Für Anne

EINE SATIRE VON

CHRISTOPH FROMM

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Originalausgabe

Copyright © 2020 by Primero Verlag GmbH,

Herzogstraße 89, 80796 München

www.primeroverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat:

Sabrina Neidlinger, München

Anne Fessler, München

Korrektorat:

Claudia Graßl, München

Umschlaggestaltung:

Carl Bartel, München

Satz:

Agentur Marina Siegemund, Berlin

www.siegemund-dtp.de

eISBN 978 3981 973 242

Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Mad Max Grohl hat es nicht leicht. Das Schwergewicht unter Deutschlands Drehbuchautoren ist einfach zu gut für seinen Job, wie ihm der geniale Suffproduzent Hans Held immer wieder versichert.

Aber Helds Chef, der souveräne Strippenzieher innerhalb der deutschen Fernsehlandschaft, Konni Roth-Ricart, findet selbst für den von Selbstzweifeln, Intrigen und zahllosen Umschrieben geplagten Grohl eine Lösung, um doch noch den Traum eines jeden Drehbuchautoren in Erfüllung gehen zu lassen: Einmal im Leben anerkannt und geliebt zu werden!

Christoph Fromm wurde am 17. 7. 1958 in Stuttgart, Bad Cannstatt geboren. Er schrieb unter anderem für Dominik Graf die Kinofilme »Treffer«, »Die Katze«, »Spieler«. Für sein Drehbuch »Sierra« erhielt er den Deutschen Drehbuchpreis. Der Dreiteiler »Die Wölfe«, den sein Bruder Friedemann Fromm inszenierte, wurde mit dem International Emmy Award und dem Grimmepreis ausgezeichnet.

2006 gründete er den Primero Verlag. Dort veröffentlichte er die Romane »Die Macht des Geldes«, »Stalingrad – Die Einsamkeit vor dem Sterben« und »Amoklauf im Paradies«.

Was in diesem Buch steht, ist nicht wahr. Unzählige Ereignisse, Gerüchte und nicht zuletzt bösartige Fantasien sind zu einer rein fiktiven Geschichte verwoben worden.

Dies ist eine Satire, die pointiert, übertreibt, teilweise ins Groteske verzerrt.

Handlungen und Personen sind fiktiv, jede Übereinstimmung mit der Realität ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1

IRGENDWANN NACH DEN NULLERJAHREN. Die deutsche Fernsehwelt war noch in Ordnung, mehr oder weniger. Irgendwo vor Acapulco …

Ein strahlend weißes Kreuzfahrtschiff gleitet durch die märchenblaue See. Delphine umrunden es und wachen, gemeinsam mit sorgfältig geschultem Personal, über das Wohl seiner Passagiere. Goldbeknöpfte Stewards reichen kalorienarme Häppchen und ein Heer von Dienstleisterinnen offeriert Wohlfühl- und Verschönerungsmaßnahmen aller Art. Auf der Kommandobrücke sorgt ein graubärtiger, vitaler Kapitän mit markanten Augenfalten samt seinen von Verantwortungsbewusstsein strotzenden Offizieren für eine störungsfreie Idylle.

Dringend bedarf die wertvolle Fracht nachhaltiger Regeneration. Alles, was Rang und Namen im deutschen Fernsehbetrieb hat, tummelt sich nach einem weiteren höchst anstrengenden und erfolgreichen Jahr auf den frisch polierten Planken. Selbstverständlich macht man nicht einfach Urlaub, sondern pflegt Kontakte, spinnt Netzwerke und entwickelt gemeinsame Visionen. Die Chefredakteurin sonnt sich in einem orientalischen Gewand auf dem Achterdeck und befindet sich im unverbindlichen Plausch mit dem Fernsehspielchef über das Potenzial einer neuen Serie zum Thema Wiedervereinigung. Rasch ist man sich einig: Dieses wichtige, epochale Jahrhundertereignis könne gar nicht oft genug erzählt, die Segnungen der gesamtdeutschen Demokratie im Gegensatz zum menschenverachtenden Arbeiter- und Bauernstaat müssten der Bevölkerung immer wieder eindringlich nahegebracht werden. Natürlich müsse es kritisch sein, authentisch, aber selbstredend müsse man auch emotional andocken können. Die Anker in die Herzen der Zuschauer werfen!

Die vielversprechende junge Autorin, die diversen Redaktionen bei ihren zahlreichen, authentischen Krankenhausserien bereits wertvolle Dienste geleistet hat, schaltet sich ein. So etwas würde sie gerne schreiben und mit starken Frauenfiguren kenne sie sich hervorragend aus.

Aus der spiegelglatten See taucht ein Sehrohr auf und richtet sein kaltes Auge direkt auf den Luxusliner und seine angeregt diskutierenden Passagiere. Ein Torpedo verlässt, unbeeindruckt von allen Bemühungen um die Gunst des deutschen Fernsehzuschauers, sein Rohr. Wenige Sekunden später verschwindet der blütenweiße Rumpf samt all seinen ambitionierten Projekten in einem überdimensionalen Feuerball …

Ein entrücktes, um nicht zu sagen seliges, Lächeln umspielte Grohls Mund.

Mehrere Wecker hatten bereits vergeblich geklingelt. Das Telefon wollte abgenommen werden, SMS-Nachrichten drängten sich auf dem Display. Grohl war ein gefragter Mann. Dabei wollte er das gar nicht. Eigentlich wollte er nur schlafen. Endlos schlafen. Das Telefon ließ ihm keine Ruhe.

Mühsam wälzte er hundertdreißig Kilo in die Halbsenkrechte, stieß das Ende von 195 Zentimetern – einen Rundschädel mit beachtlich vorstehender Nase, unterfüttert mit Fünftagebart, behelmt mit mönchischer Frisur – fluchend an ein unter DVD-Hüllen ächzendes Regalbrett und drückte die Empfangstaste. Es war Olaf. Busenfreund, Studienkollege, Mädchen für fast alles.

Du hast einen Termin bei Risotto. Es geht um den Tatort!

