Eckhard Lange

Die LEERE und die FÜLLE

Roman nach Motiven des Gilgamesch-Epos

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

DIE VORLAGE: DAS GILGAMESCH-EPOS

ERSTER TEIL: URUK – Kapitel 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

ZWEITER TEIL: ENKIDU – 1. KAPITEL

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

Kapitel 10

KAPITEL 11

DRITTER TEIL: CHUMBABA – KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 5

VIERTER TEIL : INANNA - KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

FÜNFTER TEIL: UTNAPISTIM – KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

Impressum neobooks

DIE VORLAGE: DAS GILGAMESCH-EPOS

In Uruk im Zweistromland herrscht Gilgamesch, ein gewaltiger Held, aber auch ein grausamer Tyrann. Als seine Untertanen die Götter um Hilfe anflehen, erschaffen sie Enkidu, einen wilden Tiermenschen, an Stärke dem Gilgamesch ebenbürtig. Doch eine Schamkat, eine priesterliche Tempeldirne zähmt und verwandelt ihn durch ihre Liebesdienste, und Gilgamesch und Enkidu schließen Freundschaft. Gemeinsam besiegen sie Chumbaba, einen mächtigen Dämon, den Hüter des Zedernwaldes, um Holz für Uruk zu beschaffen und damit Ruhm zu gewinnen.

Da entbrennt Innana, die Göttin, in Liebe zu Gilgamesch, doch der weist sie ab. Zornig fordert Innana im Rat der Götter seinen Tod, doch diese lassen nur Enkidu sterben, den Freund. Erschüttert durch sein qualvolles, ruhmloses Ende, macht Gilgamesch sich auf, nach Unsterblichkeit zu suchen, wie die Götter sie allein Utnapistim gewährt hatten. Auf dem Weg dorthin durchzieht er die endlose Steppe, durchschreitet die Unterwelt und überquert endlich das Meer des Todes. Wer auch immer ihm begegnet, nennt sein Vorhaben eitel und zwecklos.

Obwohl er die von Utnapistim geforderte Probe, wenigstens den Schlaf zu besiegen, nicht besteht, weist ihm dieser ein Kraut, das aus Greisen Jünglinge mache. Doch er bewacht es schlecht, so dass eine Schlange es ihm raubt, ehe er es in Uruk erproben kann. So muß er nach all seinen Mühen erkennen, dass Sterblichkeit das Los aller Menschen bleibt und sie nur in ihren Taten, so sie zum Wohle der Menschen geschehen, überleben.

ERSTER TEIL: URUK – Kapitel 1

„Zum Teufel mit dem Mistkerl!“ Das war wirklich kein besonders frommer Wunsch, und er war auch keiner gehobenen Ausdrucksweise geschuldet. Vor allem jedoch: Er war absolut unrealistisch, und das wusste Fred Anders. Er warf das Mobilteil seines Telefons unsanft auf die Schreibtischplatte, danach starrte er wütend auf die Kastanienblüten vor dem Bürofenster, ohne ihre stille Schönheit wahrzunehmen. Der Mistkerl war übrigens ein gewisser Gilbert Gamesch, Chef der Supermarktkette GiGa, und der hatte eben ein weiteres Mal verhindert, dass in einem der Märkte ein Betriebsrat gewählt werden konnte.

Fred Anders stand schwerfällig auf und trat an das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Er war ein großer, breitschultriger Mann , mit schütter gewordenem Haar, aber mit einem gepflegten Kinnbart, der an die Zeit erinnerte, als er noch zur See fuhr. Doch das lag bereits Jahrzehnte zurück, er hatte sich, zunächst ehrenamtlich, dann aber hauptberuflich in der Gewerkschaft engagiert und war nun schon seit vielen Jahren in der Bezirksleitung des DGB. Darüber war er alt geworden, und die vielen Misserfolge gerade in den letzten Jahren hatten ihn bitter gemacht. Wie viele Sozialpläne hatte er mühsam erkämpfen müssen, weil wieder einmal Betriebe einfach geschlossen oder ins Ausland verlagert oder doch durch Kündigungen rigoros verkleinert worden waren. Ausländisches Kapital, Manager ohne Bezug zu dem, was sie verwalteten, routinierte Insolvenzverwalter waren seine Gegner, und manches Mal wünschte er sich die Zeiten zurück, wo echte Eigentümer patriarchalisch streng vielleicht, aber doch mit Gerechtigkeitssinn und Verantwortungsgefühl über ihre Angestellten herrschten. Da waren Verhandlungen noch ein fairer Kampf, Mann gegen Mann, wenn es um die Rechte der Mitarbeiter ging – ein Streit, getragen von gegenseitiger Achtung und meist endend mit einem versöhnlichen Handschlag.

Auch Gilbert Gamesch war zwar Eigentümer, persönlich haftender Gesellschafter dieses riesigen Konglomerats scheinselbständiger Märkte und Handelsgesellschaften, aber er war nicht mehr greifbar für Fred Anders, schickte nur noch seine zynischen Anwälte vor oder einen dieser arroganten Geschäftsführer, die sich als Menschenfreunde feiern ließen, wenn sie morgens vor versammelter Presse einen Tausend-Euro-Scheck an einen Kindergarten überreichten aus tiefer Verantwortung für die Zukunft des Landes, während sie nachmittags eine unliebsame, weil gewerkschaftlich organisierte Kassiererin unter irgendwelchen fadenscheinigen Gründen feuerten. Fred Anders war müde geworden in diesem ständigen, meist aussichtslosen Kampf, und er sehnte seinen letzten Arbeitstag herbei, der Ende des Jahres anstand. Aber er wollte nicht ohne Erfolg, einen letzten kleinen Triumph gegenüber diesem Gamesch abtreten. Und das war wieder einmal misslungen.

