Buch
Welch einen Grund hat die junge Ärztin Lara Mallory, sich ausgerechnet in Eden Pass, einem verkommenen Nest in der heißesten Hölle von Texas, niederzulassen? Seit Jahrzehnten hat dort der Tackett-Clan vom Öl über die Supermarktkette bis zum Sheriff alles in der Hand. Lara, inzwischen Witwe eines Washingtoner Diplomaten, war die zentrale Figur in einem Sexskandal um einen jungen, hoffnungsvollen Senator, an dessen Sturz und späterem Tod sie angeblich nicht ganz unschuldig war: Clark Tackett. Schon nach kurzer Zeit ist die Stimmung in der Familie, und damit in der ganzen Stadt, hochgradig explosiv. Und ausgerechnet Key Tackett, das schwarze Schaf der Familie, begeht den unverzeihlichen Fehler, sich etwas zu oft in Begleitung der früheren Geliebten seines toten Bruders sehen zu lassen. Lange werden sie ihre leidenschaftlichen Rendezvous nicht geheim halten können, in Eden Pass haben selbst die Wände Ohren.
Autorin
Sandra Brown arbeitete als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman Trügerischer Spiegel auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher weltweit Spitzenplätze der Bestsellerlisten erreicht. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.
Von Sandra Brown bei Blanvalet erschienen (Auswahl)
Schöne Lügen, Ein Hauch von Skandal, Sündige Seide, Verliebt in einen Fremden, Ein Kuss für die Ewigkeit, Zum Glück verführt, Wie ein Ruf in der Stille, Ein skandalöses Angebot, Heißer als Feuer, Lockruf des Glücks, Eine sündige Nacht, Eine unmoralische Affäre, Verruchte Begierde, Gefährliche Sünden, Zur Sünde verführt, Unschuldiges Begehren, In einer heißen Sommernacht, Wie ein reißender Strom, Tanz im Feuer
Sandra Brown
Feuer in Eden
Roman
Deutsch von Gabriela Prahm
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Copyright der Originalausgabe © 1993 by Sandra Brown
Translated from the English »Where there is Smoke«.
First published in the United States by Warner Books, New York.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2014
by Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com
Redaktion: Ursula Walther
wr · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-12345-1
V002
www.blanvalet.de
Kapitel 1
Katzen hatte er noch nie sonderlich gemocht.
Das Problem war, dass die Frau neben ihm schnurrte wie eine Katze – tiefe Befriedigung ließ sie vom Hals bis zum Nabel vibrieren. Ihre Augen standen eng zusammen und waren schräg gestellt, ihre Bewegungen wirkten geschmeidig und fließend. Sie ging nicht – sie stolzierte. Beim Vorspiel hatte sie sich nach einer geheimen Choreografie geräkelt und sich an ihm gerieben, als wäre sie rollig, und als sie kam, hatte sie geschrien und sich an seinen Schultern festgekrallt.
Für ihn hatten Katzen schon immer etwas Raffiniertes, Verschlagenes an sich gehabt, man konnte ihnen nicht trauen. Ihm war nie ganz wohl dabei, wenn er einer den Rücken zuwandte.
»Wie war ich?« Ihre Stimme war so schwül wie die Nacht hinter den in Falten fallenden Vorhängen.
»Ich habe mich nicht beschwert, oder?«
Key Tackett hatte auch etwas gegen postkoitale Bewertungen. Wenn es gut gewesen war, erübrigte sich jegliches Geplänkel. Wenn nicht, dann sparte man sich am besten die Worte.
Sie deutete seine ausweichende Antwort fälschlicherweise als Kompliment und ließ sich von dem breiten Bett gleiten. Nackt ging sie quer durchs Zimmer zu dem unordentlichen Schminktisch und zündete sich mit einem mit Steinen besetzten Feuerzeug eine Zigarette an. »Auch eine?«
»Nein, danke.«
»Einen Drink?«
»Wenn du einen da hast, nehme ich einen auf die Schnelle.« Gelangweilt starrte er zum Kronleuchter an der Zimmerdecke. Es war ein kitschiges und ausnehmend hässliches Ding, das viel zu groß für das Schlafzimmer wirkte, selbst wenn, wie jetzt, die Birnen hinter den Kristalltropfen gedämpft waren.
Der knallig pinkfarbene Teppichboden war ähnlich geschmacklos, und die mobile Messingbar war aufgefüllt mit Kristallkaraffen. Sie schenkte ihm einen Bourbon ein. »Du musst nicht sofort aufbrechen«, sagte sie lächelnd. »Mein Mann ist außerhalb, und meine Tochter verbringt die Nacht bei Freunden.«
»Männlich oder weiblich?«
»Bei einer Freundin natürlich. Sie ist erst sechzehn.«
Jetzt anzumerken, dass ihr selbst in diesem zarten Alter schon lange der Ruf eines Flittchens angehaftet hatte, wäre ungalant gewesen, also schwieg er, vor allem aber aus reiner Gleichgültigkeit.
»Was ich sagen will – wir haben die ganze Nacht für uns.« Sie rieb ihre Hüfte an seiner, als sie sich neben ihm auf dem Bett niederließ und ihm den Drink reichte.