Grohl blinzelte durch die schießschartenähnlichen Fenster seines Kellerbüros in einen kalten Märzmorgen und erinnerte sich mühsam. Es war ihm tatsächlich gelungen, innerhalb der letzten fünf Monate eine erste Fassung für ein Tatortdrehbuch aus seinem von unendlich vielen Fehlversuchen gemarterten Hirn zu quetschen. Und das musste jetzt auch noch besprochen werden. Er beruhigte Olaf, der ihn daran erinnerte, dass sie mit der Wohnungsmiete drei und mit der Büromiete fünf Monate im Rückstand waren. Mühsam tastete er sich durch das Chaos aus ausgedruckten Drehbuchseiten, mit Zigarettenkippen gefüllten Getränkeflaschen, halb ausgelöffelten, schimmelpilzblühenden Fertiggerichten, vertrockneten Pizzaresten, Schoko- und DVD-Hüllen zur unbeheizten Toilette. Der Dampf seines Urinstrahls vernebelte ihm gnädigerweise die Sicht auf einen zugemüllten Hinterhof.

Wieso war er letzte Nacht im Büro geblieben? Er liebte Olaf, aber manchmal brauchte er sogar Ruhe vor der Liebe. Obwohl Olaf ihm jetzt bestimmt einen Kaffee gemacht hätte. Olaf kümmerte sich um alles, machte Termine, kaufte ein, putzte sogar zweimal im Jahr die gemeinsame Wohnung. Bereits im Kindergarten hatte er Grohl immer seine Sandschaufel hinterhergetragen. Nur vor Grohls Schlafzimmer, das einem Junkie im Endstadium zur Ehre gereicht hätte, kapitulierte selbst Olafs ansonsten unverbrüchliche Treue. Grohl konnte ziemlich sicher sein, dass Olaf nur wegen ihm die Filmhochschule besucht hatte. Auch dort hatte die beiden, außer ihrer Unzertrennlichkeit, nichts verbunden. Grohl war früh als aus der Form geratenes Genie gehandelt worden, Kommilitonen schlossen nach kurzer Zeit Wetten ab, wie viele Pausen auf Parkbänken sein schokoladegesättigtes Herz benötigte, um den knapp zehnminütigen Weg von seiner Studenten-WG bis zur Filmhochschule zu bewältigen. Olafs dürrer Körper war nur mit Filmtheorien aller Art belastet, die ihm, gemeinsam mit einem bescheidenen Talent, den Weg zu genialen Drehbüchern versperrten. Rasch hatte sich ein Ausweg aus diesem Dilemma gefunden. Olaf fungierte als Grohls Co-Autor, was beinhaltete, dass er Grohls gesamten Alltag organisierte und ansonsten dem Meister in allen weniger anspruchsvollen Drehbuchaufgaben wie Recherche, Orthographie, Druckerpapier einlegen, Computer updaten, Deadlines einhalten, zuarbeitete. Das war anspruchsvoller, als es sich anhörte. Grohl war, was die Organisation von Alltag anging, ein hoffnungsloser Fall. Er brachte es fertig, drei Wochen lang Tag und Nacht im selben karierten Hemd zu verbringen, das man anschließend nur noch verbrennen konnte. Sein Umgang mit Geld war gnadenlos, sodass Olaf nichts Anderes übriggeblieben war, als ihre dünn tröpfelnden Drehbuchgagen mit einem Halbtagsjob als Museumswärter aufzustocken. Wenn ihnen selbst die bescheidensten Grundnahrungsmittel zur Neige gingen, labten sie sich an gemeinsamem Zynismus, den sie hingebungsvoll über die gesamte Branche gossen, bis er wie Zuckerguss über allen Medienereignissen der vergangenen fünf Jahre klebte. Niemand außer Olaf konnte hinreißender erzählen, wie Grohl bei der Premiere eines hochgehypten deutschen Filmwerks der Berliner Schule einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden war, indem er laut schnarchend bereits während der Anfangstitel entschlief. Auf Olaf war Verlass. Grohls Handy, dessen Akku sich bereits wieder dem Ende zuneigte, surrte erneut, während er mit bedenklich niedrigem Zuckerspiegel der Straßenbahn entgegen dämmerte.

Leider hatte er übersehen, dass es Lisa war. Lisa war der Ansicht, sie sei Grohls Freundin, Grohl zweifelte manchmal daran. Zehn Jahre älter als Grohl, drehte sie nach einer schwierigen Kindheit in der Oberpfalz noch schwierigere Experimentalfilme. Missbraucht von ihrem Vater, deswegen geschlagen von ihrer krankhaft eifersüchtigen Mutter, seit Jahrzehnten in einer unaufgelösten, inzestuösen Schleife kreisend, brachte sie die geradezu optimalen Voraussetzungen für eine ambitionierte künstlerische Karriere jenseits des Mainstreams mit. Sie befriedigte Grohl nur oral, was dem angesichts seiner Leibesfülle nicht ungelegen kam. Ihre von der Mutter ins kindliche Gemüt gebrannte Eifersucht war ebenso legendär wie unbegründet und machte selbst vor Olaf keinen Halt. Ansonsten pflegten sie und Grohl ein für beide nicht unanstrengendes Mutter-Sohn-Verhältnis, das sich vor allem in Lisas sehr bestimmender Sorge um Grohls Gesundheit manifestierte.

Stehst du an der Haltestelle? Du hast mir versprochen, du gehst möglichst viel zu Fuß.

Mach ich doch, erwiderte Grohl, während er in die Straßenbahn stieg.

Ich hör doch das Klingeln der Straßenbahn! Ich höre es ganz deutlich!

Grohl ließ sich schwer atmend neben eine Rentnerin samt Hund fallen.

Ich geh neben der Straßenbahn her.

Verzweifelt versuchte er, das Kläffen des Köters mit einem Rest Nougatschokolade zu unterbinden, den er zwischen einigen nicht mehr ganz taufrischen Tempotaschentüchern entdeckt hatte. Lisa begann, Grohl darauf hinzuweisen, wie allergisch sie gegen Lügen sei, Grohl wollte erwidern, da habe sie sich mit einem Drehbuchautoren den optimalen Partner ausgesucht, verwies dann aber nur auf den sich dem Ende zuneigenden Akku seines Handys und legte auf.