Gilbert Gamesch wusste nicht viel von diesem Fred Anders, war ihm noch nie persönlich begegnet. Ein Name nur, einer von vielen Spielsteinen auf dem Brett, wenn es um Arbeitnehmer ging, um Tarife, Betriebsräte, Gewerkschaften – alles hinderliche, überflüssige Dinge in seinen Augen, lästig für ein freies Unternehmertum, das nur dem Markt verpflichtet war – und natürlich dem Gewinn. Mit diesen Leuten zu verhandeln, das war unter seiner Würde. Derartige Kleinigkeiten erledigten seine Leute für ihn, dazu wurden sie schließlich bezahlt. Und sie waren geübt genug, um es im Regelfall ohne Rücksprache mit der Konzernspitze, mit Gilbert Gamesch persönlich zu tun.

Dennoch war er durchaus präsent in seinen Unternehmungen. Es war mehr als nur eine Marotte, dass er häufig in irgendeinem seiner Märkte irgendwo im Land auftauchte, unangemeldet, gleichsam inkognito wie ein gewöhnlicher Kunde, dass er durch die Gänge streifte, die Ordnung auf den Regalen inspizierte, die Mitarbeiterinnen beobachtete, ihre Arbeitsweise, ihren Umgang mit den Kunden, um dann gegebenenfalls anschließend den Marktleiter höchst direkt zwar mit leiser, aber deutlicher Sprache zurechtzuweisen. Doch seine Streifzüge hatten noch einen anderen Zweck. Seine Augen suchten die jungen, die hübschen vor allem unter den weiblichen Auszubildenden, und welche Gefallen gefunden hatte in seinen durchaus wählerischen Augen, die sprach er an, fragte nach irgendwelchen Waren, verwickelte sie in ein fachliches Gespräch. Aber er prüfte weder ihr Sachwissen noch ihre Zuvorkommenheit gegenüber dem Kunden, sein prüfender Blick ruhte auf dem, was der Dienstkittel verbarg, und er hatte genug Fantasie, aber auch genug Erfahrung, um sich dieses Darunter vorzustellen. So gab er sich am Ende leutselig als Chef zu erkennen, bestätigt vom herbeizitierten Marktleiter, und wenn er den Eindruck hatte wirken lassen – schließlich war er nicht nur Herr aller Märkte, sondern auch eine stattliche Erscheinung, sportlich, sonnengebräunt, männlich eben - lud er eines dieser jungen Dinger auch gern zum Essen ein, ganz ohne Hintergedanken natürlich, allein um seine Solidarität mit all seinen Mitarbeitern zu demonstrieren und Leistungen ganz persönlich zu würdigen. Und dennoch: Das Gerücht, nie wirklich bestätigt, aber dennoch hartnäckig hinter vorgehaltener Hand verbreitet, besagte schlicht, dass es selten beim Essen allein geblieben sei.

Doch so sehr Fred Anders auch nachforschte, niemals gelang es ihm, einen Beweis dafür zu erbringen. Sicher, die Mädchen fürchteten um ihren Arbeitsplatz. Doch meist knüpften sie allerlei wahnwitzige Hoffnungen an ein solches nächtliches Erlebnis in irgendeinem Hotelzimmer: Hoffnung auf eine Wiederholung, auf den Eindruck, den sie glaubten hinterlassen zu haben und der sie vielleicht – vielleicht! – zu größerer Gunsterweisung berechtigen könnte, beruflich, vor allem jedoch privat. Daß sich solche Hoffnungen nie erfüllten, sie schwiegen darüber, aus Angst, aus Enttäuschung, aus Scham. Und so gab es keinerlei Warnung für die nächsten Opfer. Wobei noch zu fragen wäre, ob sie je etwas genutzt hätte.

„Jus primae noctis,“ nannte der Gewerkschafter bitter, was er nur ahnen konnte, und was er nie öffentlich machte, weil er keine Verleumdungsklage riskieren wollte. Aber es passte zu jener anderen Wendung, die Gilbert Gamesch in seinen Augen kennzeichnete und die Fred Anders schon eher auch in den Mund nahm: „Handeln nach Gutsherrenart.“ Und hatten nicht die adligen Patrone auf ihren Herrensitzen jahrhundertelang sich dieses Recht gegenüber ihren Leibeigenen genommen, ehe sie einer Eheschließung zuzustimmen bereit waren?

KAPITEL 2

Gilbert Gamesch störten solche Gerüchte nicht im geringsten, solange sie nicht zum öffentlich erhobenen Vorwurf wurden und er gezwungen wäre, dagegen rechtlich vorzugehen. Im Gegenteil: Sie schmeichelten seinem Selbstbewusstsein, ob sie nun wahr waren oder nicht – das Bild des Frauenhelden, des unwiderstehlichen Eroberers gefiel ihm durchaus. Daß er sich mit attraktiven Frauen umgab, allerdings in anderen Größenordnungen, das war schließlich nahezu jede Woche irgendeinem jener Blättchen zu entnehmen, die man gerne der sogenannten Regenbogenpresse zuordnet. Hier gab es Bilder zuhauf, die den Konzernchef Hand in Hand mit einem Filmsternchen, einem Partyluder oder einer Schlagersängerin zeigten, und die Vermutungen über die Intensität dieser Beziehungen erfüllten die geheimen Sehnsüchte so mancher Leserin. Hätte er es da nötig, die Dummheit minderjähriger Ladenmädchen auszunutzen wie ein vergreister Lüstling? Na also!

