Meersalzküsse
Für Lea und Eileen
Tanja Janz wollte schon als Kind Schriftstellerin werden.
Doch zunächst siegte die Vernunft über ihre Leidenschaft und stattdessen
wurde sie erst einmal Englisch- und Deutschlehrerin. Als die Geschichten in
ihrem Kopf aber keine Ruhe gaben, begann Tanja Janz, sie aufzuschreiben.
Und merkte, dass sie nicht mehr damit aufhören wollte. Seitdem schreibt sie
und unterrichtet weiterhin im Ruhrgebiet. Neben ihrer Liebe zum Schreiben,
dem heimischen Fußballverein und dem Ruhrgebiet schwärmt sie auch
für England und die nordfriesische Küste, weshalb ihre Geschichten
meistens in London oder St. Peter-Ording spielen.
1. Auflage 2018
© 2018 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: zero MEDIA GmbH, unter Verwendung von Motiven
von GettyImages (© Caiaimage/Sam Edwards, Angelika, Mark Gerum)
und FinePic®, München
ISBN 978-3-401-80792-8
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Prolog
Drei Jahre zuvor
Nebelfelder lagen an diesem Sonntagmorgen über der menschenleeren Sandbank und saugten die Strahlen der Oktobersonne auf wie ein Schwamm. Im morgendlichen Dunst erhoben sich die Pfahlbauten, in denen Restaurants und Cafés beheimatet waren, majestätisch in luftigen sieben Meter Höhe über dem Strand.
Auch die Segelschule von St. Peter-Ording, die sich direkt am Ordinger Strand befand, war in den fahlen Schleier gehüllt, der sie vom Rest der Halbinsel abzuschneiden schien. Vor dem blau-weißen Holzzaun standen etwa zwanzig Mitglieder des Clubs, die ungeduldig auf den Segellehrer warteten und immer wieder zu dem menschenleeren Strand schauten, den sie schon bald erobern wollten. Hinter ihnen standen Segelwagen und ein Schild, auf dem Yachthafen – Yachtclub St. Peter-Ording zu lesen war. Alle Clubmitglieder hatten sich bei dem kühlen Wetter winddichte Softshelljacken übergezogen und Schals umgebunden. Einige von ihnen trugen sogar Thermoanzüge.
»Na, endlich! Dahinten kommt Henner!«, rief eine Frau mit lockigem Haar und zeigte den asphaltierten Weg entlang. Die Köpfe der restlichen Mitglieder flogen herum und alle Blicke folgten ihrem Fingerzeig.
»Das wird ja auch Zeit«, sagte ein Mädchen, das eine Strickmütze mit einem großen Bommel trug, und rieb ihre Handflächen aneinander.
»Wieso? Kriegst du etwa Frostbeulen, Schwesterherz?«, neckte sie der Junge neben ihr mit einem breiten Grinsen.
»Das hättest du wohl gerne, Brüderchen!«
Der Junge nickte. »Würde bestimmt interessant an dir aussehen«, antwortete er übermütig.
»Na warte!« Das Mädchen lachte und nahm ihn spielerisch in den Schwitzkasten, entließ ihn aber schnell wieder aus ihrem Griff, als der Segellehrer auf seinem Fahrrad näher kam. Er hatte den Oberkörper tief über das Lenkrad gebeugt und musste gehörig in die Pedalen treten, um sich gegen den Wind behaupten zu können.
»Moin! Heute geht ’ne ordentliche Brise«, sagte er gehörig außer Puste, als er bei den Wartenden angekommen war. Dann stieg er vom Rad und schob es auf den Platz zu den Segelwagen. »Da werdet ihr nachher mit locker fünfzig Stundenkilometern über den Strand fliegen!«, prophezeite er ihnen.
»Juhu!«, riefen die Geschwister und gaben sich ein High Five.
»Dann wollen wir unseren Flitzer mal einweihen, was, Kinder?«, sagte ein Mann, der neben ihnen vor einem dreisitzigen Gefährt kniete und eine Leine an einem Karabinerhaken befestigte.
»Sieht richtig schnittig aus, euer Wägelchen«, meinte Henner und betrachtete den speziellen Strandsegler, der neben den üblichen zwei Sitzen hintereinander auch noch über eine zusätzliche Sitzschale rechts vom Fahrer verfügte.
»Alles Marke Eigenbau und in Zusammenarbeit mit meinen Wirbelwinden entstanden«, sagte der Mann und schaute voller Stolz auf seine Kinder.