Die Rentnerin verbot ihm, ihrem Hund weiter Schokolade jenseits des Verfallsdatums zu geben. Grohl leckte einen kümmerlichen Schokoladenrest von einem der Taschentücher und überflog die erste Seite seines Drehbuchs. Er hatte es in zehn Tagen in Tag- und Nachtarbeit runtergeschrieben, da es angeblich schnellstmöglich gebraucht wurde. Seitdem waren zwei Monate vergangen.

Grohl versuchte sich einzureden, dass sein Manuskript gut war, mit Bestimmtheit wusste er aber nur eines: Er brauchte ganz dringend einen Kaffee. Seine Augen musterten ein letztes Mal erschöpft das muntere Treiben ein- und aussteigender Menschen, dann fielen sie wieder zu.

2

SÜSSE, ENDLOS BLEIERNE SCHWÄRZE. In Grohls Traum gab es eine Bombe, die nach der Explosion in einem brodelnden Meer von Schiffswrackteilen, zerrissenen Liegestühlen und flügellahmen Drehbuchseiten hartnäckig weitertickte. Es war sein Handy, und es war Risottos geschäftsmäßige Freundlichkeit ausstrahlende Stimme: Wo bist du? Wir warten bereits alle auf dich.

Grohl blinzelte aus der Straßenbahn auf museale Mauerreste und spielende Kinder. Die Zeit, in der das Land und seine Hauptstadt noch von einer Mauer durchtrennt wurden, schien genauso weit weg wie die Idylle und die blühenden Landschaften, die man dem Volk nach der Wiedervereinigung versprochen hatte. Die Rentnerin war samt Hund verschwunden. Er war fünf Stationen zu weit gefahren und bereits eine Viertelstunde zu spät. Grohl versicherte, in wenigen Minuten vor Ort zu sein. Das Taxi zur Produktionsfirma R & R kostete ihn 24,90 Euro. R & R stand für Roth und Ricart. Ihr alleiniger Besitzer, Konstantin – isch bin der Konni – vertrat die Ansicht, dass man sich seinen Doppelnamen nicht nachhaltig genug einprägen konnte. Die Unabhängigkeit suggerierende Namenwahl kaschierte für Nichteingeweihte, dass Konnis Firma vor einem halben Jahr das Schicksal nahezu jeder deutschen Filmfirma ereilt hatte. R & R hatte seine Unabhängigkeit allerdings nicht einer Liaison mit einem Sender geopfert und sich zur hundertprozentigen Tochterfirma degradieren lassen, Konni hatte, wie er betonte, weiterhin den Herausforderungen eines freien Marktes nicht widerstehen können und seine Firma mit einem international agierenden Medienkonzern vermählt, von dessen Vorstand er vor vier Wochen das erste Mal beidseitig gegrillt worden war. Obwohl Roth und Ricart auch dieses Jahr wieder viel Geld bei sogenannten Eventmovies verschwendet hatte, sahnte Konni mit drittklassigen Serien wieder ab und überstand so leicht angesengt diese unsanfte Prozedur, bei der hochkarätige Wirtschaftsanwälte mit dem Kunstverständnis von Bulldoggen als Grillmeister fungierten. Konni entstammte einer Genfer Hoteliersfamilie, den Vornamen Konstantin hatte seine dem Züricher Geldadel entstammende Mutter beigesteuert, Ricart hatte er von seinem früh verstorbenen Vater geerbt, einem Mann, der viele Talente besessen und sie ebenso leichtfertig verschleudert hatte. Das würde Konni nicht passieren. Immerhin hatte er dank seines Vaters und des Hotelbetriebs von klein auf das gewinnbringende Umschmeicheln wichtiger Persönlichkeiten inhaliert.

Über einen seiner Standardsprüche – isch heiße Roth und bin schwarz – wurde nach zehn Uhr abends bereitwillig an businessträchtigen Hotelbars gelacht, Stewardessen aller Interkontinentalflüge kannten seinen Namen. Wie ein Pianist seine Fingerübungen beherrschte er die deutsche Film- und Fernsehlandschaft mit seinem charmant sprühenden, französischen Akzent, den er je nach Gesprächslage ein- und ausschalten konnte, Konni war ein Kommunikationsgenie. Das konnte man von Risotto Frankie, einem von Konnis zahlreichen Lakaien, nicht unbedingt behaupten, auch wenn er alles tat, um dem Maestro nachzueifern. Grohl hatte ihm seinen Spitznamen verpasst, nachdem Frankie ihm erzählt hatte, dass das Highlight seiner Woche darin bestand, mit seiner Modelmaßfreundin sonntagabends bei einem gepflegten Weißweinrisotto Tatort zu gucken. Sein Gesicht ähnelte in Farbe und Beschaffenheit durchaus einem etwas zu lange durchgekochten Reiskorn.

Mit einem betont herzlichen Lachen – Mensch, klasse, dass du hergefunden hast – gefolgt von einem ins Ohr geraunten – kannst du nicht wenigstens einmal pünktlich sein, die Rusch wollte schon wieder gehen – schloss er Grohl in die Arme, um anschließend unauffällig einen Schokoladenfleck, den Grohls strapaziertes Hemd auf seinem Leinenjackett hinterlassen hatte, zu beseitigen.

Nachwuchsredakteurin Marcella Rusch empfing Grohl ebenfalls mit offenen Armen, schwarzer Lesebrille und beidbäckigen Küsschen. Sie hatte aufgrund guter Verbindungen vor einem Jahr ein Volontariat beim Sender abgreifen können und sich aufgrund noch besserer Verbindungen als ihre fünf Konkurrentinnen vor sechs Monaten eine Halbtagsstelle als Redakteurin unter den Nagel gerissen. Ihre deutsch-brasilianischen Wurzeln verliehen ihr ein Aussehen, das ältere Kollegen dazu verleitete, sich in sambaerotischen Tagträumen zu verlieren. Angeblich um den Kontakt zur Basis nicht zu vernachlässigen, war sie bevorzugt mit Beleuchtern und Bühnenleuten liiert, man konnte sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass diese praktisch veranlagten Männer sich ihr in allen wichtigen Bereichen des Lebens bedingungslos unterordneten, eine Grundprämisse für eine funktionierende Beziehung mit Marcella Rusch.