Er hob den Kopf vom seidenbezogenen Kissen und nippte an dem Bourbon ohne Eis. »Ich muss nach Hause. Ich bin schon seit …« – er warf einen Blick auf die Armbanduhr – »… dreieinhalb Stunden in der Stadt und hab mich noch nicht zu Hause blicken lassen.«
»Du hast doch gesagt, sie würden dich heute noch gar nicht erwarten.«
»Stimmt, aber ich habe versprochen vorbeizuschauen, sobald ich angekommen bin.«
Sie wickelte eine Strähne seines dunklen Haars um ihren Finger. »Aber dann bin ich dir in der Palme über den Weg gelaufen, nicht wahr?«
Er leerte das Glas und drückte es ihr in die Hand. »Ich frage mich, warum es Zur Palme heißt. Hier gibt’s im Umkreis von dreihundert Meilen keine einzige Palme. Bist du oft dort?«
»Oft genug.«
Key schenkte ihr ein verschlagenes Grinsen. »Immer wenn dein Alter auf Reisen ist, was?«
»Und wenn ich in dieser Einöde fast umkomme vor Langeweile, was praktisch täglich der Fall ist. In der Palme finde ich immer nette Gesellschaft.«
Er starrte auf ihren üppigen Busen. »Darauf würde ich glatt wetten. Und ich wette auch, dass du es genießt, wenn die Kerle heißlaufen und geil auf dich sind.«
»Wie gut du mich kennst …« Sie lachte kehlig und beugte sich vor, um ihm einen Kuss auf den Mund zu hauchen.
Er drehte den Kopf weg. »Ich kenne dich überhaupt nicht.«
»Tss, das stimmt doch nicht, Key Tackett.« Sie setzte sich zurück und machte ein beleidigtes Gesicht. »Immerhin sind wir schon zusammen zur Schule gegangen.«
»Ich bin mit einer Menge Kids zur Schule gegangen. Das heißt aber nicht, dass es über ein ›Hallo, wie geht’s?‹ hinausgegangen wäre.«
»Aber du hast mich geküsst.«
»Lügnerin.« Er schob alle Galanterie beiseite und fügte hinzu: »Ich hatte keine Lust, mich hinter den anderen anzustellen. Ich habe dich jedenfalls ganz sicher nie um eine Verabredung gebeten.«
Für einen kurzen Moment funkelte Boshaftigkeit in ihren katzenhaften Augen. Doch dann zog sie die Krallen ebenso schnell wieder ein, wie sie sie ausgefahren hatte. »Na ja, wir waren nicht zusammen aus«, schnurrte sie. »Aber einmal, an einem Freitagabend, nachdem ihr gegen Gladewater gewonnen hattet, da bist du und der Rest vom Footballteam vom Feld gelaufen, und ich stand mit meinen Freundinnen – genau wie alle anderen aus Eden Pass – an der Seitenlinie und habe euch auf dem Weg in die Kabine zugejubelt. Und du …«, betonte sie und pikste ihm dabei mit dem Fingernagel in die blanke Brust, »… warst der tollste Hecht von allen. Du warst am verschwitztesten, und dein Trikot war am schmutzigsten, und wir Mädchen fanden dich natürlich unwiderstehlich. Wie du selbst, glaube ich, übrigens auch.«
Sie wartete auf eine Reaktion seinerseits, doch er sah sie völlig ungerührt an. Für ihn hatte es Dutzende solcher Freitagabende gegeben. Zittern vor dem Spiel und Jubel danach. Das grelle Flutlicht. Der Rhythmus der Marschkapelle. Der Duft von frischem Popcorn. Die aufgeputschte Truppe. Die Anfeuerungsrufe der Menge.
Und Jody, die lauter als alle anderen brüllte. Für ihn brüllte. Das war vor sehr, sehr langer Zeit gewesen.
»Jedenfalls, als du an mir vorbeikamst«, fuhr sie fort, »hast du mich um die Taille gepackt, hochgehoben, an dich gedrückt und mich einfach auf den Mund geküsst. Hart. Es hatte so etwas … etwas Barbarisches.«
»Hmm. Bist du sicher?«
»Natürlich bin ich sicher! Ich hatte ein total feuchtes Höschen.« Sie beugte sich vor und rieb ihre Nippel gegen seine Brust. »Ich habe lange darauf warten müssen, dass du das zu Ende führst, was du damals angefangen hast.«
»Nun, es war mir eine Ehre, Ihnen zu Diensten gewesen sein zu dürfen.« Er gab ihr einen Klaps auf den Po und setzte sich auf. »Ich gehe lieber.« Er langte über sie und fischte nach seiner Jeans.
»Du willst wirklich schon weg?«, fragte sie überrascht.
»Ja.«
Stirnrunzelnd versenkte sie die Zigarette im Aschenbecher auf dem Nachttisch. »Verdammter Bastard«, murmelte sie. Dann versuchte sie es mit einer anderen Masche, stand auf, nahm ihm die Jeans aus der Hand, bevor er hineinsteigen konnte, und schmiegte sich verführerisch an ihn.
»Es ist spät, Key. Im Haus deiner Mama schlafen doch bestimmt alle schon. Du kannst ebenso gut hierbleiben.« Sie langte ihm zwischen die kräftigen Schenkel, streichelte ihn gekonnt und sah ihm dabei frech ins Gesicht, bis ihre geschickten Finger die gewünschte Reaktion erzielten. »Du weißt gar nicht, was dir entgeht, wenn du meine Frühstücksspezialität nicht probierst.«
Key verzog amüsiert den Mund. »Ach, servierst du die im Bett?«
»Worauf du dich verlassen kannst. Mit allen Zutaten. Ich habe sogar …« Mitten im Satz brach sie ab; ihre Hände verkrampften sich reflexartig, woraufhin er schmerzlich das Gesicht verzog.
