Nora Roberts

Die schöne Ballerina

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Melanie Lärke

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

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Die Originalausgabe Reflections
ist bei Silhouette Books, Toronto, erschienen.

Die deutsche Erstausgabe ist im MIRA Taschenbuch erschienen.



1. Auflage
Wilhelm Heyne Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, 

Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Copyright © 1983 by Nora Roberts
Published by Arrangement with Eleanor Wilder
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung eines Fotos von Thinkstock
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-12102-0
V002

www.randomhouse.de/nora-roberts

1. KAPITEL

Der Wind hatte die Luft abgekühlt. Er jagte dunkle Wolken vor sich her und pfiff durch die mitunter schon herbstlich verfärbten Blätter. Entlang der Straße zeigte sich mehr Gelb als Grün. Hier und da fielen vereinzelte Sonnenstrahlen auf flammendes Rot und leuchtendes Purpur. An diesem Nachmittag im September war zu spüren, dass der Sommer sich dem Ende zuneigte. Es wurde Herbst.

Regen lag in der Luft. Lindsay beschleunigte ihre Schritte, um vor dem drohenden Unwetter nach Hause zu kommen. Ein Windstoß zerzauste ihr das Haar. Unwirsch wischte sie ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Eigentlich ging Lindsay bei jedem Wetter gern spazieren, doch weil sie es heute so eilig hatte, war ihr der Wind lästig. Sie hatte nicht einmal Augen für die ersten Anzeichen des nahenden Herbstes.

Vor drei Jahren war Lindsay nach Connecticut zurückgekehrt, um eine Ballettschule zu eröffnen. Seither hatte sie es nicht immer leicht gehabt, aber kaum ein Tag war so unerfreulich gewesen wie der heutige.

Angefangen hatte es mit einer verstopften Wasserleitung in ihrem Studio. Dann musste sie sich fünfundvierzig Minuten lang den Bericht einer begeisterten Mutter über die neuesten Heldentaten ihres Sprösslings am Telefon anhören. Kurz darauf zerrissen gleich zwei Kostüme, und zu guter Letzt wurde es einer ihrer Schülerinnen schlecht, die sich anscheinend den Magen verdorben hatte.

All diese Zwischenfälle hatte Lindsay mit Fassung ertragen. Doch dann streikte auch noch ihr Wagen. Das war zu viel! Als sie den Zündschlüssel im Schloss herumdrehte, spuckte und stöhnte der Motor wie üblich, aber anstatt nach einer Weile gutmütig anzuspringen, muckte und ruckte er so lange weiter, bis Lindsay sich geschlagen gab.

»Na dann eben nicht«, sagte sie laut und stieg verärgert wieder aus. Nach einem hilflosen Blick unter die Motorhaube machte sie sich zähneknirschend auf den vier Kilometer langen Heimweg.

Warum habe ich nicht einfach jemanden gebeten, mich nach Hause zu fahren? fragte sich Lindsay wenig später, als sie im trüben Licht die Straße entlangeilte. Nach zehn Minuten in der kühlen Luft konnte sie wieder klarer denken und sah ein, wie unüberlegt sie gehandelt hatte.

Das sind die Nerven, dachte sie, ich bin nur wegen der Ballettaufführung heute Abend so nervös.

Lindsay schob die Hände in die Taschen und schüttelte den Kopf. Sie wusste genau, dass die Aufführung selbst ihr keine Sorgen machte, denn alle Schülerinnen beherrschten ihre Aufgabe, und die Generalprobe hätte nicht besser verlaufen können. Überdies sahen die jüngsten Mädchen in ihren Ballettröcken so niedlich aus, dass die Zuschauer kleinere Fehler übersehen würden.

Nein, Lindsay dachte mit einem gewissen Unbehagen an die Stunden vor und nach der Vorstellung. Und an die Eltern ihrer Schüler. Es gab immer einige, die mit der Rolle ihres Kindes nicht zufrieden waren. Andere würden von ihr verlangen, mit den Übungen schneller voranzugehen. Und dann kamen die immer gleichlautenden Fragen: Warum kann meine Paula noch immer nicht Spitze tanzen? Warum hat die Tochter von Mrs Smith einen längeren Auftritt als meine? Wann kommt Sue endlich in die Klasse für Fortgeschrittene?