Grohl, der sich am Personalautomaten im Flur einen scheußlich schmeckenden Pulverkaffee gezogen hatte – Konni versuchte gerade, die Belegschaft auf Mineralwasser umzupolen, und schritt als leuchtendes Beispiel mit esoterischen Gemeinplätzen seines Hausheilpraktikers voran –, ließ sich schwer in einen der orthopädisch ausgeklügelten Bürostühle fallen, der unter seinem Gewicht jegliche Feinabstimmung verlor und nur noch ums spontane Überleben kämpfte.

Okay, reden wir übers Törtchen!

Da die Tatorte seiner Erfahrung nach immer weichgespült wurden, nannte Grohl die Reihe mehr oder weniger liebevoll Tatörtchen, besser Törtchen.

Risotto blieb, wie so oft, Grohls hintersinniger Humor verborgen.

Du denkst wirklich nur ans Essen!

Grohl sah sich gezwungen, sein Wortspiel aufzuklären, war aber glücklicherweise bereits wach genug, um die Qualitätszusammenhänge wegzulassen. Jungredakteurin Rusch fand Törtchen süß und rückte die Lesebrille zurecht, die sie nicht aus medizinischen Gründen trug, sondern um ihrem Pennälergesicht einen etwas intellektuelleren Anstrich zu verleihen. Sie verkündete mit heiligem Ernst, dass sie die gewaltige Verantwortung für das neue, große, öffentlichrechtliche Werk heute ganz alleine schultern müsse, da Altredakteurin Neumann leider kurzfristig erkrankt sei, was Grohl sofort als durchsichtige Beschreibung für einen Alkoholexzess entlarvte, während die Rusch flötete, die erste Fassung sei ja schon überaus vielversprechend, man müsse dem Törtchen, um im Bild zu bleiben, nur noch ein Sahnehäubchen verpassen. Mit geheimnisvollem Lächeln zog sie einige Seiten Papier aus ihrer zu Unrecht harmlos wirkenden Beutelhandtasche und breitete sie so liebevoll wie ein Geburtstagspräsent vor Grohl auf dem Tisch aus. Gleichzeitig erschien auf ihrem nagelneuen chinesischen Tablet – das glaubt ihr gar nicht, wie günstig das war – dieselbe Liste mit den 153 redaktionellen Anmerkungen. Grohl überschlug im Stillen, dass die Besprechung dieser Punkte wenigstens 24 Stunden Zeit in Anspruch nehmen würde, und verfluchte die Unpässlichkeit der Altredakteurin, deren alkoholstrapazierte Leber Besprechungszeiten von maximal zwei Stunden und sechs Weißbierchen gestattete und deren Einwände man größtenteils mit Einverständnis suggerierenden Kommentaren wie, is ne Möglichkeit, kann man machen, muss ich drüber nachdenken, parieren konnte. Die Rusch hingegen forderte nach drei Schlucken Teinacher Medium konstruktive Vorschläge und Risotto ließ sich bereits von ihren ersten Stichpunkten mit weit gespreizten Beinen flachlegen und lechzte nach weiterer Befriedigung durch redaktionelle Kritik.

Grohl sah sich genötigt, ein schüchternes, du fandest es doch gut, in den Raum zu werfen, das Risotto mit einem strahlenden, du weißt doch, das Bessere ist der Feind des Guten, retournierte.

Grohl erinnerte sich an einen Dozenten an der Filmhochschule, der jede Drehbuchbesprechung mit dem Satz, ich finde alles gut, … bis aufs Buch, begonnen hatte. Dieser herzerfrischende Zynismus war der Rusch und Risotto völlig fremd. Mit geradezu religiösem, inbrünstigem Eifer zerfledderten sie Grohls Werk, hinterließen eine breite Spur moralinsaurer Zerstörung und glaubten dabei allen Ernstes, ihre hanebüchenen, sich fundamental widersprechenden Anmerkungen trügen zu einer kongenialen Verbesserung des vorliegenden Manuskripts bei.

Als Grohl bei Punkt 27, der auf einen Komplettumschrieb des gesamten Buchs hinauslief, nochmal in den mittlerweile vor Kreativität sprühenden Raum zu werfen wagte, Risotto habe das gestern noch völlig anders gesehen, erhielt er nur einen erstaunten Blick, gefolgt von dem bemerkenswerten Satz: Ich hab doch das Recht, meine Meinung mal zu ändern.

Grohl dachte an Olaf und seine zehn Gebote. Gebot Nummer drei lautete: Eine Meinung ist für einen Producer wie ein Hemd, das er mindestens dreimal täglich wechselt.

Mit stoischem Lächeln verfolgte er, wie aus seiner genialen Szene durch die Befindlichkeit der zuständigen Redakteurin innerhalb weniger Minuten eine ganz unfilmische wurde, wie seine eleganten Subtextdialoge, die er sich hier ausnahmsweise noch einmal gegönnt hatte, durch die Rusch in platteste Ansage verwandelt wurden, wie Risottos hilfreich gemeinte Äußerungen sein hervorragendes Buch zu einem stark bearbeitungswürdigen degradierten – in den allermeisten Fällen waren seine ersten Drehbuchfassungen die besten. Die Hauptarbeit des Autors bestand darin, durch geschicktes Taktieren bis zum Dreh möglichst wenig Qualität zu verlieren. Manche Autoren lamentierten, sie könnten froh sein, wenn zwanzig Prozent der ursprünglichen Qualität gedreht würden, ab fünf Prozent müsse man über ein Pseudonym nachdenken, was allerdings in den meisten Fällen die Eitelkeit der Chefetage so empfindlich störe, dass es ausgiebige Beschäftigungslosigkeit nach sich zöge. Zu diesen traurigen Gestalten zählte Grohl nicht. Er war stolz, zu den Auserwählten zu gehören, die mindestens zu dreißig Prozent verfilmt wurden.

