„Die Flucht in den Hass“ – von der damaligen akademischen Kritik als eine der besten wissenschaftlichen Analysen des Nationalsozialismus bezeichnet – stammt aus der Feder von Eva Gabriele Reichmann, einer in Oberschlesien 1897 geborenen, in Heidelberg promovierten Soziologin, die von 1924 bis 1938 kulturpolitische Referentin des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens war. Zusammen mit ihrem Mann, dem Rechtsanwalt Hans Reichmann, der seit 1933 das „Büro Wilhelmstraße“ leitete, eine antinazistische Zentrale, die die demokratischen Parteien mit Material versorgte, bekämpfte sie den Antisemitismus und den Nationalsozialismus in Deutschland in Wort und Schrift.
Hans Reichmann wurde im November 1938 in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Nach seiner Freilassung emigrierten Eva und Hans Reichmann 1939 nach London. Dort schrieb Eva Reichmann ihr Buch Hostages of Civilisation, welches 1956 unter dem Titel Die Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe erstmals in der Europäischen Verlagsanstalt erschien.
Eva Reichmann befasst sich mit einer historischen, soziologischen und psychologischen Einordnung der Frage, wie der Aufstieg des Nationalsozialismus zu erklären sei. Sie fragt zudem, ob – angesichts der von ihr attestierten tiefen „Unsicherheit im deutschen Nationalbewusstsein“ – das Projekt der Judenemanzipation nicht von Beginn an zum Scheitern verurteilt war. Ihre Antwort dazu fällt deutlich aus: Nein, der Nationalsozialismus und sein antisemitisches Programm sind kein Beweis für das Scheitern der Emanzipation der Juden. Vielmehr waren es wirtschaftliche, soziale und psychologische Krisenreaktionen, die zum Erfolg antidemokratischer und auch antisemitischer Bewegungen in Deutschland geführt haben. Eva Reichmann verteidigte das liberale und das demokratische Projekt der Emanzipation Zeit ihres Lebens. Oft war sie als Zeitzeugin und Gesprächspartnerin im christlich-jüdischen Dialog gefragt. 1982 erhielt sie für ihr Wirken den Moses-Mendelssohn-Preis und ein Jahr darauf das Große Bundesverdienstkreuz, 1970 bereits die Buber-Rosenzweig-Medaille. Sie starb 1998 in London im Alter von 101 Jahren.
In ihrem Nachwort zu der von ihr herausgegebenen Neuausgabe vertieft Kirsten Heinsohn die lebenslange Position von Eva Reichmann als Verteidigerin des demokratischen Projekts der Emanzipation.
Prof. Dr. Kirsten Heinsohn ist stellvertretende Direktorin an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Professorin an der Universität Hamburg. Sie hat zu Eva Reichmann geforscht und Artikel zu Werk und Person veröffentlicht, zudem zahlreiche Veröffentlichungen u. a. zur Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie zu Jüdischer Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Kirsten Heinsohn
Die englische Ausgabe dieses Buches erschien unter dem Titel: »Hostages of Civilisation« im Verlag Victor Gollancz Ltd., London.
E-Book (ePub)
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Alle Rechte vorbehalten.
Foto: Eva Reichmann in der Wiener Library, Juli 1952
Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign, Berlin
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
ePub:
ISBN 978-3-86393-563-4
Auch als gedrucktes Buch erhältlich:
Neuausgabe © CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Deutsche Rechte: Europäische Verlagsanstalt GmbH, Frankfurt am Main 1956
Print: ISBN 978-3-86393-104-9
Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter
www.europaeischeverlagsanstalt.de
Kirsten Heinsohn
Zur Neuausgabe von Eva Gabriele Reichmann:
Flucht in den Hass
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Einleitung
ERSTER TEIL
ANTISEMITISMUS – EIN SONDERFALL DER GRUPPENSPANNUNG
1. Emanzipation als soziales Problem
2. Die objektive oder „echte“ Judenfrage
3. Die subjektive oder „unechte“ Judenfrage
4. Die Merkmale der jüdischen Bevölkerungsgruppe
5. Widersprüche in der Erscheinung des modernen Juden
6. Psychische Wirkungen der Krise
7. Das Zusammenwirken objektiver und subjektiver Ursachen in der Geschichte des deutschen Antisemitismus
ZWEITER TEIL
DIE ZEIT
1. Die Konkurrenzwirtschaft als Brutstätte kollektiver Unzufriedenheit
2. Die Erschütterung religiöser und ethischer Werte
3. Nationalismus, Romantik, Interessenpolitik: Etappen einer Rückentwicklung
4. Exkurs über die Erziehungsarbeit der sozialistischen Bewegung in Deutschland
5. Bevölkerungsvermehrung – Anwachsen des Kleinbürgertums
6. Wandlung der staatlichen Repräsentation: Von den „Dichtern und Denkern“ zur Massendemokratie
7. „Leichte“ und „schwere“ politische Ideologien – Die Demokratie – eine „schwere“ Ideologie
8. Die Märzwahlen 1933, – ein Phänomen der Triebentfesselung
DRITTER TEIL
DER SCHAUPLATZ
1. Der Einfluß der geographischen Lage Deutschlands auf seine geistige und soziale Entwicklung
2. Deutschland und die Ideen des Westens
3. Die Wirkung der verspäteten Industrialisierung auf die Meinungsbildung der Mittelklasse – Die Wege des nichtjüdischen und jüdischen Bürgertums trennen sich
4. Das Problem Preußen
5. Unsicherheit des deutschen Nationalbewußtseins – Alldeutschtum und intellektueller Antisemitismus
VIERTER TEIL
DIE KATASTROPHE
1. Verstärkung der Verfallserscheinungen als Folge des ersten Weltkrieges
2. Exkurs: Die Haltung der sozialistischen Parteien in der Zwischenkriegskrise
3. Die Krise der Demokratie
4. Ist eine geistesgeschichtliche Ableitung des Nationalsozialismus zulässig?
5. Das Geheimnis des nationalsozialistischen Erfolges: Die Befreiung der Triebe – Die Funktion des jüdischen Antisymbols
6. Der Militarismus als Mittel der Triebbefreiung
7. Weitere Funktionen des Antisemitismus in der nationalsozialistischen Propaganda
8. Die Flucht in den Haß
Schlußfolgerungen
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Personenregister
Kirsten Heinsohn
Verteidiger des Liberalismus
Als Eva Reichmann 1981 für die ZDF-Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“ interviewt wurde, sprach sie ausführlich über ihr zentrales Werk, das Buch „Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe“. Schon während der Kriegszeit hatten Eva Reichmann und ihr Mann Hans, beide arbeiteten zuvor im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), in ihrem Londoner Exil begonnen, sich wissenschaftlich mit den Ursachen für die Vertreibung und Verfolgung der Juden in Deutschland zu beschäftigen.