Lindsays Hinweise auf den kindlichen Körperbau, wachsende Knochen, Mangel an Ausdauer und noch nicht vorhandenes Gefühl für Timing brachten die Eltern nur selten zur Vernunft. Meistens erreichte sie mehr mit einer Mischung aus Schmeichelei, Eigensinn und Einschüchterung. Irgendwie schaffte sie es schließlich immer, mit allzu ehrgeizigen Vätern und Müttern fertig zu werden. Lindsay brachte sogar ein gewisses Verständnis für sie auf, weil ihre eigene Mutter nicht viel anders gewesen war.

Nichts hatte sich Mary Dunne sehnlicher gewünscht als eine große Bühnenkarriere für ihre Tochter. Sie selbst war auch Tänzerin gewesen, aber ihre Voraussetzungen waren ungünstig. Da sie kurze Beine hatte und einen gedrungenen Körper, brachte sie es nur durch außergewöhnliche Willenskraft und unermüdliches Training zu einem Engagement bei der Ballettgruppe eines Tourneetheaters.

Mary war fast dreißig, als sie heiratete. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie längst eingesehen, dass sie niemals Primaballerina werden würde, und sich für kurze Zeit als Ballettlehrerin betätigt. Aber ihre eigene Enttäuschung machte sie zu einer schlechten Lehrmeisterin.

Mit Lindsays Geburt änderte sich alles. Zwar hatte Mary den Traum, selbst eine große Tänzerin zu werden, begraben müssen, doch ihre Tochter würde es schaffen, davon war sie fest überzeugt.

Für Lindsay begann der Ballettunterricht mit fünf Jahren. Mary überwachte jeden ihrer Schritte. Schon bald war Lindsays Leben eine aufregende Mischung aus Unterricht, klassischer Musik und Ballettaufführungen. Mary achtete auf strengste Einhaltung einer bestimmten Diät und beobachtete besorgt das Wachstum ihrer Tochter. Als feststand, dass Lindsay nicht mehr als einen Meter sechzig erreichen würde, war sie erleichtert, denn Tänzerinnen wirkten auf erhobenen Spitzen achtzehn Zentimeter größer, und eine große Primaballerina hatte es oft schwer, Partner zu finden.

So blieb Lindsay klein wie ihre Mutter, war aber zu deren Stolz schlank und feingliedrig. Nach einer kurzen Übergangsperiode, in der Arme und Beine ihr ständig im Weg zu sein schienen, entwickelte sich Lindsay zu einem auffallend anmutigen Teenager mit feinem silberblonden Haar und leuchtend blauen Augen. Sie besaß die Figur der klassischen Balletttänzerin, und ihre graziösen Bewegungen täuschten darüber hinweg, wie durchtrainiert sie war.

Alle geheimen Wünsche Marys waren in Erfüllung gegangen.

Lindsay sah nicht nur aus wie eine Primaballerina, sie hatte auch das nötige Talent. Um das zu erkennen, brauchte Mary nicht erst die Beurteilung der Lehrer, sie sah es täglich mit eigenen Augen. Harmonie verband sich mit Technik, Ausdauer mit Können.

Mit achtzehn wurde Lindsay von einer New Yorker Balletttruppe engagiert. Sie blieb nicht eine von vielen, wie ihre Mutter, sondern wurde schon bald mit Solopartien betraut. Kurz vor ihrem zwanzigsten Geburtstag stand sie als Erste Tänzerin auf der Bühne. Zwei Jahre lang sah es so aus, als läge eine große Zukunft vor Lindsay. Doch dann zwang sie das Schicksal von heute auf morgen, ihre Karriere aufzugeben und nach Connecticut zurückzukehren.

Nun lehrte sie schon seit drei Jahren Tanz an ihrer Ballettschule, war jedoch im Gegensatz zu ihrer Mutter nicht verbittert, sondern nahm das Ganze gelassen hin. Schließlich war sie immer noch Tänzerin. Und daran würde sich auch nie etwas ändern.

Die Wolken schoben sich immer dichter vor die Sonne. Lindsay fröstelte, und sie wünschte, sie hätte ihre Jacke nicht im Wagen liegen lassen, denn der Schal, den sie umgeschlungen hatte, bedeckte kaum ihre nackten Arme.