Außerdem konnte er ein ganz anderes Ambiente bieten als irgendein Hotelzimmer. In Genua lag sein Schiffchen, wie er die Yacht mit gekonntem Understatement gerne bezeichnete; in den Schweizer Alpen stand ihm ein großzügiges Chalet zur Verfügung; und neben je einer Stadtvilla in Frankfurt und Berlin in bester Lage besaß er seit kurzem auch ein spätbarockes Herrenhaus einschließlich aller Nebengebäude, die zu einem Gutsbetrieb früher dazugehörten, irgendwo im Holsteinischen. Insofern nahm er den Vorwurf, nach Gutsherrenart zu verfahren, mit einem ironischen Lächeln zur Kenntnis, ohne zu widersprechen. All dieser Besitz entsprang nicht einem Bedürfnis, sich die eigene Größe immer neu zu bestätigen, sie war seinem Renommee geschuldet, war Teil der Werbung für seine Unternehmungen. Er selbst hatte in all diesen Häusern meist nur zwei oder drei Räume, die er tatsächlich bewohnte, und die waren in erster Linie zweckmäßig, seinen Bedürfnissen nach Entspannung, seiner Schwäche für übersichtliche Ordnung entsprechend eingerichtet – ohne all die meist recht unbequemen Designermöbel, aber auch ohne wertvolle, aber unpraktische Antiquitäten. Nur dort, wo die Pressefotografen zugelassen waren, wo öffentlichkeitswirksame Empfänge stattfanden, hatte er bekannte Innenarchitekten wirken lassen.

Auch auf Mode ließ er sich nicht festlegen. Er kleidete sich, wie es ihm gerade in den Sinn kam, höchstens angepasst an bestimmte Anlässe – seriös oder leger, auffallend oder eher nachlässig. Selbstverständlich besaß er eine Sammlung maßgefertigter Anzüge, die teure Eleganz verrieten. Gerne gab er sich auch maritim mit heller Leinenhose und einem marineblauen Blazer, und oft genug lief er in verwaschenen blauen oder sandfarbenen Jeans aus den Billigangeboten seiner eigenen Märkte herum, dazu je nach Wetterlage ein Sweatshirt oder ein Kragenpullover gleicher Herkunft. Dann verriet nur die stets fein aufeinander abgestimmte Farbigkeit aller sichtbaren Teile den Geschmack ihres Trägers.

Was auch immer er anzog, er war und blieb eine alles in allem imponierende Erscheinung, jederzeit hätte er ein Casting als Hollywooddarsteller für sich entscheiden können. Hochgewachsen und muskulös, verriet sein Körper, dass er ihn regelmäßig trainierte. Das dunkelblonde Haar trug er kurzgeschnitten, aber es war dicht und seit seinen Kindertagen lockig. Ein energisch-eckiges Kinn und ausgeprägte Wangenknochen kontrastierten auffallend mit einem sinnlichen, weich geschwungenen Mund und dunklen Augen unter gewölbten, schmal gehaltenen Brauen, dem eher weiblichen Teil des Gesichts. Die schmalen Hände verrieten kaum, dass er bei Segelregatten kräftig zugreifen konnte und in seiner Jugendzeit manchen aggressiven Mitschüler mit hartem Schlag zum Schweigen und zum Rückzug gebracht hatte.

Seine Jugend – sie hatte ihm manches abverlangt als Sproß der Familie, die schon damals als reich galt, was keineswegs Ansehen und Freundschaften im Kreis der Gleichaltrigen förderte. Dabei war der Aufstieg der Gamesch-Sippe von mancherlei Rückschlägen überschattet. Gilberts Großvater – Wilhelm August Gamesch – hatte in den zwanziger Jahren den Grundstein gelegt: Er hatte in ein Rostocker Feinkostgeschäft eingeheiratet und trotz der Kriegsjahre in Schwerin und Wismar noch Filialen gegründet. Doch dieses kleine Familienunternehmen galt den neuen Herren dort als allzu kapitalistisch mit einer Anzahl lohnabhängiger Angestellter, Wilhelm Gamesch entging Enteignung und Verhaftung durch Flucht in die britische Zone, und eine Reihe langjähriger Mitarbeiter folgte ihm.

Die Währungsreform bot neue Chancen, und er eröffnete nicht nur im grenznahen Lübeck ein neues Lebensmittelgeschäft, bald hatte er in den umliegenden Landstädten wieder ein allerdings noch recht überschaubares Filialnetz aufgebaut, übrigens unter der energischen Mithilfe seiner einzigen Tochter Nina, die schon mit sechzehn Jahren als Lehrmädchen bei ihm anfing und bald genug Erfahrung hatte, das jeweils neugegründete Zweiggeschäft aufzubauen. 1966 wurde ihr Sohn Gilbert geboren, ein eher ungewolltes Ergebnis einer unbedachten Affaire. Ein Jahr später heiratete sie dann doch den Vater und übernahm zugleich die Leitung des Unternehmens. Gilbert allerdings blieb ein Gamesch, der Erzeuger erwies sich als wenig geeignet sowohl für das Geschäft wie für die Erziehung, und auch sein Anteil an Eigenschaften und Begabungen des Jungen blieb augenscheinlich gering. Einzig das attraktive äußere Erscheinungsbild war ein Erbe des Vaters – und das große Interesse am anderen Geschlecht, wo immer sich Gelegenheit dazu bot. Nina Gamesch jedenfalls sorgte schon bald dafür, dass dieser Mann aus dem Gesichtskreis der Familie verschwand. Ehebruch war immerhin ein rechtskräftiger Scheidungsgrund.

