Nachdem ich vorwiegend Krimis mit bayrisch-mundartlichem Dialekt besonders gern lese, hatte ich die Idee, doch selbst einmal schriftstellerisch tätig zu werden und einen Kriminalroman zu verfassen. Dabei wollte ich den bayrischen Dialekt, meine Heimat, ihre Besonderheiten und meinen Bezug zu ihr mit einbringen. Die Namen der Beteiligten und die Handlungen sind frei erfunden. Wenn auch die eine oder andere Beschreibung dem Kenner der Umgebung und der Leute bekannt vorkommen mag, ist jede Ähnlichkeit mit den handelnden Personen rein zufällig.
Die zentrale Figur in diesem Krimi ist die alleinerziehende Moni Beck, die mit ihrem Faible für Kriminalfälle dem Alltag entfliehen will. Das oberbayrische Mühldorf, provinziell, traditionell und manchmal etwas spießig, bildet die Kulisse zu den Ereignissen rund um die junge Mutter, die Courage, Selbstbewusstsein, aber auch Verletzlichkeit in sich vereint. Mir war es wichtig, keine perfekte Heldinnenfigur zu entwerfen, sondern eine ganz normale Frau, die fehlbar, menschlich, aber auch liebenswert ist. Ein Mensch wie Sie und ich – und trotzdem etwas Besonderes. Ich habe die spannende Geschichte etwas mit Humor gespickt, so dass Sie bei der Suche nach dem Mörder oder der Mörderin nicht nur zum Mitraten, sondern auch zum Lachen angeregt werden.
Nun wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Lesen, und wenn Sie die eine oder andere Passage lustig finden, dann lachen Sie laut, denn auch Lachen ist menschlich und zudem gesund!
Langsam zerlief ihm das soeben gekaufte Eis mit dem vielversprechend klingenden Titel „Dolce Latte“ im Mund. Zusammen mit der nach Karamell schmeckenden Waffel frohlockten die Geschmacksknospen auf seiner Zunge geradezu. Wie liebte er es doch, sich nach einem langen Arbeitstag im Laden dann abends auf dem Nachhauseweg bei Riccardos Eisdiele, seinem Lieblingsitaliener am Stadtplatz, noch ein Eis zu holen! Nicht dass er Riccardo besonders gut leiden konnte – nein, vielmehr lag es an den Eissorten, die dieser mit viel Liebe und Fachwissen zubereiten konnte und die immer wieder ein kleines Vergehen an der Figur wert waren.
Genussvoll schlenderte er mit seiner Leckerei dahin, bog vom Stadtplatz in die Bräugasse ab, an deren Ende seine Wohnung lag. Die Dämmerung hatte längst schon eingesetzt und die herbstliche Feuchtigkeit breitete sich in der engen, von hohen, alten Mauern umgebenen Gasse aus. Vereinzelt hatte der Wind bereits Laub in die schmale Straße geweht und damit den beginnenden Spätherbst angekündigt. Bald, schon sehr bald würde er diese Kulisse hier mit ihren sich wiederholenden Jahreszeiten – den nasskalten Herbsttagen, dem eisigen und frostigen Winter, der oft ungemütlichen Frühjahrszeit und den manchmal kühlen Sommermonaten – mit der des ewigen Sommers tauschen! Alles hinter sich lassen! Das Leben genießen, vor allem aber die Sonne, Sonne, Sonne … und den weißen Strand, der wie ein weicher Teppich den Weg in das türkisblaue Meer ebnen würde. Weg von seiner ach so verstörten Schwester, und auch weg von seinem Schmarotzerneffen – das würde ihm in der neuen Umgebung guttun. Er wollte sein Leben, besser gesagt seinen letzten Lebensabschnitt voll genießen und sein mühsam Erspartes nicht seinen Erben, sondern sich selbst und Yolanda gönnen. Yolanda. Die dunkelhäutige Schönheit aus der Dominikanischen Republik, die er beim Internetdating kennengelernt hatte. Sie war eine sehr hübsche, romantische und zudem intelligente Frau, mit der er für den Rest seines Lebens zusammensein wollte. In den letzten sechs Monaten hatte er mit ihr eine richtige Fernbeziehung aufgebaut. Dieser kamen die glücklichen Umstände zugute, dass Yolandas Mutter Deutsche war und dass Yolanda auf einer Privatschule in Santa Domingo ihr Deutsch noch hatte verbessern können. Sie hatte ihm auch beteuert, dass sie mit ihm ihr Leben verbringen wollte und ihn innig liebte. Außerdem hatte sie bereits ein hübsches Grundstück direkt am Meer ausfindig gemacht, das er mit ihrer Unterstützung gern erwerben wollte, um darauf ein schnuckeliges und gemütliches kleines Häuschen zu bauen. Wie er das finanzieren würde, stand bereits fest. Alles war in die Wege geleitet. Nur noch ein paar Verwaltungsangelegenheiten und ein paar Gespräche mit Schuldnern und Banken – und schon würde er seinen Traum leben können!