»Hey, pass auf, du spielst mit dem Familienschmuck.«
»Schhh!« Sie ließ los und lief auf Zehenspitzen zur offenen Schlafzimmertür. Gerade als sie sie erreichte, rief eine männliche Stimme: »Zuckerschnäuzchen, ich bin wieder da-a!«
»Scheiße!« Ganz und gar nicht mehr geschmeidig oder verführerisch wandte sie sich zu Key um und zischte: »Du musst hier verschwinden, auf der Stelle!«
Key war bereits in seine Jeans gestiegen und bückte sich gerade, um die Stiefel zu suchen. »Und wie stellst du dir das bitte vor?«, flüsterte er zurück.
»Zuckerschnäuzchen? Bist du oben?« Key hörte die Schritte erst auf den Marmorfliesen unten, dann auf dem Treppenläufer. »Ich war schon früh fertig, und da habe ich mich entschlossen, heute Abend schon zurückzukommen!«
Sie wedelte panisch durch die Luft und deutete auf die Balkontür am anderen Ende des Zimmers. Key schnappte sich Hemd und Stiefel und schlüpfte durch die offene Tür. Er stand bereits auf dem Balkon, als ihm einfiel, dass sich das Schlafzimmer im zweiten Stock des Hauses befand. Er konnte keinen leichten Abstieg erkennen, als er über das schmiedeeiserne Geländer schaute.
Leise fluchend, wog er hastig seine Möglichkeiten ab. Ach, zum Teufel! Er war schon schlimmeren Klemmen entkommen. Taifunen, Kugelhagel, Erdbeben, Spektakeln Gottes und von Menschenhand verursachtem Chaos. Und auch ein Ehemann, der verfrüht und unerwartet nach Hause kam, war nichts Neues für ihn. Er würde einfach etwas erfinden und auf das Beste hoffen.
Er trat zurück ins Schlafzimmer, verharrte aber wie versteinert auf der Schwelle. Die Schublade des Nachttisches stand offen. Seine Geliebte kauerte im Bett; mit einer Hand raffte sie sich das Satinlaken vor die Brust, in der anderen hielt sie eine Waffe – direkt auf ihn gerichtet.
»Was machen Sie hier?«
Ihr gellender Schrei lähmte ihn. Eine Sekunde später erschütterte ein Schuss aus der Pistole sein Trommelfell. Und erst einige Herzschläge später begriff er, dass er getroffen war. Er starrte auf die klaffende Wunde an seiner Seite und hob dann den ungläubigen Blick zu ihr.
Die Schritte im Flur waren schneller geworden. »Zuckerschnäuzchen!«
Sie schrie erneut, so schrill, dass einem das Blut in den Adern gefror. Und wieder zielte sie auf ihn.
Wie unter Strom schwang Key herum, genau in dem Moment, als sie abdrückte. Er glaubte, entwischt zu sein, aber ihm blieb nicht die Zeit nachzusehen. Er warf Stiefel und Hemd übers Geländer, hob erst das rechte, dann das linke Bein über die Brüstung, balancierte noch einen Moment auf dem schmalen Vorsprung, ehe er sich in die Tiefe stürzte.
Unsanft landete er mit dem rechten Knöchel zuerst. Der Schmerz schoss ihm durch die Wade, den Schenkel, die Lende, ehe er ihn im Magen traf. Er schnappte nach Luft, blinzelte heftig und betete zu Gott, sich nicht übergeben zu müssen oder ohnmächtig zu werden, während er seine Sachen aufsammelte und wie der Teufel davonrannte.
Lara schreckte auf, als ein lautes Klopfen an der Hintertür ertönte.
Sie war in einen alten Streifen mit Bette Davis versunken gewesen. Per Fernbedienung dämpfte sie die Lautstärke und lauschte. Da war das Klopfen wieder, diesmal noch lauter und drängender. Sie schlug die Afghanendecke über ihren Beinen zurück, erhob sich von ihrem behaglichen Platz auf dem Wohnzimmersofa und hastete den Flur hinunter, wobei sie im Gehen das Licht anschaltete.
Als sie das hintere Zimmer der Praxis erreichte, konnte sie durch die halb gekippte Jalousie die Silhouette eines Mannes ausmachen, der am Türrahmen lehnte.
Im grellen Schein der Verandabeleuchtung wirkte sein Gesicht bleich und starr. Die untere Hälfte wurde von einem Dreitagebart verdunkelt. Auf seiner Stirn klebten mehrere Strähnen des widerspenstigen dunklen Haares. Er spähte unter seinen dunklen, dichten Brauen durch die Lamellen der Jalousie in den Raum.
»Doc?« Er hob die Faust und trommelte erneut gegen die Scheibe. »Hey, Doc! Machen Sie auf. Ich saue noch Ihre ganze Hintertreppe ein!«
Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, und Lara konnte das Blut sehen.
Sie vergaß alle Vorsicht, stellte die Alarmanlage ab und entriegelte die Tür. Kaum gab das Schloss nach, fiel er mit der Schulter voran in die Tür und stolperte barfuß herein.
»Sie haben sich ganz schön Zeit gelassen«, murmelte er. »Aber ich werde Ihnen verzeihen, wenn Sie mir ’nen Schluck von dem Jack Daniels geben, den Sie hier verstaut haben.« Er ging direkt auf den weißen Emailleschrank zu und beugte sich vor, um die unterste Schublade aufzuziehen.
»Da ist kein Jack Daniels drin.«
Beim Klang ihrer Stimme schwang er herum. Mehrere Sekunden starrte er sie nur an. Lara starrte zurück. Er hatte etwas Animalisches an sich, das sie gleichzeitig anzog und abstieß; und obwohl sie längst an den Geruch frischen Blutes gewöhnt war, roch sie seines besonders intensiv.