»Wenn das mal keine waschechte Familienkutsche ist!«, scherzte der Segellehrer und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Sollte ich mit meiner Tochter auch mal in Angriff nehmen. Was, Rike?«
Ein Mädchen mit langen braunen Haaren, das ebenfalls den Dreisitzer bewundert hatte, verdrehte die Augen. »Du weißt doch, dass ich handwerklich mit zwei linken Händen ausgestattet bin, Papa.« Sie zwirbelte ihren Pferdeschwanz zu einem Dutt zusammen und befestigte ihn mit einem Haargummi. »Außerdem segel ich lieber solo.«
»Schon gut, schon gut. War ja nur eine Idee«, erwiderte Henner lachend und hob die Hände.
Auf ein Zeichen von Henner hin zogen die Landsegler sich Handschuhe über und setzten Schutzhelme und Schutzbrillen auf. Als alle fertig waren, schoben sie die Segelfahrzeuge hintereinander in Position und banden sie aneinander fest. Wenig später tuckerte ein Bus mit den Wagen im Schlepptau zu einem abgegrenzten Bereich am Strand, der den Strandseglern zur Verfügung stand. Der Nebel hatte sich mittlerweile wie erwartet gelichtet und der Sonne das Feld überlassen.
»Ihr wisst ja, lenken über die Fußpedale und immer schön rechts vor links beachten. Und wenn ihr zu viel Speed draufhabt, dann gleich abbremsen. Den Wagen schön gegen den Wind steuern und so zum Halten kommen«, erinnerte Henner die Clubmitglieder, die sich im Halbkreis um ihn herum aufgestellt hatten. Kaum hatte er zu Ende gesprochen, ging es auch schon los. Die Leute kletterten in ihre Landsegler und umfassten startklar die Segelleinen.
»Lenkung sauber? Schot frei?«, schloss Henner noch schnell den obligatorischen Vorflugcheck ab, bevor der Wind auch schon kräftig in die Segel blies und die Wagen sogleich schwungvoll in Bewegung setzte.
Geräuschlos glitten die Landsegler in den windschnittigen Wagen in fast waagerechter Haltung über den harten Strand. Die Wagen glichen Kajaks mit Segeln, die auf drei breiten Gummireifen über den Strand fegten. Die meisten von ihnen waren Einsitzer. Hier und da konnte man auch Wagen mit zwei Sitzen hintereinander ausmachen.
Henner beobachtete fasziniert den selbst gebauten Dreisitzer, der von dem Vater des Geschwisterpärchens gesteuert wurde. Fast zwei Jahre lang hatte er an dem Geschoss gefeilt, gezimmert und herumgetüftelt, bis es endlich für den heutigen Tag bereit zum Start war. Der Junge saß gleich hinter ihm und das Mädchen neben ihrem Vater. Die Mutter der Kinder sah man nur selten im Yachtclub. Sie konnte dem Strandsegeln keine Begeisterung abgewinnen. Da war sie genau wie seine Frau. Zum Glück kam seine Tochter Rike nach ihm, die seit einigen Jahren ebenfalls vom Strandsegelvirus infiziert war, der hauptsächlich aus dem Rausch der Geschwindigkeit bestand, wobei der Adrenalinspiegel genauso schnell in die Höhe schoss, wie der Standsegler an Fahrt gewann.
Der Dreisitzer ging mit hohem Tempo in eine Kurve und der Wind trug aus der Ferne die Jubelschreie der Teenager und das Kreischen der Möwen zu ihm herüber. Der Vater der Kinder war ein langjähriges Mitglied des Yachtclubs und obendrein ein erfahrener Fahrer, der über einen DSV-Pilotenschein verfügte. Er wusste genau, was er tat, und konnte die wirkenden Kräfte aus Wind und Geschwindigkeit beim Strandsegeln realistisch einschätzen. Um den Wagen und seine Insassen musste Henner sich also keine Gedanken machen.
Er löste seinen Blick von dem Dreisitzer, um seine Aufmerksamkeit auch den übrigen Segelführern zu widmen – speziell seiner Tochter. Zufrieden beobachtete er die anderen Piloten. Selbst die Mitglieder, die erst seit Kurzem dabei waren, fuhren schon ordentlich und sicher, stellte er lächelnd fest. Im Gegensatz zum Segeln lernten seine Kursteilnehmer das Strandsegeln in relativ kurzer Zeit und konnten schnell mit den Fortgeschrittenen mithalten.
Eine kräftige Böe ergriff das Segel seiner Tochter und verlieh ihrem Wagen noch mehr Geschwindigkeit. Gekonnt überholte sie den Strandsegler neben sich. Bei Rike hatte es weniger als zwei Monate gedauert, bis sie so routiniert wie ein alter Hase über die Sandbank geflitzt war. Seine Tochter war im wahrsten Sinne des Wortes ein Naturtalent, wenngleich eines von der waghalsigen Sorte. Eine echte Draufgängerin, die sich vor dem Strandsegeln nicht fürchtete.
