komme dich bald mal besuchen.« Winkend verschwand Agnes im Fond des Autos, während sich die Hauswirtin verstohlen eine Träne aus dem Gesicht wischte.
Vorsichtig lenkte Denise von Schoenecker den Wagen durch die belebten Straßen von Murrhardt. Hier also hatte Gisela die letzte Zeit gelebt.
Für einen Augenblick sah Denise die schmächtige junge Frau vor sich, wie sie ihr damals, vor fast sechs Jahren, die Hand gegeben und sich bedankt hatte. Schon damals war Gisela immer bleich und mager gewesen, aber niemand hatte gewußt, welch furchtbare Krankheit in ihr geschlummert hatte. Sie war glücklich gewesen, oder zumindest hatte sie so getan. Denise war sich da nicht ganz sicher.
Von diesem Tag an hatte sie nichts mehr von Gisela Müller gehört. Bis vorgestern, als Frau Gerold sie angerufen und ihr von Giselas Tod erzählt hatte. Die Sorge um ihr Kind hatte die Mutter bis zum letzten Atemzug belastet, und nur das Versprechen der Hauswirtin, sofort Denise von Schoenecker zu verständigen, wenn sie nicht mehr am Leben war, hatte die Kranke einigermaßen beruhigen können.
Zuerst hatte Frau Gerold nicht gewußt, wo sie diese Frau suchen sollte, aber dann hatte ihr bei der Beerdigung eine andere Frau erzählt, daß Gisela früher in Sophienlust beschäftigt gewesen war. Und durch diese Information war die gutmütige Hauswirtin dann an die richtige Adresse gekommen.
»Nein, von einem Mann weiß ich nichts«, hatte Frau Gerold auf Denises vorsichtige Fragen geantwortet. »Aber Fräulein Müller war bereits im dritten Monat schwanger, als sie hier einzog. Sie hatte keine Arbeit, und so übertrug ich ihr hier im Haus einige Aufgaben, für die ich sie dann auch entlohnte, damit sie leben konnte. Gisela war mir fast wie eine Tochter, die mir das Schicksal ja leider nie vergönnt hat.«
Ganz in Gedanken versunken bog Denise bei Sulzbach in die B 14 ein. Auch hier herrschte ziemlich reger Verkehr, denn die Leute fuhren wie immer um diese Zeit von der Arbeit nach Hause. Jeder hatte es eilig, kaum einer schaute nach links oder nach rechts.
Agnes hielt ihren geliebten Teddy im Arm und flüsterte ihm ständig etwas zu.
Denise lächelte, als sie einen Augenblick lang das Kind im Rückspiegel beobachtete. Agnes war ein bezauberndes Mädchen, das die Herzen der anderen Kinder von Sophienlust bestimmt und rasch für sich gewinnen würde.
Als sie an Oppenweiler vorbeifuhren, war es bereits finstere Nacht. Die Straßenlaternen warfen gespenstische Schatten auf den Gehweg, und Denise brauchte jetzt volle Konzentration. Gut eine halbe Stunde Fahrzeit lag noch vor ihnen, bis sie endlich in Sophienlust waren. Die Frau war froh, daß Agnes auf dem Kindersitz schlief.
Links von ihnen lag Backnang mit seinen unzähligen Lichtern. Und rechts dehnten sich Wiesen und Felder, die man jetzt in der Dunkelheit jedoch nicht erkennen konnte. Denise aber erinnerte sich gut daran, denn sie war schon öfter mit ihrem Mann Alexander und ihren beiden Söhnen Nick und Henrik hier spazierengegangen.
Nun konnte das Viadukt nicht mehr allzu fern sein, überlegte Denise und hoffte, daß die Ampel auf grün zeigen würde, wenn sie kam. Schon seit Monaten wurde die Straße verbreitert und der Verkehr an der Baustelle durch eine Ampelanlage geregelt.
Müdigkeit stieg in der Frau auf, und die Augen fielen ihr fast zu. Am liebsten hätte sie das Radio eingeschaltet, aber damit hätte sie womöglich Agnes aufgeweckt.