Tief in diesen Gedanken an sein in nicht allzu weiter Ferne liegendes neues Leben versunken, störte etwas diesen Frieden, der gerade begonnen hatte, sich in seinem Herzen auszubreiten. Aus dem Augenwinkel nahm er einen Schatten wahr, der, als er sich in dessen Richtung wandte, wieder verschwand. Er blieb kurz stehen und drehte sich halb um, damit er seinen Kopf besser zur Seite drehen konnte, denn sein Genick war nicht mehr ganz so beweglich. Obwohl nichts und niemand zu sehen war, stieg ein ungutes Gefühl in ihm hoch. Er hielt kurz inne, um zu lauschen, ob es zu dem vermeintlichen Schatten auch ein Geräusch gab. Aber nichts war zu hören und er setzte seinen Weg fort – nun weit weg von den angenehmen Gedanken und den Blick gespannt nach vorne gerichtet. Kaum war er ein paar Schritte weitergegangen, vernahm er ein kurzes Klacken auf dem Kopfsteinpflaster. Er wandte sich um und sah gerade noch einen grauen Stoffmantel in dem Hauseingang verschwinden, an dem er gerade vorbeigegangen war. Er überlegte kurz, was er tun sollte, denn das mulmige Gefühl ließ ihn nicht los, und entschied sich dann, mit schnellerem Tempo nach Hause zu gehen. Doch kaum hatte er sich wieder in Bewegung gesetzt, hörte er das Klacken auf dem Kopfsteinpflaster erneut, nur diesmal viel klarer und in unmittelbarer Nähe! Instinktiv wollte er seine Schritte beschleunigen, um die Geräusche und auch die Angst, die von ihm Besitz ergriffen hatte, hinter sich zu lassen, aber ein weiteres, diesmal gedämpftes Geräusch, das jetzt von oben kam, ließ ihn erneut innehalten. Er wartete. Nichts geschah. Da! Ein plötzlicher, kurzer Ruck, ein dumpfer Schmerz, der seinen Kopf schier zum Bersten brachte, ließ seine Knie einknicken und ihn stumm zu Boden sinken. Er fühlte das kalte, feuchte Pflaster an seiner Wange – und spürte etwas Warmes, das aus seiner Schläfe kommen musste, an seiner anderen Wange hinunterlaufen. Erstaunt beobachtete er, wie das warme, rote Nass langsam die Fugen des Kopfsteinpflasters füllte. Er wurde müde und schloss die Augen. Die Sonne … die ewige Sonne … der weiße Strand … das Meer … das Haus … Ja, ja, da wollte er hin! Müdigkeit. Diese Müdigkeit. Sie umschloss ihn wie eine gewaltige Woge und wiegte ihn sanft in den ewigen Schlaf …
„Jetzt reißt’s euch doch amoi zam und stellt’s euer Radio auf Zimmerlautstärke! Ich hab’s satt, mich jedes Mal mit dem Wastl und der Emmi anzulegen, nur weil ihr euch einfach nicht an unsere vereinbarten Regeln haltet! Und jetzt basta!“ Mit etwas zu viel Schwung stellte Moni das Mobilteil der Telefonanlage in die Station zurück, so dass es aus dem Ladeteil wieder herausfederte und dann auf dem Boden landete. Zu allem Überfluss sprang dabei auch noch der Deckel des Batteriefachs auf und die beiden Energiezellen flogen unter die Ladentheke der Buchhandlung, in der sie angestellt war. Mit ein paar Handgriffen hatte sie die Batterien wieder eingesammelt und das Mobilteil wieder in die Ladestation zurückgestellt. Monis Wangen hatten sich leicht gerötet, nicht aus Wut über das Missgeschick, sondern weil es schon fast regelmäßig Ärger mit den Vermietern, dem Reichgruber Wastl und seiner Frau, der Emmi, gab. Es war für die alleinerziehende Moni schon schlimm genug, ohne finanzielle Hilfe für den Lebensunterhalt der kleinen Familie sorgen zu müssen. Es kamen auch noch all die Alltagssorgen hinzu, die sich mit dem Heranwachsen ihrer beiden Sprösslinge, der zehnjährigen Lisa und des zwei Jahre älteren Tom, so ergaben: die Schule, der Sportverein, die stetig steigenden materiellen Wünsche … und Erziehungsprobleme. So wie in letzter Zeit. Was das Zusammenleben mit den Vermietern in dem kleinen Zweifamilienhaus in Mössling, einem Stadtteil der wunderschönen Innstadt Mühldorf, durch ständige Konflikte trübte. Moni bewohnte mit ihren beiden Nachkömmlingen die Dreizimmerwohnung im ersten Stock. Die Besitzer, Emmi und Wastl Reichgruber, ein älteres, kinderloses Ehepaar, wohnten im Erdgeschoss. Immer häufiger gab es Ärger mit ihnen. Die beiden Kinder gerieten immer wieder in die Kritik der Vermieter: Ob es die nicht ordnungsgemäß abgestellten Fahrräder waren, die manchmal mangelnde Bereitschaft, ein bayrisches „Grüß Gott“ zu entgegnen, oder – wie im gerade erwähnten Fall – das Ehepaar mit deutscher Rapmusik etwas zu laut zu beschallen. Wenn dann am frühen Nachmittag das Telefon im Laden klingelte und auf dem Display die Nummer des Anrufers unterdrückt wurde, ahnte sie schon, dass es die Reichgrubers waren und wieder etwas vorgefallen sein musste. In der Regel rief dann die Emmi an und beschwerte sich.
Bis vor etwa einem Jahr war die Welt im trauten Heim noch ganz in Ordnung gewesen. Man hatte ein gutes, fast schon freundschaftliches Verhältnis mit den Reichgrubers gepflegt. Im Sommer saß man am Wochenende oftmals auf der Terrasse beim Grillen oder einfach bei einem Gläschen Wein zusammen und plauderte über die Welt, insbesondere über die Nachbarschaft, die Stadtpolitik und alles, worüber man schön lästern konnte. Doch das zunehmend schlechte Benehmen der Kinder hatte die Reichgrubers vermehrt dazu veranlasst, sich über die Kinder zu beschweren und sich in die Kindererziehung einzumischen. Dadurch war Monis Verhältnis zu den Reichgrubers abgekühlt. Ja, und seitdem war das mit dem Terrassensitzen auch Vergangenheit.
Den Rest des Tages konnte Moni dann etwas entspannter verbringen. Der Buchladen am Stadtplatz von Mühldorf hatte für Moni eine doch beachtliche Bedeutung. Neben der nüchternen Tatsache, dass sie hier ihr tägliches Brot verdienen musste, bedeutete er für sie gewissermaßen auch eine Ablenkung von den Alltagssorgen – und auch ein bisschen Freude: Sofern die Zeit und ihre beiden Rabauken es zuließen, nahm sie an nasskalten Herbstabenden bei einer heißen Tasse Tee gerne ein Buch, am liebsten einen Krimi, zur Hand. Und da konnte sie auf die aktuellen Neuerscheinungen aus dem Buchladen zurückgreifen. Meist mit dem fundierten Wissen von Herrn Hoymeyer, ihrem Chef. Zudem war ihre Tätigkeit in der Buchhandlung Wilhelm Hoymeyer eine gute Möglichkeit, ihr großes Kommunikationsbedürfnis zu stillen. Als geborene Mühldorferin kannte sie in diesem beschaulichen Ort fast jede und jeden. Da konnte es schon passieren, dass jemand aus ihrem Bekanntenkreis in die Buchhandlung kam, nur um ihr etwas „ganz Wichtiges“ zu erzählen, und dabei überhaupt kein Interesse an den Büchern und Zeitschriften zeigte. Aber auch ansonsten kannte sie fast jede und jeden, die bzw. der den Buchladen betrat. Über manche freute sie sich mehr – und über andere weniger. Und dann gab es da noch Werner, ihren „Schui-Spezl“. Mit ihm hatte sie schon die Schulbank gedrückt und so manche Streiche ausgeheckt, die sie ihren Kindern wohlüberlegt verschwieg. Werner war so etwas wie ihr älterer Bruder, den sie nie gehabt hatte und der ihr mit viel Rat, aber auch mit genauso viel Tat zur Seite stand. Er verstand sich auch prächtig mit ihren Kindern. Und so kam es, dass Werner abends oft mit ihnen viel Zeit verbrachte, während sie zu ihren Dates gehen konnte. Rein erzieherisch brachte Werner als Babysitter nicht unbedingt eine Glanzleistung, denn außer Spielen am Computer und Kissenschlachten unternahm er mit den Kindern an solchen Abenden nichts. Da sie selbst nicht gerade einen Putzfimmel hatte und auch sonst ein wenig Unordnung für sie kein großes Problem darstellte, hatte sie zu später Stunde dann oft weder Muße noch Zeit, den „Saustall“, wie sie die Unordnung in der Wohnung dann gerne nannte, zu beseitigen. Nicht zuletzt deswegen kamen solche Dates nicht allzu häufig vor.