Gedankenverloren beobachtete er Rike und vergaß dabei für einen Moment die Welt um sich herum. Seine Tochter beschleunigte nun. Die kräftige Seebrise blähte das Segel auf, Wasserfontänen aus vollen Prielen spritzten unter dem Segelwagen empor. Rike beherrschte das millimetergenaue Spiel an der Schot und peitschte schnell wie ein Sturm über die Sandbank.
Henner legte eine Hand wie einen Schirm an seine Stirn, um die Sonnenstrahlen abzuschotten. Er schätzte, dass Rike nun über hundert Sachen in der Stunde draufhatte. Obwohl er seiner Tochter vertraute, spannte sich alles in ihm an. Langsam könnte sie das Tempo ruhig wieder runterfahren, dachte er, wobei ihm im nächsten Augenblick der Atem stockte. Rike setzte bei der hohen Geschwindigkeit zu einer Wende an. Das konnte unmöglich ihr Ernst sein. Das war doch Wahnsinn! Er wollte ihr eine Warnung zurufen, doch in dem Moment leitete sie das Manöver schon ein und verlor durch den Schwung die beidseitige Bodenhaftung der Räder. Sie schoss, auf eine Seite gekippt, um die Kurve.
Ein lauter Knall durchbrach das friedliche Dahingleiten am Strand. Henner zuckte zusammen, atmete im nächsten Moment aber auf. Rike hatte ihre waghalsige Wende gemeistert und fuhr wieder im langsameren Tempo über den Strand. Doch kaum hatte er realisiert, dass seine Tochter wohlauf war, fuhr er herum und suchte nach der Ursache für den Knall. In ungefähr 250 Meter Entfernung entdeckte er einen stehenden Strandsegler. Der Dreisitzer! Oh nein! Henner wurde heiß und kalt zugleich. Seine Augen weiteten sich vor Schreck und er rannte los. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemals so schnell in seinem Leben gelaufen war, und trotzdem hatte er das Gefühl, als käme er auf dem sandigen Untergrund und durch den Wind von vorn nur im Schneckentempo vorwärts.
Seine Gedanken stolperten durcheinander. Das konnte doch nicht sein! Es war doch bisher nie etwas passiert! Er zwang sich dazu, Ruhe zu bewahren, und kramte stattdessen sein Wissen als ehemaliger Rettungssanitäter hervor und darüber, was in einer Notsituation zu tun war.
Es erschien ihm, als wäre eine Ewigkeit vergangen, als er endlich den Segelwagen erreichte und sich seine grausame Ahnung in bittere Gewissheit verwandelte: Es hatte einen schrecklichen Unfall gegeben. Der Dreisitzer war mit voller Wucht gegen einen Begrenzungsholzpfahl geprallt. Alle drei Passagiere waren aus den Sitzen geschleudert worden und lagen nun bewusstlos im Sand. Mit zitternden Händen griff Henner nach seinem Handy und setzte einen Notruf ab, bevor er sich um die verunglückten Strandsegler kümmerte.
1
Uns bleibt noch ungefähr eine Minute!«, rief Pia mir zu und sprang vom Rad. Hastig ketteten wir die Räder an die Fahrradständer, die sich am Rand des betonierten Hofes befanden. Dann sprinteten wir zum Schulgebäude und die Treppen hoch.
Wir schafften es rechtzeitig. Die Tür vom Physikraum stand sperrangelweit auf, als wir um die Ecke bogen, und Stimmengewirr waberte uns aus der Klasse entgegen, das mir zusätzlich verriet, dass sich unsere Lehrerin Frau Hartmann noch nicht im Physikraum befinden konnte. Sobald sie die Klasse betrat, war es nämlich immer mucksmäuschenstill.
»Geschafft!« Ich ließ mich auf einen Platz hinter einem Experimentiertisch in der vorletzten Reihe fallen. Ich war völlig außer Atem und durchgeschwitzt. Meine Wangen brannten wie nach einem Sprint über den Sportplatz. Wir waren die Letzten, die zum Unterricht eingetroffen waren. Jetzt fehlte nur noch Frau Hartmann.
Pia schaute auf das Display ihres Smartphones. »Wenigstens bist du heute nicht die Einzige, die sich verspätet hat. Die Hartmann liegt schon fast fünf Minuten über ihrer Zeit.«
»Meine Theorie ist ja, dass meine Unpünktlichkeit und mein schlechter Orientierungssinn an meinen Genen liegen muss … oder so.« Weiter kam ich mit meinen theoretischen Überlegungen nicht, weil in diesem Moment ein Mann den Unterrichtsraum betrat, der seine lederne Umhängetasche auf dem Lehrertisch abstellte. Daneben legte er eine Zeitung und eine Packung Minz-Pastillen.