Gilbert aber konnte mit diesem Erbgut später gut als Frauenheld durchgehen, als begehrter Junggeselle auch ohne den Reichtum, der jeden Mann begehrenswert gemacht hätte. Und – er wusste beides zu nutzen, wenn ihm der Sinn nach einem erotischen Abenteuer oder oft genug nur nach einer schnellen Befriedigung seiner Lust stand. Dabei glich er einem geübten Heiratsschwindler: Auch danach, wenn er sich längst einer anderen zugewandt hatte, träumten doch die meisten der so betrogenen Frauen weiter von ihm, und sehnsüchtiges Hoffen und Warten übertraf allemal Enttäuschung, Rachegefühle und Zorn. Das machte es ihm leicht – und es bewahrte ihn vor Skandalen, vor finanziellen Forderungen oder gar Anzeigen wegen Vergewaltigung. Auch wenn es nicht immer die erste Nacht war, die er sich nahm, wie Fred Anders vermutete – es war stets eine besondere Nacht.

Alle Abenteuer aber hinderten ihn nicht daran, zielstrebig auf die Vermehrung des Familienerbes zuzugehen. Gymnasium und Studium der Betriebswirtschaft absolvierte er zügig und erfolgreich, dann trat er ins mütterliche Unternehmen ein. Als Nina Gamesch fünf Jahre später tödlich verunglückte, übernahm er nicht nur ihre Rolle, es begann ein rasanter Aufstieg zu einem letztlich europaweiten Unternehmen. Ausschaltung manches Konkurrenten durch einen gewagten Preiskampf, Aufkauf der angeschlagenen Handelsketten, Eingliederung auch von Produktionsfirmen, alles in einem kaum überschaubaren Geflecht unter dem Dach einer neugegründeten Holding mit Sitz in Liechtenstein, das alles machte die nun GiGa genannten Märkte zur führenden Handelskette. Und ihr unumstrittener Herrscher war Gilbert Gamesch.

KAPITEL 3

„Ihr müsst mir das glauben, Kollegen! Ihr müsst mir einfach glauben.“ Die Frau wischte sich Tränen aus den Augen, obwohl sie nicht weinen wollte. Aber Scham und auch Wut waren zu übermächtig, wollten nach außen dringen. „Ich hab noch nie etwas gestohlen. Und dann diese lächerlichen zwei Puddingpulver! Dabei brauch ich das Zeug überhaupt nicht.“

„Du musst dich hier nicht rechtfertigen, Kollegin.“ Fred Anders sagte es ruhig und bestimmt. „Du bist nicht die erste, die bei GiGa auf diese Art ihren Job verlor. Wir kennen diesen fiesen Trick schon lange. Nur leider – wir haben nichts, um ihn als Täuschung zu entlarven. Er sagt, du hättest gestohlen, und wir können ihm das Gegenteil nicht beweisen. Es steht Aussage gegen Aussage, und die Tatsachen sprechen gegen dich – wie in all diesen Fällen. Und immer waren es Kolleginnen wie du, die sich für die Gründung eines Betriebsrates stark machten, die sich für andere einsetzten, die Missstände zur Sprache brachten. Es ist stets die gleiche Leier: Erst fällst du unangenehm auf, dann macht der Marktleiter ganz zufällig eine Taschenkontrolle bei Schichtwechsel, und dann findet sich ausgerechnet bei dir etwas drin, ohne Beleg, ohne Bon. Selbst manchem Arbeitsrichter ist das schon aufgefallen. Aber er muss sich an die Tatsachen halten. Wenn du Glück hast, gerätst du an einen, der dir einen Vergleich vorschlägt. Wenn ein anderer da vorne sitzt, hast du keine Chance. So ist das, leider.“

Die Frau beugte sich vor, blickte ihn entsetzt an: „Ihr könnt da also auch nichts machen?“ Fred Anders hob die Hand, um sie wieder auf den Schreibtisch fallen zu lassen: „Wir können es versuchen, wenn du willst. Wir können klagen. Und selbst wenn wir damit keinen Erfolg haben – je häufiger wir mit ähnlichen Fällen vor Gericht gehen, desto eher wachen die da auf. Auch das wäre ein Fortschritt.“

„Ich lass mich nicht einfach so rauswerfen. Ich lass mich nicht als Diebin abstempeln.“ Die Frau sagte es entschlossen, trotzig. Ihr Gegenüber nickte: „Ich besorg dir einen Termin bei unserem Anwalt. Und wenn du das durchhältst, pauken wir das durch alle Instanzen. Vielleicht finden wir ja einen Zeugen. Oder der Marktleiter knickt ein. Oder das Gericht befindet wenigstens auf Geringfügigkeit. Wenn wir dann trotzdem widersprechen, weil es um deinen guten Ruf, weil es um die Wahrheit geht – dann ist das vielleicht ein Fall für die Medien. Allerdings, das kostet deine Nerven. Darüber musst du dir klar sein. Wir werden jedenfalls hinter dir stehen.“ Fred Anders schwieg. Was er im folgenden dachte, sprach er nicht mehr aus: „Und wir können GiGa anprangern, an die Öffentlichkeit zerren. Das ist es wert, allemal.“