Werner Huber war Polizeiobermeister bei der örtlichen Polizeidienststelle im Ort und – genau wie sie – bekannt wie ein bunter Hund. Dass Werner von Beruf Polizist war, war ein weiterer Grund, warum Moni mit ihm so gerne „abhing“. Oft saßen sie am Sonntagabend zusammen beim Tatort vor dem Fernseher und rätselten um die Wette, wer der Täter war.
Moni interessierte sich sehr für Werners Tätigkeit, da sie – über ihre weibliche Neugier hinaus – ein großes Faible für Kriminalfälle besaß. Und wenn er tagsüber Zeit hatte, bei ihr vorbeischaute und über die neuesten Straftaten in Mühldorf berichtete, so hörte sie ihm immer aufmerksam zu und hatte oft einen Rat zur Hand, wer denn was, warum und wie getan haben könnte. Leider waren die Vorkommnisse in Mühldorf nicht annähernd so spannend wie die Krimis, die sie so gerne las.
Heute kam Werner kurz vor sechs Uhr in den Laden, mit einem Eis in der Hand, das er bei Riccardo im Vorbeigehen noch geholt hatte. Mit seinen Einsfünfundachtzig, seinem vollen, dunkelblonden Haar und einem leichten Bauchansatz war er ein „gstandenes Mannsbild“, wie man in Bayern so sagt.
„Hey, oida Schui-Spezl, hast wieder nicht an mich gedacht. Schlabberst da dein Eis – und ich?“, beschwerte sich Moni.
„Ich will ja nicht, dass du mit deiner Linie in Konflikt kommst, sonst musst wieder drei Extrarunden im Fitnesszirkel machen!“ Werner war um keine Antwort verlegen. Leider hatte er damit bei Moni eine sensible Stelle getroffen, und eine weitere Diskussion darüber erübrigte sich. Wie bei den meisten Frauen waren auch bei Moni die ersten Anzeichen einer kleinen Bauchwölbung der Auslöser für Fitness- und Abnehmorgien gewesen. Seit drei Monaten quälte sich die 1,64 m große Frau im Fit-o-Fit ab, dem örtlichen Fitnesscenter, um ihr Gewicht zu reduzieren. So gerne wollte sie wieder die fünfundfünfzig Kilogramm haben, die sie noch mit Anfang zwanzig, also vor etwa zwölf Jahren, gehabt hatte.
„Was macht die Polizeiarbeit so?“, versuchte Moni von dem heiklen Thema abzulenken und drehte ihre roten Locken um den Finger.
„Na ja, momentan ist’s ruhig. Aber im Herbst werden so manche trübsinnig. Wer weiß, was dann noch alles passiert!“, antwortete Werner. Dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen und druckste herum: „Du Moni … wos moanst … sollten wir ned amoi wieder abends an Krimi oder wos Ähnliches oschaun? I hätt’ so richtig Lust drauf!“
„Du, des könnt’ ma scho machn, aber da reden wir a andermal drüber“, erwiderte Moni, und ohne dabei unhöflich zu wirken, zeigte sie dabei auf die Uhr, um Werner zu signalisieren, dass es Zeit war zu gehen und sie den Laden gerne pünktlich abschließen wollte.
Nachdem Werner den Buchladen verlassen hatte, ging Moni die Kassenumsätze durch, verglich den Geldbestand mit dem Kassenkonto und legte – zufrieden darüber, dass alles genau stimmte – die Geldscheine in eine Geldtasche, die sie dann beim Heimgehen in den Bankbriefkasten werfen wollte.
Nachdem sie in den Regalen und auf den Buchpräsentationstischen noch ein wenig Ordnung gemacht hatte, zog sie ihre Jacke an und verließ den Laden durch den Haupteingang. Als sie ins Freie trat, spürte sie den kühlen Herbstwind, der das erste gelb-braune Laub in den Arkadengängen des Mühldorfer Stadtplatzes tänzeln ließ. Mit schnellen Schritten zielte sie in Richtung Bank, die auf ihrem Nachhauseweg lag. Vor der Geschäftsstelle zog sie die Geldtasche aus ihrer bauchigen Handtasche und warf sie in den eigens dafür angebrachten Schlitz ein. Die Gedanken an die nächste Station ließen ihre Mundwinkel leicht nach oben wandern. Denn drei Häuser weiter in der zu einem Stadtplatz ausgebauten Straße, die im Mittelalter nach italienischem Baustil – nämlich Haus an Haus mit dazwischenliegenden engen Gassen – gebaut worden war, befand sich die Eisdiele Da Riccardo. Obwohl Moni Werners Anspielung auf ihre Figur noch nicht ganz verdrängt hatte, lief sie schnurstracks auf die Theke des Straßenverkaufs zu. Mit einem „Ciao Bella!“ wurde sie von Riccardo Belloni, dem Besitzer und Betreiber der Eisdiele, begrüßt. „Ciao Bello!“, erwiderte sie mit korrekter italienischer Grammatik, die sie noch vom Volkshochschulkurs im letzten Herbst in Erinnerung hatte, die Begrüßung.
„Was hätten die hibsche Donna denn gerne?“, umschmeichelte Riccardo Moni, so wie er es gerne mit allen Kundinnen machte.
„Zwei Kugeln, Nocciola und Bacchio, und bitte in der Waffel!“
„Come stai, principessa?“, wollte Riccardo wissen.