Natürlich war die Ampel auf rot. Langsam ließ Denise den Wagen ausrollen, bis er knapp vor dem Hindernis zum Stehen kam. Sie befand sich ganz allein auf der Brücke, die ziemlich hoch lag. Nur eine Lampe, die vorübergehend hier aufgestellt war, spendete spärliches Licht.
Und plötzlich sah sie es. Der Schreck fuhr Denise durch alle Glieder. Sie blieb einen Moment wie erstarrt sitzen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Eine Gestalt schwang sich über das Geländer, und die Verwalterin des Kinderheims fürchtete schon, daß die Person jeden Augenblick abstürzen könnte. Aber noch stand sie, an das Geländer geklammert und schien zu zögern.
Nun gab es für Denise kein Halten mehr. Hier war jemand lebensmüde, und sie war die einzige weit und breit, die helfen konnte. Zumindest versuchen mußte sie es.
Leise öffnete sie die Autotür und stieg aus. Zum Glück war die Straße an dieser Stelle breit genug, daß notfalls andere Autos an ihr vorbeifahren konnten. Tausend Gedanken wirbelten der Frau durch den Kopf, während sie rasch auf die andere Straßenseite hinüberlief. Hoffentlich kam sie nicht zu spät, und hoffentlich machte sie jetzt keinen Fehler. Das Leben eines Menschen hing davon ab, wie sie sich verhielt.
Denise wußte, daß man Lebensmüde nicht erschrecken durfte. Aber ansprechen mußte sie diesen Menschen, der sich offensichtlich in höchster Not befand.
»Warum wollen Sie es tun?« fragte sie leise.
Als die Person sich umdrehte, erkannte Denise, daß es sich um eine Frau handelte, oder besser noch um ein Mädchen. Auf dem Kopf trug es eine Schildmütze, die ihm ein jungenhaftes Aussehen verlieh. Die schlanke Gestalt steckte in einem dunklen Overall, der dieses Aussehen noch unterstrich. So war sie bei der herrschenden Dunkelheit kaum zu erkennen, und auch Denise hätte das Mädchen nicht bemerkt, wenn nicht die Ampel gerade auf rot umgeschaltet und sie dadurch Zeit gehabt hätte, sich ein wenig umzusehen.
»Gehen Sie weg. Lassen Sie mich in Ruhe«, kam die hastige Antwort. »Verschwinden Sie endlich.«
»Warum wollen Sie es tun?« wiederholte Denise ihre Frage von vorhin. Vorsichtig umfaßte sie den Oberarm des Mädchens.
»Sie können mich nicht aufhalten, also verschwinden Sie.«
»Da haben Sie recht«, gab Denise zu. »Wenn Sie wirklich springen wollen, dann kann ich es nicht verhindern. Aber Sie sind sich ja gar nicht sicher, ob Sie das wirklich wollen, sonst wären Sie längst gesprungen.«
»Haben Sie eine Ahnung.« Die Unbekannte lachte bitter auf. »Ich habe es mir lange überlegt und bin zu dem Schluß gekommen, daß das für mich die einzige Lösung ist. Für mich gibt es jetzt keinen Platz mehr auf dieser Welt. Mein Leben ist kaputt, weil der Mann, den ich liebe, tot ist.«
Insgeheim atmete Denise schon ein bißchen auf. Wenigstens war die junge Frau bereit, zu reden. Und das war immerhin schon etwas, denn dann bestand zumindest ein bißchen Hoffnung.
»Und Sie meinen, das ist nun Grund genug, Ihr Leben wegzuwerfen, als ob es keinen Wert mehr hätte? Glauben Sie mir, irgendwie wird es auch für Sie weitergehen.« Denise wußte, daß ihre Worte hart klangen, aber mit Mitleid hätte sie dieser Unglücklichen nicht helfen können.