»Die Hartmann hat sich aber ziemlich verändert«, raunte ich Pia grinsend zu.
»Was macht denn Oberstudienrat Nörtemann hier?«, wunderte sich meine Freundin und ich zuckte genauso ahnungslos mit den Schultern.
Herr Nörtemann wartete, bis sich alle auf ihre Plätze gesetzt hatten und Ruhe eingekehrt war. »Guten Morgen. Frau Hartmanns Unterricht fällt heute wegen Krankheit aus. Da ich zum Thema Physik allerdings nicht allzu viel beizutragen habe, schlage ich vor, ihr macht entweder Schulaufgaben oder unterhaltet euch leise.«
Zustimmendes Murmeln erklang. Herr Nörtemann steckte sich eine Pastille in den Mund, setzte sich ans Lehrerpult und faltete gemütlich seine Tageszeitung auseinander, in die er sich augenblicklich vertiefte.
»Und dafür sind wir bei der Wärme die Tour de Cologne gefahren«, seufzte ich.
»Wahnsinn. Dass die Hartmann auch mal krank wird. War die doch noch nie. Und das im Sommer«, meinte Pia. »Apropos Sommer. Dass die Hartmann krank ist, trifft sich gut. Ich habe da nämlich was mitgenommen.« Sie kramte in ihrem Rucksack herum und beförderte dann einen Prospekt von Happy Holiday Jugendtours hervor. »Prego.«
»Woah, zeig her! Etwa für unseren Italienurlaub?« Ich zog den Katalog zu mir rüber und begann sofort, darin zu blättern.
Pia rückte mit ihrem Stuhl näher zu mir ran. »Klaro. Hat meine Mutter gestern aus dem Reisebüro mitgebracht. Sie meinte, dann könnten wir uns schon mal auf unseren Urlaub einstimmen.«
Ich schaute mir die bunten Fotos an, auf denen lachende Teenager bei einem Beachvolleyballmatch am Strand, beim Feiern in einem Club, beim Pasta- und Pizzaessen und in einer Gondel, die durch das türkisfarbene Wasser von Venedig glitt, abgebildet waren. »Am liebsten würde ich sofort losfahren! Hast du die Bilder vom Strand in Rimini gesehen?«
»Ja, der absolute Hammer!«
»Fünfzehn Kilometer langer Sandstrand!« Ich war Feuer und Flamme. In Gedanken hatte ich bereits Ferien und sonnte mich mit einem Fruchtcocktail in der Hand auf einer Liege am Meer.
»Echt cool, dass deine Eltern dir die Reise erlaubt haben«, fand Pia.
»Klar, ich bin ja schließlich auch alt genug«, antwortete ich wie selbstverständlich. Wobei das so klar eigentlich gar nicht gewesen war. Das Okay meiner Eltern hatte ich mir nämlich mühsam erkämpfen müssen. Obwohl ich mittlerweile sechzehn und damit in meinen Augen längst alt genug war, um nicht rund um die Uhr am Rockzipfel meiner Eltern zu hängen.
Normalerweise hatten sie immer darauf bestanden, dass wir in den Ferien gemeinsam Familienurlaub machten. Das Thema »Alleine verreisen« war seit jeher ein rotes Tuch für meine Eltern gewesen, weil sie die Auffassung vertraten, dass ich noch früh genug ohne sie in den Urlaub fahren würde und ich außerdem noch zu jung dafür sei. Da hatten auch nicht die Argumente geholfen, dass Familienurlaub auf der Schwäbischen Alp total öde war und andere Kinder schon mit zwölf an Jugendreisen teilnahmen, wie zum Beispiel Pia, und dass bei den Reisen immer Betreuer dabei waren und deswegen eigentlich nichts passieren konnte. Pias Eltern waren da wesentlich lockerer drauf und hatten sie mit vierzehn schon allein an einer Sprachreise nach London teilnehmen lassen. Was mir im Übrigen auch gutgetan hätte, denn neben Physik stand ich auch mit der englischen Sprache gehörig auf Kriegsfuß.
»Außerdem ziehen wir doch in den Sommerferien in das neue Haus um. Da sind meine Eltern froh, wenn sie freie Bahn haben und ich nicht im Weg stehe. Reicht schon, wenn das meine kleine Schwester tut.«
»Perfekt! In Rimini soll ja richtig Action sein. Am Tag la dolce vita am Strand und abends dann Party, tanzen und flirten«, schwärmte Pia. »Gut shoppen kann man dort bestimmt auch.«
»Hach, ich kann es kaum erwarten. Nur noch drei Wochen, dann sind wir frei und bald schon in bella Italia. Das ist alles so unglaublich aufregend!«
»Das wird megatoll!« Pia strahlte mich an.