„Ganz gut, danke!“
„Ja, hallo Moni, wie geht’s dir denn?“, hörte sie dann von hinten die sonore Stimme von Bert Haigermoser, dem Wirt des Getreidekellers. Er betrieb unmittelbar unter dem Bekleidungsgeschäft vom Erwin Haderthanner seine – wie er sie gerne nannte – kultiviert bayrische Gastwirtschaft.
„Ja guad, und dir?“
„Ja, geht so!“, brummelte er zurück.
„Was is los?“, fragte Moni neugierig und drehte sich zum Haigermoser um.
„A geh, mit dem Haderthanner hab’ i wieder Ärger. Jetzt möcht’ der scho wieder die Pacht erhöhen, wo i doch letzt’s Jahr no kräftig in die Bestuhlung investiert hab’. Richtig grantig macht mich der, der soll ma bloß unter die Augen kommen, aber dann ...!“, blaffte Haigermoser heraus, und zwar so laut, dass sich die anstehende Straßenkundschaft irritiert zu ihm umwandte.
„A geh, lass’ di doch ned so ärgern! Red’ halt mit ihm, vielleicht lasst sich da no was machen!“, versuchte Moni ihn zu beschwichtigen.
Mit einer abwinkenden Geste beendete Bert Haigermoser jedoch das Gespräch und ging in Richtung Stadttor davon.
„Servus, Bert!“, rief ihm die Moni noch hinterher, was dieser noch mit dem Anheben der rechten Hand quittierte.
Moni nahm ihre fertige Eiswaffel, legte zwei Euro vierzig in die eigens dafür vorgesehene Porzellanschale und verabschiedete sich von Riccardo und einigen Leuten, die in der Schlange vor der Eisdiele standen.
Die nächsten fünf Häuser schlenderte sie gemütlich dahin, damit sie ihr Eis besser genießen konnte. Obwohl sie die Warenpräsentationen in den Schaufenstern der Geschäfte mittlerweile zur Genüge kannte, blieb sie doch vor dem einen oder anderen stehen, um sie sich nochmal genauer anzusehen. Erst als sie das letzte Stück der Eiswaffel verzehrt hatte, ging sie wieder mit schnellen Schritten Richtung Parkplatz außerhalb des Stadtplatzes von Mühldorf. Der neue Bürgermeister hatte nämlich vor zwei Jahren erlassen, dass die Angestellten der Geschäfte ihre Fahrzeuge außerhalb des Stadtplatzes auf den extra dafür ausgewiesenen Parkplätzen stellen müssen. „Damit die Kunden während des Einkaufens ausreichend Parkplätze am Stadtplatz haben“, war seine Begründung.
Um zum Parkplatz zu gelangen, musste sie kurz vor dem Stadttor in die Bräugasse, eine kleine, finstere Gasse, abbiegen und diese bis zum Ende durchgehen, um dann über ein paar Treppenstufen zum Stadtwall – eine Ringstraße um den Stadtplatz herum – zu gelangen. Von dort waren es noch etwa zweihundert Meter zum Auto. Gerne ging sie durch diese Gasse nicht. Das lag zum einen vielleicht daran, dass sie eng und von hohen Wänden umschlossen war. Zum anderen, weil dadurch auch im Sommer kaum Sonnenlicht hineinfiel und sie vor allem in der Dämmerung, so wie jetzt, immer einen Hauch von Bedrohung verspürte. Heute fühlte sie sich beim Beschreiten der Gasse – sie wusste nicht warum – ganz besonders unbehaglich. Sie wollte sich ablenken und überlegte, was sie den Kindern heute Abend zum Essen noch schnell zubereiten könnte. Entschlossen marschierte sie auf der rechten Seite der Bräugasse entlang. Ein Vibrieren in ihrer Tasche, gepaart mit einem hellen Klingelton, riss sie aus ihren Gedanken. Abrupt blieb sie stehen und wühlte in der Tasche nach ihrem Handy. Bevor sie aber diese Errungenschaft der modernen Kommunikation ertasten konnte, erstarb der Klingelton wieder. Erst nach weiteren Bemühungen fanden ihre schmalen Hände in den Tiefen ihrer Tasche den Verursacher der Störung. Sie blickte auf das Display und drückte sogleich die Ruftaste, um den Anruf zu erwidern. „Ja, Mama hier, was gibt’s?“
„Wann kommst du, ich hab so viel Hunger“, tönte die zarte Stimme von Lisa, ihrer kleinen Tochter, aus dem Lautsprecher.
„Ich bin gerade auf dem Weg zum Auto, bin gleich da!“, versuchte Moni ihr quengeliges Kind zu trösten. Nach einer kurzen Verabschiedung ließ Moni im Bewusstsein, dass ein weiterer Anruf dieselbe Suchprozedur zur Folge haben würde, ihr Handy in den oberen Bereich ihrer Tasche gleiten und setzte ihren Gang wieder fort. Allerdings nur ein paar Schritte …
Sie erstarrte vor Schreck und hielt einige Sekunden inne. Und dann schrie sie. Es war ein lauter und durchdringender Schrei, der jäh die Stille der Gasse durchbrach. Sie konnte ihre Beine immer noch nicht bewegen, so sehr lähmte sie das, was sie sah: Vor ihr auf dem Kopfsteinpflaster lag ein lebloser Körper, der Kleidung nach ein Mann. Und ringsherum nichts als stille Dämmerung. Weit und breit war kein anderer Mensch in Sicht. Eigenartig und grotesk verkrümmt lag er da, mit dem Gesicht zur anderen Seite, aus den Ohren und einer Kopfwunde lief Blut. Unmittelbar neben dem Hinterkopf lagen die Scherben eines zerborstenen Blumentopfs, die blühende Balkonpflanze stand noch in ihrem Erdklumpen – so, als ob sie triumphieren wollte – auf der Schulter des Mannes. Rechts daneben lag eine Eiswaffel. Die dunkle Eiscreme war bereits geschmolzen und hatte sich mit dem hellroten Blut auf dem Kopfsteinpflaster vermischt.
Nachdem sich Moni endlich aus der Schockstarre gelöst hatte, beugte sie sich zu dem Mann hinab. Ihre erste Reaktion war, dass sie die Halsschlagader ertastete, so wie sie es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Sie konnte keinen Puls spüren. Nach erstem Ermessen war dieser Mann tot.