Instinktiv wollte sie zurückweichen, doch nicht aus Angst. Der Impuls entsprang einer weiblichen Abwehrreaktion. Dennoch hielt sie seinem ungläubigen und abschätzenden Blick stand.
»Verdammt, wer sind Sie denn? Wo ist der Doc?«, dröhnte er düster und presste den blutgetränkten Saum seines offenen Hemdes auf die Wunde an der Seite.
»Sie sollten sich lieber setzen. Sie sind verletzt.«
»Sagen Sie bloß, Lady. Wo ist der Doc?«
»Wahrscheinlich in seiner Koje auf dem See. Er hat sich zur Ruhe gesetzt, vor einigen Monaten schon.«
Er starrte sie an. »Na, fabelhaft. Ist ja wirklich fabelhaft«, fluchte er vor sich hin und fuhr sich durchs Haar. Dann unternahm er einige unsichere Schritte in Richtung Tür und stieß dabei gegen den Untersuchungstisch.
Lara kam ihm automatisch zu Hilfe. Er wehrte sie ab, blieb allerdings gegen den gepolsterten Tisch gelehnt stehen. Schwer atmend und sich vor Schmerz krümmend, sagte er: »Könnte ich einen Whisky haben?«
»Was ist passiert?«
»Was geht Sie das an?«
»Nun, ich bin nicht nur die neue Mieterin von Dr. Pattons Haus. Ich habe auch seine Praxis übernommen.«
Seine saphirfarbenen Augen sahen zu ihr auf. »Sie sind Ärztin?«
Sie nickte, breitete die Arme aus und deutete ins Behandlungszimmer.
»Donnerwetter!« Er musterte sie von Kopf bis Fuß. »So wie Sie rumlaufen, sind Sie bestimmt der Hit im Krankenhaus«, sagte er und hob das Kinn. »Ist das der letzte Schrei in der Berufsbekleidungsbranche?«
Sie trug ein langes weißes Hemd über ihren Leggings, die kurz unter dem Knie endeten. Doch trotz ihrer bloßen Waden und Füße ließ sie sich nicht einschüchtern und antwortete barsch: »Nach Mitternacht laufe ich für gewöhnlich nicht mehr im Kittel herum. Es ist zwar keine Sprechzeit mehr, aber vergessen wir mal mein Outfit und konzentrieren uns lieber auf Ihre Verletzung. Also, was ist passiert?«
»Ein kleiner Unfall.«
Als er das Hemd von den Schultern gleiten ließ, bemerkte sie, dass sein Gürtel offen und der Hosenstall nur zur Hälfte zugeknöpft war. Sie schob seine blutige Hand beiseite, die er auf die Wunde, ungefähr in Hüfthöhe, gepresst hielt.
»Das ist eine Schussverletzung!«
»Ach was! Ich habe Ihnen doch gesagt – es war ein Unfall.«
Er log eindeutig, und er schien Übung darin zu haben, da es ihm offensichtlich leichtfiel. »Und was für ein Unfall soll das gewesen sein?«
»Bin in eine Harke gefallen.« Er deutete auf die Wunde. »Säubern Sie sie, machen Sie einen schönen Verband drum, und morgen ist alles wieder gut, okay?«
Sie richtete sich auf und sah ihm, ohne zu lächeln, ins grinsende Gesicht. »Lassen Sie den Blödsinn. Ich erkenne eine Schussverletzung, wenn ich eine sehe. Ich kann Sie hier nicht ausreichend versorgen. Sie gehören ins Krankenhaus.«
Sie kehrte ihm den Rücken zu und tippte eine Nummer ins Telefon ein. »Ich werde Sie, bis die Ambulanz eintrifft, so gut es geht, versorgen. Bitte legen Sie sich hin. Wenn ich fertig telefoniert habe, werde ich versuchen, die Blutung zu – Ja, hallo?«, sagte sie in den Hörer, als sich jemand meldete. »Hier spricht Dr. Mallory aus Eden Pass. Ich habe einen Notfall … «
Er langte um sie herum und drückte die Gabel herunter. Sie warf ihm einen alarmierten Blick über die Schulter zu.
»Ich werde in kein verdammtes Krankenhaus gehen«, verkündete er kurz und bündig. »Keine Ambulanz. Nichts. Gar nichts, haben Sie verstanden? Stoppen Sie die Blutung, und legen Sie mir einen Verband an. Mehr nicht. Haben Sie Whisky da?«, fragte er bereits zum dritten Mal.
Stur begann Lara erneut zu wählen. Doch ehe sie die vollständige Nummer eingeben konnte, hatte er ihr den Hörer aus der Hand gewunden und den Anschluss des Apparates herausgerissen.
Lara drehte sich zu ihm um, jetzt bekam sie es mit der Angst zu tun. Selbst hier, in dieser Kleinstadt in Ost-Texas, war Drogenmissbrauch zu einem Problem geworden. Gleich nach ihrem Einzug in die Praxis hatte sie eine Alarmanlage installieren lassen, um eventuellen Einbrüchen wegen Schmerzmittel und Narkotika vorzubeugen.
Er musste ihre Nervosität gespürt haben. Er knallte den Hörer geräuschvoll auf eine der Vitrinen und grinste sie grimmig an. »Jetzt hören Sie mal, Doc, wenn ich hergekommen wäre, um Ihnen was anzutun, dann wäre es schon geschehen, und ich wäre längst über alle Berge. Ich will nur nicht, dass zu viele Leute von der Sache Wind kriegen, kapiert? Kein Krankenhaus, okay? Versorgen Sie mich, und dann sind Sie mich schon wieder los!« Seine Lippen wurden während des Sprechens farblos und schmal. Er rang hörbar zwischen zusammengebissenen Zähnen nach Luft.
