Aksel Sandemose

EIN FLÜCHTLING
KREUZT
SEINE SPUR

Aus dem Norwegischen
und mit einem Nachwort von
Gabriele Haefs

Mit einem Nachwort von
Espen Haavardsholm

DAS IST DAS GESETZ VON JANTE

1.Du sollst nicht glauben, etwas zu sein.

2.Du sollst nicht glauben, so viel zu sein wie wir.

3.Du sollst nicht glauben, klüger zu sein als wir.

4.Du sollst dir nicht einbilden, besser zu sein als wir.

5.Du sollst nicht glauben, mehr zu wissen als wir.

6.Du sollst nicht glauben, mehr zu sein als wir.

7.Du sollst nicht glauben, zu irgendetwas zu taugen.

8.Du sollst nicht über uns lachen.

9.Du sollst nicht glauben, irgendjemand interessiere sich für dich.

10.Du sollst nicht glauben, uns irgendetwas beibringen zu können.

»… was too early imbued by his environments with a sense of guilt, to be turned overnight into a haunted man. He was one already. Long before he could have felt that the world had a warrant out for him as a murderer, he felt it had one out for him as Espen Arnakke.«

Louis Kronenberger in der New York Times

VORWORT ZU DEM BUCH ÜBER DAS GESETZ VON JANTE

Irgendwann im Jahre 1930 saß ich mit einigen Menschen zusammen und diskutierte über literarische Formen, und dabei dachte ich fast schon an den Roman. Mir rutschte die Bemerkung heraus – und es war meine absolute Überzeugung –, dass ich in meinem ganzen Leben kein Buch in Ich-Form und kein Buch über Kindheit schreiben würde.

»Ein Flüchtling kreuzt seine Spur« ist in Ich-Form geschrieben, und größtenteils geht es um Kindheit und Jugend. Drei Monate nachdem ich kategorisch erklärt hatte, dass es niemals so weit kommen würde, lag die erste Fassung vor.

Der Zufall ist von einem gewissen psychologischen Interesse. Als ich mit solchem Nachdruck, voller Überzeugung und Entschlossenheit, andere in meine vermeintliche Überzeugung eingeweiht hatte, begann ich schließlich, mir über diese Überzeugung Gedanken zu machen. Was hatte mich eigentlich dazu veranlasst, nie und nimmer als ich schreiben und Kinder schildern zu wollen? In Wirklichkeit hatte ich einen Damm zum Bersten gebracht.

Mein voriges Buch, »Ein Seemann geht an Land«, war noch nicht veröffentlicht. Darin hatte ich mich offener als bisher an autobiographischem Stoff bedient, vor allem zu Anfang, später im Roman dann weniger. Der Damm war also schon brüchig. Außerdem waren seit dem Tod meiner Eltern einige Jahre vergangen. Trotz aller gewaltigen Veränderungen und aller scheinbaren Emanzipation hatte ich in ihrem Schatten und in dem meiner Herkunft gelebt. Das bedeutet nun wiederum: im Schatten des Gesetzes von Jante. Die Scham und die Bescheidenheit, die – wie man glaubt – einen Menschen dazu bringen, sich vorsichtig und auf allerlei verblümte Weise auszudrücken, und zwar am liebsten mit einer dicken Glaswand zwischen den Wörtern und der Wirklichkeit dieser Wörter, verließen mich, als die Alten nicht mehr da waren. Hier liegt auch einer der Gründe, warum ich Norweger wurde – einer der vielen und einander überkreuzenden Gründe. Auch wenn das Gesetz von Jante hoffnungslos universal ist, nicht zuletzt unter sogenannten »großen Verhältnissen« seine Forderungen stellt, und in Brooklyn mit seiner passion to conform schlimmer wütet als in der kleinen Stadt, nach der ich es benannt habe – so war für mich die Sprache von Jante unauflöslich mit der Kultur von Jante verflochten. Sie war zu der Stimme des Jantegottes geworden, der sich weigerte, sich von einem Luzifer benutzen zu lassen.

Das erzählende Ich im Buch ist Espen Arnakke, geboren 1899 in einer in kargen Verhältnissen lebenden Arbeiterfamilie, Sohn eines dänischen Vaters und einer norwegischen Mutter, aufgewachsen in der dänischen Kleinstadt, die Jante genannt wird. Der Name Arnakke ist der einer Lokalität in der Nähe der Stadt, eines Höhenzugs, der sich in den Fjord hinausschiebt. Den Vornamen habe ich aus dem Lied über die Zwillingssöhne des Asser Rig, Esbern und Aksel, später Esbern Snare und Bischof Absalon. Ansonsten findet sich der Name Espen im dänischen Teil der Familie immer wieder, als Espen, Esbern, Esben, Esper.

Der Name Espen Arnakke taucht bereits in meinen früheren Büchern auf, und in »Ein Seemann geht an Land« wird die Vorgeschichte zu »Ein Flüchtling kreuzt seine Spur« erzählt. Die ersten Abschnitte dort bilden die Einleitung zu »Ein Flüchtling« und sollten entsprechend gelesen werden.

Die Stadt Jante in diesem Buch ist äußerlich gesehen an die Stadt Nykøbing auf der Insel Mors (Morsø, Morsland) am Limfjord angelehnt. Das führte in den Jahren seit 1933 zu einer Reihe überaus scharfer Angriffe auf meine Person. Wenn diese Angriffe von Menschen gekommen wären, die die Kunst des Lesens beherrschen, hätten sie eine gewisse Dringlichkeit haben können, aber so waren sie nur unbillig. Man kann sicher sagen, dass die, die mir ans Leder wollten, ziemlich peinliche Dinge hätten herausfinden können, aber sie waren nur wütend, und dann hapert es oft an klarer Sicht. Es gab denn auch einen Hintergrund, über den diese Menschen einfach nichts wissen konnten – nämlich alle die Briefe, die ich ebenfalls erhielt und in denen stand, wie wunderbar es sei, dass ich die Stadt angegriffen hätte. Mir wurden latrinäre Angebote von weiteren Informationen gemacht, damit ich die Stadt noch nachdrücklicher anschwärzen könnte. Ich spielte bisweilen mit dem Gedanken, beide Arten von Briefen zu veröffentlichen und endlich die Stadt einen Blick in ihr eigenes Gesicht werfen zu lassen, aber ein solches Vorgehen lag ja doch unter meiner Würde. Jedenfalls hat Jante sich in Briefen an mich viel ärger angeschwärzt, als ich es jemals vorhatte oder als es mir jemals möglich gewesen wäre. Auch die Auffassung, die diese Menschen von Literatur hatten, entzog sich der Diskussion. Die, die mich angriffen, hatten mit denen, die danach hechelten, mich weitermachen zu sehen, gemein, dass nicht einer von ihnen das Buch gelesen hatte. Mir wurden so viele Informationen zugesandt – die meisten anonym –, dass ich mich in Jante als Erpresser hätte niederlassen können.

