Herzweh & Zahnklopfen

Gay Fantasy

© Urheberrecht 2016 Jona Dreyer

 

Impressum:

Tschök & Tschök GbR

Alexander-Lincke-Straße 2c

08412 Werdau

 

Text: Jona Dreyer

Coverdesign: Jona Dreyer

Coverbilder: canva.com

Lektorat/Korrektorat: Johanna Temme, Sandra Schmitt, Doris Lösel & Kathrin Schulze

 

Kurzbeschreibung:

Mein Name ist Veit, ich bin 34 Jahre alt, zwei Meter groß, von Beruf Zahnarzt, esse gern Aufläufe aller Art und hasse Frauenfüße in Perlonstrümpfen – ist das eigentlich Ihr Ernst?«
Mittelschwer ausgeprägte Keimphobie, eine Vorliebe für Seifenopern, oft unbeholfen und immer ein wenig weltfremd: das ist Zahnarzt Dr. Veit Aschberger. Nach seiner letzten Beziehungskatastrophe mit Nachtclubbesitzer Götz ist er seit langer Zeit Single und sehnt sich mit seinen vierunddreißig Jahren nun doch so langsam nach dem Partner fürs Leben.
Hilfesuchend wendet er sich an eine Partnervermittlungsagentur, die sein Profil kurzerhand ganz schön frisiert – und damit Erik anlockt, einen jungen, gutaussehenden Mann, in den sich Veit sofort bis über beide Ohren verliebt.

Doch ist der Zahnarzt der Einzige, der in seiner Kontaktanzeige falsche Angaben gemacht hat, oder ist auch Erik nicht immer ehrlich gewesen?


Über die Autorin

»Fantasie ist wie ein Buffet. Man muss sich nicht entscheiden – man kann von allem nehmen, was einem schmeckt.«

Getreu diesem Motto ist Jona Dreyer in vielen Bereichen von Drama über Fantasy bis Humor zu Hause. Alle ihre Geschichten haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Die Hauptfiguren sind schwul, bi, pan oder trans. Das macht sie zu einer der vielseitigsten Autorinnen des queeren Genres.

Vorbemerkung

Dieses Buch ist ein wenig anders als meine anderen Werke.

Ich spreche hiermit eine Warnung vor folgenden Dingen aus:

Kitsch, Klischees, Knoblauchfahnen, Karies, Knallerbsen, schwäbische Hauswarte, Stalkerinnen, Fußpilz, Flachwitze, militante Veganer, Wahrsagerinnen, Bären und Omas mit Maschinengewehren.

Außerdem enthält es drei (ich wiederhole: d-r-e-i) Erwähnungen von Helene Fischer.

 

Wer das ernstnimmt, ist selbst schuld.

 

P.S.: Der schwäbische Akzent von Frau Häberle wurde von meinem Mann (einem Badener) abgesegnet. Eventuelle Morddrohungen wegen Verletzung des kulturellen Erbes bitte an ihn, ich leite sie freundlich weiter.

 

Eure Jona

Prolog

Mein Kopf hämmert im gleichen Rhythmus wie die seichte asiatische Musik, die leise aus den Boxen an der Zimmerdecke erklingt. Nicht etwa umpf-umpf-umpf, sondern vielmehr so, als würde man im Zweivierteltakt meinen Kopf gegen den Gong schlagen, während glatzköpfige Mönche dazu brummeln. Für meine Patienten gewiss eine entspannende Vorstellung, für mich eher nicht so sehr. Ich werfe einen kurzen Blick aus dem Fenster, bevor ich mich wieder über den weit aufgerissenen Mund meines Patienten beuge. Sieht nach Wetterwechsel aus. Da habe ich eine Kopfschmerzfunktion ab Werk und das hohe Geräusch des Bohrers kreischt in meinem Schädel wie ein Rudel junges Weibsvolk, wenn man versehentlich – wirklich versehentlich! - mit einem verträumten Lächeln in die Damenumkleide spaziert.