Da ihr Aufschrei ringsum gehört worden war, kamen jetzt nach und nach Passanten herbei und die Anwohner traten aus den Eingängen. Manche waren hinter ihren Fenstern geblieben und beobachteten von dort aus das Szenarium. Allen war der Schrecken ins Gesicht geschrieben, als sie den leblosen Körper betrachteten.
Mit einer letzten Spur von Hoffnung, dass doch noch ein Rest von Leben in dem Mann sei, wechselte Moni auf die andere Seite – und erschrak zutiefst, als sie das Gesicht von Erwin Haderthanner, einem ortsansässigen Geschäftsmann, erkannte. „Das … das ist ja der … Haderthanner!“, stammelte sie vor sich hin und bemerkte nicht, dass sich die Schaulustigen und Neugierigen näher an das Geschehen herangeschoben hatten.
„Was? Da Haderthanner? Was is da passiert, dass der so daliegt?“, fragte eine kleine, gebeugte, ältere Frau, die sich auf ihren Stock stützte.
„Is der tot?“, kam es von einer Anwohnerin, die Moni als Erika Grahammer, eine stadtbekannte Mühldorfer „Quadratratschn“, erkannte.
Moni dachte kurz nach und griff dann in ihre Tasche, um erneut die Suche nach ihrem Handy aufzunehmen, wobei sie mehr zu sich selbst als zu den Umstehenden murmelte: „Der Notruf muss sofort verständigt werden.“ Dieses Mal wurde sie schneller fündig und tippte mit fliegendem Daumen die 112 in ihr Gerät.
„Rettungsleitstelle Traunstein, was kann ich für Sie tun?“, meldete sich eine Stimme.
„Hier ist Moni Beck aus Mühldorf. Ich bin gerade in der Bräugasse in Mühldorf und da liegt ein Toter mit einer Kopfverletzung!“, sprach sie ganz aufgeregt in das Telefon. Nach den üblichen Fragen, die Moni alle zufriedenstellend beantworten konnte, legte sie auf, ließ das Handy wieder in ihre Tasche gleiten und sagte zu den Umstehenden: „Die Polizei ist unterwegs.“ Dann griff sie noch einmal eilig in ihre Tasche, um das Handy erneut herauszunehmen. Nervös suchten ihre Finger das eben noch benutzte Gerät und fanden es schließlich in einer Seitentasche, in die es offenbar versehentlich hineingeglitten war. Sie nahm es heraus und wählte eine Nummer aus ihrer Favoritenliste. Schon nach dem zweiten Piepen meldete sich der Angerufene.
„Ja, Moni, du, ich bin grad bei der Aufnahme eines Verkehrsunfalls. Kann ich dich später zurückrufen?“, hörte sie Werner sagen.
„Es is aber wichtig! Da Haderthammer is tot!!! Der liegt hier vor mir in da Bräugasse!“ Moni war ganz aufgeregt.
„Waaas? Was ... hast du damit zu tun?“
„Nix, aber ich hab’ ihn gfunden.“
„Du, Moni, wir sprechen später. Den Notruf hast du doch scho verständigt, oder?“, vergewisserte sich Werner und bekam dies auch umgehend von Moni bestätigt, bevor er auflegte.
Wenig später kündigte der durchdringende Ton des herannahenden Martinshorns das Eintreffen der Polizei und der Rettungskräfte an. Autotüren wurden geöffnet und zugeschlagen, allen voran eilte Klaus Keilhofer durch die Gasse, der Dienststellenleiter der hiesigen Polizei. Keilhofer fiel nicht nur wegen seiner sehr lauten Stimme auf, sondern auch wegen seiner stattlichen Figur; der ausgedehnte und pralle Bauch, den er fast stolz vor sich hertrug, war nicht zu übersehen. Moni hatte mit Werner schon einmal zur späten Stunde und auch unter Alkoholeinfluss gemutmaßt, wie viele Schweinshaxen und wie viele Mass Bier wohl zu dieser stattlichen Bauchausstülpung beigetragen hatten.
„Bittschön, jetzt gehen Sie doch auf die Seite, lassn’s uns durch!“, polterte er schon von Weitem, und das nicht nur, um sich Platz zum Durchgehen, sondern hauptsächlich, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. So gut kannte die Moni den Keilhofer schon, und zwar nicht nur durch ihre Beobachtung, sondern auch aus den Erzählungen von Werner.
In Keilhofers Windschatten eilte auch der Notarzt heran, überholte ihn und beugte sich unverzüglich über den leblos daliegenden Haderthanner. Ein paar Handgriffe später stellte auch er mit einem bedauernden Kopfschütteln fest, dass der Haderthanner sein Leben vollständig ausgehaucht hatte.
„So, Herr Doktor, dann lassn’s amal mich heran. Dankeschön, Ihre Arbeit ist dann wohl beendet“, versuchte nun der Polizeichef die Oberhand über die Lage wiederzuerlangen. „Das hier ist erst mal dann doch Polizeiarbeit.“
Der Arzt erhob sich wieder und verließ den Platz in Richtung Notarztwagen.
„So … Wer hat den Toten gefunden?“, fragte Keilhofer mit suchendem Blick auf die nun durch die Einsatzleute angewachsene Schar.
„Ich war das“, kam es fast schüchtern von Moni.
„Aha. Die Frau Beck. Unsere Kriminalerin.“ Keilhofer erntete vereinzeltes, kleinlautes Gelächter. „Darf ich Sie bitten, mit dem Kollegen zum Polizeiauto zu gehen, damit er ihre Zeugenaussage aufnehmen kann?“ Das klang fast schon wieder versöhnlich.
Monis Interesse für Krimis und Kriminalfälle war auch dem Keilhofer bekannt und hatte in der Vergangenheit schon des Öfteren seine Einsatzleitung und Wege gekreuzt. Wer will denn schon, dass sich ein Fachfremder in die Angelegenheiten der Polizei einmischt?
Moni zog gehorsam mit einem Polizeibeamten ab, damit dieser ihre Aussage aufnehmen konnte.
„Was haben wir denn da, einen Blumentopf!“, stellte Keilhofer fest.
Nun schob sich Erika Grahammer durch die Menge nach vorne und ging direkt auf die noch immer am Boden liegende Leiche zu. „Hach! Des is ja mein Blumentopf! Und der is nun in Scherben!“, rief sie entrüstet. Und mit Blick auf die heil gebliebene Topfpflanze fügte sie sogleich erleichtert hinzu: „Gott sei Dank! Die Gerbera is noch ganz geblieben!“, rief die stadtbekannte Dame erfreut aus, nicht ohne das Missfallen der umstehenden Anwohner und Passanten zu ernten.