Auf dem Flur waren mittlerweile servile Stimmen zu hören, durch die ehrerbietig aufgerissene Tür wurde die Ankunft ihrer Majestät, Annette Selmau, Tatorthauptkommissarin, Millionärsgattin, Feministin, Schauspielerin aus Berufung, Leidenschaft und Geltungsdrang, angekündigt.

In sportliche Weißtöne gekleidet eilte sie in den Raum, begrüßte Rusch und Risotto mit Küsschen, für Grohl tat es ein vom Personal Trainer optimierter Händedruck. Leider hatte sie nur zehn Minuten Zeit, ehe ein wichtiger Pressetermin ihre ungeteilte Aufmerksamkeit erforderte, und leider hatte sie auch keine Zeit gefunden, Grohls Buch zu lesen, aber Grohl könne ja pitchen.

Risotto sah ihn an wie den Weihnachtsmann, der die Geschenke verteilen soll. Grohl setzte an und wurde nach exakt sieben Wörtern unterbrochen: Boring! Very much boring!

Um ihre internationale Bedeutung zu unterstreichen – angeblich waberten bereits Angebote aus Hollywood durch ihre Agentur –, gefiel sich die deutsche Fernsehdiva im üppigen Gebrauch von Anglizismen. Im Klartext ging es weiter: Schmutzige, klauende Kinder! Dafür bin ich heute Morgen um acht in den Flieger gestiegen? Ihr habt sie ja nicht mehr alle!

Grohl versuchte, seinen Sarkasmus nicht allzu offensichtlich zu äußern: Ja, und der Clou ist, diese Roma-Kinder klauen nicht nur, die müssen ihren Arsch vermieten.

Das flasht mich nicht, emotional.

Ihre Hygienevorstellungen machten Annette schwer zu schaffen.

Klauende, schmutzige Kinder! Die sind mir so unsympathisch, da ist mir dann völlig egal, wem die was hinhalten.

Risottos handgemahlenen Espresso mit zartbitterem Abgang lehnte sie aus ethischen Gründen ab: Ist der auch safe Fairtrade? Ich esse und trinke nur noch Fairtrade!

Statt Risottos sündhaft teuren Espressos bekam sie nach der Aufwärmgymnastik eines Produktionsfahrers biologischen Kaffee zu einem garantiert fairen Spitzenpreis aus einem acht Kilometer entfernten Dritte-Welt-Laden, in Rekordzeit und unter Einsatz eines SUV-Firmenwagens dank kilometerlanger Staus und entsprechender Umwege mit einem Gesamtstreckenverbrauch von 12,5 Liter Diesel. Nach dem ersten Schluck entspannte sich ihr von Einschaltquoten und ständigem Erfolgsdruck geplagtes Gemüt.

Kinder finde sie ja prinzipiell gut, aber sie wolle ein Adoptivkind. Es könne schon krank sein, aber eher sowas Körperliches … nichts Ekliges natürlich, keine Kinderkrebsstation … aber so ne Kurzsichtigkeit. Das könne ganz schlimm sein für ein Kind.

Ich brauchte auch ne Brille, als ich sechs war, jetzt hat Gottseidank diese neue Lasertechnik bei mir funktioniert …

Voll spontanem Selbstmitleid wischte sie sich über die tiefseeblauen, leicht basedowschen Augen, die die Zielgruppe deutscher Mittelstandsmänner und Frauen jenseits der fünfzig so sehr an ihr schätzten. Ihr blonder Haarkranz, der an die Dreißigerjahre erinnerte und gerade wieder in Mode war – natürlich ohne jeglichen politischen Zusammenhang, Deutschland stand so fest in den Betonpfeilern seiner Demokratie wie noch nie –, wippte kreativ. Sie walzte Grohls Drehbuch wie ein blondbereifter Bulldozer in maximal drei Minuten nieder. Mit größter Selbstverständlichkeit stülpte sie ihr persönliches Schicksal über das Drehbuch. Ihre kleinbürgerliche Biografie passte auf ein Roma-Kind wie eine deutsche Vorabendserie in den Slum von Bukarest. Grohl klammerte sich wie ein Ertrinkender an seinen Pappbecher mit Automatenkaffee.

Wir könnten doch Fahrrad fahren, ich und mein Adoptivkind – Tandemfahrrad. Oder wir spielen Fußball!

Begeistert über ihren Vorschlag klatschte sie in die Hände.

Wir könnten zufällig den Nationaltorwart treffen und ein Benefiztorwandschießen für rumänische Kinder veranstalten!

Sie probierte einen weiteren Schluck Kaffee.

Ist der auch garantiert Fairtrade? Irgendwie schmeckt er fast zu gut dafür.

Grohl konnte sich nicht länger zurückhalten.

Den haben äthiopische Bürgerkriegskinder mit handgeschnitzten Prothesen gepflückt.

Risotto blickte ihn an, als habe Grohl ihm gerade seine Modelleisenbahn zerstört.

Die Stimme der Selmau bekam einen schrillen Ton, den sie vor ihrem Publikum wohlweislich vermied: Ich ertrage seinen Zynismus nicht. Ich ertrage ihn heute nicht!

Scheinbar zufällig, in Wirklichkeit von Risotto mit modernster geheimer Kommunikationstechnik gerufen, betrat Konni unter deutlicher Zurschaustellung seiner kürzlich optimierten Jacketkronen den Raum.

Mein Superstar!

Die Selmau ignorierte trotzig Konnis ausgebreitete Arme.

So brauchst du mir heute nicht kommen! Ich glaube, du weißt gar nicht, was in deiner Firma vor sich geht.

Vor Konnis Armen gab es kein Entrinnen.

Isch weiß alles, Schätzelschen. Komm her.

Doppelküsschen. Konnis graumelierter Pferdeschwanz, der jede Woche von einem hochkarätigen Coiffeur auf exakt die Länge zurechtgestutzt wurde, die Konnis Image des kreativen Produzenten am vorteilhaftesten zur Geltung brachte, wippte leicht.