Aber zum Glück bin ich hier gleich fertig. Nur ein kleines Loch verfüllen, polieren und fertig. Nichts im Vergleich zu dem Unglück, das mich am Nachmittag ereilt hatte und bei dem eine halbverdaute Bockwurst nebst Schlieren von Kirschmarmelade auf meinem strahlend weißen, chlorgebleichten Kittel gelandet war. Die Erinnerung daran treibt mir unwillkürlich eine verzweifelte Grimasse aufs Gesicht. Der säuerliche Geruch von Würstchen in Magensaftlake wird mich für Tage bis in meine Albträume verfolgen. Es war einer dieser Momente, in denen ich mich gefragt habe, warum ich nicht einfach Immobilienmakler geworden bin. Oder Rechtsanwalt. Einfach irgendetwas, mit dem man seine Seele mit weniger ekelerregenden Begleiterscheinungen an den Teufel verkaufen kann.

»So, jetzt bitte noch einmal ausspülen«, bitte ich meinen Patienten ein wenig geistesabwesend und blinzele wieder aus dem Fenster, während der tut, wie ihm geheißen. »Wie ist das Gefühl? Stört noch irgendetwas?«

Der Mann kaut ein paar Mal prüfend herum und fährt sich schließlich mit der Zunge über das Gebiss. »Nein, alles gut.«

»Prima.« Ich rolle ein Stück auf meinem Hocker zurück. »Dann wären wir für heute fertig.«

»Danke!« Der Kerl strahlt mich an und ich weiche seinem Blick aus, weil ich anderen Menschen nur sehr ungern in die Augen sehe. Es verunsichert mich irgendwie. Aber ich freue mich natürlich dennoch, dass sich mal jemand bei mir bedankt, anstatt nur Zeter und Mordio zu schreien.

»Nichts zu danken.« Ich begleite den Patienten und Zahnarzthelferin Franzi, meine schnatternde, helfende Hand, noch bis zur Tür des Behandlungszimmers, bevor ich sie schließe, um für einen Moment durchzuatmen. Das war der letzte Patient für heute. Der Feierabend winkt mit Makkaroniauflauf und meiner liebsten Seifenoper. Ich kann die goldbraun blubbernden Blasen des geschmolzenen Käses schon förmlich vor mir sehen, als sich die befehlsgewohnte Stimme von Schwester Monika in meine Fressfantasien schraubt.

»Herr Doktor Aschberger?« Sie betont diese Anrede immer auf eine etwas seltsame Weise, was wohl daran liegt, dass sie bereits in dieser Praxis gearbeitet hat, als diese noch meinem Großvater gehörte – von dem ich sie übernommen habe – und mich die meiste Zeit meines Lebens Veiti gerufen hat. Was sie auch heute noch manchmal tut, wenn sie denkt, dass keiner hinhört.

»Ja?«

Sie streckt ihren blondierten Kopf zur Tür herein. »Denkst du an deinen Termin heute?«

»Welcher Termin?«, frage ich mit einem unverbindlichen Lächeln, das mir ziemlich schwerfällt, aber mein Therapeut hat gesagt, ich soll mehr lächeln, denn das schüttet schließlich Glückshormone aus und von denen könnte ich durchaus welche gebrauchen.

»Ich weiß nicht, welche Art von Termin das ist, aber du hast gesagt, ich soll dich daran erinnern, dass du heute um 19 Uhr in der Stadt einen hast.«

»Ach wirklich?« Ich spüre, wie meine Mundwinkel sich langsam nach unten bewegen und nehme meine Zeigefinger zur Hilfe, um sie oben zu halten. Franzi wirft mir über Schwester Monikas Schulter einen seltsamen Blick zu. Denk an die Glückshormone, Veit!

»Ja, wirklich. So, ich habe dich jetzt daran erinnert und meine Pflicht getan. Was du daraus machst, ist dann ja dein Problem.«

»Sehr freundlich«, erwidere ich etwas biestig und nehme die Finger von meinen Mundwinkeln, die daraufhin jene der Bundeskanzlerin erscheinen lassen, als sei Deutschland das Land des ewigen Lächelns. Stimmt. Ich hatte einen Termin. Und den sollte ich wahrnehmen, wenn ich will, dass sich in meinem eintönigen Leben zwischen Zahnarztpraxis und Wocheneinkäufen im örtlichen Supermarkt mal etwas ändert. Also kein Makkaroniauflauf und Seifenopern für heute. Nun ja. Dafür werde ich morgen so richtig eskalieren und Salamiwürfel anstatt Kochschinken verwenden. Oder eine ganze Packung Käse. Ich kann schließlich auch mal richtig spontan sein! Manchmal.