„Ich wollte mir Rechenschaft ablegen, wie das in dem Lande, das ich als meine Heimat gekannt und geliebt hatte und geschätzt und verehrt hatte, wie das in meinem Lande zustande kommen konnte. Darüber wollte ich mir Rechenschaft ablegen und daraus ist das Buch entstanden, und so mußte ich also vollkommen objektiv zu sein versuchen und ich glaube, das ist mir gelungen.“1
Persönliche und berufliche Erfahrungen gaben den Anstoß, nach den Ursachen für den mörderischen Antisemitismus in Deutschland zu fragen.2 Eva Reichmann antwortete jedoch nicht als Betroffene, sondern als Wissenschaftlerin, als studierte Soziologin, die 1921 ihre Promotion zum Thema „Spontaneität und Ideologie als Faktoren der modernen sozialen Bewegung“ erfolgreich in Heidelberg verteidigt hatte. „Aus dem nüchternen Gebrauch des wissenschaftlichen Geräts auf einen Mangel an persönlicher Erschütterung zu schließen, wäre irrig“, stellte sie gleich am Anfang ihres Vorwortes für die deutsche Ausgabe klar. Im Gegensatz zur englischen Originalausgabe, die 1950 unter dem Titel „Hostages of Civilisation. A Study of the Social Causes of Anti-Semitism“ im Verlag von Victor Gollancz erschienen war, meinte sie zudem, hier den deutschen Leser*innen erklären zu müssen, dass „alles verstehen“ nicht bedeute, „alles verzeihen“ zu können. Eva Reichmann hatte mit ihrem Buch eine klare Ursachenbeschreibung für den hasserfüllten Antisemitismus und seine Funktion für den Aufstieg des Nationalsozialismus vorgelegt und erwartete nun, im Jahre 1956, dass die Zeitgenoss*innen in Deutschland sich ebenfalls mit der unmittelbaren Vergangenheit auseinandersetzen würden. Ihr Buch stelle daher auch die Frage,
„ob Haß und Haßbereitschaft in Deutschland tatsächlich überwunden sind, nachdem ihre nach allen Seiten wütenden, zerstörerischen Folgen offenbar wurden. Seelische Erkrankung kann nicht durch Stillschweigen überwunden werden. Sie ins Bewußtsein zu heben, und so ihre Ursachen bannen zu helfen, ist dieses Buch geschrieben worden.“3
Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet die Frage, ob die Emanzipation der Juden in Deutschland als ein gescheitertes Experiment anzusehen sei. Ihr Buch gibt darauf eine klare, nämlich ablehnende Antwort: Es handele sich gar nicht um eine Auseinandersetzung mit Inhalten und Folgen der jüdischen Emanzipation, sondern es gehe ausschließlich um die Funktion der antisemitischen Propaganda für die nationalsozialistische Bewegung. Aus einem historisch-soziologischen Blickwinkel rekonstruierte Reichmann, dass es im 19. Jahrhundert noch eine „objektive“ und eine „subjektive Judenfrage“ in den europäischen Ländern gegeben habe. Objektiv waren vor der Gleichstellung soziale und kulturelle Unterschiede zwischen Juden und NichtJuden vorhanden. Nach der Emanzipation habe jedoch in einigen europäischen Ländern die „objektive Frage“ keinen Anlass mehr für gesellschaftliche Auseinandersetzungen gegeben, so unter anderem in Deutschland oder auch in Großbritannien, in anderen dagegen schon, etwa in Polen oder Russland. In Deutschland sei im 20. Jahrhundert ausschließlich die „subjektive Judenfrage“ ausschlaggebend für den Aufstieg des Nationalsozialismus gewesen. Diese „unechte Frage“ bzw. ihre politische Funktionalisierung bilden den zentralen Punkt in Eva Reichmanns Analyse. Sie bezeichnet mit diesem Begriff gesellschaftliche Diskussionen, in denen vor allem in Krisenzeiten individuelle „Unlustgefühle“ formuliert werden. Diese Gefühle entstehen nach Freud aus der zivilisatorischen Erziehung, die den Aggressionstrieb unterdrückt. Je heftiger Unlustgefühle auftreten, desto stärker fühlt sich das Individuum in seiner eigenen Existenz und Identität bedroht. Juden als Gruppe bildeten dabei unabhängig von konkreten Personen ein besonderes Angriffsobjekt, weil ihnen sowohl Ähnlichkeit als auch Andersartigkeit zugesprochen wurde, wobei Juden von Nicht-Juden als sicher in ihrer Identität wahrgenommen werden – auch wenn diese selbst sich nicht so sehen. Eva Reichmann bezieht sich in ihrer Analyse auf Freuds Überlegungen zum Unheimlichen, bleibt jedoch nicht auf der Ebene des Individuums stehen, sondern fragt nach den gesellschaftlichen Ursachen für „Unlustgefühle“ gegen Juden. Neben ökonomischen Ungleichheiten, die in der noch vorhandenen besonderen Berufsstruktur der jüdischen Minderheit liegen, der zunehmenden Erschütterung religiöser Wertsysteme (Säkularisierung) sowie einem aggressiven Nationalismus (insbesondere in Deutschland) benennt Reichmann auch die daraus entstandene „Schwächung des Gewissens“ als eine kollektive gesellschaftliche Erscheinung in Zeiten der Krise. Der Nationalsozialismus habe schließlich erfolgreich die Möglichkeiten der Demokratie nutzen können, um für eine antirationale, aggressive und antidemokratische Politik zu werben.