Um warm zu werden, beschloss sie, einen Dauerlauf zu machen. Mühelos passten sich ihre Muskeln dem neuen Tempo an. Sie lief locker und anmutig. Die Bewegung machte ihr Freude, und bald waren die unerfreulichen Ereignisse des Tages vergessen.

Plötzlich brach das Unwetter los, und im Nu stand die Straße unter Wasser. Lindsay blieb stehen, starrte in die schwarzen Wolken und stampfte mit dem Fuß auf. »Bleibt mir denn heute nichts erspart?«

Ein gewaltiger Donnerschlag schien sich über sie lustig zu machen, und da Lindsay ihren Sinn für Komik nicht verloren hatte, musste sie herzlich lachen.

Als sie auf der anderen Straßenseite das Haus der Moorefields bemerkte, beschloss sie, Andy zu bitten, sie nach Hause zu fahren. Sie zog den Schal ein wenig fester um die Schultern und trat auf die Fahrbahn, um hinüberzulaufen.

Im selben Augenblick hörte sie wütendes Hupen. Erschreckt zuckte sie zusammen. Durch den dichten Regenschleier sah Lindsay einen Wagen auf sich zurasen. Mit einem Satz sprang sie auf den rettenden Bürgersteig zurück, glitt auf dem nassen Pflaster aus und landete unsanft in einer großen Pfütze. Bremsen quietschten, Reifen rutschten über nassen Asphalt.

Entsetzt kniff Lindsay die Augen zusammen.

»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«, brüllte jemand.

Erst nach einigen Sekunden wagte Lindsay die Augen wieder zu öffnen. Eine große Gestalt beugte sich über sie. Bei näherem Hinsehen erkannte Lindsay die scharf geschnittenen Gesichtszüge eines dunkel gekleideten Mannes. Dichte Brauen waren zornig zusammengezogen. Lindsay schätzte den Fremden auf etwa einen Kopf größer als sie selbst und nahm mit beruflichem Interesse zur Kenntnis, dass er ausgesprochen gut gewachsen war.

»Sind Sie verletzt?« Die Frage klang mühsam beherrscht.

Als Lindsay stumm den Kopf schüttelte, packte er sie mit einer heftigen Bewegung bei den Armen, zog sie aus der Pfütze und stellte sie auf die Beine.

»Laufen Sie immer blind durch die Gegend?« Er schüttelte sie einmal kräftig, bevor er sie losließ.

Lindsay kam sich plötzlich ziemlich dumm vor, denn natürlich hatte sie nicht genügend aufgepasst. »Es tut mir leid«, setzte sie zu einer Entschuldigung an. »Ich habe mich umgesehen, aber …«

»Umgesehen?«, fiel er ihr ins Wort. »Dann sollten Sie vielleicht gelegentlich Ihre Brille aufsetzen!«

Über seinen Tonfall ärgerte sich Lindsay am meisten. »Ich trage keine Brille«, erklärte sie würdevoll.

»Das sollten Sie aber.«

»Ich habe sehr gute Augen.« Sie strich sich mit der Hand das triefende Haar aus dem Gesicht.

»Warum laufen Sie dann wie ein blindes Huhn über die Straße?«

Langsam ging dieser Mensch Lindsay auf die Nerven. Sie stemmte die Arme in die Seiten und fauchte ihn an: »Ich habe mich bereits dafür entschuldigt – das heißt, ich wollte mich entschuldigen, bevor Sie mir über den Mund gefahren sind. Wenn Sie einen Kniefall erwarten, muss ich Sie leider enttäuschen. Hätten Sie nicht wie verrückt gehupt, dann wäre ich nicht in diese blöde Pfütze gefallen!« Sie fasste an die nassen Jeans. »Auf die Idee, sich bei mir dafür zu entschuldigen, sind Sie wohl noch nicht gekommen?«

»Nein, bin ich nicht. Warum sollte ich? Ist es meine Schuld, wenn Sie sich so tollpatschig benehmen?«