„Ja Grahammerin, bist denn du deppert? Da liegt ein Toter und dich interessiert nur dein blödes Gemüse!“, entrüstete sich Keilhofer. Gerade als sich die Grahammerin bücken wollte, um die unbeschädigte Gerbera an sich zu nehmen, zog sie der Keilhofer wieder zurück. „Jetzt schaust, dass’d wegkommst! Und die Pflanze bleibt da! Wir sind ja noch in den laufenden Ermittlungen. Und dei Kraut is ein Beweismaterial. Und stell’ di gleich beim Polizeiauto an, damit wir auch dei Aussage festhalten können. Schließlich is dein Krautbehälter vielleicht schuld am Tod vom Haderthanner. Zefix no amal!“
„Mei Gerbera is an gar nichts schuld“, verteidigte sich die Grahammerin, nun doch etwas kleinlaut. Beleidigt zog sie ab und bewegte sich in Richtung Polizeiauto, in dem immer noch die Moni ihre Aussage machte.
„Wer hat noch was gesehen?“, fragte nun der Keilhofer nochmals in die Runde und schaute dabei eindringlich in jedes einzelne Gesicht der ratlos herumstehenden Menschen. Inzwischen hatten die übrigen Mitarbeiter den Leichenfundort mit einem rot-weiß gestreiften Band abgesichert und begonnen, die vielen herumliegenden Topfscherben mit kleinen weißen Zetteln einzeln zu markieren. Keilhofer, voll in seinem Element, inspizierte eingehend die Umgebung. Sein Blick wanderte von der Gasse nach oben zu der Stelle, von wo der Topf heruntergefallen sein könnte. Dann schrie er, den Kopf Richtung Polizeiwagen gewandt, bei dem die Grahammerin stand, so laut, dass es bis zum Stadtplatz zu hören war: „Grahammerin, können wir nachher zu dir auf den Balkon … oder Durchgang oder was des a immer is, raufgehen? I möcht’ mir des anschauen, wo und warum der Topf da runtergfallen is.“ Er blickte erneut nach oben und sah noch, wie eine ältere Frau ihren Kopf ruckartig zurückzog, nachdem sie sich offenbar ertappt gefühlt hatte.
„Hey, Sie da, hallo! Sie da oben, schauen Sie doch nochmals heraus! Wer sind Sie?“, rief er. Leider ohne Erfolg. Der Kopf und die dazugehörige Dame blieben verschwunden. „Das werden wir schon rausbekommen, wer da oben noch wohnt. Brucker, geh’, find doch mal heraus, wer in dem Haus alles wohnt!“, befahl er seinem Mitarbeiter, dem Eberhard Brucker. Werner bezeichnete den Brucker immer als braven Soldaten, weil er dem Keilhofer immer dienstbeflissen und fast schon untertänig diente – und dieser das schamlos ausnutzte.
„Wohnt da ned an Haderthanner sei Schwester?“, warf der Brucker kurz ein.
Keilhofer überlegte kurz und meinte dann: „Das kann sein, aber du wirst das schon herausfinden. Jetzt gehst du erst mal nauf und ich schau, dass ich die Leiche abtransportiert bekomme.“ Wenn Keilhofer „ich“ sagte, dann meinte er einen seiner Mitarbeiter, und prompt reichte er die Aufgabe an den am nächsten stehenden Beamten weiter.
Moni war inzwischen mit der Aussage fertig und unterschrieb gerade noch das Protokoll, als das Handy in der Tasche sich wieder bemerkbar machte. Rasch griff sie hinein, und als ob sie es mittlerweile geübt hätte, bekam sie das Gehäuse gleich beim ersten Versuch aus der Tasche. Allerdings zusätzlich auch noch ein gebrauchtes Taschentuch und einen Tampon, der dann auch direkt vor dem Polizeibeamten auf den Boden fiel.
„Sch…!“, wollte sie herausplatzen, aber im letzten Augenblick beherrschte sie sich und nahm, statt ihre Utensilien wieder einzusammeln, das Telefongespräch an, ohne vorher auf das Display zu geschaut zu haben.
„Moni, i bin jetzt fertig und komm gleich vorbei. Wo bist du denn?“, hörte sie Werner, wie immer, ohne Gruß. Aber das war bei Werner immer so. Bevor man sich am Telefon ordentlich melden konnte, plauderte er auch schon los. Manchmal ohne Punkt und Komma.
„I bin grad fertig mit meiner Aussage und fahr dann … Oh mein Gott, Werner, ich muss jetzt auflegen und heim zu Lisa und Tom! Pfiadi, wir sprechen uns später!“ Moni legte auf, hob die beiden am Boden liegenden „Schätze“ aus ihrer Tasche auf, verstaute sie dort wieder und rannte los. Das Handy ließ sie in der Hand, in der Absicht, auf dem Weg zum Parkplatz noch schnell bei den Kindern anzurufen. Als sie jetzt kurz auf das Display blickte, sah sie acht Anrufe von der Festnetznummer von zu Hause. Gleich nach dem ersten Durchläuten hob Lisa mit einer ganz verweinten Stimme ab. „Maahaami, wo bist du?“
Moni schluckte kurz und erklärte der Kleinen, warum sie immer noch unterwegs war. Dabei vermied sie, von einem Toten zu sprechen, erzählte ihr aber, zu einem Unfall hinzugekommen zu sein, was ja grundsätzlich nicht gelogen war. Sofort bombardierte Lisa ihre Mutter mit vielen Fragen, die Moni mit dem Hinweis abwiegelte, dass sie sich jetzt schnell auf den Weg machen und ihr später alles erzählen würde.
Zu Hause stand die Emmi bereits vor der Haustür und baute sich, die Arme vorne überkreuzt, vor Moni auf. „Du kannst doch ned die Kinder so lange allein lassen. Bis zu mir runter hab’ i die Kleine heulen gehört. Also du weißt schon, das mit der Aufsichtspflicht und so … Wenn da mal ned einer das Jugendamt ins Spiel bringt. Mich geht’s ja nix an, aber …“
„Wenn’s dich nix angeht, dann halt dich da raus“, rutschte es Moni unversehens heraus. Dann schob sie die Emmi zur Seite, sperrte die Wohnungstür auf und zog sie hinter sich gleich wieder zu. Mit einem weinerlichen Hallo und einer dicken Umarmung wurde sie von Lisa innigst begrüßt. Lisa, die stahlgraue Augen wie ihre Mutter hatte, schluchzte herzzerreißend. Tom dagegen begnügte sich mit einem kurzen Blick aus seinem Jugendzimmer in den Gang, um sich zu vergewissern, dass die Mutter jetzt da war. Auf ihre Begrüßung „Hallo Tom!“ reagierte er gelassen mit einem angedeuteten Handschlag. Cool, wie ein angehender Teenager eben so sein musste.