Eva Reichmann benennt also zwei Verantwortliche für den Aufstieg des Nationalsozialismus: die politischen Führer der NS-Bewegung und die „Massen“, die lieber einer gefühlsorientierten Ideologie folgten, als sich vernunftgeleitet mit Krisenprozessen auseinanderzusetzen. Es ist offensichtlich, dass sich Eva Reichmann mit dem letzten Argument im Nachkriegsdeutschland nur wenige Freunde machte, denn sie ließ die einseitige These von der Verführung der Massen durch diabolische Verführer nicht gelten, sondern betonte im Gegenteil die Verantwortlichkeit der Menschen, die zur Masse wurden. Es war Zweck ihrer Tätigkeiten, auch ihres Buches, einen gesellschaftlichen Prozess des Nachdenkens anzuregen, um aus dieser Reflexion zur Verantwortung gegenüber der Vergangenheit zu gelangen. Den Erfolg des Nationalsozialismus führte sie auf die eigenartige politische, soziale und ökonomische Umbruchsituation in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zurück, deren destruktive Potentiale aber erst durch die „Befreiung der Triebe“, also eine Flucht der sich sozial und politisch deklassiert Fühlenden in den Hass auf „den Juden“, virulent wurden. Ihr Buch ist daher viel mehr als nur ein Beitrag zur Antisemitismusforschung – es behandelt eigentlich die deutsche Gesellschaftsgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts aus soziologischer und gruppenpsychologischer Perspektive.
Ihre Analyse deckt sich in manchen Teilen mit den Untersuchungen der exilierten Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, vor allem mit deren Untersuchungen zur autoritären Persönlichkeit. Auch die Arbeiten von Leo Löwenthal zur Funktion von Propaganda standen im Hintergrund.4 Die Auswertungen dieser Experimente erschienen nach der englischen Version von Reichmanns Buch, sie verwies aber explizit auf diese in der deutschen Ausgabe. Wie die Vertreter der kritischen Theorie befasste sich auch Reichmann letztlich mit den Schwierigkeiten von Individuen, in modernen und sich schnell verändernden, demokratischen Gesellschaften Orientierung zu finden. Gerade deshalb sei die Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit auch so wichtig, denn erst die aktive Anerkennung, einen Irrweg eingeschlagen zu haben, ermögliche Umkehr und einen Bewusstseinswandel.5
In akademischen Kreisen fand das Buch von Eva Reichmann überwiegend Anklang und Zustimmung, ebenso in Gruppen des deutschjüdischen Exils, sofern diese weiterhin dem Programm des CV folgten. Der Soziologe Kurt Sontheimer rezensierte es für die FAZ und drückte seine Hoffnung aus, es könne zur Neubelebung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus beitragen.6 Das hat es wohl auch getan, allerdings eher indirekt und nicht auf die Art und Weise, die Eva Reichmann selbst intendierte. Die öffentliche Auseinandersetzung in der Bundesrepublik wurde in den sechziger Jahren von Gerichtsverfahren und der Berichterstattung dazu mehr beeinflusst als von wissenschaftlichen Büchern und Debatten. Die 68er-Studierendenbewegung befasst sich eher mit Adorno als mit Reichmann. Die öffentliche Debatte änderte sich dann bekanntlich erst mit der Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“, die 1979 ausgestrahlt wurde, und den Historikerdebatten in den 1980er Jahren. Bis dahin waren Eva Reichmann und ihr Buch vor allem in den Kontexten von Akademien, christlich-jüdischen Vereinen und den Einrichtungen zur politischen Bildung bekannt. In den sechziger und siebziger Jahren wurde ihr Buch in Seminaren zum Antisemitismus und zur jüdischen Geschichte gelesen und fand auf diese Weise Eingang in sozial und politisch distinkte Diskussionsgruppen. Es ist auf diese Weise vielen Menschen bekannt geworden und sicherlich als ein Klassiker einzuordnen, wenn auch eher als ein heimlicher Klassiker.
Wer heute nach zentralen Werken zur Analyse des Aufstiegs des Nationalsozialismus fragt, wird nicht den Namen von Eva Reichmann hören – und doch lohnt es sich nach wie vor, das Buch zu lesen, gerade auch vor dem Hintergrund aktueller Debatten über populistische Bewegungen, dem Erstarken des Rechtsextremismus in ganz Europa und der polarisierten Diskussion über den Umgang mit Minderheiten. Am Beispiel der „Judenfrage“ zeigt das Buch, was passieren kann, wenn soziale und wirtschaftliche Krisen von Populist*innen genutzt werden, um antirationale, antiliberale und antidemokratische Politik zu legitimieren – und eine große Zahl Menschen bereit ist, ihnen zu folgen. Sicher, Geschichte wiederholt sich nicht, doch die aktuellen gesellschaftlichen Spaltungen und individuellen Krisenerfahrungen gleichen doch in mancher Hinsicht den unruhigen zwanziger Jahren in Deutschland. Kein Zufall also, dass wieder verstärkt über Gruppenspannungen, emotionalisierte Politik und die Funktionalisierung von Ressentiments gegen Minderheiten in der politischen Debatte diskutiert und geforscht wird.7 Eva Reichmanns Buch hat damit eine neue Aktualität gewonnen – leider, so muss man sagen.
Kirsten Heinsohn
1Transkript des Gespräches zwischen Hans Lamm und Eva Reichmann 4.- 6.2.1981 in London, ZDF Produktion Nr. 6351/0827, Archivnr. 0012521501, S. 41.
2Kirsten Heinsohn: Erfahrung und Zeitdeutung. Biographie und Werk der Soziologin Eva G. Reichmann, in: Politische Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Festgabe für Barbara Vogel, hrsg. v. Henning Albrecht, Gabriele Boukrif, Claudia Bruns, Kirsten Heinsohn, Hamburg 2006, S. 295-308.
3Eva Gabriele Reichmann: Vorwort zur deutschen Ausgabe, S. 11/12.
4Siehe dazu die Neuausgabe von Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation, unter Mitarbeit von Norbert Guterman. Aus dem Englischen von Susanne Hoppmann-Löwenthal. Mit einem Nachwort von Carolin Emcke, Berlin 2021. Das Buch erschien 1949 zuerst in den USA.
5Eva Reichmann führte diesen Zusammenhang noch deutlicher in ihrem Beitrag: Zeitgeschichte als politische und moralische Aufgabe, hrsg. v. Kuratorium für staatsbürgerliche Bildung, Hamburg 1962, aus. Gekürzt wiederabgedruckt in: Eva G. Reichmann: Größe und Verhängnis deutsch-jüdischer Existenz. Zeugnisse einer tragischen Begegnung, Heidelberg 1974, S. 90-104.
6Kurt Sontheimer, FAZ 30.11.1956, S. 21.
7Vgl. etwa Marcia Pally: Kampf der Traumatisierten. Nicht der Effekt ihres Handelns, sondern die emotionale Genugtuung treibt die Anhänger Trumps an, in: taz am wochenende 23./24.1.2021, S. 11.