»Tollpatschig?« Lindsay wusste nicht, ob sie richtig gehört hatte. »Tollpatschig!«, wiederholte sie empört, denn eine größere Kränkung konnte sie sich kaum vorstellen. Das ging erheblich zu weit. Niemand durfte sie so beleidigen. »Sie! Sie unverschämter Mensch!« Lindsays Wangen färbten sich tiefrot, und ihre Augen blitzten vor Zorn. »Sie haben mich fast zu Tode erschreckt, sind schuld daran, dass ich ins Wasser gefallen bin, beschimpfen mich, als wäre ich eine dumme Göre, und unterstehen sich auch noch, mich tollpatschig zu nennen?«

Die einzige Reaktion auf diesen leidenschaftlichen Temperamentsausbruch war ein leichtes Heben der Augenbrauen. »Wem der Schuh passt, der ziehe ihn sich an«, erklärte der Fremde ungerührt, nahm Lindsay unsanft bei der Hand und zog sie hinter sich her.

»He! Was fällt Ihnen ein? Lassen Sie mich sofort los!« Sie versuchte sich seinem Griff zu entziehen.

»Wollen Sie hier im Regen Wurzeln schlagen?« Er öffnete seinen Wagen auf der Fahrerseite und schob Lindsay ohne Umstände auf den Sitz. Unwillkürlich rückte sie weiter, um ihm Platz zu machen.

»Ich kann Sie wohl kaum hier stehen lassen«, erklärte er brüsk, setzte sich neben Lindsay und knallte die Tür zu.

Der Regen prasselte auf das Wagendach und gegen die Scheiben. Lindsay betrachtete die schlanken Hände des Fremden auf dem Steuerrad. Die Hände eines Pianisten, dachte sie und fand ihn plötzlich gar nicht mehr so schrecklich unsympathisch. Doch dann drehte er ihr sein Gesicht zu, und sein Blick erstickte alle aufkeimenden freundlichen Gefühle.

»Wohin wollen Sie?«

Lindsay richtete sich kerzengerade auf. »Nach Hause. Anderthalb Kilometer geradeaus.«

Prüfend sah er das Mädchen an seiner Seite zum ersten Mal genauer an. Ihr klares Gesicht war ungeschminkt. Die langen Wimpern waren auch ohne Mascara dunkel und wirkten voll und betonten das intensive Blau der Augen. Diese Frau ist mehr als nur schön, dachte der Fremde, sie hat eine besondere Ausstrahlung. Bevor er dazu kam, weitere Betrachtungen anzustellen, bemerkte er, dass Lindsay vor Kälte zitterte.

»Wenn Sie im Regen spazieren gehen, sollten Sie sich dementsprechend anziehen«, sagte er milde, langte nach einer braunen Jacke auf dem Rücksitz und warf sie Lindsay auf den Schoß.

»Ich brauche keine …« Das Ende des Satzes ging in zweifachem Niesen unter. Danach legte sie sich ohne weiteren Widerspruch die Jacke über die Schultern, während der Unbekannte den Motor anließ. Schweigend fuhren sie durch den sintflutartigen Regen.

Mit einem Mal kam es Lindsay zu Bewusstsein, dass sie neben einem wildfremden Mann im Auto saß. Sie kannte fast alle Bewohner ihrer kleinen Heimatstadt wenigstens vom Sehen. Der Mann am Steuerrad war ihr noch nie begegnet, da war sie ganz sicher. Dieses Gesicht hätte sie bestimmt nicht vergessen.

In Cliffside, wo jeder jeden kannte, war es ganz natürlich, sich von vorüberfahrenden Wagen ein Stück mitnehmen zu lassen. Aber Lindsay hatte lange genug in New York gelebt, um zu wissen, wie gefährlich es sein konnte, mit Fremden zu fahren. Möglichst unauffällig rutschte sie näher zur Tür.

»Das fällt Ihnen ein bisschen spät ein«, stellte der Mann ruhig fest.

Lindsay fuhr erschrocken zusammen. Sie fühlte sich ertappt und hatte zu allem Überfluss auch noch das Gefühl, der Unbekannte mache sich über sie lustig. Sie warf den Kopf in den Nacken und wies mit der Hand nach vorn.

»Hier ist es, halten Sie bitte jetzt an. Das Haus mit den Dachfenstern.«

Als der Wagen vor einem weißen Holzzaun ausrollte, wandte Lindsay sich betont würdevoll an den Fremden, um sich so frostig wie möglich von ihm zu verabschieden.