Ich sehe keinen Grund zu verhehlen, dass mich das alles verletzte. Es ist klar, dass ich stark an der Stadt meiner Kindheit hing. Andererseits liegt es wohl auch auf der Hand, dass die Stadt heute für mich nur noch als schattenhafte Kindheitsregion existiert, als verschleierte und wehmütige Erinnerung, die sich so gut wie nie mehr zu Wort meldet. Dennoch freut es mich zu hören, dass sich der Wind jetzt gedreht hat. Das Buch ist endlich gelesen worden, wird nicht nur vom Hörensagen nacherzählt, und es ist eine andere Generation dazugekommen, eine, die sich nicht persönlich betroffen fühlt und deshalb nicht mit blutunterlaufenen Augen liest. Viele Jahre sind vergangen, und inzwischen ist die Welt von einer Katastrophe getroffen worden. Es ist deutlich, dass die neue Generation nicht so recht begreift, warum die ältere Sinn und Verstand verloren hatte, und die neue scheint das Buch zu lesen, das ist der Unterschied.

Es ist oft nützlich, eine Überlegenheit zu heucheln, die man nicht empfindet, aber ich bringe das nicht über mich. Jetzt ist alles bedeutungslos, damals war es nicht so. Diese Reaktion verstehe ich im Grunde gut. Es konnte durchaus überraschend wirken, die eigene Stadt als Muster für eine gesellschaftliche Form dargestellt zu sehen, die nicht gut ist, die aber niemand zu verstehen versuchte – und ich fand am schlimmsten den Pöbel, der mir in anonymen Briefen zujubelte, wegen etwas, das sie nur aus dritter oder vierter Hand gehört und das sie mit übelriechender Freude umgeformt und in ihrer schmutzigen Phantasie vulgarisiert hatte. Meine Angreifer handelten trotz allem aus einem reineren Gemüt heraus.

Von einem literarischen Standpunkt aus betrachtet – und das ist der einzige, den ich akzeptieren kann –, hat das Buch nichts mit einer ganz bestimmten Stadt zu tun. Das zeigt sich vielleicht am besten darin, dass viele ihren eigenen Heimatort erkannt haben – so ist es z. B. Menschen aus Arendal, Tromsø und Viborg gegangen. Aus letzterer Stadt kam die Bitte, über meine dort verbrachten Schultage zu schreiben, mit der Begründung, dass ich ja offenbar von dort käme. Möglicherweise kann das für den einen oder anderen in meinem Jante ein Trost sein. Ich weiß nur wenig über Viborg, ich war mit vielleicht zehn Jahren einmal auf einem Ausflug für einige Stunden dort. Ich wurde – durch ein Wunder, das kann man durchaus sagen – davor gerettet, vom Turm des Doms zu fallen. Also bin ich zwar nicht in Viborg geboren, wäre aber fast dort gestorben. Etwa zwanzig Jahre später konnte ich gedruckt lesen, dass es das Beste für mich und andere gewesen wäre – in dieser Hinsicht sind manche Menschen großzügig. Es war zu der Zeit, als das meiste, was geschrieben und gesagt wurde, mich noch nicht vollständig gleichgültig ließ. Früher war ich eine leichte Beute und überaus verletzlich. Das kann man zugeben, wenn man so weit gekommen ist, dass Beschimpfungen und Unsachlichkeit nur zu einer vorübergehenden Müdigkeit im Kopf führen. Solche Dinge widerfahren mir übrigens nur noch selten – das liegt vielleicht daran, dass ich nur noch selten in den Zeitungen auftauche und kein fester Gast mehr bei allerlei tristen literarischen Veranstaltungen um die Weihnachtszeit bin, wenn der Erlöser und weise Personen aller Art gefeiert werden.

Vor zwanzig Jahren hatte man einiges daran auszusetzen, dass sich das Buch zu sehr mit der Pubertät befasse, ein eigentlich seltsamer Gedanke, da alles doch auf eine Katastrophe am Ende der Pubertät hinführt. Es gab damals noch die starke literarische Konvention, die Pubertät auszublenden. Es ist zwar schmerzhaft, an jene unglückliche Zeit erinnert zu werden, als man sich im Schmelztiegel befand, aber die Kunst darf keine solchen Rücksichten nehmen. Im Gegenteil hatte ich diesem Zeitraum nicht genug Platz geboten, und das führte später zu dem Buch »Im Garten stand eine Bank«, einer ziemlich eindeutigen Zufügung zum »Flüchtling«. »Im Garten stand eine Bank« ist inzwischen praktisch zur Gänze in »Ein Flüchtling kreuzt seine Spur« aufgegangen und wird nie wieder als eigenständiges Werk gedruckt werden.

Die ursprüngliche Fassung von »Ein Flüchtling kreuzt seine Spur« wird ebenfalls niemals wieder lieferbar sein. Abgesehen von den großen Erweiterungen, die damit einhergingen, dass das Buch ein anderes verschlungen hat, wurden auf jeder Seite mannigfache Korrekturen vorgenommen, es wurde ziemlich viel hinzugefügt, Etliches wurde gestrichen. An mehreren Stellen wird darauf verwiesen, dass ich meine Ansicht geändert habe. Es gibt viele orthographische und teilweise weitreichende stilistische Korrekturen.

Aufgrund der Umstände, unter denen dieses Buch in seiner jetzigen Form entstanden ist, schiebt sich sozusagen die eine stilistische Schicht über die andere, und die dem Buch zugrundeliegenden Ansichten stammen von unterschiedlichen Zeitpunkten seit 1930. Schon als ich das Buch zum ersten Mal verfasst hatte, erschien es mir als ein Ergebnis archäologischer Arbeit, und das wurde es seither auch in einer anderen Bedeutung, da sich immer neue Schichten über das eigentlich bereits fertige Werk legten. Als der Roman 1930 geschrieben worden war, war er eine Arbeit ohne Namen, ein Manuskript, das nicht als Buch gedacht war. Es wurde in genau drei Monaten geschrieben und umfasste elfhundert Seiten – es begann als Brief, deshalb die Anrede mit Du, die ich das ganze Manuskript hindurch beibehalten habe, nachdem ich auf Seite 17 zu dem Schluss gekommen war, dass das hier ein ziemlich langer Brief werden würde, mit dem ich einen Menschen überraschen wollte.