Wenn ich es zwei Tage vorher weiß.

Kapitel 1

»Mein Name ist Veit, ich bin 34 Jahre alt, zwei Meter groß, von Beruf Zahnarzt, esse gern Aufläufe aller Art und hasse Frauenfüße in Perlonstrümpfen – ist das eigentlich Ihr Ernst?« Die Dame von der Partnervermittlungsagentur zieht fragend eine übertrieben gezupfte Braue in die Höhe als sei ich ein Kannibale, der einen Freiwilligen sucht, der sich an Silvester als Fondue zubereiten lässt.

Ich kratze mich am Kopf. »Nun ja, also … Sie sagten doch, ich solle mir eine kurze, knackige Persönlichkeitsbeschreibung überlegen. Und das ist sie.«

»Es ist also ein wesentliches Merkmal Ihrer Persönlichkeit, dass Sie Frauenfüße in Perlonstrümpfen hassen?« Sie schüttelt den Kopf und beißt von ihrer Frikadelle ab, deren Geruch den ganzen Raum erfüllt.

»Ich mag das wirklich nicht!«, bringe ich zu meiner Verteidigung hervor.

»Wissen Sie, was diese Persönlichkeitsbeschreibung über Sie aussagt?« Sie hält die angebissene Frikadelle im Pinzettengriff, während sie mich mit einem vernichtenden Blick mustert, und leckt sich über die fettglänzenden Lippen.

»Sie werden es mir bestimmt gleich mitteilen«, entgegne ich.

»Freak«, sagt sie.

»Okay.« Ich knete den Henkel meines Rucksacks und starre auf meine Turnschuhe, die mal wieder eine Runde in der Waschmaschine drehen müssten. »Und ist das jetzt direkt schlecht?«

»Ganz schlecht, junger Mann. Ganz schlecht.« Sie beißt wieder von ihrer Frikadelle ab und kaut so geräuschvoll, dass ich mir am liebsten die Ohren zuhalten möchte.

»Haben Sie denn einen besseren Vorschlag?«, frage ich hauptsächlich, um sie vom Kauen abzuhalten.

»Was sind denn so Ihre Hobbys?«, erkundigt sie sich und es fällt mir ein wenig schwer, mich auf die Frage zu konzentrieren, weil ich die ganze Zeit auf den Frikadellenkrümel starren muss, der auf ihre Unterlagen gefallen ist und einen kleinen Kreis aus Fett in das Papier beizt.

»Also ich, äh ...« Ich muss wirklich überlegen. »In meiner Freizeit sehe ich gern fern. Von 19:40 Uhr bis 20:15 Uhr. Ansonsten gehe ich einkaufen. Wenn der Kühlschrank leer ist. Ich schlafe am Wochenende gern aus, aber nicht zu lang, weil sonst mein Biorhythmus durcheinanderkommt.«

»Um Gottes Willen.« Sie beißt wieder von der Frikadelle ab.

»Sagen Sie, könnten Sie vielleicht mal aufhören zu essen, während ich hier bin? Ich bin hungrig und hier riecht es permanent nach Zwiebeln und gebratenem Hack, und außerdem weisen Ihre Kaugeräusche auf eine Kieferfehlstellung hin.«

Die Dame, auf deren weißem Pappschildchen der klangvolle Name Jacqueline-Nadine Wuschnetzki steht, gibt mir mit ihrem Blick deutlich zu verstehen, dass sie nicht im Traum daran denkt, meinetwegen ihr kaltes Fleischküchlein zur Seite zu legen. »Sind Sie wirklich erst vierunddreißig?«, fragt sie gallig.

»Ja, wieso?«

»Sie sehen älter aus.«

»Wie alt sehe ich denn aus?«, frage ich ein wenig getroffen.