»Ich brauche unbedingt neue Bikinis für den Urlaub. Und coole Flip-Flops.«
»Dann lass uns am Wochenende doch mal eine Tour durch die Läden machen«, schlug Pia vor.
Wir planten noch eine ganze Weile weiter und träumten von unserem bevorstehenden Urlaub, bis das Bimmeln der Schulglocke das Ende der Vertretungsstunde verkündete. Pia und ich packten unsere Sachen zusammen und eilten dann in unseren Klassenraum, wo als Nächstes Englisch auf dem Stundenplan stand.
Physik und Englisch direkt hintereinander waren sonst der blanke Horror für mich, doch an diesem Morgen konnte mich diese Kombination nicht schocken, zu sehr war ich mit unserer bevorstehenden Italienreise beschäftigt. Ich ging in Gedanken den Inhalt meines Kleiderschranks durch und überlegte, was mir für die Reise noch fehlte und ich dringend vorher besorgen musste. Selbst als unsere Lehrerin, Frau Möller, uns in bester britischer Manier begrüßte, war ich gedanklich ganz woanders: Italien!
Während ich so vor mich hin tagträumte, spürte ich plötzlich etwas Spitzes an meinen Rippen. »Autsch!«, entfuhr es mir. »Was ist denn los?«, fragte ich meine Freundin mit gedämpfter Stimme und rieb über die Stelle, an der mich ihr Ellbogen getroffen hatte.
Pia zog die Augenbrauen hoch. »Guck mal, was die Möller da gerade ausgepackt hat.«
Ich folgte ihrem Blick zum Lehrerpult und entdeckte darauf einen bedrohlich aussehenden Heftstapel. »Unsere Klassenarbeiten.« Sogleich verschwand mein euphorisches Gefühl und eine gewisse Unsicherheit machte sich in mir breit.
Für diese Englischarbeit hatte ich so viel gelernt wie eine absolute Streberleiche. Das musste ich auch, denn im Unterricht beteiligte ich mich so gut wie gar nicht, was daran lag, dass ich eine schreckliche englische Aussprache hatte und mich nicht vor versammelter Mannschaft blamieren wollte. Deshalb hielt ich lieber den Mund, büffelte aber regelmäßig, um meine nicht ausreichende mündliche Leistung durch gute schriftliche Ergebnisse auszugleichen. Deswegen musste ich wenigstens in den Klassenarbeiten immer eine Drei schaffen, um am Ende eine Vier auf dem Zeugnis zu bekommen. Umso härter hatte es mich getroffen, dass ich in der letzten Englischarbeit einen völligen Blackout gehabt und bloß eine Vier minus geschrieben hatte. Rein rechnerisch bedeutete das, dass ich in der nächsten Arbeit – die vorne auf dem Lehrerpult korrigiert auf mich wartete – unbedingt eine Zwei brauchte, um eine realistische Chance auf ein Ausreichend auf dem Versetzungszeugnis zu haben.
Deswegen hatte ich für die Englischarbeit wie eine Geisteskranke gepaukt. Ich konnte die Vokabeln immer noch vorwärts und rückwärts runterbeten und hatte die Grammatikthemen perfekt draufgehabt. Zugegeben, beim Hörverstehen hatte ich Probleme gehabt. Ansonsten war mir die restliche Arbeit aber leicht von der Hand gegangen. Easy. Trotzdem machte mich der Anblick des Heftstapels ziemlich nervös.
»Ich fand die Arbeit eigentlich ganz einfach, kein Grund zur Panik«, flüsterte Pia mir zu.
»Kunststück! Du bist ja eh eine Einserkandidatin«, gab ich zurück.
»Bei dir ist es doch auch gut gelaufen. Oder, Emma?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Eigentlich schon.«
»Na also.«
»Aber was mache ich, wenn es trotzdem keine Zwei geworden ist? Ich habe in den anderen Hauptfächern keinen Ausgleich.«
»Wird schon eine Zwei geworden sein«, sagte Pia aufmunternd. »Immerhin habe ich dich an dem Tag vor der Arbeit abgehört und da konntest du alles. Und zur Not redest du eben mit der Möller. Die ist doch echt nett und lässt dich bestimmt nicht hängen.« Meine Freundin lächelte mir aufmunternd zu, bevor sie sich wieder auf das Geschehen vorne im Klassenraum konzentrierte.