Beim Schreiben fühlte ich mich wie ein Anwalt für die Vielen, und als mein eigener Rechtsbeistand und Ankläger. Statt mein irrendes Gemüt auf mehrere Personen aufzuteilen, wie Ausgeglichene und Begabte das tun, ließ ich die Teufel – und die Engel, denn auch solche gab es dort – in meinem Inneren die ganze Zeit mit ihrer eigenen Stimme sprechen. Das heißt, mit meiner.

»Ein Flüchtling kreuzt seine Spur« darf seinen Namen behalten, den Namen, unter dem das Buch bekannt ist. In meinem Herzen habe ich ihm einen anderen gegeben, vor langer Zeit, nachdem wir eines Nachts abgestimmt hatten, alle meine Engel und Dämonen, alle, die in diesem Buch das Wort führen: Aus der Tiefe rufen wir, Herr, zu dir.

Einige Zeit verstrich, und der Gedanke, aus allem ein Buch zu formen, erwachte zum Leben. Als das Ergebnis vorlag, waren elfhundert Seiten zu fünfhundert geworden. Mein Manuskript wurde abgelehnt, mit der zwangsläufigen Begründung: »Das ist kein Buch«, und das war ja auch richtig, wenn man unter einem Buch den gängigen und banalen Weihnachtsroman versteht. Die Möglichkeit einer Überarbeitung wurde nicht in Betracht gezogen, was erfahrungsgemäß bedeutet, dass man es mit einem vollkommen hoffnungslosen Produkt zu tun hat.

In den beiden Jahren, in denen meine Arbeit liegenblieb, nahm ich hier und da einige unbedeutende Änderungen vor, beschäftigte mich aber nicht weiter damit, da ich doch ziemlich entmutigt war. Mehrmals wäre das Manuskript fast im Ofen gelandet. Obwohl ich schon zweiunddreißig Jahre alt war, hätte der absolut geschlossene Widerstand mich einige Male fast dazu gebracht, den anderen recht zu geben.

1933 veröffentliche der Tiden Norsk Forlag das Buch unter schweren Bedenken. Es wurde nach und nach in siebentausend Exemplaren gedruckt und war bei Kriegsbeginn vergriffen. Die Einteilung in Kapitel wurde im letzten Moment vorgenommen, als ich am dritten Korrekturgang saß. Ursprünglich waren die späteren Kapitel ineinander übergegangen.

Von der Aufnahme, die dem Buch bereitet wurde, hätte einem jungen Mann durchaus schwindlig werden können, nicht zuletzt, als es in der amerikanischen Presse in alle Himmel gelobt wurde. Zum Glück lagen bereits viele und bittere Erfahrungen hinter mir – denn Gott gnade dem, der gleich zu Anfang einen solchen Erfolg erlebt.

Kaum war das Buch ausgeliefert worden, da erwachte der Stoff wieder zum Leben, und mir wurde klar, dass ich damit noch längst nicht fertig war. Es kam deshalb in den folgenden Jahren nicht nur zu dem schon erwähnten »Im Garten stand eine Bank«, sondern auch zu einer Unmenge an Korrekturen und teilweise umfangreichen Erweiterungen. Einiges verschwand, aber es kam dauernd Neues hinzu, und in den meisten Fällen weiß ich absolut nicht mehr, wann welche Änderung vorgenommen wurde. Es gab viele Stilbrüche – man wird nun einmal älter. Insgesamt darf man wohl sagen, dass die zwischen 1933 und 1955 hinzugefügten Passagen an ihrer relativen Versöhnlichkeit zu erkennen sind. Der Kampf gegen Konformität und Uniformität wurde weniger monoman, aber nicht weniger aufrichtig, und wohl auch besser durchdacht. Am deutlichsten sind neuere Passagen daran zu erkennen, dass die direkte Anredeform weggefallen ist.

In dieser neuen Ausgabe wurden einzelne Dinge entfernt, in denen Unwissenheit zum Ausdruck kam. Bei Erscheinen der ersten Fassung war es Mode bei den Kritikern, überall Freud zu wittern. Über den »Flüchtling« wurde gesagt, er und ich seien freudscher als Freud selbst. Ich hatte damals nichts von Freud gelesen, auch wenn natürlich auf der Hand liegt, dass ich indirekt von ihm beeinflusst war. Nachdem ich das Buch geschrieben hatte, las ich dann etliche seiner Werke, und Teile eines Zeitschriftenartikels flossen in letzter Sekunde in das Kapitel »Das Wesen des Klatsches« ein. Wirkliche Kenner Freuds gingen einen anderen Weg. Ein bekannter Analytiker sprach den unglaublichen Satz aus, das Buch stimme nicht mit Freud überein und komme deshalb zu unrichtigen Schlussfolgerungen. Die Luft war damals verpestet, einerseits von Menschen, die keine Ahnung von Psychoanalyse hatten und sie als Arsenal an Beschimpfungen benutzten, andererseits von Feueranbetern, die dasselbe taten.

Ich selbst stand den Problemen, die die Psychoanalyse umgaben, ziemlich ambivalent gegenüber, und ich erlaubte es mir z. B., mich auf unsicherem Boden darüber lustigzumachen – durch Unwissenheit, genau wie die Kritiker, die im Zusammenhang mit dem »Flüchtling« ebenso sinnlos über Freud schwadronierten. Ich scheine das Pech gehabt zu haben, mich zu denen zu gesellen, die die Psychoanalyse aus einer Art Verirrung angreifen, weil sie selbst eine brauchen. Mir sind viele solcher Menschen begegnet, und es ist eine peinliche Geschichte, selbst zu ihnen gehört zu haben. Ich will nicht so verstanden werden, dass alle Gegner der Psychoanalyse (oder der gesamten modernen Psychologie überhaupt) sie aus purer Angst angreifen, aber sehr oft ist das die Wahrheit. Ich höre ihnen zu und stelle fest, dass sie Unsinn reden, dass sie keine Ahnung davon haben, worüber sie lauthals herumschreien. Einige von ihnen haben elegante und überzeugende Ausdrucksformen gelernt, aber die Grundlagen sind Unwissenheit, vage Behauptungen und Verzerrungen, und sie sind viel zu angriffslustig, heftig und kategorisch, als dass sich dahinter nichts verbergen könnte. Ich habe mich im Laufe der Jahre ziemlich gut über diese Fragen informiert, aber wie gesagt, als der »Flüchtling« geschrieben wurde, musste ich in dieser Hinsicht fast als Banause bezeichnet werden. Dennoch möchte ich noch einmal betonen, dass ich selbstverständlich indirekt beeinflusst war. Niemand kann sich der Strahlung dessen, was seine Zeit bewegt, entziehen, auch wenn er sich nicht in die Nähe des glühenden Kerns begeben hat. Ein neuerer norwegischer Autor, der nichts von Hamsun gelesen hat, wird dennoch von der Strahlung getroffen worden sein. Es ist eine vulgäre Vorstellung, dass nur der beeinflusst wird, der sich kopfüber in ein Buch gestürzt hat.