Nach dem Abendessen führte sie noch mit Werner das versprochene Telefonat und schilderte ihm dabei alle Details, die ihr noch einfielen. Da sie allerdings nach all den Geschehnissen sehr, sehr müde war, bat sie Werner, die Analyse der Ereignisse auf den nächsten Tag zu verschieben. „Am besten“, so schlug sie vor, „um halb zwölf im Laden.“ Um diese Uhrzeit war es meistens am ruhigsten. Dann brachte sie noch schnell die Lisa ins Bett. Tom hatte seine Zimmertür bereits zugezogen, was so viel wie „Bleib mir vom Hof“ bedeutete. Und das wollte sie heute auch nicht weiter diskutieren.
Am nächsten Tag fuhr Moni die beiden Kinder nach dem Frühstück zur Schule und sperrte dann pünktlich um acht den Laden auf. Was sie aber sehr verwunderte, war, dass der Chef selbst im Laden stand und die Tageszeitungen, die geliefert worden waren, bereits auf der Ladentheke aufgestapelt hatte. Mit einem hellen Anzug, roter Krawatte und Glatze mit graumeliertem Haarkranz ähnelte er dem bayrischen Volksschauspieler Walter Sedlmayr sehr. Mit einem „Guten Morgen, Frau Beck“ begrüßte er sie, sodass man das Süßholz schon von Weitem raspeln hören konnte.
„Ja, Herr Hoymeyer, was hat Sie schon so früh aus dem Bett getrieben?“, entgegnete ihm Moni mit einem Unterton, der auf den Vorfall vom Vortag anspielte.
„Ja, wissen’s, so ein Gschäft braucht auch manchmal die führende Hand, die nach dem Rechten schaut“, konterte er im Schnellschuss, um im nächsten Moment schon zu bereuen, was ihm da entglitten war, und in der Erwartung, eine entsprechende Reaktion bei Moni auszulösen.
„Aha, was läuft denn in so einem Geschäft nicht so rechtens, weil ihre führende Hand notwendig ist?“, kam es sofort zurück. Moni zog dabei eine beleidigte Grimasse, die mehr belustigend als ernstzunehmen war.
„Ach, jetzt kommen’s, Frau Beck, so war des doch ned gmeint. Es is nur, dass ich mich bei unseren Kunden auch mal wieder sehen lassen möchte. Sie wissen doch, des belebt das Geschäft. Und manchmal erfährt man eben so das eine oder das andere!“, rechtfertigte er seine forsche Äußerung von vorhin. Um dann noch versöhnlich zu ergänzen: „Soll ich Ihnen auch einen Kaffee machen? Ich hab heut nämlich no keinen getrunken.“
„Gerne doch, Herr Hoymeyer“, nahm sie mit einem vielsagenden Lächeln sein Angebot an, um zu zeigen, dass sie nicht mehr verärgert war.
Hoymeyer verschwand daraufhin in den hinteren Räumen und machte sich sofort daran, den versprochenen Kaffee aus dem Vollautomaten zu lassen.
Kaum hatte er den Raum verlassen, öffnete sich die Ladentür und der erste Besucher, besser gesagt die erste Besucherin betrat den Buchladen. Eine Kundin konnte Moni sie beileibe nicht nennen, denn die wenigen Male war sie nur deswegen in der Buchhandlung aufgetaucht, um sich zu beschweren, weil die Tageszeitung nicht zugestellt bzw. aus ihrem Briefkasten entwendet worden war. Und das war nun schon länger nicht mehr der Fall gewesen.
„Guten Morgen, Frau Grahammer, wollen’s das Mühldorfer Tagblatt haben?“, versuchte Moni sogleich, ihr vorzukommen.
„Nein, Fräulein Beck, da steht ja auch no nix drin von dem Unfall gestern.“ Die Grahammerin war immer noch in der sehr überkommenen Ansicht, dass unverheiratete weibliche Wesen eben als „Fräuleins“ zu betiteln sind, und sie würde das in ihrem Leben sicherlich nicht mehr ablegen.
Moni erinnerte sich kurz, wie sich die Grahammerin gestern mit dem Keilhofer angelegt hatte; dabei schlüpfte ihr ein kurzes Lächeln über die Lippen. „Womit kann i denn sonst dienen?“, versuchte Moni das Gespräch wieder auf eine geschäftliche Ebene zu bringen.
„Ach, ich bin von gestern noch so verwirrt und hab’ überhaupt ned gut gschlafen. Ich wollte nur mal so fragen, was Sie so gesehen haben.“ Mit fragendem Blick taxierte sie dabei die Moni.
„Nix hab’ i gesehen, nur den Haderthanner daliegen, tot, mausetot!“
„Haben’s ned vielleicht was bemerkt, was ghört?“, bohrte die Grahammerin weiter.
„Was soll i schon ghört haben, i war geschockt und hab’ sofort einen Notruf abgsetzt. Aber was geht Sie das Ganze eigentlich an? Sind Sie jetzt Ermittlerin? Oder was sollen diese Fragen? Wenn’s nix kaufen wollen, dann entschuldigen Sie bitte, ich hab’ schließlich noch was andres zu tun!“, beendete Moni etwas zu barsch das Gespräch und wollte sich gerade dem Öffnen der in Folie eingeschweißten Tageszeitungen widmen, als Hoymeyer mit dem frisch aufbrühten Kaffee zur Ladentheke kam und die Grahammerin einladend anlächelte. Er stellte den Kaffee direkt vor Moni ab und wandte sich nun an Frau Grahammer. „Ja, Frau Grahammer, scho lang nimmer gesehen. Wie geht es Ihnen denn so? I hab’ scho ghört, dass’s gestern in ihrer Gasse hoch her gangen is. Da sind wohl auch Ihre gepflegten Blümchen in Mitleidenschaft gezogen worden, wie man so hört!“, begann er das Gespräch mit einer Anspielung auf Frau Grahammers Auftritt am Vortag, der sich bei den Stadtplatzbewohnern sehr schnell herumgesprochen hatte.