»Sie werden mir doch jetzt nicht ohnmächtig?«
»Nicht, wenn ich es verhindern kann.«
»Sie haben sehr starke Schmerzen.«
»Ja«, bestätigte er kopfnickend. »Es tut verdammt weh. Und wenn wir noch lange Zeit mit Quatschen vergeuden, werde ich wohl verbluten müssen.«
Sie musterte seine entschlossene Miene. Ihr war klar, dass er wieder gehen würde, wenn sie jetzt nicht nachgab. Doch das hieße auch, die Gesundheit, vielleicht sogar das Leben des Patienten zu riskieren. Also forderte sie ihn auf, sich hinzulegen und seine Jeans herunterzuziehen.
»Diesen Text habe ich selbst schon ein Dutzend Mal aufgesagt«, witzelte er, als er ihre Anweisungen befolgte.
»Überrascht mich nicht.« Unbeeindruckt von seiner Prahlerei ging sie zum Waschbecken und reinigte sich die Hände mit einer desinfizierenden Seife. »Wenn Sie Doc Patton so gut gekannt haben, dass Sie sogar wissen, wo er seinen Whisky versteckt hat, dann müssen Sie aus der Gegend sein.«
»Ja, hier geboren und aufgewachsen.«
»Wieso wussten Sie dann nicht, dass er sich zur Ruhe gesetzt hat?«
»Ich war eine Weile nicht im Lande.«
»Waren Sie Patient bei ihm?«
»Mein ganzes Leben lang. Er hat meine Windpocken kuriert, Mandelentzündung, zwei gebrochene Rippen, ein gebrochenes Schlüsselbein, einen angeknacksten Arm und einen Zusammenstoß mit einer rostigen Dose, die uns beim Baseball als Second Base gedient hat. Die Narbe auf meinem Schenkel, die ich mir zugezogen habe, als ich hineingerutscht bin, ist noch immer zu sehen.«
»Und, haben Sie den Punkt dabei geholt?«
»Großer Gott, ja!«, antwortete er, als wäre das etwas vollkommen Selbstverständliches. »Ich habe mehr als einmal mitten in der Nacht an dieser Hintertür geklopft, damit der Doc mich wieder zusammenflickt, aus den unterschiedlichsten Gründen. Allerdings war er bei weitem nicht so geizig mit seinem Whisky wie Sie. Was brauen Sie da in der Spritze zusammen?«
»Ein Sedativum.« Sie drückte behutsam den Kolben vor, bis etwas Flüssigkeit aus der Nadel sprudelte.
Dann legte sie die Spritze ab und rieb seinen Oberarm mit einem alkoholgetränkten Wattebausch ab. Noch ehe sie begriff, was er vorhatte, langte er nach der Spritze und presste den Kolben bis zum Anschlag durch; die Flüssigkeit verteilte sich auf dem Fußboden.
»Halten Sie mich für dämlich, oder was?«
»Mr. …«
»Wenn Sie mich betäuben wollen, holen Sie mir ein Glas Whisky. Sie werden mir dieses Zeug nicht in die Blutbahn pumpen, nur damit ich ausgeknockt bin und Sie in aller Ruhe das Krankenhaus anrufen können.«
»Vergessen Sie den Sheriff nicht. Ich bin verpflichtet, Schussverletzungen zu melden.«
Er setzte sich mühsam auf; hellrotes Blut quoll aus seiner Wunde. Er stöhnte. Lara zog sich hastig ein Paar Chirurgenhandschuhe über und begann, die Blutung mit einem Gazetupfer zu stoppen, damit sie sehen konnte, wie tief die Wunde war.
»Wohl Angst, sich Aids einzufangen, wie?«, fragte er mit einem Nicken auf die behandschuhten Hände.
»Berufsbedingte Schutzmaßnahmen.«
»Keine Panik«, sagte er mit einem breiten Grinsen. »Ich habe immer gut auf mich aufgepasst.«
»So wie heute Abend? Hat man Sie beim Falschspielen erwischt, oder haben Sie mit der falschen Frau geflirtet? Oder hat sich etwa beim Reinigen Ihres Gewehrs ein Schuss gelöst?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, es war ein …«
»Ach ja, eine Harke. Die hätte allerdings einen Einstich verursacht und nicht das Gewebe zerrissen.« Sie arbeitete flink und effektiv. »Hören Sie, ich muss das lose Gewebe abschneiden und die Wunde mit ein paar Stichen nähen. Es wird weh tun. Ich muss Sie betäuben.«
»Vergessen Sie’s.« Er schwang die Hüfte über die Tischkante, als wollte er gehen.
Lara hielt ihn zurück, indem sie ihm die Handballen an die Schultern drückte. Die Finger der Handschuhe waren blutig. »Lidocain. Örtliche Betäubung«, erklärte sie. Dann nahm sie ein Fläschchen aus dem Medizinschrank und ließ ihn den Aufdruck lesen. »Okay?«
Er nickte kurz und beobachtete, wie sie noch einmal eine Spritze aufzog. Sie injizierte das Medikament neben der Wunde. Als das umgebende Gewebe betäubt war, kappte sie die ausgefransten Ränder, reinigte die Wunde mit Salzlösung, vernähte die tiefliegende Schicht und polsterte sie mit einer Drainage aus.
»Was zum Teufel ist das?« Er war blass und schwitzte stark, dennoch hatte er ihre geschickten Hände nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen.