Was hast du auf dem Herzen?

Ich tu alles für dich, Konni, das weißt du! Ich hab sogar den schrecklichen Biker-Tatort von diesem zuckersüchtigen Monster für dich gemacht.

Grohl blickte sich um, als könne nicht er gemeint sein. Die Selmau lief mittlerweile auf Hochtouren.

… Motorradführerschein, Rumprügeln, und jetzt soll ich mich auch noch an pädophilen Zigeunerkindern abarbeiten! Ihr habt doch alle einen Sprung in der Schüssel!

Sie war so aufgewühlt, dass sie sogar ihre sorgfältigst antrainierte politische Korrektheit verließ. Konni warf gespielte Empörung in den Raum.

Frankie, was machst du mit meiner Lieblingsschauspielerin?

Die Selmau unterbrach Risottos gestammelte Entschuldigungsversuche so rigoros wie ihre Tatortkommissare den selbstmitleidigen Hartz IV-Empfänger im Kreuzverhör.

Wieso schreibt Donald nicht?

Donald war der amerikanische Erfolgsautor, den alle wie einen Guru verehrten.

Du weißt doch, Donald schreibt bereits den Bankenmehrteiler für disch.

Konni schickte ein strahlendes Lächeln in die Runde.

Isch kenne alle deine Konkurrenzprojekte. Vor allem die mit Wolfi Busse.

Die Selmau touchierte neckisch seinen Oberarm.

Ach du! Tu mir den Gefallen und rede mit Donald. Ich muss da endlich mal wieder richtig sympathisch rüberkommen …

Grohl malte sich genüsslich eine blondgelockte, sympathische Investmentbankerin zur Hauptsendezeit aus. Die Selmau bestrafte sein hintergründiges Lächeln.

Dieser Autor kann doch nix außer Kuchen essen! Das nächste Drehbuch schreibe ich selber.

Du hast carte blanche, Schätzelschen, aber die Kommissarin musst du mir machen, dann hab isch nächstes Jahr die Rolle für disch.

Konni wartete, bis die Selmau vor Erwartung anfing zu schlucken.

Leni Riefenstahl!

Anni war enttäuscht.

Die alte Nazibraut? Die will doch keiner sehen.

Das siehst du zu eindimensional. Das war eine hochbegabte Frau.

Charmanter Augenaufschlag.

Selbst der Führer war verliebt in sie.

Echt?

Ja. Und sie hat ihre Stellung benützt, um sisch für Juden und Roma-Kinder einzusetzen.

Die Selmau witterte auf Anhieb das emotionale Potenzial.

Das hört sich ja spannend an …

Konni blinzelte Grohl vielsagend zu.

Sie hat alles getan, um möglichst viele Roma-Kinder zu retten, ehrlisch.

Deutschlands beliebteste Fernsehkommissarin verfiel wie auf Knopfdruck in den talkshowtauglichen Mitfühlmodus.

All diese furchtbaren Schicksale – das geht einem immer wieder zu Herzen.

Grohl war sich ziemlich sicher, irgendwo gelesen zu haben, dass die Riefenstahl für einen ihrer Filme Roma als Statisten benutzt und anschließend keinen Finger gerührt hatte, um sie vor der Gaskammer zu bewahren. Er malte sich die Szene in Konnis Film aus. Eine schluchzende Riefenstahl, die, nachdem sie vergeblich versucht hatte, »ihre Zigeunerkinder« mit einer herzzerreißenden Ansprache beim Führer zu retten – natürlich nicht unter Einsatz ihrer körperlichen Reize, denn das hätte ja die Hauptfigur beschädigt, eine öffentlich-rechtliche Hauptfigur schläft nicht mit dem Führer –, vor einer günstig postierten Marienstatue auf die Knie fiel und schmerzerfüllt bis in die Zehenspitzen ausstieß: Ich hätte mehr tun müssen!

Konni schützte sie mit seinen allumfassenden Armen vor weiteren unbotmäßigen Reaktionen Grohls und bugsierte sie zur Tür. Die Selmau konnte ihre Erfolgsgeilheit nur unzureichend hinter Bescheidenheit verbergen: Wenn ich euch bei der Beantwortung schauspielspezifischer Fragen irgendwie helfen kann. Für die Riefenstahl lass ich sogar meinen Flieger sausen …

Konni nickte gnädig. Er und seine Topschauspielerin entschwanden in schönster, fotografengerechter Eintracht, die Rusch witterte ebenfalls mediale Aufmerksamkeit und folgte in ihrem Kielwasser. Inhaltlich war plötzlich alles gesagt.

Aus dem Nebenraum hörte Grohl Konnis Stimme: Claudia, hast du mir schon für Juni auf der »Aurora« gebucht?

Die »Aurora« war das reale Pendant zu Grohls Albtraum. Das Kreuzfahrtschiff, auf dem sich einmal im Jahr die Chefetage aller Sender zum kreativen Austausch einfand. Konnis Juniorproducerin Claudia sagte etwas Undeutliches, worauf Konnis Stimme ungehalten wurde: Isch will dieselbe Suite wie das letzte Mal, aber mit neuem Teppischfußboden.

Kurzes, meckerndes Lachen.

Den alten hab isch etwas versaut.

Die Selmau stimmte in Konnis Gelächter ein.

Risotto schloss die Tür mit einem leise schmatzenden Laut.

Grohl leerte mit einem Seufzer der Erleichterung den letzten Rest von Annis Fairtrade-Kaffee. Der schmeckte in der Tat ausgezeichnet.

Wer schreibt jetzt eigentlich den Riefenstahlstoff?

Risotto warf ihm einen ungnädigen Blick zu. Er hatte bei der Besprechung nicht gut ausgesehen, Konnis Strafgericht würde über ihn kommen und das nahm er Grohl übel.

Du nicht … komm mal ausm Quark. Biet mir was Geiles an.

Hab ich doch! Die Neumann findets gut. Wieso hat diese dumme Jungtusse hier plötzlich das große Sagen?

