Mit der phantastischen Wachheit des Einsamen registriert Herr Geiser die kleinen Anzeichen einer denkbaren Katastrophe. Das Tal ist durch Unwetter von der Umwelt abgeschnitten. Gefaßt darauf, daß eines Tages der ganze Berg ins Rutschen kommt und das Dorf verschüttet für alle Zeit, liest Herr Geiser im Lexikon, in der Bibel, in Geschichtsbüchern und schreibt ab, was nicht vergessen werden soll. Max Frisch erzählt die letzten Alltage eines Mannes, der begreift, daß er sich abhanden kommt und eingehen wird ins Unbewußtsein der Natur, in Erdgeschichte mit ihren Jahrmillionen.

Max Frisch, am 15. Mai 1911 in Zürich geboren, starb dort am 4. April 1991. Sein Werk, vielfach ausgezeichnet, erscheint im Suhrkamp Verlag.

Der Mensch erscheint im Holozän

Eine Erzählung

Suhrkamp

Umschlagfoto: Stephan Erfurt

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1979

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73885-6

www.suhrkamp.de

Für Marianne

Es müßte möglich sein, eine Pagode zu türmen aus Knäckebrot, nichts zu denken und keinen Donner zu hören, keinen Regen, kein Plätschern aus der Traufe, kein Gurgeln ums Haus. Vielleicht wird es nie eine Pagode, aber die Nacht vergeht.

Irgendwo klöppelt es auf Blech.

Wacklig wird es immer beim vierten Stockwerk; ein Zittern der Hand, wenn das nächste Knäckebrot angelehnt werden soll, oder ein Husten, nachdem der Giebel eigentlich schon steht, und alles ist wieder eingestürzt –

Herr Geiser hat Zeit.

Die Auskünfte im Dorf sind widersprüchlich, andere behaupten, es sei gar kein Hang gerutscht, hingegen sei eine alte Stützmauer eingebrochen, eine Umleitung der Straße an dieser Stelle nicht möglich. Die Frau von der Post, die es eigentlich wissen müßte, bestätigt bloß, daß der Post-Bus nicht verkehrt, während sie, verhärmt wie immer, zu den üblichen Öffnungszeiten hinter dem kleinen Schalter steht und Briefmarken verkauft, auch Pakete in Empfang nimmt, um sie ohne Hast auf die Waage zu legen, dann zu stempeln. Bund und Kantone, so wird angenommen, tun alles, um die Straße wiederherzustellen. Notfalls können Helikopter eingesetzt werden, sofern kein Nebel ist. Niemand im Dorf glaubt, daß eines Tages oder in der Nacht einmal der ganze Berg ins Rutschen kommt und das Dorf verschüttet für alle Zeit.

Irgendwo klöppelt es auf Blech.

Es ist keine Pagode geworden, aber Mitternacht.

Begonnen hat es am Donnerstag der vergangenen Woche, man konnte noch im Freien sitzen, Schwüle wie üblich vor einem Gewitter, die Mücken stachen durch die Socken, kein Wetterleuchten, es war nur ungemütlich. Kein Vogel über dem Gelände. Die Gäste, ein jüngeres Ehepaar auf Durchreise nach Italien, beschlossen plötzlich den Aufbruch, obschon sie im Haus hätten schlafen können. Eigentlich war es kein Gewölk, nur ein gelblicher Dunst wie vor einem Sandsturm in der arabischen Wüste; kein Wind. Auch die Gesichter erschienen gelblich. Sie hatten nicht einmal ihre Gläser geleert, so eilig hatten die Gäste es plötzlich, obschon kein Donner zu hören war. Kein Tropfen fiel. Erst am andern Morgen rauschte es vor den Fenstern, es zischte durch das Laub der Kastanie.

Keine Nacht ohne Gewitter und Wolkenbruch.

Zeitweise fällt der elektrische Strom aus, was man in diesem Tal gewohnt ist; kaum hat man eine Kerze gefunden, endlich auch Streichhölzer, so ist der Strom wieder da, Licht im Haus, während es weiter donnert.