»Sehen Sie zu, dass Sie schnell aus den nassen Kleidern kommen«, riet er, ehe Lindsay auch nur die geringste Chance hatte, etwas zu sagen. »Und passen Sie in Zukunft besser auf, wenn Sie über die Straße laufen.«

Lindsay drohte an ihrer Antwort zu ersticken, brachte jedoch keinen Laut über die Lippen. Hastig öffnete sie die Tür und sprang in den strömenden Regen hinaus. Mit einem kurzen Blick zurück zischte sie: »Tausend Dank für den freundlichen Rat!«, und warf wütend die Tür hinter sich zu.

Um die Rückseite des Wagens herum rannte sie zum Gartentor und stürmte ins Haus, ohne zu bemerken, dass sie immer noch die Jacke des Fremden trug.

In der Diele blieb sie einen Augenblick lang stehen, schloss die Augen und atmete erst einmal tief durch. Ehe sie ihrer Mutter begegnete, musste sie ruhiger werden, denn sie wusste genau, wie verräterisch ihr Gesicht sein konnte.

Lindsays Karriere war ihr besonderes Talent, Gefühle mimisch und tänzerisch auszudrücken, sehr zugutegekommen, denn durch ihre große Ausdruckskraft vermochte sie ihre Rollen überzeugend darzustellen.

Im täglichen Leben erwies es sich dagegen nicht immer als Vorteil, dass man ihr jeden Gedanken vom Gesicht ablesen konnte. Hätte Mary ihre Tochter in ihrer augenblicklichen Erregung gesehen, so wäre Lindsay nicht davongekommen, ohne die ganze leidige Geschichte zu erzählen. Danach hätte sie sich die kritischen Bemerkungen ihrer Mutter anhören müssen, und dazu fühlte sie sich ganz bestimmt nicht mehr in der Lage.

Nass und erschöpft begann Lindsay die Stufen zum ersten Stock hinaufzusteigen. Bevor sie ihre Mutter sah, hörte sie deren ungleichmäßige Schritte. Zeit ihres Lebens würde Marys Hinken Lindsay an den tödlichen Unfall ihres Vaters erinnern.

»Hallo! Ich will mir nur schnell etwas Trockenes anziehen.« Lindsay lächelte ihrer Mutter zu, die am Fuß der Treppe stehen geblieben war und sich auf den Geländerpfosten stützte.

Marys Haar war jugendlich blond gefärbt und sportlich geschnitten. Das geschickt aufgetragene Make-up verdeckte zwar kleinere Fältchen, aber leider nicht den Ausdruck ständiger Unzufriedenheit.

»Mein Wagen ist nicht angesprungen«, fuhr Lindsay schnell fort, bevor ihre Mutter zu Wort kam. »Dann bin ich vom Regen überrascht worden, bevor mich jemand im Wagen mitgenommen hat. Heute Abend werde ich Andy bitten müssen, mich zur Vorstellung zu fahren.«

»Du hast vergessen, ihm die Jacke zurückzugeben«, stellte Mary fest. Während sie mit ihrer Tochter sprach, verlagerte sie ihr Gewicht noch stärker auf den Pfosten, denn bei feuchtem Wetter machte ihr die Hüfte sehr zu schaffen.

»Seine Jacke?« Verwirrt sah Lindsay auf die langen Ärmel, die zu beiden Seiten ihrer Schultern herabhingen. »Oh nein! Das darf doch nicht wahr sein!«

»Nun reg dich nicht gleich auf. Andy wird einen Abend ohne sie auskommen.«

Lindsay war viel zu müde, ihrer Mutter zu erklären, dass die Jacke nicht Andy, sondern einem Fremden gehörte.

»Wahrscheinlich«, stimmte sie obenhin zu. Dann trat sie einen Schritt zurück, legte ihre Hand auf die ihrer Mutter und meinte: »Du siehst müde aus. Hast du dich heute nicht genügend ausgeruht?«

»Behandle mich nicht ständig wie ein kleines Kind!«, fuhr Mary sie an.

Lindsay zuckte zusammen und nahm schnell die Hand zurück. »Entschuldige bitte.« Ihre Stimme klang beherrscht, aber man sah ihr an, dass die Zurückweisung sie verletzt hatte. »Ich geh nur schnell nach oben und ziehe mich um.«

Sie wollte sich abwenden, doch Mary hielt sie am Arm zurück.