»Hm.« Provokativ schiebt sie sich das letzte Stück Frikadelle in den Mund und antwortet erst, nachdem sie geräuschvoll gekaut und alles hinuntergeschluckt hat: »So zweiundvierzig.«

»Na herzlichen Dank auch.« Prima, und dafür habe ich meinen Makkaroniauflauf geopfert und verpasse eine Folge meiner Lieblingsserie? Wenn ich das gewusst hätte …

»Also so wie das jetzt ist, wird keine Frau sich auf Ihre Anzeige melden«, resümiert sie kopfschüttelnd und bohrt sich mit sehr mangelhafter Diskretion mit dem Fingernagel in den Zahnzwischenräumen herum.

»Das ist doch gut«, entgegne ich.

»Hä?« Sie blickt auf. »Wozu sind Sie dann hier, wenn Sie offensichtlich gar keine Frau finden wollen?«

»Ich bin auf der Suche nach einem Mann.«

Es dauert einen Moment, bis die Zahnrädchen in ihrem schweinehackgefütterten Gehirn mein Statement verarbeiten. »Achso!« Sie klatscht sich mit der Hand, mit der sie sich gerade noch im Mund herum gefuhrwerkt hat, an die Stirn. »Sagen Sie das doch gleich! Aber das macht den Quatsch mit den Perlonstrümpfen ja noch überflüssiger.« Sie streicht den Satz durch. »Und das mit den Aufläufen streichen wir auch, da fehlen ja nur noch die Salatarten ...«

»Was?« Ich habe keine Ahnung wovon sie spricht.

Sie winkt ab. »Vergessen Sie’s.« Eine Weile kritzelt sie herum, überlegt, mustert mich, schreibt wieder. Langsam werde ich nervös. »Also, wie hört sich das an: Ich bin Veit, Anfang dreißig, Unternehmer, groß, sportlich. Meine Hobbys sind Mountainbiken, Theaterbesuche, Lesen und Reisen. Ich suche einen Mann fürs Herz und für gemeinsame Aktivitäten, Zuschriften bitte nur mit Bild

»Aber das stimmt doch alles gar nicht!«, antworte ich entsetzt. »Unternehmer? Mountainbiken? Mein Fahrrad ist zwanzig Jahre alt und hat vorne einen Einkaufskorb!«

»Dann eben kein Mountainbiken. Wie wäre es mit Schwimmen? Sie haben ein breites Kreuz, das geht als Schwimmer durch.«

»Ich schwimme höchstens manchmal in Selbstmitleid, aber ich gehe in keine öffentlichen Bäder. Haben Sie eigentlich noch nie etwas von Fußpilz gehört? Und was soll das mit dem Unternehmer? Was ist an Zahnarzt so verkehrt?«

Fräulein Wuschnetzki schüttelt erneut den Kopf, während sie mit ihrer Zunge versucht, einen hartnäckigen Rest Frikadelle aus ihren Zahnzwischenräumen zu bekommen. »Wenn Sie eine Frau suchen würden, hätte ich es stehen gelassen, gibt ja genug, die auf wohlhabende Ärzte aus sind. Aber kein Mann begibt sich freiwillig in die Hände eines Zahnarztes, nicht mal einer, der das Bohren sonst ganz gern hat.«

»Sie sind ziemlich unverschämt!«, gebe ich ihr zu verstehen und verschränke meine Arme. Das gibt morgen Salami und Schinken, jawohl!

»Und Sie sind verzweifelt genug um hierher zu kommen und sich von mir gegen Geld bei der Partnersuche helfen zu lassen, also sparen wir uns die Diskussionen. Sie sind jetzt Unternehmer. Das ist ja nicht gelogen. Und Schwimmer sind Sie auch, sagt ja keiner, dass es im Hallenbad sein muss. Wie sieht es mit dem Theater aus?«

»Theater habe ich jeden Tag in meiner Praxis, das muss ich mir nicht auch noch abends zwischen Reihen überparfümierter Menschen antun.«

Fräulein Wuschnetzki rollt mit den Augen und lässt das Theater stehen. »Aber Lesen und Reisen, das passt doch, oder?«

»Ich lese ab und zu, ja.« Die Angebotsblätter vom Supermarkt zum Beispiel. »Manchmal reise ich bis in die Nachbarstadt ins Berufsbekleidungsgeschäft.«

»Ich verneige mich vor Ihrem erfüllten Leben«, versetzt sie seufzend und hat es scheinbar endlich geschafft, den Krümel aus ihren Zahnzwischenräumen zu puhlen. »Nicht mal eine Urlaubsreise?«

»Nicht mehr. Macht allein doch keinen Spaß«, entgegne ich matt.