Der Gewerkschafter blickte der Kollegin hinterher, als sie sein Büro verließ. Sie war jung, sie war hübsch, und sie war energisch und selbstbewusst. Sie würde einen neuen Arbeitsplatz finden, auch wenn alle seine Bemühungen erfolglos sein sollten, dessen war er sich sicher. Aber sie war auch eine Chance in seinem Kampf, denn sie wirkte überzeugend, war fähig, auch vor Gericht sicher und überzeugend aufzutreten. Vielleicht würde sie den Durchbruch schaffen, den Richter nachdenklich machen, weil sich ähnliche Fälle in den GiGa-Märkten häuften. Das wäre der Triumph, mit dem er sich in den Ruhestand verabschieden könnte – wenigstens ein Widerruf der Kündigung wegen des Verdachts, der angebliche Diebstahl sei manipuliert worden. Und es schien gut zu laufen, auch in zweiter Instanz blieben die Richter skeptisch gegenüber der Version des gegnerischen Anwalts. Doch da geschah das Unerwartete: Die Kollegin zog ihre Klage zurück, sie hätte sich mit GiGa außergerichtlich geeinigt. Und sie trat aus der Gewerkschaft aus. Nur einige Monate später übernahm sie die Leitung eines großen Marktes – bei GiGa.

Was Fred Anders nie erfuhr: Als die Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht sich hinzog, als die Medien aufmerksam wurden und eigene Nachforschungen begannen, erhielt die Klägerin eine Einladung von Gilbert Gamesch, eine freundliche Einladung zu einem persönlichen und hoffentlich auch versöhnlichen Gespräch mit dem Chef selbst, und an das Gespräch schlossen sich ein paar ebenso persönliche Tage in seinem Schweizer Chalet an, das am besten von all seinen Wohnsitzen unzugänglich für ungebetene Beobachter war. Es war eben doch von Vorteil, dass die Klägerin jung und hübsch war – und dass sie auch selbstbewusst genug war, mehr zu erwarten als ein paar Liebesnächte. So hatten beide nicht nur ihren Spaß, sondern auch ihren Erfolg. Was die Anwälte offensichtlich nicht zustande brachten, das musste der Chef eben im Alleingang erledigen. Und das hatte ja durchaus seinen Reiz, er konnte es kaum leugnen.

Und beim GiGa-Konzern konnte alles beim alten bleiben – nicht nur die Praxis, die Bildung von Betriebsräten zu unterlaufen, sondern auch all die anderen schmutzigen Tricks, das Personal zu überwachen und auszubeuten. Schließlich waren eben diese Tricks der entscheidende Teil des Erfolges, denn damit konnte man sich von aufmüpfigen Angestellten ebenso trennen wie von solchen, deren Krankheits- oder doch deren Lebensgeschichte sie zu einem Risiko machen könnten. Überwachungskameras, die nicht eventuellen Dieben unter der Kundschaft, sondern dem Verhalten des Personals dienten; Ausforschung auch der privaten Lebensumstände, sozialer oder finanzieller Schieflagen etwa; Arbeitsverträge jenseits aller tariflichen Sicherungen – all das gehörte zu Gilbert Gameschs Geschäftsphilosophie, und er setzte alles daran, sie gegen alle Proteste durchzuhalten, wenn sie denn einmal an die Öffentlichkeit kamen. Was war da schon ein Fred Anders oder all die anderen Typen von der Gewerkschaft!

Und wenn das Image allzu sehr leiden sollte, dann gab es da noch die konzerneigene Stiftung, die mit einigen ansehnlichen Beträgen, medienwirksam ausgeschüttet, die soziale Gesinnung des Unternehmens, die großherzig-verantwortliche Haltung des Chefs dokumentierten. Auch steuerlich erwiesen sich Stiftungen durchaus als ein gutes Geschäft.

KAPITEL 4

Ich weiß es. Ja, ich weiß es! Ihr haltet mich jetzt für eine Verräterin, oder für feige, oder auch für opportunistisch. Doch das ist nicht wahr! Das ist jedenfalls nicht der eigentliche Grund für das, was ich getan habe. Vielleicht kann ich es so sagen: Ich bin verhext worden. Ja, so ähnlich kann man es ausdrücken. Und – ich bin froh darüber. Ich glaube, das muß ich jetzt erklären, wenn es denn überhaupt möglich ist. Am besten, ich versuche einfach zu erzählen, wie es gewesen ist.

Als sein Anruf kam – es war abends nach acht, ich hatte den Fernseher nach der Tagesschau ausgeschaltet, um noch einmal in aller Ruhe meine Notizen durchzugehen für die Verhandlung am nächsten Tag – als also der Anruf kam, war ich zunächst einfach perplex. Mit allem hatte ich gerechnet – Drohungen, Erpressung, Bestechung, ja selbst mit einem inszenierten Unfall – aber nicht damit. Er hatte eine freundliche, eigentlich sogar eine richtig sanfte, liebenswerte Stimme. Ganz anders, als ich das von ihm erwartet hätte, wenn ich je damit gerechnet hätte, dass Gilbert Gamesch, der unerreichbare Boß, das große Phantom hinter allem, sich einfach per Telefon bei mir meldet. Ich habe anfangs gezögert, das überhaupt für bare Münze zu nehmen. Ich dachte an einen üblen Scherz, oder an einen Testversuch. Doch dann merkte ich schon, daß er wirklich am andern Ende der Leitung war.