»Das ist eine sogenannte Penrose-Drainage. Sie fängt Blut und andere Flüssigkeiten auf und verhindert eine Infektion. Ich werde sie in ein paar Tagen entfernen.« Sie schloss die Wunde mit ein paar Stichen und bedeckte sie mit einem Verband.
Nachdem sie die blutigen Handschuhe in einen extra dafür ausgewiesenen Eimer für kontaminierten Abfall geworfen hatte, ging Lara zum Waschbecken, um sich die Hände zu reinigen. Danach bat sie ihn, sich aufzurichten, damit sie ihm einen Stützverband um die Hüfte wickeln konnte, der ein Verrutschen verhindern sollte.
Sie trat einen Schritt zurück und begutachtete kritisch ihr Werk. »Sie haben Glück gehabt, dass er kein besserer Schütze war. Ein paar Zentimeter weiter rechts, und die Kugel hätte Ihre inneren Organe penetrieren können.«
»Oder ein paar Zentimeter tiefer, und ich hätte nie wieder etwas penetrieren können.«
Lara schenkte ihm einen geringschätzigen Blick. »Tja, da haben Sie anscheinend wirklich noch mal Glück gehabt.«
Sie war professionell distanziert geblieben, obwohl jedes Mal, wenn sie den Verband um seine Mitte gewickelt hatte, ihre Wange seinen breiten Brustkorb gestreift hatte. Er hatte einen schlanken, sonnengebräunten, behaarten Oberkörper und einen harten, flachen Bauch. Sie hatte schon in vielen Notaufnahmen großer Krankenhäuser gearbeitet und so manchen zwielichtigen Charakter zusammengeflickt, aber keiner von ihnen war so schlagfertig, attraktiv und amüsant wie dieser Kerl hier gewesen.
»Glauben Sie mir, Doc, ich habe das Glück des Teufels persönlich.«
»Oh, das glaube ich Ihnen gern. Ich schätze Sie als einen Mann ein, der immer an der Klippe entlangbalanciert und nur aus purem Zufall überlebt. Wann hatten Sie Ihre letzte Tetanusimpfung?«
»Letztes Jahr.« Sie sah ihn skeptisch an. Er hob die rechte Hand, als würde er einen Eid ablegen. »Ich schwöre.«
Er ließ sich von der Kante des Untersuchungstisches gleiten, stellte sich auf die Füße und blieb mit der Hüfte angelehnt stehen, während er die Jeans zuknöpfte, den Gürtel allerdings offen ließ. »Was bin ich Ihnen schuldig?«
»Fünfzig Dollar für die Behandlung außerhalb der Sprechzeit. Fünfzig für das Nähen und die Bandagen, zwölf pro Injektion, einschließlich der, die Sie verschwendet haben, und vierzig für die Medikamente.«
»Medikamente?«
Sie nahm zwei Plastikfläschchen aus der verriegelten Vitrine und gab sie ihm. »Ein Antibiotikum und ein Schmerzmittel. Wenn die Wirkung des Lidocains nachlässt, wird’s weh tun.«
Er zog eine Geldklammer aus der Tasche seiner engsitzenden Jeans. »Mal sehen … Fünfzig plus fünfzig plus vierundzwanzig plus …«
»Einhundertvierundsechzig.«
Er hob eine Braue, anscheinend belustigt über ihre prompte Antwort.
»Stimmt. Einhundertvierundsechzig.« Er zog die Scheine heraus und legte sie auf den Untersuchungstisch. »Der Rest ist für Sie«, bemerkte er, als er eine Fünfdollarnote anstatt vier einzelner hinlegte.
Lara war überrascht, dass er so viel Bargeld bei sich trug. Selbst nachdem er sie bezahlt hatte, blieb ihm noch ein ganz ansehnliches Bündel. »Vielen Dank. Nehmen Sie heute Abend noch zwei Kapseln von dem Antibiotikum, ab morgen dann vier täglich, bis sie aufgebraucht sind.«
Er studierte die Etiketten, öffnete das Fläschchen mit dem Schmerzmittel und nahm eine Tablette heraus. Er warf sie sich in den Mund und schluckte sie trocken. »Mit ’nem Schluck Whisky würd’s besser runtergehen.« Es klang wie eine hoffnungsvolle Frage.
Sie schüttelte den Kopf. »Nehmen Sie davon alle vier Stunden eine. Zwei, wenn es gar nicht auszuhalten ist. Und zwar mit Wasser«, betonte sie, ohne ernsthaft zu glauben, dass er ihre Anweisung befolgen würde. »Kommen Sie morgen Nachmittag gegen halb fünf vorbei. Dann werde ich den Verband wechseln.«
»Das kostet noch mal fünfzig Scheinchen, nehme ich an?«
»Nein, das ist bereits im Preis inbegriffen.«
»Ich stehe tief in Ihrer Schuld.«
»Tun Sie nicht. Sobald Sie verschwunden sind, rufe ich Sheriff Baxter an.«
Er kreuzte die Arme über der blanken Brust und sah Lara nachsichtig an. »Und klingeln ihn zur nachtschlafenden Stunde aus dem Bett?« Er schüttelte tadelnd den Kopf. »Ich kenne den armen alten Elmo Baxter schon mein ganzes Leben. Er und mein Daddy waren Kumpel, schon als Jugendliche während des Ölbooms, wissen Sie? Mein Daddy hat immer gesagt, es wäre, als hätten sie den Krieg zusammen mitgemacht.