Am Beginn eines Buches, das eigenes Erleben auf die Ebene akademischer Objektivität zu heben bestimmt ist, mag ein persönliches Wort erlaubt, ja sogar gefordert sein.
Möge keiner meiner Leser glauben, daß mir diese Objektivität leicht geworden wäre. Nicht weil ich den behandelten Fragen mit kühlem Abstand gegenüberstehe, habe ich das Buch schreiben und so schreiben können, sondern weil sie den Mittelpunkt meines Lebens bilden, weil ich mich der Gewalt, mit der sie eine Antwort forderten, nicht entziehen konnte. Sollte aber die Antwort durch die Art, in der sie gesucht und gegeben wurde, ihre Gültigkeit nicht selbst verneinen, so mußte sie notwendig eine wissenschaftliche Antwort sein. Die deutende Schau des schaffenden Künstlers ist mir versagt. Einer prüfenden Forschung und bedachtsam abwägenden Erklärung fühlte ich mich gewachsen. In ihnen bleibt kein Raum für den Ausdruck der Qual, der Leidenschaft und der Anklage. Aus dem nüchternen Gebrauch des wissenschaftlichen Geräts auf einen Mangel an persönlicher Erschütterung zu schließen, wäre irrig.
Noch einem anderen Mißverständnis möchte ich vorzubeugen versuchen. Wenn irgendwo „alles verstehen“ nicht bedeuten kann „alles verzeihen“, so im Zusammenhang dieses Buches. Ich habe mich bis in vielfältige Einzelheiten hinein bemüht, Ursachenketten am Werk zu zeigen, die scheinbar diese und nur diese Wirkungen hervorbringen konnten. Geschichtsschreibung, so ist gesagt worden – und man darf das Wort wohl auch auf die soziologische Betrachtung anwenden –, ist rückwärtsgerichtete Prophetie. Aber so sehr dieser Begriff einen Widerspruch in sich selbst darstellt, so wenig haben Politiker, Historiker und wer wohl sonst noch die Pflicht hatte, Warner zu sein, etwa im Jahre 1930 einen Ausgang vorauszusehen vermocht, wie er schließlich im Jahre 1945 eingetreten ist. War das nur menschlicher Beschränktheit zuzuschreiben? Auch diese Warner sahen manche drohende Zeichen, die auf eine kommende Katastrophe hindeuteten. Aber indem sie sich sträubten, als unabwendbares Schicksal hinzunehmen, was wenige Jahre später zur schreckenvollen Wirklichkeit wurde, offenbarten sie ein besseres Gefühl für die Freiheit der Menschen, andrängende Gefahren abzuwehren, als die Systeme eines philosophischen oder ökonomischen Determinismus ihnen einzuräumen bereit sind.
Daß auf dem deutschen Volk Schwierigkeiten lasteten, daß örtliche und zeitliche, politische und wirtschaftliche Faktoren zusammenwirkten, um die Katastrophe heraufzuführen, die – wohlgemerkt – nicht im verlorenen Krieg, sondern im Rückfall in die als Nationalsozialismus getarnte Barbarei bestand, wird in diesem Buche ausführlich dargelegt. Aber an etlichen Wendepunkten stand trotz aller Ungunst der äußeren Verhältnisse die Möglichkeit zu anderer Entscheidung offen. Der soziale Determinismus, selbst in dem Umfange, in dem man ihn für die Vielen anerkennen mag, findet seine natürliche Grenze an der inneren Freiheit der Wenigen. Die sichtbare, Symbole schaffende Entschlossenheit der Träger geistiger und sittlicher Verantwortung hätte genügt, um dem Geschehen eine andere Richtung zu geben. Aber die Wenigen versagten. Nur Einzelne, Vereinzelte wagten es, Widerstand zu leisten; sie konnten aus der Öffentlichkeit entfernt und zum Schweigen gebracht werden, ohne daß ihr Fehlen das Leben der Gemeinschaft so aus den Fugen geraten ließ, wie es bei dem Ausfall einer ganzen Gruppe unvermeidlich hätte geschehen müssen. Die Vielen schließlich verfielen im Widerstreit der Gefühle fast ohne Ausnahme dem Hang zum Bequemen, das das Böse nach sich zog, statt sich zum Schwierigen und Guten aufzuraffen. Wurden sie übertölpelt? Oder haben sie sich schuldig gemacht? Wie immer die Antwort ausfällt: sie wird einen erheblichen Teil des deutschen Volkes von der Verantwortung nicht freisprechen können.
Diesem umfassend grundsätzlichen Sachverhalt sei ein engerer untergeordnet. Es wird in diesem Buche festgestellt werden, daß unter den im Nationalsozialismus wirkenden Massenreizen der Antisemitismus nicht die entscheidende Rolle spielte. Im besonderen habe nur ein verschwindend kleiner Kreis derer, die dem Nationalsozialismus zum Erfolge verhalfen, ihm damit ein Mandat zur Vollstreckung der Judenvernichtung zu geben beabsichtigt. Auch für diese Auffassung, die das Ergebnis eingehender Prüfung ist, gilt die Warnung, sie nicht als Entschuldigung aufzufassen. Es ist gewiß kein Anlaß, sich entlastet zu fühlen oder gar stolz darauf zu sein, daß die 17 277 200 Deutschen, die am 5. März 1933 ihre Stimmen der Nationalsozialistischen Partei gegegeben haben, damit keineswegs ausgezogen sind, die Juden zu ermorden. Viel eher haben diese 17 Millionen und ihre Gesinnungsfreunde ausreichend Grund, sich der Blindheit und schlimmeren Versagens anzuklagen; denn durch ihre Wahl hatten sie sich mit Demagogen eingelassen, die aus ihrer Neigung zu Gewalttaten nie ein Hehl gemacht hatten, und deren Hemmungslosigkeit auf der abschüssigen Bahn des Verbrechens längst hätte erkannt sein müssen. Es sollte für niemanden ein Anlaß zur Selbstzufriedenheit sein, daß ihm zwar nicht Mordlust, wohl aber moralische Trägheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen nachgewiesen wird. Als ob man „nationale Ideale“, wo immer diese unter der Wählerschaft ernstgenommen wurden, Händen hätte anvertrauen dürfen, die von wilder Angriffslust getrieben wurden und nicht von liebender Zucht gelenkt!