»Und Sie meinen, mir Vorhaltungen machen zu müssen? Sie haben ja gar keine Ahnung, wie hart das Leben sein kann. Jochen war der einzige Mann in meinem Leben, der mir ein bißchen Geborgenheit, ein bißchen Liebe geschenkt hat. Und jetzt ist er tot, tot für immer. Und ich bleibe allein zurück, mit seinem Kind unter dem Herzen, von dem er noch nicht einmal etwas gewußt hat.« Trocken schluchzte sie auf und wagte einen ängstlichen Blick in die Tiefe.
»Kommen Sie doch, ehe Sie noch abstürzen«, versuchte es Denise noch einmal. »Sie wollen eigentlich gar nicht springen, sonst hätten Sie es längst getan. Warten Sie, ich helfe Ihnen.«
Aber die junge Frau wehrte sich noch immer. »Hauen Sie endlich ab mit Ihren klugen Reden, die mir auch nicht helfen können. Ohne Jochen hat mein Leben keinen Sinn mehr.«
»Und sein Kind? Was meinen Sie, was Ihr Jochen sagen würde, wenn er wüßte, daß Sie sein Kind umbringen wollen? Ich glaube nicht, daß er das verstehen würde.«
Wieder schaute die Lebensmüde zögernd in die Tiefe. Ein kalter Schauer rann über ihren Körper, und Denise spürte das Beben, das auch auf sie selbst übergriff. Sie wußte, daß sie es sich niemals würde verzeihen können, wenn sie hier versagte.
Die Ampel schaltete auf Grün um, und in der Ferne sah sie die Scheinwerfer eines Autos, das sich langsam näherte. Anscheinend hatte der unbekannte Fahrer begriffen, daß er sich beeilen mußte, wenn er noch durchfahren wollte, denn er gab plötzlich Gas und kam rasch auf sie zu.
Denise betete inständig darum, daß er sie bemerken und ihr zu Hilfe eilen würde, aber nichts dergleichen geschah. Ohne anzuhalten, fuhr das Auto an ihnen mit abgeblendeten Scheinwerfern vorbei.
Die Enttäuschung trieb Denise Tränen in die Augen. noch fester hielt sie den Arm des Mädchens umklammert, das jeden Moment in den Abgrund stürzen konnte.
»Bitte, kommen Sie zurück. Dann können wir über alles in Ruhe reden«, bat sie.
Die Fremde gab keine Antwort. Sie schien zu überlegen.
»Ich bin sicher, daß wir gemeinsam einen Ausweg finden werden.«
»Niemals!« Plötzlich begann das fremde Mädchen zu weinen, und jetzt wußte Denise, daß sie gewonnen hatte.
»Ein Leben ohne Jochen ist für mich kein Leben mehr. Er war mein ein und alles.«
»Sie sind noch sehr jung und haben das Leben noch vor sich«, sagte Denise mitfühlend. »Sehen Sie, ich habe ein kleines Mädchen im Auto. Agnes ist fünf Jahre alt, ihre Mami ist vor einer Woche an einer schrecklichen Krankheit gestorben. Die Kleine hat keinen Vater, weil niemand ihn kennt. Seinen Namen hat die Mutter mit ins Grab genommen. Wie gern hätte Gisela gelebt und selbst für ihr Kind gesorgt. Aber das Schicksal hat es eben anders bestimmt. Ich habe Agnes gesagt, daß der liebe Gott ihre Mami im Himmel dringend gebraucht hat. Vielleicht braucht er Ihren Jochen auch.«
Ein kleines trauriges Lächeln stahl sich über das schmale Gesicht des weinenden Mädchens, und Denise stellte überrascht fest, wie hübsch es eigentlich war.
»Haben Sie noch Eltern oder Geschwister?«
»Nein, niemanden mehr. Darum wollte ich auch Schluß machen. Es hat ja doch alles keinen Sinn mehr.« Sie taumelte. In letzter Sekunde konnte Denise sie noch aufhalten.