Erst wollte ich einfach wieder auflegen, oder ihn anschreien, beschimpfen, doch dann erkannte ich: Dies ist eine Chance! Meine Chance. Er ruft schließlich nicht umsonst an. Er hätte das nicht nötig. Aber er will verhandeln. Mit mir, der kleinen Angestellten aus irgendeinem seiner vielen Märkte. Mit mir, die es gewagt hat, gegen ihn zu klagen, nun schon in der zweiten Instanz. Irgend etwas schien da schiefgelaufen zu sein mit all seinen klugen Anwälten. Und ich, ich könnte nun erreichen, was andere vergeblich versucht haben! Eine Entschuldigung für diese Tricks, vielleicht sogar eine Betriebsratswahl für unseren Markt. Ja, das war eine Chance. Aber da war noch dieses andere: seine Stimme. Diese freundliche, sanfte, liebenswürdige Stimme. Da hat es angefangen. Genau da. Darum habe ich zugesagt. Darum!

Wir haben uns verabredet. Er lud mich zu einem Glas Wein ein. Er wolle ganz offen mit mir über alles reden, er sei gesprächsbereit, ganz ohne Vorbehalte. Und ich hätte ein Recht darauf, ihm meine Meinung zu sagen. Da sei eine kleine Weinstube, ganz in der Nähe meiner Wohnung. Dort könnten wir uns treffen, am besten jetzt gleich, wenn es mir passen würde. Und – er würde sich freuen, mich kennenzulernen. So hat es angefangen.

Ich habe einige Zeit vor dem Kleiderschrank gestanden, die übliche Frage: Was zieht man an? Ich entschied mich für ein luftiges Sommerkleid, nicht zu kurz, kein tiefer Ausschnitt. Nein, ich wollte nicht mit Körpereinsatz kämpfen, bestimmt nicht. Warum ich allerdings jene duftig-erotische Garnitur für darunter auswählte, die mein verflossener Freund so an mir geschätzt hat – ich kann es nicht sagen. Aber ich tat es.

Zu dem kleinen Restaurant waren es tatsächlich nur wenige Schritte, dennoch war es mir noch nie besonders aufgefallen. Ich wohnte damals schon länger mitten in der Altstadt mit ihren zum Fluß hin abfallenden Gassen, da gab es die unterschiedlichsten Lokale. Aber Kneipenbummel war nicht so mein Ding, vor allem, nachdem mein Freund eines Tages ohne große Erklärung ausgezogen war. Danach war eher Enthaltsamkeit angesagt, in jeder Beziehung. Aber eigentlich habe ich seitdem nichts vermisst.

Die Weinstube war ein gemütliches kleines Lokal mit dunklen Tischen und Stühlen, Kerzen überall und sogar echte Blumen in den kleinen Vasen. Keine Spur von Schickimicki, kein Hauch von großer weiter Welt, eher Biederkeit und Winzerromantik. Gilbert saß bereits an einem Tisch in der hinteren Ecke, und als ich mich suchend umschaute, erhob er sich, winkte mir zu und setzte sich erst, nachdem ich Platz genommen hatte. Er trug Jeans und ein offenes, kurzärmeliges Hemd mit dezentem Streifenmuster. Er lächelte, als er meine innere Anspannung spürte: „Lassen Sie uns erst einmal ein Gläschen genießen und plaudern,“ sagte er und empfahl dann einen leichten französischen Rotwein. Ich nickte, er bestellte.

„Natürlich weiß ich einiges über Sie aus der Personalakte, aber das sagt wahrscheinlich über einen Menschen genauso wenig wie die angeblich exklusiven Berichte in den bunten Blättern über mich.“ Er blickte mich an, und neben dieser Stimme waren es nun auch diese dunklen, fast traurig wirkenden Augen, die mich faszinierten. „Sie leben schon länger hier in Lübeck?“ „Ich bin in Rehna geboren und aufgewachsen, aber Arbeit gab es dort kaum, so bin ich erst gependelt und dann umgezogen. Die kleine Wohnung habe ich mir mit meinem Freund geteilt.“ „Der Sie dann verlassen hat.“ Ob das ebenfalls in der Personalakte stand oder nur gut geraten war? Jedenfalls irritierte mich diese Bemerkung, aber sie klang irgendwie auch mitfühlend. Ich schwieg. „Auch meine Familie ist aus Mecklenburg herübergekommen, aus beruflichen Gründen, weil Großvater enteignet werden sollte. Und ich bin dann hier in dieser schönen Stadt zur Welt gekommen. Und was kaum jemand weiß: Das Häuschen gibt es noch immer, und es ist auch noch immer in Familienbesitz, und ich bin gern dort, wenn auch leider allzu selten.“ Wieder schwieg ich. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was er mit dieser Art von Gespräch bezweckte. Mein Verstand warnte mich: Laß dich nicht einwickeln! Aber etwas anderes in mir sagte: Er ist einfach nett.