Was ich ursprünglich geschrieben hatte, nahm immer wieder neue Masken oder Gesichter an. Als ich Ende 1953 die Kartons leerte, in denen ich Notizen und Entwürfe zu einer neuen Ausgabe aufbewahrt hatte, war die Zeit auch vielen dieser Aufzeichnungen davongelaufen, und von hunderten von Stichwörtern hatte ich die Bedeutung vergessen. Wenn ich jetzt zum letzten Mal die Korrekturen durchlese, ehe sie in die Druckerei geschafft werden, weiß ich, dass sich in den Zeitangaben viele vermeintliche Widersprüche finden, weil ich bei alten Korrekturen und Hinzufügungen immer von dem Jahr ausgegangen bin, in dem wir uns gerade befanden. Vermutlich aber wird das nur für ganz ungewöhnlich gründliche Leser von Bedeutung sein.

Wenn es zu meinen Lebzeiten noch eine weitere Ausgabe geben sollte, dann stelle ich mir vor, dass auch diese eine neue Version sein wird, aber diesmal kann ich jedenfalls keine zweiundzwanzig Jahre warten, wenn die nächste runde Zahl 80 ist, ändert man vermutlich seine Werke nicht mehr, sondern liegt auf dem Sterbebett. Aber es brauchen nur fünf oder sechs Jahre zu vergehen, damit ich das Buch abermals umarbeite, das weiß ich, denn schon jetzt kommen mir an mehreren Stellen Zweifel. Mir ging zudem zu spät auf, in wie hohem Maße ich eine soziologische Studie verfasst habe.

In vieler Hinsicht ist das Buch nun also Ausdruck für die Meinungsänderungen eines Menschen seit 1930. Es muss mich damals gewaltig geprägt haben, dass ich von einem Dämon besessen war, einem, der mich zur Rache am Jantegott trieb, nachdem er mich diesem zunächst in die Arme getrieben hatte. Seit der Dämon eines Tages im Jahre 1943 weichen musste, ist die Rachsucht in Mitgefühl umgeschlagen, und das hinterließ in neuen archäologischen Schichten seine Spuren.

Ganz einfach das Alter hat vielen Einschätzungen seinen Stempel aufgedrückt, der neue Krieg hat es getan, die Wasserstoffbombe hat es getan, die Kinder in Buchenwald und die Kinder in Korea haben es getan. Einer, der zu Beginn dieses neuen Durchgangs von »Ein Flüchtling kreuzt seine Spur« krank wurde und starb, als ich fertig war, hat ebenfalls seine anonymen Spuren in dem Werk hinterlassen, und ich will nicht, dass gerade diese Spuren anonym bleiben. Es sind die Spuren meines Sohnes Espen, der 1955 gestorben ist und der seinen Namen Espen Arnakke aus Jante verdankte.

Alles prägt uns, auf die eine oder andere Weise, und das Leben selbst kann wie ein Trugbild wirken, alles verschiebt sich, nichts bleibt von einer Stunde zur nächsten so, wie es war. Die Welt wird zu einer anderen, während du mit der Wimper zuckst. Vielleicht hat sich morgen ein Gott manifestiert und es sieht heute noch nur so aus, als ob es ihn nicht gäbe. Die Wahrheit ist in Wasser geschrieben, und das, was Gerechtigkeit genannt wird, ist der Albtraum guter Menschen. Niemals wird morgen etwas immer noch so sein, wie es heute ist, und es besteht ein bedeutender Unterschied zwischen dem Mann, der ein Buch in seelischem Nebel und schwerem Regenguss schreibt, und dem Mann, der sich viel später daran setzt, es umzuschreiben – nachdem der Vorhang für das von ihm beschriebene Jante gefallen ist und die Flüsse unermüdlich zum Meer geströmt sind.

EIN FLÜCHTLING KREUZT SEINE SPUR

Jetzt will ich alles erzählen. Und ich muss mit dem Ende anfangen. Sonst würde ich mich niemals bis dahin vorwagen.

Ich habe einmal einen Menschen getötet. Er hieß John Wakefield, und ich habe ihn eines Nachts vor siebzehn Jahren in Misery Harbor ermordet.

Damals wurden so viele zu Mördern. Der Weltkrieg wütete, aber es waren legalisierte Morde und verdienstvolle Gemetzel. Den Getöteten konnte es egal sein, ob die Morde legalisiert waren oder nicht, für die Mörder jedoch spielte es eine große Rolle.

Ich besaß keinerlei Befugnis durch ein Militärwesen, das besser Bescheid weiß als der Herrgott, und ich habe das Geschehene niemals überwunden. Ich kam aus Jante und war dort mit einem Gewissen ausgestattet worden. Das Schlimmste waren die Nächte, wenn er im Zimmer stand.

Es geschah in der Zeit, die die heiße Jugend genannt wird, wenn der Jüngling kräht wie ein Hahn, aber zumeist an Stumpfsinn leidet, weil er in vieler Hinsicht betrogen worden ist. Die Kindheit ist heiß, und das Mannestum ist heiß bei denen, die nicht durch die Jugend steril gemacht worden sind. Die Jugend ist die Zeit, in der du erkennst, wie deine Maske aussehen sollte.

MÄRCHENLAND

Ich möchte jetzt von einem Märchenland erzählen, und ich habe das noch nie gemacht. Ich kenne nichts Schöneres als das Märchenland: Dort stand eine Reihe von alten Wacholderbüschen, unter denen das Kind sich verstecken konnte, und davor lagen einige riesige Steine, auf denen kleine Teerflecken zu sehen waren, da Fischer Andersen auf ihnen seine Netze zum Trocknen ausbreitete.

Die Frau hieß Rose. Denn es gab eine Frau im Märchenland, und es hatte sich so seltsam gefügt, dass sie Rose hieß.