Sie hingen beide immer draußen bei den Bohrtürmen rum, waren so eine Art Maskottchen für die Arbeiter. Haben Besorgungen für sie gemacht und Hamburger, Zigaretten, Fusel oder was immer sie wollten, organisiert. Er und mein Daddy haben wahrscheinlich etliches beschafft, woran der alte Elmo lieber nicht erinnert werden würde«, sagte er mit einem Zwinkern. »Aber – nur zu, rufen Sie ihn ruhig an. Ich weiß allerdings, dass er sich lediglich freuen wird, mich wiederzusehen. Er wird mir auf den Rücken klopfen und etwas in der Art sagen wie ›Junge, lange nicht gesehen, wie?‹ und ›Was hast du die ganze Zeit getrieben?‹.« Er hielt inne, um Laras Reaktion abzuwarten. Ihr steinharter Blick irritierte ihn nicht.
»Elmo ist überarbeitet und unterbezahlt. Wenn Sie ihn wegen dieser Lappalie aus dem Bett holen, wird er stocksauer werden, und er ist so schon nicht der Gelassenste. Und wenn Sie dann mal einen echten Notfall haben, irgendeinen abgedrehten Drogi, der bei Ihnen einbricht, um sich was gegen die kleinen grünen Monster zu besorgen, die ihm übers Gesicht krabbeln, wird sich der gute Elmo zweimal überlegen, ob er Ihnen zu Hilfe kommt. Ganz abgesehen davon«, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu, »werden es die Leute hier gar nicht gern sehen, dass ein Geheimnis bei Ihnen scheinbar nicht gut aufgehoben ist. Die Menschen in einer kleinen Stadt wie Eden Pass legen großen Wert auf Diskretion.«
»Ich bezweifle, dass die meisten überhaupt wissen, was dieses Wort bedeutet«, entgegnete Lara trocken. »Und im Gegensatz zu dem, was Sie mir weismachen wollen, habe ich in meiner kurzen Zeit hier erfahren müssen, wie schnell und effektiv Gerüchte in Umlauf gebracht werden. Ein Geheimnis ist in dieser Stadt nicht von langer Dauer. Trotzdem, Ihre Botschaft hinsichtlich Sheriff Baxter ist angekommen. Laut und deutlich. Was Sie mir sagen wollten, ist, dass er seine Kumpels kaum im Stich lassen wird, und selbst wenn er den Bericht über die Schussverletzung aufnehmen würde, damit hätte es sich auch bereits.«
»So ungefähr«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Wenn der Sheriff in einer Gegend wie dieser jeden abgegebenen Schuss verfolgen würde, wäre er binnen eines Monats reif für den Ruhestand.«
Lara sah ein, dass er wahrscheinlich recht hatte, und seufzte tief. »Wurden Sie angeschossen, während Sie ein Verbrechen begangen haben?«
»Ein oder zwei Sünden vielleicht«, sagte er mit einem breiten, verschlagenen Grinsen. Seine blauen Augen funkelten schelmisch. »Aber ich glaube nicht, dass es ein Verbrechen war.«
Sie gab schließlich ihre professionelle Haltung auf und lachte. Er wirkte nicht wie ein Verbrecher, obwohl er mit Sicherheit ein Sünder war. Sie bezweifelte, dass er gefährlich war, höchstens vielleicht für leicht zu beeindruckende Frauen.
»Sieh an, unsere Ärztin ist anscheinend doch nicht so spießig. Sie kann ja sogar lächeln. Und was für ein hübsches Lächeln.« Die Lider halb geschlossen, fragte er etwas leiser: »Was haben wir denn sonst noch Hübsches vor mir versteckt, Doc?«
Jetzt war es an ihr, die Arme vor der Brust zu verschränken. »Kommen Sie mit dieser Art Sprüchen bei den Frauen an?«
»Ich war immer der Ansicht, dass Worte überflüssig sind, wenn es um Jungs und Mädchen geht.«
»Tatsächlich?«
»Spart Zeit und Energie. Energie, die man besser für andere Dinge verwenden sollte.«
»Ich wage kaum zu fragen, welche ›Dinge‹ damit gemeint sind …«
»Fragen Sie nur. Mir ist so schnell nichts peinlich. Ihnen etwa?«
Es war lange her, dass ein Mann mit ihr geflirtet hatte. Und noch länger, dass sie sich auf den Flirt eingelassen hatte. Es tat gut. Aber nur für ein paar Sekunden. Dann erinnerte sie sich, dass sie sich einen Flirt nicht leisten konnte, ungeachtet, wie harmlos er war. Ihr Lächeln wurde schwächer, versiegte dann ganz. Sie richtete sich auf und nahm ihre gewohnt professionelle Haltung an. »Vergessen Sie Ihr Hemd nicht«, sagte sie knapp.
»Das können Sie wegwerfen.« Er machte einen Schritt vorwärts, stolperte jedoch sogleich mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück. »Verfluchte Scheiße.«
»Was ist?«
»Mein Knöchel. Muss ihn mir verstaucht haben, als ich … Sieht böse aus, fürchte ich.«
Sie kniete sich hin und schob vorsichtig sein rechtes Hosenbein hinauf. »Guter Gott! Warum haben Sie mir nicht eher was gesagt?« Der Knöchel war geschwollen und verfärbt.
»Weil ich geblutet habe wie ein abgestochenes Schwein. Man muss schließlich Prioritäten setzen. Es geht schon …« Er beugte sich hinunter, schob ihre tastenden Hände weg und zog das Hosenbein wieder runter.