Man wollte nicht morden – damals. Man war nur träge, gleichgültig, fahrlässig. Aber dann wurde gemordet. Trägheit, Gleichgültigkeit, Fahrlässigkeit hatten das Beil in die Hand des Henkers gleiten lassen. Schmachvolle Unterdrückung war das Los derer geworden, die in der Wahl ihrer „Befreier“ so schuldhaft geirrt hatten.
1945 erfuhr die Welt mit Entsetzen, was in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten geschehen war. Jetzt standen vor allen Deutschen die Zeugnisse eines Grauens, das viele vorher nur dumpf geahnt hatten. 1945 herrschten Hunger, Obdachlosigkeit und Massenelend; aber eines gab es wieder, das den Deutschen zwölf Jahre versagt gewesen war: das freie Wort.
Da ich mir eingangs die Freiheit ausdrücklich erbeten habe, in diesem Vorwort meine persönliche Meinung aussprechen zu dürfen, will ich ohne Rückhalt sagen: mir scheint, die Deutschen hätten die Freiheit des Wortes nicht genügend genutzt, um von dem Verbrechen an den Juden zu sprechen. Bruchstückhafte Kunde, die während des Krieges aus Deutschland zu dem angsterfüllten Beobachter im Ausland gedrungen war, hatte Besseres erhoffen lassen. Nun horchten wir erwartungsvoll. Aber der Aufschrei des Entsetzens über das grauenhafteste Verbrechen, das je das Antlitz des Menschen entstellt hat, – der Aufschrei blieb aus. Stimmen ertönten, ergreifende Stimmen der Klage und der Anklage. Keine von ihnen ist ungehört verhallt, keine wird vergessen werden.* Das Volk aber blieb stumm. Zu viele Menschen, deren Ruf auch die Lauen hätte mitreißen können, verharrten in Schweigen. Worte wären damals Taten gewesen. Trotz Wirrnis und Verlorenheit im Äußeren galt es damals, Grundsteine für ein neues Deutschland zu legen, auf denen verläßliche Mauern hätten errichtet werden können, sobald das Chaos gebannt war.
Später wurde manches Versäumte nachgeholt. Es blieb nicht nur bei Worten, von denen einige besonders starke und aufrichtende vom Staatsoberhaupt, Professor Theodor Heuss, gesprochen wurden; es wurde ein Wiedergutmachungswerk ins Leben gerufen, das den Überlebenden der Katastrophe einen Teil des materiellen Schadens ersetzen soll, der ihnen zugefügt worden ist. Die deutsche Bundesrepublik besaß jetzt eine gewählte Vertretung, die für das Volk sprechen konnte. Wirklich für das Volk? Der Zweifel daran will nicht zur Ruhe kommen.
Ich weiß um alle Gründe, die dem spontanen Aufschrei des Entsetzens entgegenstanden. (Er hätte nicht in ein Bekenntnis der „Kollektivschuld“ überzugehen brauchen, die in einem primitiven Sinne nicht vorlag, und der in einem tieferen Sinne nachzuspüren, nicht jedermanns Sache sein kann.) Ich weiß um die Zerrüttung der äußeren Lebensbedingungen jener Nachkriegsjahre, weiß auch um die psychologischen Mechanismen des Selbstschutzes, die sich hemmend einzustellen pflegen, wo bei strenger Selbstprüfung die Gefahr der Zerknirschung unabwendbar wäre. Aber wieder bleibt trotz allem Verstehen ein schmerzendes Gefühl der Enttäuschung. Sollten wirklich Gleichgültigkeit und Trägheit des Herzens – die Laster, durch die die Deutschen in Schuldverstrickung geraten sind, – auch das neue Deutschland wieder heimsuchen?
Stimmen, meist lautstark und unentwegt vorgetragen, die heute schon wieder die „Endlösung der Judenfrage“ aus „nationalen“ Gründen zu verteidigen suchen oder versichern, daß „nur“ eineinhalb Millionen Juden ermordet worden seien, sprechen keine menschliche Sprache, die sie uns verständlich machen könnte. Deutlicher schon dringen jene verhaltener vorgebrachten Worte zu uns, die das Schreckliche „aufzurechnen“ sich unterfangen gegen die Leiden des eigenen Volkes. Am mißtönendsten aber gellen uns die Untertöne der Verlegenheit ins Ohr, die dort hörbar werden, wo man sich erst über das geschehene Unrecht entrüstet, um dann etwa fortzufahren: „Aber Sie müssen doch zugeben …“ Was in einem Gespräch, das diesen Verlauf nimmt, „zugegeben werden muß“, ist in der Regel der unbewältigte und unbereinigte Bodensatz der Unlustgefühle gegenüber den jüdischen Mitbürgern von einst, die damals der Nationalsozialismus so meisterhaft zusammenzuballen verstand, bis sie die Bausteine lieferten für seine Todesfabriken. Wer mit einem säuberlich auseinandergesetzten „Zwar – Aber“ mit sich selbst ins reine zu kommen versucht, billigt gewiß nicht den Mord; aber er billigt – in individueller Abstufung – die Voraussetzungen, die zum Morde geführt haben: Entrechtung, Berufsentziehung, Austreibung. Manchmal will es scheinen, als dröhne durch Deutschland heute noch – oder wieder – ein Chor gebrochener Stimmen, die sich zu rechtfertigen suchen, wo ein erschüttertes Schweigen oft lauter spräche als alle Argumente erklügelter Scheinlogik. Und doch gibt es auch das, das erschütterte Schweigen. Und es gibt die leisen Worte der Klage, die der Mensch zu sich selbst spricht und die nicht dazu bestimmt sind, Eindruck zu machen auf eine weite Öffentlichkeit. In ihnen bedarf es nicht der Verdammung der Gewalttaten; das schaudervolle Entsetzen, das sie erregten, zeigte sie doch niemals als eine mögliche Verirrung der eigenen Seele. Viel schwerer als die selbstherrliche Abwehr kapitaler Verbrechen ist die Prüfung der eigenen Schwäche, die etwa zu solchem Ergebnis führt: „Wir waren bequem und gleichgültig. Der Wille zur Freiheit lebte nicht in uns, und wir wußten nicht mehr, was Recht ist. Wir fühlten, daß unser Leben verarmt ist, weil wir unsere jüdischen Mitbürger entbehren: wir vermissen sie als Anreger im Geistigen und Wirtschaftlichen, als Menschen, die schon dadurch, daß sie wie wir und doch andersartig waren, uns eine ständige Mahnung hätten bedeuten sollen zum Fortschritt in der Gestaltung menschlicher Beziehungen, zu Rechtlichkeit und Menschlichkeit. Wir haben die Mahnung damals nicht gehört zu unserer Schande und zu unserem Schaden. Daß wir sie nicht mehr in unserer Mitte hören dürfen, beklagen wir als schmerzlichen Verlust.“
Der Tag, an dem in solchen Aussagen die Gedanken der Mehrheit aller Deutschen zutreffend wiedergegeben werden, würde die Zuversicht begründen, daß sie von der Krankheit des Hasses genesen sind. Dieses Buch, das die Frage zu beantworten sucht, wie es zu der „Flucht in den Haß“ gekommen ist, stellt gleichzeitig die Frage, ob Haß und Haßbereitschaft in Deutschland tatsächlich überwunden sind, nachdem ihre nach allen Seiten wütenden, zerstörerischen Folgen offenbar wurden. Seelische Erkrankung kann nicht durch Stillschweigen überwunden werden. Sie ins Bewußtsein zu heben, und so ihre Ursachen bannen zu helfen, ist dieses Buch geschrieben worden.