Frau Möller hatte inzwischen mit dem Unterricht begonnen und forderte uns nun auf, einen Text im Schulbuch zu lesen, der sich mit dem Thema »Bullying« beschäftigte, und danach die dazugehörenden Aufgaben zu lösen. Das machte sie immer so. Die Klassenarbeiten teilte sie grundsätzlich erst zum Ende der Schulstunde aus.
Ich versuchte, mich auf den Text zu konzentrieren und die Fragen irgendwie zu beantworten, doch mein Blick glitt immer wieder beunruhigt zu dem Heftstapel auf dem Pult. Ich bemerkte meine schwitzige Hand, in der ich den Füller hielt. Warum regte mich das eigentlich so sehr auf? Ich hatte doch ein gutes Gefühl – und gleichzeitig war ich total verunsichert.
Fünf Minuten vor Ende der Stunde schrieb Frau Möller den Klassenspiegel an die Tafel.
»Vier Einsen, sieben Zweien, neun Dreier und fünf Vierer«, verkündete sie und schrieb die Ziffern in das Zahlenraster. »Aber auch zwei Fünfen. Dafür dieses Mal keine Sechs.«
Sie legte die Kreide weg und teilte die Klassenarbeiten aus, wobei sie die Hefte aus einigen Zentimetern Höhe auf die Tischplatten fallen ließ. Die Arbeiten waren nicht nach Zensuren sortiert und so konnten wir nie anhand der Reihenfolge festmachen, wer welche Note geschrieben hatte. Noch nicht einmal an Frau Möllers gleichbleibender Miene konnte ich ablesen, ob sie gerade ein Heft mit einer Zwei oder einer Fünf zurückgab.
Als mein Heft im hohen Bogen vor mir landete, spürte ich den durch den Fall verursachten Luftzug auf meiner Haut. Mein Herzschlag beschleunigte sich und mein Atem ging flacher. Ich starrte auf das Heft, unfähig mich zu bewegen. Was, wenn es keine Zwei war? Ich war total von der Rolle.
»Willst du nicht nachsehen, was du hast, Emma?«, fragte mich Pia.
»Äh … ich warte noch so lange, bis du auch dein Heft zurück hast«, antwortete ich ausweichend, um etwas Zeit zu gewinnen.
»Okay, dann gucken wir gleichzeitig.«
Wenige Augenblicke später flog auch Pias Heft auf die Tischplatte. Sie griff sofort danach. »Bist du bereit?«
War ich bereit? Nein! Aber was machte das schon für einen Unterschied? Also nickte ich bloß und nahm das Heft in die Hand.
»Auf drei. Eins, zwei und drei!« Pia klappte ihre Klassenarbeit auf und sogleich erschien ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht. »Eine glatte Eins. Yeah! Nur zwei Fehler.«
Ich machte immer noch keine Anstalten, mein Heft aufzuschlagen. Was, wenn es schlechter als eine Zwei war? Würde Frau Möller bei einer Drei wirklich mit sich reden lassen und mir trotzdem eine Gnadenvier auf dem Zeugnis geben?
Pia zog fragend die Augenbrauen hoch. »Willst du nicht nachsehen? Ist bestimmt eine Zwei.«
Ich nickte. Dann gab ich mir einen Ruck und blätterte mit zittrigen Fingern durch die Seiten, bis ich mich zur aktuellen Englischarbeit und zu der Stelle durchgekämpft hatte, an der die Note vermerkt war. Ich starrte perplex auf die Seite. Die Zahl, die ich dort sah, kannte ich zwar, mein Gehirn konnte sie jedoch nicht verarbeiten. In meinem Denkapparat hatte sich eine Art Staudamm gebildet, der verhinderte, dass Informationen in normaler Geschwindigkeit bei mir ankamen. Ich stand unter Schock und war nicht imstande, einen klaren Gedanken zu fassen.
Wie aus weiter Ferne hörte ich die Schulglocke, die zur großen Pause klingelte.
»Und?«, fragte Pia ungeduldig. »Zwei oder zwei?«
Ich schob ihr wortlos mein Heft rüber.
Pia griff danach. Ihre Augen weiteten sich. »Waaaas?«
»Kommst du mal bitte kurz zu mir, Emma?« Frau Möller winkte mir vom Lehrerpult aus zu.
»Ja.« Ich nickte meiner Lehrerin zu und merkte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete.
»Ich warte vor der Cafeteria auf dich«, sagte Pia mit bekümmerten Blick. Dann schulterte sie ihren Rucksack und verließ den Klassenraum.