Ihr genervter Blick wird fast ein wenig mitleidig. »Dann sorgen wir mal dafür, dass sich das ändert. Schauen wir uns die Bilder an, die Sie mitgebracht haben.«

Ich überreiche ihr den USB-Stick mit den Fotos, die ich ausgesucht habe, weil ich darauf meiner Meinung nach am vorteilhaftesten aussehe. Sie steckt ihn in ihren Laptop ein und klickt sich durch. »Nein. Das nicht. Das auch nicht. O Gott, was haben Sie sich denn bei diesem Hemd gedacht? Nein. Nein … oh, das ist hübsch!« Sie dreht den Laptop herum. »Das da nehmen wir.«

»Aber das Foto ist schon fast acht Jahre alt«, gebe ich zu bedenken.

»Es ist aber das einzige, auf dem Sie nicht wie ein Versicherungsvertreter aussehen, der sonntags zum Kirchenfrühstück geht.«

Ich starre das Foto von mir selbst an. Das war im Sommer vor acht Jahren im Urlaub auf Kreta. Mein Haar ist länger als heute und locker aus dem Gesicht gekämmt, wo ich jetzt eher auf streichholzkurz setze, mein Hemd ist oben ein paar Knöpfe geöffnet und ich bin deutlich schlanker als jetzt mit meinem Bauchansatz. Ich lächle freundlich in die Kamera, ohne Anstrengung, ohne helfende Finger an den Mundwinkeln. Ich war dort damals mit meinem Exfreund Götz. Ich glaube, ich war glücklich.

»Ist alles in Ordnung?«, fragt Fräulein Wuschnetzki besorgt.

»Ja, natürlich. Wir nehmen das Foto.«

»Gut. Ich setze Ihre Anzeige morgen in das Portal. Schauen Sie immer mal wieder in Ihr Postfach dort, ich bin sicher, Sie bekommen bald Zuschriften.« Aufmunternd zwinkert sie mir zu.

»Dankeschön.« Ich fühle mich ein wenig geknickt. Ich wäre gern wieder so glücklich wie auf dem Foto, mit dem richtigen Mann an meiner Seite, aber es scheint sich wieder einmal zu bewahrheiten, was schon mein Ex damals zu mir gesagt hat: So wie du bist, will dich freiwillig keiner. Ich erhebe mich, nehme meinen Rucksack zur Hand, hole etwas heraus und lege es dem Fräulein auf den Tisch. »Bitteschön. Schönen Abend noch.«

»Danke? Ich ...«

Aus dem Augenwinkel sehe ich noch, wie sie mein kleines Geschenk irritiert mustert, während ich den Raum verlasse und die Tür hinter mir schließe. Ich habe ihr ein Päckchen Zahnseide geschenkt. Ich habe immer eines dabei. Es gibt einfach viel zu viele Leute auf der Welt, die sich ständig mit den Fingern zwischen den Zähnen herumpuhlen.

♥♥

»Sag mal, was isst du da eigentlich?«, fragt meine Schwester Grit und wirft einen Blick tiefsten Misstrauens auf mein Sandwich.

»Dinkeltoast«, erkläre ich brav.

»Mit?«

Ich seufze und gebe mich geschlagen. »Mit einer Scheibe totem Tier.«

»Bah, du bist so ekelhaft!«, fährt sie auf. »Du bist ein Sklave des karnistischen Systems. Der Unterdrückung vermeintlich niederer Lebewesen. Merkst du das nicht? Und kennst du all die Studien zu rotem Fleisch und Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht? Gerade du als Arzt solltest das doch alles wissen!«

»Ich kenne auch Gegenstudien«, entgegne ich achselzuckend und nehme noch einen Bissen. »Ich mache mir eher Sorgen um deinen Zahnschmelz wegen der vielen rohen Früchte, die du isst.«

»Du hast ja keine Ahnung!«, versetzt sie.