Vorsicht Grohl! Frauenfeindliche Äußerungen sind – wie immer, wenn er etwas von grundsätzlicher Bedeutung zu sagen hatte, begann Risotto zu singen – out of time!

Er fand zur Sprechstimme zurück.

Mal ehrlich! Diese Pädophilennummer, viel zu dirty! Wir sprechen von Annette Selmau. Unserer keimfreien Millionärsfrau!

Grohl fragte sich, warum Annette Selmaus Vermögensverhältnisse zwar intern dauernd angesprochen, aber noch nie in einem öffentlichen Artikel thematisiert worden waren. Wahrscheinlich sorgte Annis Gatte, ein windiger Investmentberater, nur bei Berücksichtigung bestimmter Tabus für die ganzseitigen Anzeigenformate seiner zahlungskräftigen Kundschaft in Deutschlands Medienarena. Risotto unterbrach Grohls Gedankengänge mit einem neuen Highlight.

Kleine Kinder, die arschgefickt werden, das ist doch eklig. Selbst wenns Zigeunerkinder sind.

Er leckte sich kurz über die schlangengleich geschwungenen Lippen, als fände er den eben geäußerten Rassismus so delikat wie einen erlesenen Schluck Weißwein. Grohl wusste, er tat ihm Unrecht. Risotto war sich des Inhalts des eben Gesagten ebenso wenig bewusst wie all der anderen Lügen und Halbwahrheiten, die er während der letzten zwanzig Minuten abgesondert hatte. Er genoss, wie die meisten seiner Kollegen, hemmungslos alle Vorteile einer selektiven Amnesie. Alles, was unangenehm war oder ihm nicht zum Vorteil gereichte, wurde konsequent ausgeblendet. Jetzt begann er, dramaturgisch zu denken – das Schlimmste, was Grohl passieren konnte.

Wir brauchen was Einfaches, Archaisches … einen Banküberfall.

Wer ist denn heute noch so bescheuert und überfällt ne Bank?

Viele. Mehr als du denkst.

In ner Bank is nix mehr drin. Zeitschlösser …

Is doch egal.

Risotto verkündete die nächste Zeile wieder singend: Wir machen Fiction!

Grohl wiegte den schweren Schädel.

Ganz neu ist die Idee nicht.

Da muss man eben was Besonderes draus machen. Den emotionalen Zugang schaffen. Hast du an der Filmhochschule nicht aufgepasst?

Grohl lächelte gequält. Er fühlte sich zu schwach, um Risottos weitere Gedankengänge aufzuhalten. Die Katastrophe nahm ihren unvermeidlichen Lauf.

Risotto entwickelte in haarsträubender Geschwindigkeit die Idee von einem Bankräuber, der den Überfall nur machte, um seinem Kind die überlebensnotwendige Herzklappenoperation bezahlen zu können.

Sein Eifer schnürte Grohl die Kehle zu.

Der Böse soll nicht nur böse sein, verstehst du?! Das hat übrigens Joseph gesagt …

Er sprach den Namen betont Englisch aus. Bei Joseph handelte es sich um einen der amerikanischen Drehbuchgurus. Grohl und sein Partner Olaf hatten die These aufgestellt, dass diese Menschen von der amerikanischen Filmindustrie bezahlt wurden, um die Deutschen bis zum Jüngsten Tag von Qualität fernzuhalten. Wenn es ein Plan war, so war er in vollem Umfang aufgegangen.

Grohl seufzte schicksalsergeben.

Na dann ist das Buch ja so gut wie fertig.

Du sagst es!

Risotto fand umgehend zu seiner guten Laune zurück.

Vielleicht können wir sogar das Benefiztorwandschießen für das herzkranke Kind einbauen. Konni hat gute Connections zu Jogi …

Risotto überlegte, wie er seinen kreativen Schub für einen kleinen Karrieresprung innerhalb der Firma nutzen könnte.

Eigentlich sollte ich deine Gage kriegen.

Seinem Lächeln fehlte noch der vollendete Charme seines Chefs.

Denk an die Deadline!

Grohl ging, beladen mit der Idee einer kinderliebenden Kommissarin und eines emotional aufgeladenen Banküberfalls, nach Hause. Risottos Idee bedeutete einen Komplettumschrieb des Buchs in zehn Tagen. Grohl versorgte sich mit 23 Schokoriegeln und 13 Litern Cola Light.

3

DIE HEREINBRECHENDE NACHT, von deren Schönheit sie nichts wahrnahmen, fand Grohl liegend auf einer durchgebrochenen samtroten Couch, deren Zustand dem letzten, sechs Monate zurückliegenden Heimspielsieg seines Leid- und Magenvereins Kickers Offenbach geschuldet war, den Grohl etwas zu akrobatisch gefeiert hatte, während Olaf, sitzend in schwarzblauem Licht, die spärlich fließenden Drehbuchideen in den Computer hämmerte, die er seinem Meister mit reichlich Süßigkeiten entlockte. Zunächst lief nicht viel, obwohl Grohl seine Magenwände mit kalorienreichen Gummigeschossen aller Art bombardierte.

Einziges Highlight einer weiteren düsteren Drehbuchnacht waren ihre Improvisationen über Konni und Risotto. Ihre erniedrigte, gepeinigte Fantasie suchte Freiräume, indem sie Frankie zum bisexuellen Lustsklaven von Konni degradierte. Am meisten Spaß machte ihnen Konnis französischer Akzent, den beide perfekt beherrschten.

Sie überlegten kurz, die beiden als schwules Mitarbeiterpärchen der Kommissarin unterzujubeln – wenn der Frankie mir öffentlisch-reschtlisch ein blasen darf, hast du carte blanche, Schätzelschen –, verwarfen den Gedanken aber wieder, da die Selmau mit Sicherheit keine homosexuellen Kollegen neben sich dulden würde. (Wie sollen die sich in mich verlieben?)

Alle männlichen Kollegen mussten selbstverständlich latent in die strahlende Tatortkommissarin verliebt sein, die wie ein asexueller Engel über den zwischengeschlechtlichen Niederungen schwebte. Sichtbaren Geschlechtsverkehr hatten die Bösen oder die Opfer, die Guten kuschelten elliptisch oder waren traumatisiert und taten vor allem ihre staatsbürgerliche Pflicht.