„Ja, meine Gerbera hat’s erwischt“, erwiderte sie, immer noch die Priorität der Geschehnisse auf den Verlust ihres Blumentopfes und nicht auf den Tod eines ihr bekannten Menschen setzend, auch wenn dieser nicht unbedingt ganz oben auf ihrer Freundesliste rangierte.
„Wie kann ich Ihnen helfen, Frau Grahammer?“ Hoymeyer versuchte geschäftlich zu wirken.
„Ja … nein … Ach nix … Ich war nur auf dem Weg und da wollte ich mal vorbeischauen und sehen, wie’s dem Fräulein Beck geht, sie hat ja alles mitbekommen!“
„Ach ja, was haben’s also gesehen und ghört, Fräulein Beck?“ Hoymeyer nahm die Frage auf, um nicht nur die Neugier der Grahammerin zu befriedigen, sondern auch seine eigene – was auch der eigentliche Grund seines heutigen frühen Erscheinens gewesen war.
„Was soll denn das, bin ich jetzt in einem Kreuzverhör?“ Genervt drehte sich Moni demonstrativ um und widmete sich nun ganz dem Auspacken der Zeitschriften.
„Ach, seien’s doch ned gleich eingschnappt! Schließlich sind Sie der einzige Augenzeuge des Unfalls!“
„Nix bin i, i hab’ nur den Haderthanner gfunden“, konterte Moni ohne sich umzudrehen, womit sie andeutete, dass das Gespräch für sie nun endgültig beendet war, und widmete sich wieder ganz ihrer Arbeit.
Der Hoymeyer wandte sich resigniert der Grahammerin zu, um ihr mit einem leichten Kopfschütteln zu vermitteln, dass es keinen Sinn mehr machte, weitere Fragen zu stellen. Anschließend sprach er mit ihr noch über das Herbstwetter und die sich ankündigende kalte Jahreszeit. Unverrichteter Dinge, auch ein wenig eingeschnappt und mit einem kargen, an die Moni gerichteten „Wiedersehn“ rauschte sie aus dem Buchladen.
Moni bemerkte, wie der Hoymeyer sich nun von der Seite anschlich, direkt neben ihr stehenblieb und sie beim Auspacken beobachtete. Sie sah auf und fragte schnippisch: „Was gibt’s?“
„Nix, es ist nur … Sie haben ja gestern a ganze Menge erlebt und gesehen, nicht wahr?“
„Und? Fangen Sie jetzt auch no an, mich auszufragen? Was is bloß los heute? Lassen’s mich doch einfach meine Arbeit machen!“ Ärgerlich drehte sie sich weg und gab ihm zu verstehen, dass sie das Gesprächsthema nicht mehr aufnehmen wollte.
Enttäuscht zog Hoymeyer ab und verschwand in den Nebenraum, aus dem er vorher den Kaffee geholt hatte. Kurz danach erschien er mit Mantel, Hut und Lederhandschuhen, um kurz kundzutun, dass er zum Frühstücken in den Getreidekeller gehen werde, in sein und auch Monis Stammlokal, das sich am Stadtplatz genau gegenüber befand, unter dem Bekleidungsgeschäft vom Haderthanner. Mit einem kurzen, wortlos angedeuteten Gruß verließ er den Buchladen.
Moni atmete erleichtert auf. Endlich war sie allein. Nachdem sie alle Zeitungen in den dafür vorgesehenen Ständern aufgereiht hatte, kehrte sie wieder zur Ladentheke zurück und bemerkte erst jetzt die noch unberührte Kaffeetasse, von der sie nun genüsslich einen kräftigen Schluck nahm.
Die herbeigesehnte Einsamkeit dauerte an diesem frühen Vormittag nicht lange, denn alle zehn bis fünfzehn Minuten kamen die üblichen Käufer, um sich anhand der Tageszeitungen über die neuesten Nachrichten und Kommentare zu informieren. Kleineren Anspielungen auf die gestrigen Ereignisse wich sie entweder gekonnt aus oder überspielte sie mit Geschäftigkeit. Auch wenn der Kaffee mittlerweile schon kalt geworden war, nippte sie dennoch immer wieder mit kleinen Schlückchen daran. Als sie gerade wieder einmal die Tasse abstellte, öffnete sich die Ladentür schon wieder. Aber dieses Mal war sie über den Besuch sehr erfreut. Denn da stand Werner, pünktlich wie verabredet – was war auch anderes zu erwarten? Mit einem freundlichen „Hallo“ und einer kurzen Umarmung begrüßte sie ihren Freund.
„Moni, wie geht es dir denn heute? Schon alles verdaut?“
„Na ja, es geht so, das von gestern, ja, das kann ich schon wegstecken. Aber die neugierige Brut hier, die nervt mich total. Und …“
„Halt, jetzt komm erst mal zur Ruhe! Wer ist denn neugierig und wer ist die Brut?“, wollte Werner wissen.
„Ach, erst der Hoymeyer,“ berichtete Moni, „der schon ganz in der Früh hier herumlungert, was er sonst normalerweise nie tut, dann die Grahammerin, die unversehens hier hereinmarschiert und mi ausfragt wie die Kriminalpolizei, und dann de Kunden, die auch noch versuchen, aus mir Informationen für ihren Tagesratsch zu bekommen. A bisserl viel Aufhebens für einen Unfall, meinst nicht auch?“
„Gut, wenn man’s genau nimmt, war’s ned unbedingt ein Unfall …“, meinte Werner ganz ruhig.
Einen kurzen Moment lang war Moni sprachlos, und als sie das Gehörte verarbeitet hatte, sprudelte es aus ihr heraus: „Was sagst du da? Kein Unfall? Was war es dann sonst?“
„Ja, du weißt, aus ermittlungstaktischen Gründen dürfen darüber keine weiteren Informationen und Details weitergegeben werden.“
Wenn auch Moni bis zu diesem Zeitpunkt noch ein wenig müde von den gestrigen Strapazen gewesen war, so war sie jetzt augenblicklich hellwach. „Du meinst, es war Absicht, dass ihm der Blumentopf auf den Kopf gefallen is?“ Werner drehte den Kopf zur Seite und dachte nach. Da fuhr Moni ungeduldig fort: „Komm schon … Werner, lass’ mich doch ned so betteln! War’s gar Mord?“