Im Märchenland war Krieg. Wir kamen nicht sehr weit hoch, als wir vier Jahre alt waren, Rose und ich, aber wir lebten intensiv dort unten, wie Insekten in ihrem Urwald auf dem mit Gras bewachsenen Boden. Es war wild und heiß in unserer Welt, und wir hatten noch einen besonderen Bedarf an Vergebung der Sünden. Die Erwachsenen konnten eingreifen, und es kam vor, dass wir ihnen gehorchten, da sie groß waren. Aber wir bissen wie erboste Ameisen nach dem strafenden Stock.

Ich liebte Rose, weil sie so schön war und weil sie zu meinen eigenen Leuten gehörte. Wenn wir im Schatten unter den Wacholderbüschen spielten, hörte sie mir zu, wenn ich etwas erzählte. Die Großen glaubten nicht, dass ich etwas wissen könnte, was ihnen unbekannt war.

Ich schenkte Rose Glanzbilder. Ich hatte einen ganzen Stapel von Mutter bekommen, und Rose sollte sie alle haben, ja, sie sollte wirklich alle haben. Sie nahm sie mit ihrer Schürze in Empfang, und ich wurde so tanzend froh, als ich sie dort sah. Es waren Bilder von Gott und von Engeln.

Zwischen Rose und mir war es dann vorbei, als sie eines Tages mit anderen Mädchen spielte. Ich stand eifersüchtig dabei und sah zu. Verdammt, sagte ich plötzlich und starrte Rose an. Denn ich wusste, dass ihre Mutter es nicht leiden konnte, wenn jemand fluchte. Rose und alle Mädchen sahen mich an. Ja, du bist böse, sagte Rose ernst. Es klang wie etwas, das sie immer schon gewusst hatte. Wir wollen nicht mit dir spielen. Du kommst nicht zum lieben Gott.

Und da und dort geschah es. Ich kann den Mechanismus nicht erklären, aber von diesem Moment an wusste ich, dass ich dumm war und dass alle es mir ansehen konnten. Es überkam mich wie ein Unglücksfall, dass ich missgestaltet und unbeholfen war, ein Wechselbalg, der niemals hätte geboren werden dürfen. Das Schreckliche war, dass alle es von diesem Tag an bestätigten und mir unaufhörlich über viele Jahre hinweg sagten. Ich glaubte es. Es wurde mein Schicksal, dass ich die Menschen mit den Augen des Narren oder des Verlorenen ansah. Sie hatte mich damals mit einem Zauber belegt, die kleine Hexe.

Ich lief mit niedergeschlagenem Blick vor Rose davon, und danach spielten wir niemals wieder miteinander. Mutter fragte nach, aber ich war nur unglücklich und hatte keine Antwort. Die Sünde war in die Welt gekommen. Rose hatte einen älteren Bruder, der einen kleinen Vogel erschoss. Ich fand ihn abends im Garten und beweinte ihn.

Rose zog mit ihren Eltern in eine andere Straße. Später kamen wir in der Schule in dieselbe Klasse, aber ich wagte nie wieder, sie anzusehen. Alle sagten, Rose sei so schön und ihr Name passe so gut. Wenn ihr Blick mich traf, war er ruhig und kühl. So ging es viele Jahre hindurch, ich machte große Umwege, um ihr nicht zu begegnen. Ihre Liebesgeschichten als junges Mädchen vertieften mein Unglück noch. Sie ähnelte meiner Schwester Agnes, aber Rose war dunkel und Agnes licht.

Ich sollte bald mehr über die Frau erfahren. Der Arbeitsmann Kristjansen zog in Roses Haus ein. Wir mochten Kristjansen nicht. Er kam pünktlich zu den Mahlzeiten nach Hause, wie andere Leute, aber er fegte sozusagen die Kinder von der Straße. Wir hatten Angst vor dem kleinen grauen Mann, über den die Erwachsenen lachten. Er will wohl zu den Mahlzeiten hier sein, sagte Vater, wenn Kristjansen des Weges kam. Und dann lachte Vater ein kleines Lachen, das mir nicht behagte. Kristjansen wurde aus der Armenkasse verpflegt und verbrachte seinen Tag mit guten Ratschlägen für die, die arbeiteten.

Er hatte eine Tochter und zwei Söhne. Das mit diesen drei Kindern sorgte für Verwirrung. Agnes, Espen und Einar hießen die drei Jüngsten bei uns. Bei Kristjansen hießen die drei Kinder auch so, auch dort war Agnes die Jüngste und Einar der Älteste. Wir Gleichnamigen waren auch gleichaltrig. Einar Kristjansen konnte ich nie leiden, er betrog mich bei Geschäften. Das Prinzip der Zinsen und der Kapitalerweiterung hatte ich nie begriffen, Einar Kristjansen dagegen lag das alles im Blut, und er führte mich an der Nase herum. Ich wollte einfach nicht glauben, dass er andere betrog und ausnützte. Jetzt weiß ich es endlich, aber es wirklich zu glauben, habe ich nie gelernt.

Eines Tages saßen Agnes Kristjansen und meine Schwester unter dem Wacholderbusch. Dann kamen Espen Kristjansen und ich. Wir verabredeten mit den Mädchen, uns zu verloben. Espen und ich fühlten uns großartig, weil wir uns gegenseitig unsere Schwester gaben. Ich saß bei seiner Schwester und er bei meiner, wir küssten einander ohne Angst. Das passierte, ohne dass wir es von irgendwem gelernt hätten, wir waren gleichsam damit geboren. Meine Mutter hat mich nie geküsst, das weiß ich noch. So etwas taten wir nicht in Jante. So wie wir dort saßen, so heiraten vielleicht Tiere, und wir lachten darüber. Mir gefiel es. Aber danach hatten Espen Kristjansen und ich doch das Gefühl, dass etwas fehlte. Deshalb schlichen wir uns fort zu Adamsens Scheune.

Die mit Teer bespritzten Steine bei den Wacholderbüschen waren das Herz des Märchenlandes. Von dort stieg Wärme auf, und immer schien dort die Sonne. Dort hatten auch Rose und ich einander an den Händen gehalten und uns ewige Treue geschworen. Aber Rose wollte keine Kinder, denn was, wenn sie Äpfel stahlen und nicht mit uns zu Gott aufsteigen dürften?