»Tut mir leid, Lindsay«, seufzte sie. »Entschuldige, aber ich bin heute schlecht gelaunt. Dieses Wetter deprimiert mich sehr.«

»Ich weiß«, sagte Lindsay sanft.

Sie kannte den Grund für die Stimmung ihrer Mutter. An einem Tag wie heute waren ihre Eltern verunglückt. Regen und abgefahrene Reifen hatten den schrecklichen Unfall verursacht.

»Und es regt mich einfach auf, wenn du da so stehst und dich um mich sorgst, anstatt in New York zu sein.«

»Mutter …«

»Gib dir keine Mühe.« Marys Stimme hatte einen scharfen Unterton. »Solange du nicht da bist, wo du hingehörst, habe ich keine ruhige Minute.« Sie wandte sich ab und hinkte durch den Flur zurück.

Lindsay blickte ihr einen Moment nach, bevor sie weiter die Treppe hinaufstieg.

Wo ich hingehöre, wiederholte Lindsay im Geiste Marys Worte, als sie ihr Zimmer betrat. Wohin gehöre ich denn wirklich?

Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Der Raum war groß und luftig mit zwei breiten, aneinander liegenden Fenstern. Auf dem Toilettentisch, der früher ihrer Großmutter gehört hatte, lagen Muscheln.

Lindsay hatte sie am nahe gelegenen Strand selbst gesammelt. In der Ecke stand ein Regal, vollgestopft mit Büchern aus der Kinderzeit. Den Orientteppich hatte sie nach Auflösung ihrer kleinen Wohnung aus New York mitgebracht. Der Schaukelstuhl stammte vom Flohmarkt und der Renoir-Druck aus einer Kunstgalerie in Manhattan.

Mein Zimmer, dachte sie, spiegelt die beiden Welten wider, in denen ich gelebt habe.

Über dem Bett hingen die blassrosa Spitzenschuhe, die sie bei ihrem ersten Solotanz getragen hatte. Während Lindsay näher trat, um die glatte Seide zu berühren, fiel ihr wieder ein, wie sie beim Annähen der Bänder vor Aufregung Magenschmerzen bekommen hatte. Sie erinnerte sich noch genau an die Begeisterung ihrer Mutter nach der Vorstellung und an die leicht gelangweilte Miene ihres Vaters.

Das liegt ein ganzes Leben zurück, dachte Lindsay und ließ die Hände herabsinken.

In Erinnerung an den Tanz, die Musik, den Zauber der Bewegung, an das Gefühl der Schwerelosigkeit lächelte Lindsay.

Doch sie hatte auch die raue Wirklichkeit nicht vergessen, die unweigerlich der Verzauberung folgte – die verkrampften Muskeln, die blutenden Füße.

Weil sie sich auf der Bühne bis an die Grenzen ihrer Kraft verausgabte, fühlte sie sich nach der Vorstellung meist zu Tode erschöpft. Aber Schmerzen und Erschöpfung waren bald vergessen. Was zurückblieb, war das Gefühl tiefer Befriedigung. Sie hatte sich nie wieder so glücklich gefühlt wie in jener Zeit. Heute wie damals war der Tanz ihr Leben.

Lindsay strich mit der Hand über die Augen und kehrte in die Gegenwart zurück. Im Augenblick hatte sie an andere Dinge zu denken.

Sie zog die Jacke aus und hielt sie stirnrunzelnd vor sich hin. Was soll ich nur damit machen? dachte sie. Weil sie sich über den unverschämten Fremden so geärgert hatte, beschloss sie, gar nichts zu tun. Sollte er sich sein Eigentum doch holen, wenn er es vermisste. Und vermissen würde er die Jacke, so viel war sicher, denn sie war aus sehr gutem Material gemacht und hatte bestimmt sehr viel gekostet.

Sie ging zum Schrank und hängte das Jackett auf einen Bügel. Dann zog sie sich aus, schlüpfte in einen warmen Morgenrock und schloss mit Nachdruck die Schranktüren.

Bevor sie ihr Zimmer verließ, nahm sie sich vor, sowohl die Jacke als auch deren Eigentümer zu vergessen.