»Der Knöchel muss geröntgt werden. Er könnte gebrochen sein.«
»Ist er nicht.«
»Sie haben gar nicht die Qualifikation, das zu beurteilen.«
»Stimmt. Aber ich hatte schon genug gebrochene Knochen, um zu wissen, wann einer gebrochen ist, und dieser ist es nicht.«
»Ich kann die Verantwortung nicht übernehmen, wenn …«
»Entspannen Sie sich, okay? Ich mache Sie für gar nichts verantwortlich.« Mit freiem Oberkörper und barfuß humpelte er zu der Tür, durch die er auch gekommen war.
»Möchten Sie sich nicht die Hände waschen, bevor Sie gehen?«, bot sie ihm an.
Er sah auf das Blut herunter und schüttelte den Kopf. »Die waren schon schmutziger.«
Als Ärztin hatte Lara kein gutes Gefühl dabei, ihn einfach so gehen zu lassen. Aber er war erwachsen und für sich selbst verantwortlich. Sie hatte für ihn getan, was er zugelassen hatte.
»Vergessen Sie nicht, die Antibiotika zu nehmen«, mahnte sie, während sie ihn mit der Schulter unter der rechten Achsel stützte, als er hinaushumpelte. Ein Pick-up parkte vor dem Hintereingang. Die Vorderreifen hatten ihr Petunienbeet nur um Zentimeter verfehlt.
»Haben Sie Krücken daheim?«
»Ich werde mir schon welche besorgen, wenn’s nötig ist.«
»Es wird nötig sein. Sie dürfen den Knöchel in den nächsten Tagen nicht belasten. Wenn Sie zu Hause sind, packen Sie ihn in Eis, und legen Sie ihn hoch, sooft Sie können. Und denken Sie daran, morgen um … «
»Halb fünf bei Ihnen. Ich werde da sein.«
Sie sah zu ihm auf. Er neigte den Kopf, um ihr in die Augen zu schauen. Ihre Blicke trafen sich. Lara spürte die Hitze, die von seinem Körper ausging. Er war muskulös und durchtrainiert, und sie war sicher, dass seine Verletzungen schnell heilen würden. Er war physisch betrachtet ein Bild von einem Mann, was ihr trotz aller Professionalität nicht entgangen war.
Sein Blick wanderte über sie, ihr Haar, ihr Gesicht, ihren Mund. Mit tiefer, kehliger Stimme sagte er: »Sie sehen verdammt noch mal einfach nicht wie die Ärzte aus, die ich bisher kennengelernt habe.« Seine Hand glitt von der Schulter zur Hüfte. »Und Sie fühlen sich auch nicht wie einer an.«
»Und wie fühlt sich ein Arzt normalerweise an?«
»Jedenfalls nicht so«, raunte er und drückte sanft zu.
Dann küsste er sie. Abrupt und unverschämt presste er seine Lippen auf ihre.
Lara keuchte vor Überraschung und befreite sich. Ihr Herz pochte, und ihr wurde ganz heiß. Unzählige Möglichkeiten, wie sie reagieren könnte, schossen ihr durch den Kopf, doch sie befand, es würde am besten sein, so zu tun, als wäre dieser Kuss nie passiert. Sich damit zu beschäftigen würde ihm nur unangemessene Bedeutung zukommen lassen. Sie wäre gezwungen, ihn zur Kenntnis zu nehmen und sich damit auseinanderzusetzen, was sie möglichst verhindern wollte.
Und so sagte sie in bewusst unterkühltem Ton: »Soll ich Sie irgendwohin fahren?«
Er grinste von einem Ohr zum anderen, als hätte er ihren Versuch, die Fassung zu bewahren, längst durchschaut. »Nein, danke«, antwortete er. »Mein Wagen hat Automatik. Das schaffe ich mit einem Fuß.«
Sie nickte nur. »Sollte ich hören, dass heute Nacht ein Verbrechen begangen wurde, werde ich Sheriff Baxter Meldung erstatten.«
Lachend, wenn auch mit schmerzverzerrtem Gesicht, kletterte er in den Pick-up. »Keine Sorge. Sie haben nichts Ungesetzliches getan.« Er zeichnete mit dem Finger ein X auf die Brust. »Großes Indianerehrenwort.« Der Motor sprang stotternd an. Er legte den Rückwärtsgang ein. »Bis bald, Doc.«
»Geben Sie auf sich acht, Mr. …«
»Tackett«, rief er ihr durchs offene Fenster zu. »Aber Sie dürfen Key zu mir sagen.«
Alles in Lara kam zum Stillstand. Es schien, als würde ihr Herz, das vor wenigen Sekunden noch gerast hatte, aufhören zu schlagen. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht, und ihr wurde schwindlig. Wahrscheinlich war sie kreidebleich, doch es war zu dunkel, als dass er es bemerken konnte, als er den Pick-up rückwärts aus der Einfahrt lenkte. Er hupte zweimal, tippte sich mit den Fingerspitzen salutierend an die Stirn und verschwand holpernd in die Dunkelheit.
Lara sackte auf den kühlen Betonstufen zusammen, die mit Tropfen getrockneten Blutes gesprenkelt waren. Sie barg das Gesicht in ihren zitternden, feuchten Händen. Die Nacht war warm und mild, dennoch schauderte sie unter ihrem weiten weißen Hemd. Auf ihren nackten Beinen bildete sich Gänsehaut. Ihr Mund war trocken.
Key Tackett. Clarks jüngerer Bruder. Er war also zurück. Dies war der Tag, auf den sie gewartet hatte. Key war unabdingbar für den Plan, den sie seit einem Jahr entwickelt und vorbereitet hatte. Jetzt war er da. Sie musste ihn irgendwie dazu kriegen, ihr zu helfen. Aber wie?
Sie – Dr. Lara Mallory – war doch der letzte Mensch, dem Key Tackett begegnen wollte.