Ich war ein wenig verlegen, nicht wegen der Geburtenkontrolle, sondern weil sie über den lieben Gott sprach. Ich glaubte durchaus nicht, dass Gott lieb war, Mutter sagte, sie glaube nicht an diese Sache mit Gott, aber Vater sagte, es sei möglicherweise doch etwas daran. Es freute mich, dass die beiden die Sache so sahen, denn ich hatte Angst vor Gott. Er war ein vornehmer Herr mit übellaunigen Augen, und er wollte alles Mögliche von mir, das überhaupt keinen Spaß machte. Mir war es peinlich, wenn jemand ihn erwähnte. Es war seltsam, dass irgendwer glaubte, es könnte im Himmel gemütlich sein, ich fürchtete mich vor meinem Todestag, denn dann würde ich vielleicht dorthin müssen. Unsere Nachbarn, Jens Hansen und seine Frau, die waren heilig und würden in den Himmel kommen, aber wie sie sangen, das war so scheußlich, dass es nicht einmal komisch war.

Jens Hansen hatte eine Tochter namens Petra Lavinia. Sie starb jedes Jahr im Frühling, kurz nachdem sie sie zurückbekommen hatten. Sie wurde jedes Jahr ins selbe Grab gelegt und war nach Weihnachten im nächsten Jahr plötzlich wieder da. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass es nicht dieselbe sein könnte, jedes Jahr hieß sie Petra Lavinia, und jedes Jahr kam sie ins selbe Grab. Aber es war seltsam, dass sie nie wuchs, und warum lag sie den ganzen Sommer über in der Erde? Ich hielt das für eine Art Planung. Jedesmal, wenn sie begraben werden sollte, gingen Agnes und ich hinüber, um sie im Sarg zu sehen und ein Stück Kuchen zu bekommen. Dieses alljährliche Stück Kuchen versperrte mir gewissermaßen eine Aufklärung des Petra-Lavinia-Mysteriums, denn so ein leckerer Kuchen war ein Ereignis in sich. Petra Lavinia wurde jedes Jahr ein neues Gesangbuch mit ins Grab gegeben, es lag unter ihrem Kinn. Das war seltsam, denn niemand von den Lebenden dort im Haus hatte eine brauchbare Stimme im Leib, und es musste nachts ziemlich schrecklich auf dem Friedhof sein, wenn Petra Lavinia sang. Vater sagte, Gesangbücher seien viel zu teuer, um so zu enden. Ein Stöckchen in einem weißen Lappen wäre ebenso gut. Ich überlegte, wie Petra Lavinia mit Hilfe eines Stöckchens in einem weißen Lappen Choräle singen könnte. Aber auf dem Friedhof gab es ja so viele weiße Lappen.

PETRUS UND OLINE

Der älteste Bruder hieß Petrus und hätte altersmäßig durchaus mein Vater sein können. Ich verabscheute ihn und seine Freundin. Oline, Tante Oline, war so eine Wichtigtuerin, und so hässlich. Sie hatte eine eklige Warze auf der Wange und war immer beleidigt. Wir hatten Angst vor ihr. Wenn Petrus einen Brief an Mutter und Vater nach Hause geschrieben hatte, wagten sie nicht, es Oline zu erzählen, denn dann wurde sie wütend und beschwerte sich, dass Petrus immer an diese beiden schriebe, aber nie an sie selbst. Sie warf den Kopf in den Nacken und verlangte, den Brief zu sehen, aber auch wenn Mutter ihr verheimlichte, dass ein Brief von Petrus gekommen war, erfuhr Oline es irgendwann doch und wurde noch viel wütender. Die Folge war, dass selten ein Brief von Petrus an uns kam, und Oline erzählte uns nie, wie es ihm ging, sie lächelte nur vielsagend. Mutter weinte immer, wenn Tante Oline zu Besuch gewesen war, denn Oline war eine Nebelfront aus ewigem Weinen und Beleidigtsein. Ich begriff nicht, was Petrus mit so einer wollte. Sie quälte uns alle, wir waren gewissermaßen nicht fein genug, und Petrus glaubte ihr das. Ihr Vater war Arbeiter wie unserer. Oline hatte eine Mutter, die so übellaunig war wie sie selbst. Petrus war nicht fein genug für die Tochter, und wir waren auf irgendeine Weise noch weniger fein als Petrus. Das konnte ich nie verstehen, denn Oline hatte fast ein Dutzend Verwandte, die von anständigen Leuten nicht gegrüßt wurden, einige waren vorbestraft, andere hatten die unaussprechliche Krankheit. Tante Oline wurde weiß, wenn jemand ihre Verwandtschaft erwähnte, aber trotzdem war sie fein, und wir waren klein und gemein. Es hatte ihr gefallen, Petrus auf eine höhere Ebene zu erheben. Sie hatte nie ein freundliches Wort für kleine Leute, sie war die Hexe im Märchenland. Als ich in die Schule kam, war dort ein Mädchen namens Oline, ich fand, dass sie alt und übel roch. Die Lehrerin durfte nicht entdecken, wenn man sich in der Bank umdrehte, auch wenn es dafür nur die geringste Strafe gab, eine Ohrfeige. Dennoch musste ich mich vorsichtig umdrehen und das Mädchen Oline ansehen. Ich musste dieses übellaunige und langweilige Gesicht ansehen, das mich so mutlos machte. Selbst wenn es kein grauer Regentag war, so kam es mir doch so vor, nachdem ich einen Blick auf Oline geworfen hatte, aber ich konnte es nicht lassen.

Wir holten Petrus einmal vom Zug ab, aber er und Oline ließen uns stehen. Ich hielt ihn für einen unausstehlichen Trottel, und was machten sie für ein Gewese um ihn! Seine Augen waren übellaunig. Ich sah einmal, wie er Oline küsste, und danach war ich zutiefst unglücklich, ich wusste nicht, wo ich mich verkriechen sollte.

Kinder werden von den Liebesspielen der Erwachsenen gequält. Sie begreifen nicht, wozu die gut sein sollen, und wenn sie versuchen, diese Spiele nachzuahmen, sehen sie sich nur darin bestätigt, wie langweilig die sind. Die Lust, die im Kind wohnt, schlägt andere Wege ein. Das Gefühl, das sich meldet, ist nur wenig mit Eifersucht verwandt, es erinnert mehr an das Gefühl, das du haben kannst, wenn jemand dich in einer Gesellschaft auf beleidigende Weise ignoriert. Das kann für den Erwachsenen schlimm genug sein, aber er hat Möglichkeiten, damit umzugehen, er kann gehen oder die anderen zum Gehen auffordern. Auf das Kind jedoch wirkt es lähmend. Wir alle haben Erinnerungen an dieses Gefühl.