Schlimm ist nicht das Unwetter –

Das Lexikon in zwölf Bänden, DER GROSSE BROCKHAUS, erklärt die Entstehung der Blitze und unterscheidet zwischen Linien-Blitz, Kugel-Blitz, Perlschnur-Blitz etc., wogegen über Donner wenig zu erfahren ist; dabei sind im Lauf einer Nacht, wenn man nicht schlafen kann, mindestens neun Arten von Donner zu unterscheiden:

1.

der einfache Knall-Donner.

2.

der stotternde oder Koller-Donner, in der Regel nach einer längeren Stille, verteilt sich über das ganze Tal und kann Minuten lang dauern.

3.

der Hall-Donner, schrill wie ein Hammerschlag auf ein loses Blech, das einen schwirrenden und flatternden Hall verbreitet, wobei der Hall lauter ist als der Schlag.

4.

der rollende oder Polter-Donner, vergleichsweise gemütlich, läßt an rollende Fässer denken, die gegeneinander poltern.

5.

der Pauken-Donner.

6.

der zischende oder Schotter-Donner beginnt mit einem Zischen, wie wenn ein Kipper eine Ladung von nassem Schotter ausschüttet, und endet dumpf.

7.

der Kegel-Donner; wie wenn ein Kegel, getroffen von der rollenden Kugel, auf andere Kegel schmettert und alle auseinander schleudert; es kommt zu einem kurzen Echo-Wirrwarr im ganzen Tal.

8.

der zögernde oder Kicher-Donner (ohne Blitzlicht im Fenster) zeigt an, daß das Gewitter sich über die Berge verzieht.

9.

der Spreng-Donner (unmittelbar nach dem Blitzlicht im Fenster) weckt nicht die Vorstellung von einem Zusammenprall harter Massen, im Gegenteil: eine ungeheure Masse wird entzwei gesprengt und stürzt nach beiden Seiten auseinander, wobei sie vielfach zertrümmert; danach regnet es in Güssen.

Zeitweise fällt wieder der Strom aus.

Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses –

Was Herr Geiser zum Beispiel nicht vergessen hat: der Satz des Pythagoras. Dazu braucht er das Lexikon nicht auf den Tisch zu schleppen. Hingegen kann Herr Geiser sich nicht erinnern, wie der Goldene Schnitt (A verhält sich zu B wie A + B zu A, das weiß Herr Geiser) herzustellen ist mit Zirkel und Winkel. Natürlich hat man das einmal gewußt –

Ohne Gedächtnis kein Wissen.

Heute ist Dienstag.

Noch immer kein Hupen aus dem Tal.

Ein Feldstecher hilft in diesen Tagen überhaupt nichts, man schraubt hin und her, ohne irgendeinen Umriß zu finden, der sich verschärfen ließe; der Feldstecher verdichtet bloß den Nebel. Was von bloßem Auge zu sehen ist: die Dachtraufe, die nächste Tanne im Gelände, zwei Drähte, die im Nebel verschwinden, die langsam gleitenden Tropfen an den Drähten. Nimmt man den Schirm und stapft ins Gelände, um nachzusehen trotz Nässe und Nebel, so sieht man nach hundert Schritten das eigene Haus nicht mehr, nur Brombeeren im Nebel, Rinnsale, Farnkraut im Nebel. Eine kleine Mauer im unteren Garten (Trockenmauer) ist eingestürzt: Geröll im Salat, Fladen von Lehm unter den Tomaten. Vielleicht ist es schon vor Tagen geschehen.

Tomaten gibt es auch in Dosen.

Lavendel blüht auch im Nebel: ohne Duft wie in einem Farbfilm. Man fragt sich, was die Bienen machen in einem solchen Sommer.