Eva Gabriele Reichmann
*Sie sind in der dafür zuständigen Abteilung der Wiener Library, 19, Manchester Square, London, W. 1, aufbewahrt.
Es ist das traurige Vorrecht des Zeitgenossen, den wirkenden Ursachen des Geschehenen noch so nahe zu sein, daß er sich dem quälenden „Warum?“ gewachsen glaubt; es ist sein Nachteil, daß er ihnen zu nahe ist. Noch können sich für den durchschnittlichen Betrachter Tatsachen und Gefühle nicht nach objektiv haltbaren Maßstäben so geordnet haben, daß gültige Einsichten von ihnen herzuleiten sind.
Es ist eine Folge dieser unvermeidlichen Verzerrung, daß die nationalsozialistische Judenverfolgung häufig zu einer Schlußfolgerung Anlaß gibt, die wir Emanzipations-Defaitismus nennen. Er besteht in folgendem Gedankengang: Die deutschen Juden waren die jüdische Gemeinschaft, die am tiefsten in ihre Umwelt eingedrungen war, ohne dadurch den Charakter als Gemeinschaft zu verlieren; sie waren jüdischer und vor allem zahlenmäßig bedeutender als etwa die Judenheiten Italiens und Frankreichs; sie waren stärker mit ihrer Umwelt verbunden als die jüdischen Gemeinschaften des Ostens und lebten länger mit ihr als die der Vereinigten Staaten und die Mehrzahl der Juden in Großbritannien; die deutschen Juden waren vor dem Heraufkommen des Nationalsozialismus geradezu das klassische Beispiel dafür, daß Juden als integraler Bestandteil der nichtjüdischen Welt leben können; sie lebten nicht nur in, sondern weitgehend mit ihrer nichtjüdischen Umwelt: Ihr Untergang beweist, so folgert man, den Fehlschlag der Emanzipation als einer jüdischen Lebensform.
Es ist das Ziel der folgenden Darstellung, dieser Art der Beweisführung zu begegnen. Sie ist eine allzu rohe Anwendung des Schlusses: „Post hoc, ergo propter hoc“. Ereignisse folgen aufeinander, Ereignisse verursachen einander, aber nicht immer sind die Ereignisse, die am sichtbarsten aufeinander folgen, zugleich die, die einander verursachen. In Wirklichkeit ist das „hoc“, das die Austreibung und Vernichtung der deutschen Juden verursachte, ein anderes als ihre Emanzipation und Einordnung in die Umwelt. Dieses andere „hoc“ gilt es festzustellen. Gelingt es, es als einen örtlich und zeitlich mehr oder minder auf das Deutschland der Zwischenkriegszeit beschränkten Komplex zu erweisen, so ist den primitiv verallgemeinernden Schlüssen der Boden entzogen, und der Emanzipations-Defaitismus ist widerlegt. Der Irrtum der falschen Kausalverknüpfung, der zum Emanzipations- Defaitismus führt, kann in der gegenwärtigen Situation der Judenheit besonders verhängnisvoll werden. Die Juden befanden sich nach dem zweiten Weltkrieg in der furchtbarsten Situation der mehr als zweitausendjährigen Geschichte ihrer Diaspora. Nicht allein hatte sie der Sturz, dem die europäische Judenheit zum Opfer gefallen war, von einer Stufe höchster Entfaltung in die tiefste Tiefe physischer Vernichtung geschleudert, sondern rein zahlenmäßig hatte in der katastrophenreichen jüdischen Geschichte der Verlust an Menschen noch niemals ein so grauenhaftes Ausmaß erreicht.
Seither hat die Gründung des Staates Israel den Juden in aller Welt neue Hoffnungen gegeben. Sie hat jene Lösung der Judenfrage zu einer politischen Tatsache gemacht, die viele Jahrzehnte hindurch nur ein zionistischer Traum zu sein schien. Schon in den ersten Jahren seines Bestehens hat der junge Staat einem großen Teil der Überlebenden der europäischen Katastrophe eine neue Heimat gegeben.
Doch wie erfolgreich auch immer der Staat Israel sein möge, er wird die Tatsache nicht verändern können, daß weiterhin Juden unter den Völkern der Welt leben werden. Weit über zehn Millionen Juden leben in der Diaspora und von ihnen etwa sechseinhalb Millionen als gesetzlich gleichberechtigte Bürger ihrer Wohnländer.1 Selbst wenn man die jüdischen Gemeinschaften in der Sowjetunion und ihrer Einflußsphäre nicht einbezieht, weil sie unter Bedingungen emanzipiert sind, die mit denen des Westens nicht ohne weiteres vergleichbar sind, hängt erheblich mehr als die Hälfte aller lebenden Juden auch heute noch einer Lebensform an, deren gedankliche Grundlage nach der defaitistischen Auffassung durch Hitlers Zerstörungswahn angeblich für immer vernichtet worden ist. Wenn das Leben der Juden in der Diaspora sich noch einmal befreien soll von dem Gefühl dumpfer Resignation vor einem unerbittlichen Schicksal, wenn es sich noch einmal erfüllen soll mit jenem Glauben an Gerechtigkeit und Menschlichkeit, ohne den der Gedanke der Emanzipation seinen Sinn verliert, dann darf der Emanzipations-Defaitismus nicht ohne Antwort bleiben. Das jüdische Leben in der westlichen Welt bedarf erneut der Rechtfertigung.