Ein Kind kommt hereingelaufen, schnappt den letzten gesagten Satz auf, stellt sofort eine Frage – die rein gar nichts mit dem besprochenen Thema zu tun hat – und ist dann mit jeglicher Antwort zufrieden. Die immer auf der Lauer liegende Angst davor, ausgeschlossen zu sein, ist ein weiteres Mal gedämpft worden. Noch immer hält die psychische Nabelschnur. Das Elternhaus ist eine große Gebärmutter. Darin wirken die Handlungen der anderen beängstigend, wenn sie unbegreiflich sind und wenn das Kind in diesem Moment offenbar nicht gern gesehen ist. Hinter die sogenannte Eifersucht des Kindes lässt sich so manches Fragezeichen setzen.

DER JUNGE AUS JANTE

In Jante lag eine Fabrik, und in Jante lebten viele Arbeiter. An sich war Jante eine arme Stadt, und die Geschichte berichtet, dass das immer schon so war. Die Stadt war so gelegen, dass sie keine besonderen Möglichkeiten gehabt hatte. Aber wirtschaftlich war Jante durch seine natürliche Lage gesichert. Weder gute noch schlechte Zeiten hatten die Struktur der Stadt erschüttert. Die Konjunkturen spiegelten sich nur im Aufstieg und dem darauf folgenden Konkurs einzelner Personen. Jante ist eine Stadt genügsamer Arbeitstiere. Die Stadt ist schön gelegen, jedoch ein wenig tief, einige Stadtteile werden im Herbst von Überschwemmungen heimgesucht. Die Umgebung ist hier und da prachtvoll, eine lächelnde und abwechslungsreiche Landschaft.

So ist die Stadt, das weiß ich. Es ist eine objektive Beschreibung, ungefähr wie sie in einen Reiseführer ausfällt, wenn man nicht auf Wunsch einer Touristenvereinigung in Agitation verfällt, und wenn man von der Stimmung einzelner absieht. Aber für mich ist es der graueste Ort der Welt. Für mich ist die Stadt etwas ganz anderes, nämlich meine privaten Beziehungen zu einer Reihe von Personen. Wenn ich in Arendal oder Jonkøping aufgewachsen wäre und dieselben Personen gekannt hätte, wären meine Empfindungen diesen Städten gegenüber vermutlich dieselben.

Durch die Straßen von Jante ging mein Vater viele Jahre lang jeden Tag um genau dieselbe Uhrzeit. Ich muss die Stadt jetzt beschreiben, da mir mein Vater eingefallen ist. Als kleiner Junge nahm ich seine Hand und begleitete ihn ein Stück auf seinem Weg, bis zu einer Ecke. Dort ließ er meine Hand los und verschwand weit hinten in der Straße, wo ein kleines gelbes Haus stand, das ich für das Ende der Welt hielt. Bei diesem gelben Haus bog er nach links ab, und danach wurde er von den Geheimnissen der großen Welt verschlungen. Der Größe der Welt gegenüber war ich einfach hilflos und verspürte ein Unbehagen beim Gedanken an die Zeit, in der ich selbst so weit fortgehen würde. Und doch gab es etwas, das noch weiter weg lag. Meine große Schwester war in einer weit entfernten Stadt angestellt. Wenn ich daran dachte, musste ich stehenbleiben und in Grübeleien versinken.

Hier gibt es etwas, das sich niemals so ausdrücken lässt, dass das Bild deutlich genug wird. Und zwar der Anblick meines Vaters auf der Straße. Er war nicht groß und dazu ein bisschen gebeugt. Niemals änderte sich sein Gang, immer kam er in genau dem gleichen Tempo, mit dem gleichen Schwingen der Arme. Er kam und er ging, kam und ging, und so ging er dreißig Jahre lang, und der Sohn folgte ihm. Wenn solche alten Männer dann starben, lebten die Söhne schon seit vielen Jahren in diesen Gewohnheiten. Hin und zurück ist dieselbe Entfernung! Wie sehr habe ich in späteren Jahren meinen Vater und die anderen bewundert – dass sie das über sich brachten! Als Junge dachte ich: Dass ihr euch das zumutet, nie im Leben werde ich das auch so machen! Aber in der Erinnerung bringe ich dieser grenzenlosen Geduld nun Demut entgegen. Es gab einige, die an die fünfzig Jahre lang so gegangen waren, zu ihrer schweren Arbeit in der Fabrik und wieder zurück, durch ihre Jugend, ihre Mannesjahre, ihr Alter hindurch, bis sie zusammenbrachen und ihre Traueranzeige in der Zeitung stand. Dachten sie jemals darüber nach? Wenn ich diesen Zug der Generationen durch die Stadt Jante vor mir sehe, kann ich dennoch meinen Protest nicht unterdrücken, der wohl eine alte Furcht davor ist, dass es mir ebenso ergehen könnte: Das ist doch versteinerte Menschlichkeit! Das ist der Mensch als Individuum in diesem Ameisenstaat, und was übrig bleibt, ist ein graues mechanisches Massenleben zu Ehren der toten Fabrik. Es ist die Eroberung des Lebens durch die Form, der Ameisenhügel, der über die Ameise triumphiert.

Dennoch, ich sehe meinen Vater dort auf der Straße, ein Rädchen im Getriebe, aber er hatte sein eigenes Leben. Das hatte er. Die Fabrik hatte nicht die Macht besessen, seine Seele zu töten. Er war der beste und klügste Mann, der mir im Märchenland begegnete, von einer so großen Milde, dass er in meinen besten Augenblicken immer noch mein Vorbild ist.

Es kann schwierig zu erklären sein, aus welchem Milieu ich stamme, die Bezeichnung Proletarier ist eigentlich wohl die passendste, aber sie ist zu einem politischen Etikett geworden.

Wir waren neun Kinder, aber wir waren nie gleichzeitig zu Hause, die ältesten waren bereits aus dem Nest geflogen, als die jüngsten geboren wurden. In meinen frühesten Jahren verdiente Vater neun Kronen pro Woche, später stieg der Lohn auf achtzehn.

Es heißt, damals sei alles so viel billiger gewesen und die Menschen genügsamer. Letzteres hängt zusammen mit der üblichen prahlerischen Behauptung, die Menschen seien früher mit so wenig zurechtgekommen. Das gehört zu den infamen Unterstellungen, mit denen kleine Leute sich selbst unten halten – zu prahlen über die Dinge, deren Ungerechtigkeit man aus Rücksicht auf seine Kinder viel eher aufzeigen müsste. Jetzt, im Jahre 1930, wird abermals Genügsamkeit gepredigt, was man sich übrigens ersparen kann, es gibt wohl nur wenige, die derzeit nicht zur Genügsamkeit gepeitscht werden, während die Welt dermaßen mit ihrem Überfluss an Waren aller Art belastet ist, dass sie in ihrer Bahn um die Sonne fast schon aus dem Gleichgewicht geraten ist.