Wir sprachen dann lange über diese Stadt, unsere Beziehungen zu ihr, über viele kleine Erlebnisse, die wir mit ihr und den Menschen hier verbinden, er plauderte aus seiner Schulzeit, erzählte von seinen Lehrern, von mancherlei Streichen. Es war wohl schon das dritte Glas, das vor uns stand, und es war spät geworden. Wir waren nun die einzigen Gäste im Raum, und noch immer war er mit keiner Silbe auf den eigentlichen Grund unseres Treffens eingegangen. Der Markt, der Marktleiter und seine Anschuldigung, das Verfahren vor dem Arbeitsgericht – es schien für ihn einfach nicht zu existieren. Und, ich gebe es zu, ich hatte zuerst nicht den Mut, und später auch nicht mehr die Absicht, das Gespräch darauf zu bringen. Dabei ging es doch um mich, meine Zukunft, ja auch um meine Ehre! Ich wusste das, aber ich verdrängte es. Dies war ein so schöner, so entspannter Abend mit einem so wunderbaren Mann, da zählte das alles nicht. Ich wollte dieses Erlebnis nicht kaputtmachen, nicht aufwachen aus diesem schönen Traum.

Und so kam, was ich nie für möglich gehalten hätte, was ich mir sonst verboten hätte: Der Wirt bat darum, kassieren zu dürfen, wir tranken unsere Gläser leer, traten hinaus in eine wunderbar laue Frühsommernacht, und er sagte ganz selbstverständlich: „Wir haben noch so viel zu erzählen; es wäre doch schade, wenn wir uns jetzt einfach trennen würden. Komm doch noch ein bisschen zu mir, es ist wunderschön dort im Garten unter dem alten Walnussbaum – und unter dem Sternenhimmel.“ Er hatte mich geduzt, und es war eine durchaus verfängliche Einladung, und ich hatte mehr Wein getrunken als ich eigentlich durfte, und es war eine Nacht voller Blütenduft – und das alles wusste ich und ich wusste auch, wem ich mich dabei aussetzte.

Aber ich widersprach nicht, verabschiedete mich nicht, sondern hängte mich ein in seinen Arm und ließ mich führen. Ließ mich verführen, wenn ihr so wollt. Und es war einfach ein wunderbares Gefühl, es waren die berühmten Schmetterlinge im Bauch, das Herzklopfen, dieser gefährliche, aber wunderschöne Verlust klaren Denkens, dieser Verzicht auf alles, was jenseits der Gegenwart lag, diese vollkommene Hingabe an das Jetzt, den Augenblick. Ja, ich ließ mich verführen. Und ich hatte kein schlechtes Gewissen dabei, damals nicht und auch heute noch nicht.

Sein Häuschen entpuppte sich als eine unter viel Efeu verborgene, aber durchaus respektable Backsteinvilla mit einem ebenso verwunschenen, verwilderten Garten, der sich zur großen, auch in der Dunkelheit leuchtenden Wasserfläche der breit aufgestauten Wakenitz hin erstreckte. Gilbert trug ein Windlicht herbei und eine neue Flasche sowie zwei Gläser, die sicher nicht aus seinen Marktangeboten stammten, und wir setzten uns in eine herrlich antiquierte Hollywoodschaukel, die dort sicher schon ein halbes Jahrhundert gestanden haben musste. Aber das Gespräch nahm keine erneute Fahrt auf und versiegte irgendwann ganz. Wir schwiegen, bewegten unseren gemeinsamen Sitz und lauschten dem Knarren, das er dabei erzeugte. Wir blickten vor uns hin, mieden es, uns anzusehen, aber wir dachten beide das gleiche und warteten, dass einer den Anfang machte, um uns dann hineinfallen zu lassen in das, was unsere Körper von uns erwarteten.

Und irgendwann nahm er mich schweigend bei der Hand, führte mich durch die offene Terrassentür in eine dunkle Halle, die Treppe hinauf in ein Zimmer, wo ein breites französisches Bett wartete. Er schaute mich nur an, und da streifte ich mir das Kleid vom Körper, und er zog Hemd und Hose aus, dann fuhren seine Hände ganz sanft über mein Haar, über das Gesicht, die Schultern, und als sie meine Brüste berührten, löste ich auch den BH und bot sie ihm dar. Dabei sprachen wir kein einziges Wort, nur unsere Körper drängten sich aneinander, und irgendwann streiften wir beide ab, was sie noch trennte, und er trug mich durch den Raum und legte mich auf das Bett wie in einer Hochzeitsnacht, und dann beugte er sich über mich und küsste alles, was ihm küssenswert schien, und ich ließ ihn gewähren, ließ ihn mit allem gewähren, bis hin zur letzten, tiefsten Vereinigung. Und dann, als auch alles Nachspiel sein Ende genommen hatte, schlief ich ein, den Kopf auf seine Brust gebettet, und erwachte erst, als die Morgensonne das Bett erreicht hatte und mir durch die geschlossenen Augenlider drang.