Vorräte sind genug im Haus:

drei Eier

Suppenwürfel

Tee

Essig und Öl

Mehl

Zwiebeln

ein Glas mit Senfgurken

Reibkäse

Sardinen, eine Büchse

Gewürze aller Art

Knäckebrot, fünf Pakete

Knoblauch

Himbeersirup für Enkelkinder

Anchovis

Lorbeer

Grieß

Salzmandeln

Spaghetti, ein Paket

Oliven

Ovomaltine

eine Zitrone

Fleisch in der Kühltruhe

Später im Lauf des Tages donnert es wieder; kurz darauf Hagel. Die weißen Körner, einige haselnußgroß, tanzen auf dem Granit-Tisch, in wenigen Minuten wird der Rasen weißlich, Herr Geiser kann nur am Fenster stehen und zuschauen, wie das Weinlaub zerfetzt wird, desgleichen die Rosen –

Es bleibt nichts als Lesen.

(Romane eignen sich in diesen Tagen überhaupt nicht, da geht es um Menschen in ihrem Verhältnis zu sich und zu andern, um Väter und Mütter und Töchter beziehungsweise Söhne und Geliebte usw., um Seelen, hauptsächlich unglückliche, und um Gesellschaft usw., als sei das Gelände dafür gesichert, die Erde ein für allemal Erde, die Höhe des Meeresspiegels geregelt ein für allemal.)

Kein Hupen aus dem Tal.

Offenbar ist die Straße noch immer gesperrt.

Wenn der Regen einmal nachläßt, nicht gänzlich aufhört, aber sich verdünnt, so daß er nicht mehr auf dem Dach zu hören ist, Regen nur noch als lautlose Schraffur vor dem Dunkel der nächsten Tanne, so ist keine Stille, im Gegenteil, jetzt erst hört man es rauschen aus dem Tal; es müssen Bäche sein überall, viele Bäche, die es sonst nicht gibt. Ein stetes Rauschen aus dem ganzen Tal.

Ob es Gott gibt, wenn es einmal kein menschliches Hirn mehr gibt, das sich eine Schöpfung ohne Schöpfer nicht denken kann, fragt sich Herr Geiser.

Heute ist Mittwoch.

(Oder Donnerstag?)

Eine Bibliothek kann man es nicht nennen, was Herrn Geiser in diesen Tagen, da Gartenarbeit nicht möglich ist, zur Verfügung steht; Elsbeth hat hauptsächlich Romane gelesen, klassische und andere, Herr Geiser lieber Sachbücher (HELLER ALS TAUSEND SONNEN); das Logbuch von Robert Scott, der am Südpol erfroren ist, hat Herr Geiser mehrmals gelesen, die Bibel schon lang nicht mehr. Was außer dem Lexikon in zwölf Bänden vorhanden ist: Gartenbücher, ein Buch über Schlangen, eine Geschichte des Kantons Tessin, das Schweizerische Lexikon sowie Bilderbücher für die Enkelkinder (DIE WELT, IN DER WIR LEBEN), der Fremdwörter-Duden und ein Buch über Island, wo Herr Geiser vor dreißig Jahren einmal gewesen ist, sowie Landkarten der näheren Umgebung und Wanderbücher, die Auskunft geben über Geologisches, Klimatisches, Historisches usw. betreffend die Gegend.

Es stimmt übrigens nicht, daß kein Hupen aus dem Tal zu hören ist; es kommt nur kein Post-Bus, man vermißt seine Dreiklang-Hupe, und die lärmigen Lastwagen, die sonst mit Platten und Quadern von Granit hinunter ins Tal fahren, sie fahren nicht; oberhalb der Stelle, wo die Straße unterbrochen ist, gibt es aber Motorräder.

Soeben hat es gehupt.

Wie der Goldene Schnitt herzustellen ist mit Zirkel und Winkel, das steht im Lexikon, und auch wenn kein Zirkel im Haus ist, Herr Geiser weiß sich zu helfen: ein Reißnagel, dazu ein Bindfaden, der am Reißnagel befestigt wird, und ein Bleistift, befestigt am andern Ende des Bindfadens, ersetzen den Zirkel einigermaßen. Herr Geiser braucht im Augenblick keinen Goldenen Schnitt, aber Wissen beruhigt.