Als nach dem Auftreten von Faschismus und Nationalsozialismus die westlichen Demokratien die Größe der Herausforderung erkannten, die von dem neuen Regierungssystem und seiner partiellen technischen Überlegenheit ausging, fanden sich zahlreiche Autoren, die sich der drohenden Gefahr stellten. Sie untersuchten die Vor- und Nachteile der beiderseitigen Systeme und scheuten sich nicht, die Schwächen der Demokratie festzustellen und zu prüfen. Aber sie ließen es nicht bei der Kritik bewenden, sondern stießen von ihr zu einer Neubegründung der Demokratie vor, um trotz ihrem offenbaren Mangel an Vollkommenheit ihre Überlegenheit über jedes andere bisher erreichte politische System aufs neue zu beweisen.2 Sie zeigten in ihrer Kritik neue Wege zur Überwindung der zutage getretenen Fehler. Die zeitgenössische Literatur über die Judenfrage hat bisher den umgekehrten Weg beschritten. Sie hat die Herausforderung der emanzipatorischen Lebensform durch den Nationalsozialismus mit Entmutigung und – zumindest theoretischer – Abkehr von ihr beantwortet.3 So verständlich diese Haltung ist als die seelische Reaktion auf das unerhörte Ausmaß der Desillusionierung, so wenig ist sie wissenschaftlich oder politisch zu rechtfertigen.
Es ist zu begrüßen, wenn angesichts der Gefährdung der jüdischen Existenz das Suchen und Fragen nach ihrer Sicherung kein Ende nimmt; es wäre jedoch ein Unglück, wenn Unklarheiten und Mißverständnisse die Blicke der Wegbereiter in die Irre lenkten.
Vor der europäischen Judenkatastrophe wurde die Situation der Juden viel zu unproblematisch gesehen: daraus ist teilweise die Schockwirkung zu erklären, die alle vernünftigen Reaktionen über den Haufen warf. Man war vorher um genau den gleichen Grad zu optimistisch, um den man jetzt zu pessimistische Schlußfolgerungen ziehen möchte. Man überschätzte die rechtliche Tatsache der Emanzipation, die man heute zu unterschätzen neigt. Man übersah, daß der gesetzliche Akt der Emanzipation nur ein Beginn ist, ein Programm, das wesentlich mehr Aufgaben stellt als löst. Die Emanzipation löste die Judenfrage nicht, sondern verlegte ihr Spannungszentrum von der rechtlichen auf die gesellschaftliche Ebene. Während vor der Emanzipationsgesetzgebung die rechtliche Ungleichheit einer Gruppe von Landesbewohnern in zunehmendem Maße als ein Mißstand empfunden wurde, obwohl sie die bestehende gesellschaftliche Ungleichheit im wesentlichen adäquat ausdrückte, veränderte sich dieses Verhältnis mit der gesetzlichen Gleichberechtigung. Sie entsprach zunächst nur dem kulturellen Standard einer schmalen Oberschicht der jüdischen Gruppe; ihre breite Masse dagegen unterschied sich in fast jeder Beziehung von der nichtjüdischen Umgebung. In dem Maße nun, in dem Juden in Berufe eindrangen, die ihnen bis dahin verschlossen gewesen waren, und die noch weitgehend verschiedenartigen Bevölkerungsgruppen in engere Berührung kamen, entstand eine gesellschaftliche Spannung, die nun nicht länger in dem rechtlichen Status ihre vermeintliche Entsprechung fand. „Der Jude ist ein Mensch wie wir und hat nicht die gleichen Rechte“, so fühlte eine rechtsbewußte Elite vor der Emanzipation. „Der Jude hat gleiche Rechte und ist doch ungleich“, so begannen breitere Bevölkerungskreise in der Frühzeit der Emanzipation zu empfinden.
Dieses Empfinden ist nicht auf die Frühzeit beschränkt geblieben. Die Ungleichheit der Juden verminderte sich zwar ständig infolge ihrer fortschreitenden Assimilation an die Umwelt; aber sie hat sich in keiner der emanzipierten Judenheiten bisher so sehr verloren, daß man von einem Verlust der jüdischen Identität sprechen dürfte. Obgleich von der Peripherie fortwährend Individuen durch Taufe oder Mischheirat oder andere Umstände in die Mehrheitsvölker übergingen, haben sich die Juden überall als mehr oder minder deutlich von der Umwelt unterscheidbare Gruppen erhalten.
Bevor wir daran gehen, die Ursachen dieser Tatsachen festzustellen, möchten wir zum Verständnis unserer Gesamtdarstellung eine grundsätzliche Bemerkung machen. Wir werden uns im allgemeinen einer Wertung der von uns dargestellten Tatsachen enthalten. Die jüdische Gruppenidentität zum Beispiel interessiert uns nur in ihrer soziologischen Bedeutung. In dieser Hinsicht wird sie als eine Erschwerung der jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen in Erscheinung treten. Wir sind uns wohl bewußt, daß vom jüdischen Standpunkt aus diese Erschwerung in hohem Maße dadurch kompensiert wird, daß die Erhaltung jüdischer Gruppenmerkmale die Voraussetzung jüdischen Eigenlebens überhaupt ist. Unsere grundsätzliche Frage betrifft aber nicht in erster Linie den Wert oder Unwert jüdischen Eigenlebens, sondern sie lautet: Ist aus der Tatsache, daß rund 43 % der deutschen Wähler im Jahre 1933 dem scharf antisemitischen Nationalsozialismus ihre Stimmen gegeben haben, zu schließen, daß sich das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden als unmöglich erwiesen hat? Oder welche anderen Schlüsse sind gegebenenfalls aus dieser Tatsache zu ziehen? Wo wir in Abweichung von der voraussetzungslosen Analyse subjektive Werturteile abgeben, werden wir das von Fall zu Fall bemerken.
Es besteht zweifellos ein Widerspruch zwischen der Prognose, die sowohl Emanzipatoren wie Emanzipierte – obwohl manchmal uneingestandenermaßen – der Zukunft der jüdischen Gruppe am Beginn der Emanzipation stellten, und dem Ablauf, den die Entwicklung tatsächlich genommen hat. Wenn wir das Wesen der jüdischen Gemeinschaft vor der Emanzipation als national-religiös bezeichnen, womit sie zwar nicht erschöpfend, aber in ihren sichtbarsten Unterscheidungsmerkmalen gekennzeichnet ist, so besagte der Emanzipationsakt, daß die nationale Absonderung fortan aufhören und die religiöse rechtlich unerheblich werden sollte. Die erste Forderung wurde nahezu uneingeschränkt, die zweite weitgehend erfüllt. Trotz dieser Niederlegung bisher trennender Schranken jedoch und trotz der inneren Schwäche der verbleibenden religiösen Unterschiede sind die Juden als eine deutlich unterscheidbare Bevölkerungsgruppe bestehengeblieben.