Es war offenbar niemand außer uns im Haus, aber er hatte unten in der Halle den Frühstückstisch gedeckt, und erst nach dem Essen eröffnete er mir, dass der fingierte Diebstahl Teil einer von ihm selbst angeordneten Strategie sei, und er bat mich um Entschuldigung. Da bot ich ihm an, die Klage zurückzunehmen, damit er sich nicht öffentlich dazu bekennen müsste. Ich tat es von mir aus, ohne dass er mich gedrängt hätte. Ich tat es – nun ja, aus Liebe zu ihm. Denn ich liebte ihn, und ich liebe ihn immer noch, auch wenn mir schon in jener Stunde klar war, dass unsere Beziehung nur von kurzer Dauer sein würde. „Wir werden die Entlassung zurücknehmen,“ sagte er und nahm dabei meine Hand, „aber ich denke, es wäre nicht gut, wenn du an diesen Arbeitsplatz zurückkehrst. Und ich möchte den Marktleiter nicht entlassen, er hat eine Familie, und er hat nur auf Weisung gehandelt. Aber ihr beide in einem Geschäft, das wäre auch für dich sicher unerträglich. Du solltest erst einmal ein paar Tage Urlaub machen – und ich lade dich dazu ein. Danach sehen wir weiter.“

Und so kam es zu diesen wunderbaren gemeinsamen Tagen in der sommerlichen Schweiz, von denen niemand etwas erfahren sollte. Und so kam es, dass ich bald darauf die Leitung jenes neu eröffneten Marktes übernahm, der für ihn, wie er bei der Einweihung sagte, eine ganz besondere Bedeutung hätte: „Dieser Markt, wenn auch neu errichtet, steht auf einem denkwürdigen Platz. Hier, damals auf einem leergeräumten Trümmergrundstück, hat Wilhelm August Gamesch 1948 in einer Baracke sein erstes Geschäft im Westen Deutschlands eröffnet, hier hat meine leider so früh verstorbene Mutter ihre Lehrzeit verbracht, hier ist die Wiege von GiGa! Und ich vertraue sie jetzt einer Frau an, die durch ihre Tapferkeit, ihren Mut und ihre Entschlossenheit, wenn es um das Wohlergehen meiner Mitarbeiter geht, gezeigt hat, dass GiGa auch in Zukunft wegweisend sein wird für kundenfreundliches, mitarbeiterorientiertes und ökologisch nachhaltiges Wirtschaften.“

Das waren seine Worte – und jeder wusste, dass es nur Sprechblasen waren. Ich auch. Aber es waren die Worte eines Mannes, mit dem mich vieles verband, und der für mich immer jener zartfühlende, sanfte, verständnisvolle Liebhaber bleiben wird. Nennt es Verrat, ihr habt aus eurer Sicht sicher recht. Aber was ist solch ein Verrat, wenn ich sonst meine Liebe verraten hätte!

ZWEITER TEIL: ENKIDU – 1. KAPITEL

Gilbert Gamesch war, so scheint es, auf dem Scheitelpunkt seiner Erfolge. GiGa, sein Werk, war deutschlandweit die größte und auch erfolgreichste Handelskette, sowohl was die Höhe des Umsatzes als auch die Zahl der Märkte betraf. Der Plan einer Übernahme eines weiteren Konkurrenten hätte mit Sicherheit den Widerspruch des Kartellamtes zur Folge gehabt. Und eine Ausweitung in die europäischen Nachbarländer hinein hielt er – über das bislang Erreichte hinaus – für wenig erfolgversprechend. Nein, für ihn war alles erreicht, wenigstens auf dem Sektor des Einzelhandels. Dabei war Gilbert noch nicht einmal vierzig Jahre alt. Auch wenn seine Mutter ihm ein wenigstens regional führendes kleines Imperium hinterlassen hatte, an dem er doch auch schon mitwirken konnte – den eigentlichen Konzern, die unerreichte Bedeutung des Namens GiGa, zusammengezogen aus seinen beiden Namen, hatte allein er erreicht.

Es begann ihn zu langweilen, nur noch hier und da einen neuen Markt zu eröffnen, einen Einkaufspreis um weitere Prozente zu drücken, den Gewinn um einige Millionen zu steigern. Das war alles kleinlich und seiner unwürdig in seinen Augen, und dafür hatte er seine Leute, die es schließlich gut gelernt hatten unter seiner Anleitung. Allein den Multimillionär zu spielen, mit seinem Reichtum zu protzen, sich mit ständig wechselnden Gespielinnen zu umgeben, die er im Grunde nur den sensationshungrigen Medien zum Fraß vorwarf – das war keine Lebensaufgabe, die ihn wirklich reizen oder gar befriedigen konnte. Es schien niemanden mehr zu geben, mit dem ein Kampf sich lohnen würde, den er in die Knie zwingen könnte. Ja, so schien es.

Doch da geschah das Unerwartete, das Unwahrscheinliche, das Ungeheuerliche: Wie aus dem Nichts trat plötzlich jemand zu diesem Kampf an, ein Newcomer, ein Nobody, ruppig, aggressiv, rücksichtslos, brutal – zunächst im süddeutschen Raum, den GiGa noch nicht flächendeckend erobert hatte, dann aber zunehmend nach Norden vordringend, den mächtigen Konkurrenten offen herausfordernd. Niemand wusste, wer dieser Nicolas Kidou war. Dass er eine regionale Ladenkette, lange in Familienbesitz und entsprechend schlecht finanziell ausgestattet, kurz vor der Insolvenz übernahm, interessierte nur die lokale Presse. Über die Herkunft des dafür nötigen Kapitals wurde nur spekuliert, man vermutete irgendwelche US-amerikanischen Investmentfonds dahinter. Aber warum setzten sie gerade auf diesen unbekannten Unternehmer, der noch nicht einmal eine Lehrzeit bei einem der Großen der Branche vorweisen konnte?

Doch es sollte sich bald herausstellen, dass sie den richtigen Mann föüöüßöäüö