»Jetzt kommen Sie endlich zurück. Sie haben sich doch längst für das Leben entschieden.«
»Für was für ein Leben denn? Eine ledige Mutter ohne Heim und ohne Zukunft. Was ist das für ein Leben, das mich erwartet, das ich meinem Kind bieten kann? Mit Jochen zusammen wäre das etwas geworden, aber so? Nein, nein, es ist zwar lieb von Ihnen gemeint, aber das ist die beste Lösung. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.«
»Jetzt seien Sie aber vernünftig«, antwortete Denise härter, als sie beabsichtigt hatte. Damit aber hatte sie genau den richtigen Ton getroffen. »Sie sind nicht allein, denn ich bin ja auch noch da. Wahrscheinlich war es Schicksal, daß wir uns begegnet sind. Ich leite ein privates Kinderheim, das meinem Sohn gehört. Wenn Sie möchten, dann werden Sie und Ihr Kind bei uns ebenfalls ein schönes Plätzchen finden, solange Sie wollen.«
»Sie haben Arbeit für mich?« fragte das Mädchen ungläubig und begann tatsächlich, über das Geländer zu steigen. »Oder wollen Sie mich bloß von hier weglocken, damit ich nicht hinunterspringe?« Ihr Blick wurde schon wieder mißtrauisch.
»Jetzt kommen Sie schon. Merken Sie nicht, daß es anfängt zu regnen? Ich habe keine Lust, wegen Ihnen bis auf die Haut naß zu werden.« Nur schnell weg vom Geländer, schoß es Denise durch den Kopf, und sie zog die Fremde eilig zu ihrem wartenden Auto.
»Und jetzt verraten Sie mir, wie Sie heißen«, sagte sie erleichtert, als sie endlich beide im Auto saßen. Denise kam sich vor, als hätte sie einen langen Waldlauf hinter sich, so müde war sie. Voller Sehnsucht dachte sie an ihren Mann Alexander und an ihr weiches warmes Bett, das noch mindestens zwei Stunden auf sie würde warten müssen.
Zuerst galt es, Agnes unterzubringen, und dann wollte sie sich auch noch um dieses verzweifelte Mädchen kümmern, ehe sie an ihre eigenen Bedürfnisse denken konnte.
»Ich heiße... Sabine Kroff«, antwortete das Mädchen leise und rieb seine schmalen Hände gegeneinander. Überhaupt war die junge Frau sehr zierlich, ja, fast mager, das sah Denise jetzt erst, als sie neben ihr saß.
»Und ich bin Denise von Schoenecker. Die Kinder von Sophienlust nennen mich Tante Isi, und wie ich sehe, sind Sie ja auch noch fast ein Kind. Also, wenn Sie möchten, dann dürfen Sie mich auch so nennen.«
Sabine lächelte dankbar. »Sie wollen mir also wirklich helfen, ... Tante... Isi? Gibt es so etwas überhaupt noch, oder bin ich schon längst tot und im Himmel?«
»O nein, Sabine, so schnell geht das nun auch wieder nicht. Eine Weile müssen Sie schon noch auf unserer guten Erde bleiben, und ich bin sicher, daß die Zeit kommen wird, wo es Ihnen wieder gefällt.«
»Vielleicht haben Sie recht«, schluchzte Sabine plötzlich auf und preßte die Hände vors Gesicht.
»Sind wir schon da, Tante Isi?« Verschlafen rieb sich die kleine Agnes die Augen. »Meine Mami! Ist meine Mami doch noch mit uns gekommen?« rief das Kind überrascht aus. »Tante Isi, warum weint meine Mami denn?«
Fest umklammerte Denise das Lenkrad. Die Geschehnisse des heutigen Tages drohten über ihre Kraft zu gehen, dabei war sie noch nicht mal am Ziel.
Als sie endlich die Lichter von Sophienlust erblickte, hätte sie am liebsten vor Freude geweint.
*
»Ja, ich komme ja schon.« Hartnäckig schrillte das Telefon weiter, und die junge, gutaussehende Frau in dem weinroten Morgenrock erhob sich aus ihrem bequemen Sessel. Sie hatte kurze, blonde Haare, die sich an den Schläfen leicht kringelten. Ihre Haut war blaß und ihre Gesichtszüge ebenmäßig.