Ich nahm ebenfalls meine Schultasche und das Heft, das so schwer in meiner Hand wog, als wäre es ein Eimer voll mit Wasser. Ich fühlte mich miserabel – wie der letzte Loser. Die ganze Lernerei war für die Katz gewesen. War ich wirklich zu blöd für Englisch?
»Die Arbeit ist ja gehörig danebengegangen«, sagte meine Lehrerin und seufzte mitfühlend, als wir alleine im Klassenraum waren.
»Ja«, antwortete ich leise.
»Was war denn los mit dir, Emma? So kenne ich dich gar nicht.« Meine Lehrerin schaute mich fragend an. »Ich hatte vor der Arbeit den Eindruck, dass du den Stoff sicher beherrschst. Deine abgegebenen Hausaufgaben waren so weit auch immer okay.«
»Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Ich habe so viel geübt vor der Arbeit«, erklärte ich niedergeschlagen. »Eigentlich hatte ich ein gutes Gefühl.« Bis kurz vor der Rückgabe sogar noch. »Ich muss wohl einen Blackout gehabt haben.« Niedergeschlagen schaute ich auf meine Fußspitzen.
»Ich bin wirklich ratlos, Emma. Du hast den Text völlig falsch verstanden und dementsprechend auch die Fragen nicht richtig beantwortet. Dabei hast du im Schriftlichen bisher ganz passable Noten gehabt.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich habe ich mir einfach zu viel Druck gemacht, weil ich wusste, dass ich eine bestimmte Note schreiben musste, um ein Ausreichend auf dem Zeugnis zu bekommen.«
»So scheint es mir gewesen zu sein. Und dass das Mündliche nicht zu deinen Stärken zählt, ist wahrlich kein Geheimnis. Hättest du wenigstens eine Drei geschrieben, hätte ich bestimmt noch eine Möglichkeit gefunden, dir trotz allem eine Vier auf dem Versetzungszeugnis zu geben. Aber so kann ich die Note auf der Zeugniskonferenz nicht rechtfertigen. Mit einem Mangelhaft bleibt mir leider nichts anderes übrig, als eine Fünf als Endnote festzusetzen. Ich hoffe, du kannst das Defizit in Englisch wenigstens durch eine Drei in einem anderen Hauptfach ausgleichen?«
Ich schluckte. »Leider nein. In Mathe, Latein und Deutsch stehe ich jeweils auf Ausreichend. Normalerweise habe ich wenigstens in Deutsch eine sichere Drei, aber bei der letzten Gedichtinterpretation habe ich mich völlig vergaloppiert und bei zwei Arbeiten pro Halbjahr bin ich dadurch auch in den Viererbereich abgerutscht.«
»Das ist ja ein schöner Schlamassel. Dann heißt das Nachprüfung in Englisch?«, wollte sie von mir wissen.
Nachprüfung. Was sollte ich auf ihre Frage antworten? Ich hatte ja noch nicht einmal den Schrecken wegen der Fünf verdaut und sollte nun entscheiden, ob ich eine Nachprüfung in Englisch machen wollte? Vielmehr: machen musste!
»Oder willst du die Klasse lieber wiederholen?«, fragte sie weiter, nachdem ich nicht gleich geantwortet hatte.
»Nein!«, kam es wie aus der Pistole geschossen aus mir heraus. Die Frage wirkte wie kaltes Wasser auf mein Gehirn, das aus seiner Schockstarre gerissen wurde. Sitzenbleiben kam für mich überhaupt nicht infrage – wenngleich es die gerechte Strafe für mich und meine Fauleritis wäre, die mich dieses Schuljahr befallen hatte. Die Klasse zu wiederholen, wäre mir nicht nur irre peinlich, sondern würde auch bedeuten, dass Pia und ich nicht mehr zusammen Unterricht hätten. Das ging ja mal gar nicht! Trotz Fauleritis.
»Dann doch lieber Nachprüfung in Englisch?«, fragte Frau Möller noch mal nach.
»Ja«, antwortete ich notgedrungen. Was blieb mir auch anderes übrig? Lieber eine Nachprüfung als Sitzenbleiben.