Ich rolle mit den Augen. Nein, ich bin nur Zahnarzt. Aber ich erspare uns die Debatte, die wir schon tausendmal geführt haben. »Können wir uns jetzt vielleicht lieber auf die Zuschriften konzentrieren, die ich bekommen habe? Ich traue mich gar nicht, sie zu öffnen. Es sind sieben Stück.«

Wir klicken die erste an. Sie besteht aus der Frage »hi wie gehts«, alles kleingeschrieben, ohne Satzzeichen. Und ohne Bild.

»Ich denke, der ist schon mal raus aus der engeren Auswahl, oder?«, erkundigt sich Grit.

»Aber so was von. Der Nächste?«

Grit klickt die Mail an. Sie ist von einem gewissen romeo76. Ein Blick auf sein Foto lässt allerdings befürchten, dass 76 das Alter ist und nicht der Geburtsjahrgang. »Sieht der nicht nett aus?«, fragt meine Schwester dennoch.

»Wie ein netter Senior, der sicher das Gebiss herausnimmt, bevor er mir einen –«

»Veit!«

Ich laufe rot an. »Entschuldigung.«

»Der also auch raus?«

»Ja, bitte. Ich suche einen Freund und keinen Pflegefall.«

Sie klickt die dritte Mail an und liest vor: »Hallo, ich bin Frank, 42 Jahre alt und würde dich gern näher kennenlernen. Schreib mir doch mal. Hey, der wäre doch etwas, oder?«

Ich schaue mir das Bild an. Ein freundlicher Mann mit Brille und Bürstenhaarschnitt schaut mir entgegen. Nicht so wirklich mein Typ, aber vielleicht sollte ich nicht so anspruchsvoll sein. Der einzige Modeljob, der für mich in Frage käme, ist schließlich auch nur das Vorher auf Vorher-Nachher-Bildern. »Der kommt in die engere Auswahl.«

»Gut. Schauen wir uns den Nächsten an. Ah, der hat kein Foto, also raus. Nummer fünf … auch nicht. Sag mal, können die alle nicht lesen, oder was ist an bitte nur Zuschriften mit Bild so schwer zu verstehen?« Sie schüttelt den Kopf und klickt mit konzentrierter Miene auf Mail Nummer sechs. »Erik1991 heißt der Kerl. Hallo Gentle_Giant – ist das etwa dein Nick da, Veit?«

»Ja«, grummle ich. »Mir fiel nichts Besseres ein.«

Sie grinst mich an. »Niedlich. Also, pass’ auf: Hallo Gentle_Giant. Mein Name ist Erik, ich bin 24 Jahre alt und komme aus der gleichen Stadt wie du. Ich mag dein Foto :-) Melde dich doch mal! Und sieh mal, wie hübsch er aussieht.«

Sie klickt auf das Bild, um es zu vergrößern, aber ich habe schon anhand der Vorschau ahnen können, dass da nicht gerade Gollums hässlicher Bruder sitzt. Oh, dieser Erik ist wirklich niedlich. Dunkelblondes, lockiges, kurzes Haar, braune Augen, schlank und ein sehr sympathisches Lächeln. »Der gefällt mir«, verkünde ich Grit. »Der kommt in die ganz enge Auswahl.«

»Das dachte ich mir schon. So, und jetzt zu Nummer sieben. Mister-Clooney

»Mister Clooney? Na, der spuckt ja große Töne. Ich bin gespannt.«

Sie öffnet die Mail mitsamt des Bildes und wir kommen beide für einen Moment ins Stocken.