Die höchst bemerkenswerte und historisch unvergleichbare Tatsache, daß das Judentum nach dem Verlust eines eigenen Territoriums zweitausend Jahre fortexistiert hat, hat ihren Deutern zu allen Zeiten ein außerordentlich schwieriges Problem gestellt. Die scheinbare Regelmäßigkeit, in der Anziehung und Abstoßung zu den verschiedensten Zeiten und in den verschiedensten Räumen wiederkehrten, der häufige freiwillige oder gewaltsame Substanzverlust, der trotzdem niemals zur Auflösung der gesamten Judenheit führte, haben verständlicherweise dazu herausgefordert, an das Walten einer inneren Gesetzmäßigkeit zu glauben, die den Juden ein ewiges Leiden als den Preis eines ewigen Lebens auferlegte. Wir sind im Rahmen dieser Untersuchung weder mit der Unterstützung noch mit der Widerlegung einer derartigen Geschichtsphilosophie befaßt. Es genügt uns daher, darauf hinzuweisen, daß die Fortexistenz der jüdischen Gruppe während der Emanzipationsepoche auch ohne eine solche Philosophie hinlänglich zu erklären ist. Wir werden uns bei unserer Beweisführung im folgenden auf den Emanzipationsprozeß in Deutschland beschränken, weil er von den Juden anderer Länder im Gelingen und im Versagen vielfach als eine Art von Idealtypus für den Ablauf einer Judenemanzipation überhaupt aufgefaßt wird.
Wie überall hatten die Juden in Deutschland – abgesehen von einer zahlenmäßig unbeträchtlichen Minderheit – bis zum Beginn der Emanzipation ihre mittelalterliche Verfassung fast ungeschmälert bewahrt. Sie lebten auf deutschem Boden, aber in religiöser, kultureller, rechtlicher, sozialer und örtlicher Abgeschlossenheit. Dem Zwang zum Ghetto hatte bis zuletzt als Kompensation eine vollgültige innere jüdische Kultur entsprochen. Die jüdische Kultur und ihre Werte wurden im Ghetto ausnahmslos festgehalten. Das Maß ihrer Strenge, die in der Außenwelt bald als Starrheit, bald als Arroganz empfunden wurde, mag dem Maße des von außen ausgeübten Druckes, der Verfolgung und Verachtung direkt entsprochen haben. Jedenfalls aber war die Verachtung gegenseitig. Als die Tore des Ghettos geöffnet wurden, war die Masse der festgefügten jüdischen Gemeinschaft nicht darauf vorbereitet. Man begriff zwar, daß ein gewaltiger Fortschritt in allen Lebensverhältnissen in Aussicht stand, und widersetzte sich ihm nur in Ausnahmefällen, aber die seelische und geistige Vorbereitung der großen Mehrzahl der Ghettoinsassen unterschied sich weitgehend von der der jüdischen Elite, welche die gesellschaftliche Emanzipation schon vor der rechtlichen vollzogen hatte. Das heißt: die deutschen Juden traten mit dem vollen Inhalt ihrer jüdischen Tradition, aber auch mit ihrem ganzen Schwergewicht den Weg in ihre Umwelt an. Mit jeder Etappe dieses Weges wurden Teile der Tradition aufgegeben, wurde die Bürde des Gesetzes erleichtert; zunächst verloren sich die nationalen Eigentümlichkeiten der Sprache, der Tracht, der Wohnviertel, des eigenen Rechtes; dann wurden die religiösen Vorschriften gemildert und angeglichen. Schließlich verblieb in gewissen jüdischen Kreisen – zumal in den Großstädten – kaum noch ein anderes subjektives Unterscheidungsmerkmal als die nominelle Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft, und selbst dieser wurde häufig genug durch Taufe oder Austritt ein Ende gemacht. Aber selbst als die vierte emanzipierte Generation heranwuchs, bildete diese äußere Form des Abfalls noch immer eine Randerscheinung innerhalb der deutschen Judenheit, und sie wurde durch den Einfluß eines weit positiveren Provinzjudentums mehr als ausgeglichen. Die jüdische Substanz, mit der die deutschen Juden in den Emanzipationsprozeß eingetreten waren, hatte ausgereicht, um ihre überwältigende Mehrheit durch 120 Jahre fortgesetzter Abschleifung hindurch als Juden zu erhalten.*
Aus dieser – gewaltsam vereinfachenden und schematisierenden – Schilderung geht zunächst zweierlei hervor: einmal, daß die Juden den natürlichen Vorgang der allmählichen Assimilation einer Minderheit an eine Mehrheit an sich geschehen ließen. Als Akteure spielten sie bald eine vorwärtstreibende, bald eine retardierende Rolle. Entscheidend jedoch war nicht ihr aktiver Einfluß, sondern ihre passive Einfügung in den Prozeß.** Ferner können wir schließen, daß der Grad der Assimilation wesentlich von der Länge der Zeit abhängt, während der eine jüdische Gemeinschaft dem Assimilationsprozeß ausgesetzt ist. So sehr man diese Tatsache von dem Standpunkt eines positiven Judentums aus bedauern mag, weil sie die Auflösung der jüdischen Gemeinschaft bei ungestörtem Fortgang des Assimilationsprozesses als unausbleiblich erscheinen läßt, so kann sie doch auch im Hinblick auf die deutsch-jüdische Entwicklung nicht geleugnet werden. Die Anziehung der nichtjüdischen Mehrheit auf die jüdische Minderheit bildete während der Epoche der jüdischen Emanzipation in Deutschland die herrschende Tendenz, die sich – gegen zahlreiche Hemmungen – durchsetzte. Wäre die Zeit nicht auf nur drei bis vier Generationen beschränkt gewesen, und wären nicht andere Faktoren hinzugetreten, die den beschriebenen Ablauf hemmten oder umkehrten, so hätte der jüdische Lebenswille nicht ausgereicht, ein Aufgehen der jüdischen Minderheit in der deutschen Mehrheit zu verhindern.