»Okay, dann bist du ab jetzt bei mir für den Recall eingeplant.« Frau Möller zwinkerte mir aufmunternd zu und notierte sich meinen Namen in ihrem Lehrerkalender. »Das werden wir schon irgendwie hinbekommen. So schwierig ist Englisch nämlich gar nicht.«
»Keine Sorge, das schaffen wir!«, hatte auch Pia siegessicher verkündet, nachdem ich ihr von der anstehenden Nachprüfung berichtet hatte. »Ich bin dann eben nicht nur deine Freundin, die dich zur Pünktlichkeit antreibt und dich als Pfadfinder vom Strand zurück ins Hotel lotst, sondern auch dein Englischcoach. Ich werde dich in Italien so lange mit englischer Grammatik und Vokabeln foltern, bis du glaubst, du wärst in Oxford gelandet und nicht am Strand von Rimini.«
Der Plan klang erst einmal gar nicht schlecht. Ich musste nur noch meinen Eltern verklickern, dass das mit der Versetzung dieses Mal nicht ganz so eindeutig geklappt hatte und ich in den Sommerferien für die Nachprüfung in Englisch am Strand von Rimini lernen musste – mit Pia als persönliche Nachhilfelehrerin. Das Argument war gar nicht so schlecht, denn sie stand seit Jahren auf einer glatten Eins und konnte mir dadurch tatsächlich beim Lernen helfen.
Als ich am Abend mit meinen Eltern und meiner kleinen Schwester Lea beim Abendessen saß, wusste ich immer noch nicht, wie ich ihnen die vermasselte Englischarbeit und die sich daraus ergebenen Konsequenzen am besten beichten konnte. Je mehr ich über die passenden Worte nachgrübelte, desto eher kam ich zu dem Entschluss, damit besser bis nach dem Abendbrot zu warten.
Als wir mit dem Essen fertig waren, verzog sich mein Vater hinter den Computer im Wohnzimmer, um noch geschäftliche E-Mails zu beantworten. Meine kleine Schwester schaute eine Sendung im Fernsehen und ich half meiner Mutter beim Tischabräumen.
Ich brachte Teller, Gläser und Besteck in die Küche, wo meine Mutter bereits Spülwasser ins Becken laufen ließ. Ich schnappte mir ein Geschirrtuch und wartete auf die ersten Teile zum Abtrocknen.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte meine Mutter.
»Nichts. Was soll denn los sein?«, tat ich unschuldig.
Sie drehte den Wasserhahn zu und gab ein paar Tropfen Spülmittel ins Wasser. »Emma, ich bin deine Mutter und kenne dich lang genug, um zu wissen, dass immer was los ist, wenn du freiwillig in der Küche mithilfst.« Sie sah mich mit durchdringendem Blick an.
»Na ja, ich habe von Pia heute den Prospekt für die Italienreise bekommen«, fing ich mit dem harmlosen Thema an.
Meine Mutter spülte Gläser ab und stellte sie dann kopfüber auf die Abtropffläche. »Schön. Aber das kann ja nicht der Grund sein, weswegen du mir hilfst. Die Reise ist doch schon längst gebucht.«
»Och«, druckste ich herum und polierte konzentriert ein Glas auf Hochglanz, um meine Mutter nicht ansehen zu müssen.
»Na, spuck’s schon aus«, ließ sie nicht locker und nahm mich fest ins Visier.
»Okay. Dir kann ich ja eh nichts verheimlichen und irgendwann muss ich es sagen«, gab ich auf und stellte das Glas auf die Arbeitsfläche. »Wir haben heute die Englischarbeit zurückbekommen.«
»Und?«
»Eine Fünf.« Ich kratzte mich verlegen am Kopf. Mir war die schlechte Note auch vor meiner Mutter unsagbar peinlich.
»Eine Fünf?« Meine Mutter stemmte die Hände in die Hüften. »Warum das denn? Du hast doch so viel dafür gelernt und warst dir absolut sicher, dass du eine gute Note schreiben würdest?«
»Habe ich und war ich ja auch. Aber trotzdem habe ich die Arbeit total vergeigt. Die Möller hat es auch nicht verstanden. Irgendwie habe ich den Text falsch verstanden und die Fragen dadurch nicht richtig beantwortet. Beim Hörverstehen hatte ich auch noch Schwierigkeiten, weil die Sprecher so schnell und undeutlich geredet haben«, erklärte ich. »Da habe ich dann auch einige falsche Antworten angekreuzt.«
»Das ist ja ein schöner Mist! Und was bedeutet das fürs Zeugnis?«
Ich wusste, egal wie ich es drehen und wenden würde, dass meine Mutter von mir enttäuscht sein würde. Deswegen sagte ich es geradeheraus. »Auch eine Fünf.«
»Und das in einem Hauptfach!« Sie schüttelte ärgerlich den Kopf.
»Die ich nicht ausgleichen kann«, fügte ich den entscheidenden Rest kleinlaut hinzu, um es hinter mich zu bringen.
Meine Mutter schnappte hörbar nach Luft. »Na bravo. Willst du mir etwa sagen, dass du sitzen bleibst?«
»Nein!« Ich hob beschwichtigend die Hände. »Ich habe mich gleich zur Nachprüfung in Englisch angemeldet.«