»Ähm …«, beginne ich und räuspere mich. »Ich will ja nichts Böses sagen, aber ich muss mir gerade vorstellen, wie ich mich beim Sex an seinen Ohren festhalte.«

Grit nickt ernst. »Sie sind riesig.«

»Der empfängt sicher Fernsehsender vom anderen Ende der Welt.«

»Du bist gemein. Aber sein Nick … na ja, also der passt wirklich nicht so richtig.«

»Er hätte sich lieber Dumbo –«

»Hey!«, unterbricht sie mich. »Denk an dein Karma, Bruderherz. Nur Gutes über andere Menschen. Außer über Menschen, die Tiere essen, das ist etwas anderes. Vielleicht ist Mister-Clooney ja auch ganz lustig. Lass uns doch wenigstens seine Mail lesen.«

»Ja, du hast ja recht. Wer weiß, was die Leute bei meinem Foto denken.«

»Die denken sicher nichts Schlechtes, du hast ja ein ziemliches Fake-Foto reingemacht.«

»Das ist kein Fake!«, widerspreche ich. »Es ist nur nicht mehr so aktuell.«

»Es ist mindestens zehn Jahre alt.«

»Acht.«

Sie stöhnt auf. »Wie auch immer. Also, hier die Mail von Herrn Clooney: Hi haste auch intimere Bilder von dir?«

»Was meint er damit?«, frage ich verwirrt. »Will er Fotos von meinen Fortpflanzungsorganen?«

»Als ob du dich damit fortpflanzt«, murmelt Grit. »Ja, ich glaube, der will ein Dick-Pic. Ich würde sagen, der fällt auch raus, oder? Es sei denn, du stehst auf Typen, die direkt zur Sache gehen.«

»Nein, nicht so!«, erkläre ich entschieden. »Also, wer bleibt nun übrig?«

»Der niedliche Erik und Frank mit dem Militärhaarschnitt. Willst du den beiden mal eine Antwortmail schreiben?«

»Beiden gleichzeitig? Aber das gehört sich doch nicht. Das ist doch wie zweigleisig fahren ...«

Grit gibt ein entnervtes Jaulen von sich. »Du hast das Prinzip einer Partnerbörse nicht verstanden, Gentle_Giant. Egal. Wer ist deine erste Wahl?«

»Erik.«

»Gut. Ein bisschen jung für dich, finde ich, aber ich werde dir helfen, ihm eine Mail zu schreiben, die ihn nicht sofort abschreckt. Unter einer Bedingung.«

»Die da wäre?«

»Ich nehme deine ganzen Wurstpackungen mit.«

»Was hast du damit vor?«, hake ich stirnrunzelnd nach.

»Ich werde diese grausam zerhäckselten Tierreste im Garten beerdigen, damit sie wenigstens etwas von ihrer Würde zurückerhalten.«

Kapitel 2

In jeder freien Minute schaue ich auf mein Handy, um meinen Posteingang bei der Partnerbörse zu überprüfen. Es könnte schließlich sein, dass Erik mir wieder geschrieben hat! Seit zwei Tagen schreiben wir uns hin und her und er meldet sich immer wieder, obwohl mir Grit gar nicht mehr vorsagt, was ich antworten soll. Das ist doch schon mal ein gutes Zeichen, oder nicht? Aber es kommt noch besser: Vorhin hat er gefragt, ob wir uns nicht mal treffen wollen. Treffen! Er! Mit mir! Ich bin hocherfreut. Allerdings habe ich auch ein wenig Angst davor, dass ihm auffällt, dass mein Foto nicht mehr so ganz aktuell ist.

Er hat mir noch einige mehr von sich geschickt, eines hübscher als das andere, aber ich für meinen Teil habe dreist und frech behauptet, leider gerade keine anderen zu haben, da mir der Rechner ganz schlimm abgestürzt sei und ich leider auch kein Talent besitze, um Selfies zu machen. Was stimmt. Also das mit den Selfies. Vielleicht sollte ich mich großzügig mit einem Aphrodisiakum einreiben, damit er schon viel zu sehr von mir bezaubert ist, wenn meine Lebenslüge auffliegt.