Aber damals hat doch alles nicht so viel gekostet? Ich werde dir hier keine Zahlen aufsagen, aber die Preise lagen im Vergleich zu den Löhnen hoch. Als Vater neun Kronen in der Woche verdiente, hauste die Familie in einem düsteren Loch, das ich seither wiedergesehen habe, die Miete betrug siebzig Kronen im Jahr, und einen Ofen mussten sich die Bewohner selbst besorgen. Du kannst dir ja ausrechnen, wie viel Feuerholz, Essen und Kleidung für den Einzelnen noch übrig blieben, wenn Miete, Steuern, Krankenkasse, Hebamme und Pastor bezahlt waren. Du kannst zudem mit in deine Berechnung aufnehmen, dass die Arbeitszeit zwölf Stunden betrug.

Aber wir hatten es viel besser als viele andere, die den schweren Gang zur Fürsorge antreten mussten. Vater war niemals arbeitslos, Mutter kam sehr weit mit den Zweiörestücken. In den meisten Nächten beugte sie sich bis zwei oder drei Uhr mit der Nadel über unsere Kleider.

Ich will aus Angst vor meinem scheinbaren Selbstwiderspruch nicht behaupten, dass ich mich als Kind arm gefühlt hätte. So war das nicht. Ein Grund war sicher, dass fast alle, die wir kannten und die in unserer Nähe wohnten, unter denselben oder unter schlechteren Bedingungen lebten. Der tiefste Grund aber war wohl, dass wir Vater bewunderten und uns nicht einmal im Traum hätten vorstellen können, dass er arm war. Im Gegenteil, oft fielen Bemerkungen über bedauernswerte Arme – was bedeutete, dass wir selbst nicht so waren. Erst mit vielleicht zwölf ging es mir langsam auf, ich kam häufiger aus dem Haus, hatte mehr Möglichkeiten zu vergleichen. Nun wurden meine Überlegungen weniger eindeutig, denn es war unmöglich, die Vorstellung von Vater als großem bedeutendem Mann aufzugeben. Dass wir Proletarier waren, begriff ich erst, als wir es nach der strengsten Definition dieses Wortes nicht mehr waren, aber noch immer alle Stigmata des Proletariers trugen: die Male, die für mein Leben entscheidend wurden. Die Sklavenzeichen trägt man zu einem solchen Grad in seiner Seele, dass es sicher nie von größerer Bedeutung war, ob jemand von außen schwarz war wie die amerikanischen Sklaven: Die Farbe war nicht unbedingt notwendig, um die Entlaufenen zurückzuholen. Egal, welche Farbe der Sklave hatte, er verriet sich, sobald er in die Nähe anderer Menschen kam. Angeblich wurde früher in Australien, wenn festgestellt werden sollte, ob jemand aus einer Strafkolonie geflohen war, gleich neben ihm mit einer Kette gerasselt. Ehemalige Gefangene erlitten dadurch einen solchen Schock, dass sie sich augenblicklich verrieten. Kipling erzählt eine Geschichte über einen Engländer, der in Sibirien in Gefangenhaft gewesen war und der viele Jahre später einen Befehl auf Russisch hörte und weinend auf die Knie fiel.

Ich zittere noch immer, wenn ich die Kette von Jante rasseln höre, und fahre herum wie ein zähnebleckender Köter. So verhalten sich auch die, die noch immer an der Kette liegen, aber sie glauben, dass Menschen sich so verhalten müssen, und sie wissen nichts von der Kette. Viele, die danach streben, Arbeiterdichter genannt zu werden, sind solche Menschen, sie reißen mit Schaum vor dem Mund an der Kette, vor einer leicht verängstigten Zuschauerschar, die zuerst die Kette forschend mustert und danach die Darbietung gelassen genießt.

Es braucht eine grenzenlose Geduld, wenn das Einkommen einer Familie nur für das Existenzminimum reicht. Ein einziger verlorener Wochenlohn oder ein Unfall, und die Familie steckt hoffnungslos in Schulden oder muss hungern.

Einmal, gleich vor Weihnachten, kam Vaters Meister, der Sandnes hieß, zu ihm und war freundlich. Brauchte er nichts im Haushalt, ein wenig Steingut oder so etwas? Doch, Vater meinte, dass es vielleicht an verschiedenen Dingen fehlte. Der Meister schlug nun vor, Mutter solle in den Laden gehen und sich für zehn Kronen Steingut kaufen, und sie solle sagen, die Rechnung sei an Sandnes zu schicken – denn jetzt sei Weihnachten, und die Menschen sollten aneinander denken. Vater bedankte sich, und Mutter war sehr glücklich, sie kleidete sich in ihren Sonntagsstaat und wagte sich zu einem Dankesbesuch zu Sandnes, der eine wegwerfende Handbewegung machte und sich in die Brust warf, es sei schließlich Weihnachten und da solle man auch an die Armen denken. Und meine Mutter, die kam vom Kaufmann zurück und zeigte ihre Schätze vor, und an diesem Abend wurde heftig gefeiert. Das Schönste bewahrte sie bis zum Schluss auf – sie hatte für alles nur acht Kronen ausgegeben, und da musste Sandnes doch begreifen, dass sie wusste, was Anstand ist.

Nach Weihnachten zog Sandnes jede Woche von Vaters Lohn eine Krone ab, bis die acht Kronen bezahlt waren. Das Schändlichste daran war wohl, dass er die Familienfinanzen auf lange Zeit ruinierte. Es wurde eine schwere Rechenaufgabe für Mutter, den Verlust zwei Monate lang gleichmäßig über die Mahlzeiten zu verteilen. Drei Jahre lang benutzte sie die Dinge, die sie von Sandnesens Geld gekauft hatte, nicht.

Vater wusste, dass er keine Rechte hatte. Er würde seine Arbeit verlieren, und Sandnes würde behaupten, wirklich nur für das Geld garantiert zu haben. Sandnes weiß durchaus, was Philanthropie ist, aber wenn die Weihnachtskerzen heruntergebrannt sind, kommt ein grauer Januar, und was ist eigentlich aus dem im Dezember angekündigten Erlöser geworden?

Es ist nicht möglich, heute zu sagen, was Vater gedacht hat, aber ich glaubte nicht, dass er es wagte, diese Niedertracht in vollem Umfang zu sehen, denn dann hätte er wohl kaum seinen Kindern davon erzählt. Ich war acht oder neun