»Eckstein«, meldete sie sich, und ihre Stimme vibrierte vor Erregung.
»Hallo, Marga. Ich bin es, Manfred. Wie sieht es aus? Hast du heute nachmittag Zeit für mich?«
»Dumme Frage«, antwortete die Frau grimmig. »Für dich habe ich immer Zeit. Was glaubst du, weshalb ich meinen Mann verlassen habe.«
»Laß bitte deine makaberen Witze, Marga. Du weißt, daß ich für solche Anzüglichkeiten nichts übrig habe.« Die Stimme des Mannes klang verärgert.
»Tut mir leid, Manfred, ich wollte dich nicht beleidigen. Was hast du vor heute?« Sie versuchte, ihn abzulenken, und es gelang ihr auch.
»Eigentlich nicht viel. Ich dachte, wir gehen ins Lamm zum Mittagessen. Gegen Abend können wir dann in die Stadt fahren, nachdem wir unseren Nachmittagsspaziergang hinter uns haben, und dort gepflegt dinieren gehen. Was hältst du davon? Den Tag können wir ja dann mit einem schönen Kinofilm ausklingen lassen.«
»Einverstanden, Manfred. Wann kommst du?«
»So etwa in zwei Stunden. Ich bin im Büro noch nicht ganz fertig, aber bis dahin kann ich es schon einrichten.«
»Gut, Manfred. Du, ich freue mich.« Atemlos wartete sie auf seine Antwort, aber er sagte nicht das, was sie sich erhofft hatte.
»Also dann, bis nachher. Ich muß mich beeilen, wenn ich es schaffen will. Mach dich ein wenig hübsch für mich.«
Ehe Marga noch antworten konnte, hatte er schon aufgelegt. Wie immer, wenn sie mit Manfred Brecht gesprochen hatte, blieb ein schaler Nachgeschmack zurück, der ihr leichtes Unbehagen verursachte. Aber ich liebe ihn doch, sagte sich die Frau immer wieder, bis sie davon überzeugt war.
Seufzend ließ sie sich in den Sessel fallen und schlürfte genüßlich den Kaffee, der inzwischen bereits kalt geworden war. Sie merkte es nicht einmal.
Gedankenverloren hielt sie ein Bild in ihren Fingern mit den rot lackierten Nägeln, das das Gesicht eines hübschen blonden Jungen zeigte.
»Wie mag es dir wohl gehen, Peterle?« sagte sie etwas wehmütig und hauchte einen Kuß auf den lachenden Mund des Kindes. Wie hatte sie nur so dumm sein und auf ihren Sohn verzichten können, fragte sie sich wohl zum hundertsten Mal. Peter war ihr ganzer Stolz gewesen und ihm hatte auch ihre ganze Liebe gehört.
Ob Volker gut mit dem Jungen zurechtkam? Sicher, denn Peter war ein williges, folgsames Kind. Ob er sie, seine Mutter, wohl vermißte?
Nachdenklich betrachtete Marga ihre gepflegten Hände. Wie lange hatte sie sich die Nägel nicht mehr lackiert, hatte keine Zeit und auch kein besonderes Interesse für ihr Äußeres gehabt.
Und nun? Nun hatte sie nur noch Zeit. Sie wußte schon morgens, wenn sie aufstand, nicht, was sie machen sollte. Vor Langeweile stieg sie dann meistens nach dem Frühstück wieder ins Bett, denn vor elf Uhr rief Manfred niemals an. Und ohne den Mann erfüllte sie gähnende Leere.
Marga konnte sich gar nicht vorstellen, was sie früher ohne ihn angefangen hätte. Zugegeben, Volker war ja ganz nett gewesen, und er hatte sie auch immer, wie man so schön sagt, auf Händen getragen, aber war das wirklich alles, was sie noch vom Leben zu erwarten hatte?