Aber jetzt ruft erst mal wieder der Arbeitsalltag. Ich schlendere gerade gedankenverloren zur Anmeldung und denke an die Putensalami und den Kochschinken, die meine Schwester feierlich in ihrem Garten beigesetzt hat, als meine Assistentin Franzi plötzlich »Zahnwurzelentzündung!« ruft. Das ist ein geheimes Codewort, das mich sofort in die Hocke schnellen und hinter dem Tresen verbergen lässt. Keinen Moment zu früh.

»Hallooo-hooo!«, flötet es nur einen Augenblick später und die Tür wird aufgeworfen. Eine dicke Parfümwolke kleidet den Anmeldebereich aus und ich höre das Klacken von hohen Absätzen. »Ich müsste mal ganz dringend in die Sprechstunde!«

»Worum geht es denn diesmal?«, fragt Schwester Monika hörbar genervt.

»Ja also, ich habe da was am Zahn!«, schmettert die Stimme meines Albtraums auf Hacken durch die Anmeldung. »Das tut sehr weh! Es ist dringend, am besten nehmen Sie mich sofort dran!«

Das penetrante Parfüm treibt mir, während ich auf allen Vieren hinter dem Tresen kauere um dem Blick meiner unerwünschten Verehrerin zu entgehen, die Tränen in die Augen. Aber nicht nur das Parfüm, sondern noch etwas anderes, was ich hasse wie nichts sonst: Frauenfüße in Perlonstrümpfen, die in Pantoletten stecken. Dieses unnachahmliche Aroma, das ich heimlich Eau de Pantoffel getauft habe und mir nun von Schwester Monika her entgegenwabert. Ich befinde mich gerade in einer wirklich bescheidenen Situation. Ich habe die Wahl, aus meinem Versteck zu kriechen, von Frau Breitenborn entdeckt zu werden und eine gesamte Parfümerie-Filiale inhalieren zu müssen, oder mich wahlweise von Schwester Monikas Füßen betäuben zu lassen. Ich entscheide mich spontan für die Füße. Die erscheinen mir vergleichsweise immer noch als das geringere Übel, und das will etwas heißen.

»Sie waren doch erst letzte Woche da. Ist wirklich schon wieder etwas?«, fragt die gute Monika relativ unbeeindruckt von Frau Breitenborns Drama in fünf Akten.

»Etwas Neues ist da wieder!«, fährt die Frau auf und ich kann anhand der Schatten erkennen, wie sie dabei wild herumgestikuliert. »Ist denn der Herr Doktor gar nicht da? Ich würde gern mit ihm selbst darüber sprechen.«

»Der hat jetzt wirklich keine Zeit«, bescheidet Monika ungerührt.

»Ach wirklich nicht? Herr Doktor!«, ruft Frau Breitenborn so laut, dass man es vermutlich bis nach Argentinien hören kann. »Herr Doktor Aschberger, wo sind Sie denn?«

»Der Herr Doktor hat wirklich keine Zeit!«, insistiert meine ältere Zahnarzthelferin noch einmal und ich beobachte, wie sie ihren akkurat frisierten, blondierten Schopf schüttelt.

Plötzlich spüre ich, wie jemand mir leicht in den Hintern tritt. Ich drehe mich um und blicke vorwurfsvoll in Franzis Gesicht, die sich kaum das Lachen verkneifen kann und dabei ihren Kopf unauffällig in Richtung Theke ruckt. Was will sie mir damit sagen? Mir geht ein Licht auf und ich krabbele noch ein weiteres Stück nach vorn, um in Frau Breitenborns toten Winkel zu geraten und weiterhin unentdeckt zu bleiben. Das hat allerdings auch zur Folge, dass mein Gesicht sich nun mit Schwester Monikas Füßen auf einer Höhe befindet. Ich muss unwillkürlich hüsteln. Das entgeht leider auch meiner ungebetenen Patientin nicht.

»Herr Doktor?«, ruft sie noch einmal und lehnt sich unfein über die Theke. »Da sind Sie ja! Ich kann Ihren Hintern sehen!«

Ich stoße einen leisen Fluch aus. Im Verstecken bin ich wirklich eine Niete. Wenn ich nur zwanzig, fünfundzwanzig Zentimeter kleiner wäre, dann wäre es viel einfacher! Aber ich musste ja unbedingt die Riesengene meiner Vaterfamilie erben.