Grohl amüsierte Olaf mit einem gesellschaftlichen Ereignis, das sich angeblich in Konnis Achtzimmer-Penthousewohnung zugetragen hatte. Alle schwachsinnigen Kochsendungen waren kürzlich durch die Idee einer Überraschungs-Promi-Kochsendung getoppt worden und natürlich durfte Konni als Koch dort nicht fehlen. Da Konni sich nicht einmal selbst ein Spiegelei zubereiten konnte, hatte er über Risotto einen Fünfsternekoch engagieren lassen, der ein kleines, delikates Mahl für Konnis Gäste und die Kameras des Fernsehteams zubereitete und der von Risotto zum Hinterausgang rausbefördert wurde, während der Maestro mit strahlendem Lächeln angeblich völlig überrumpelt und live seine Gäste empfing. Die Selmau und ähnliche Topschauspieler wie Aki Horn und Sascha Dreikamp kosteten Konnis Horsd’œuvres mit einer Begeisterung, mit der die ersten Christen das Abendmahl empfangen haben mochten: Konni, das ist ein kulinarisches Wunder, wie schaffst du das alles bloß so schnell?

Bescheiden neigte der Maestro sein Haupt.

Wenn isch die Zeit hab, brutzel isch mir gerne was.

Dabei hab isch die tollsten Ideen. Kochen kann sowas von kreativ sein, ehrlisch …

Olaf war sich nie ganz sicher, ob Grohl diese Details aus Konnis Leben tatsächlich über verschlungene Wege in Erfahrung gebracht oder schlicht erfunden hatte, er vermutete Letzteres und bewunderte seinen Freund für dessen ausufernde Fantasie, die nur wieder einmal in die richtigen Bahnen gelenkt werden musste, was er um drei Uhr morgens mit Spiegeleiern, Speck und literweise Kaffee versuchte. Nach dem fünften weggedrückten Spiegelei fanden in Grohls Hirn tatsächlich die bisher sinnlos herumliegenden Drehbuchideen zu einer ersten Verknüpfung: Man könne das Adoptivkind der Kommissarin und die herzkranke Tochter des Bankräubers zu einer Figur verschmelzen. Olaf fand, da lag eine Lovestory in der Luft. Grohl verteilte etwas heiße Butter in seinem Dreitagebart.

Nein, sie darf keinen Bankräuber bumsen. Wir haben es hier mit einer moralisch integren Hauptfigur des öffentlichrechtlichen Fernsehens zu tun.

Olaf gab sich nicht so leicht geschlagen.

Natürlich erst, nachdem sie ihn geschnappt hat und er im Knast sitzt und Postkarten für behinderte Kinder malt.

Grohl grinste hinterhältig.

Nein! Er ist selbst behindert! Sie hat ihm die Hand weggeschossen und jetzt lernt er, mit den Zehen zu malen.

Grohl, keine Krüppel! Du weißt, welchen Ärger wir mit der Neumann hatten.

Gemeinsam intonierten sie Gebot Nummer vier: Behinderte im Hauptabendprogramm sind schwierig!

Grohl hielt ihre Überlegungen für einen Witz, aber da ihnen nichts Besseres einfiel, bestand Olaf, nachdem er Frühstücksbrötchen geholt hatte, auf einer Ausführung ihres bisherigen Brainstormings. Grohl wurde auch ohne weitere Schokoriegel schlecht. Mit von Spiegeleiern und Süßigkeiten geschmierter Stimme diktierte er Olaf die schwachsinnigen Dialoge.

Zu Beginn seiner Laufbahn hatte er ausschließlich indirekte Dialoge geschrieben, versucht, die Gefühle zwischen die Zeilen zu legen. Nachdem er in wenigstens zwanzig Drehbuchbesprechungen gefragt worden war, aber warum sagen sie es sich nicht, wenn sie sich lieben, hatte er beschlossen, alles immer schön direkt aufs Papier zu klatschen, die gesamte Schmonzette: angesagte Emotion, Selbstdefinitionstiraden, Resümees, die auch dem dümmsten Bierholer die Handlung noch einmal erklärten. Grohl erinnerte sich immer wieder gerne an Konnis Gesetz Nummer sechs: Es muss auch der RTL-Zuschauer mit Schulabbruch verstehen!

Er hatte vergessen hinzuzufügen, dass auch der BWL-Student nicht über mehr Kunstverstand verfügte. Die Quotengeilheit aller Sender hatte vor allem zu einem geführt: Es gab keinerlei Qualitätsunterschied mehr zwischen Öffentlich-Rechtlichen und Privaten.

Befeuert wurde Grohls sich langsam ausbreitende Depression, begleitet von einem hinterhältigen Sodbrennen, von fünf Absagen, die innerhalb der nächsten zwei Stunden per E-Mail eintrudelten: Ein Freitagabendstoff zum Thema Flitterwochen war inhaltlich noch am leichtesten zu verkraften.

Olaf hatte ausgiebig in einigen Nobeldiskotheken recherchiert. Da die Auftraggeber längst über keine Rechercheetats mehr verfügten, hatte das ihr Budget einer weiteren Belastungsprobe ausgesetzt, aber selbst Grohl hatte an der vulgären Verquickung von Gefühlen und Finanzen, die dort hemmungslos stattfand, so viel Gefallen gefunden, dass er seinen schweren Arsch dafür ausnahmsweise von der Couch hochhievte.

Die Quittung für so viel Wirklichkeit kam auf der Stelle. Ihr Buch wurde von der verantwortlichen Redakteurin als eine Verächtlichmachung der Institution Ehe gebrandmarkt. Als die junge Producerin mit beinahe an Selbstvernichtung grenzendem Mut dagegen hielt und einwandfreie Beweise in Form von Interviews für die Vorgehensweise einer Generation junger Szeneschnallen vorlegte, die sich darauf spezialisiert hatten, reiche Typen, paralysiert von Ed Sheeran und Helene Fischer, abzugreifen, um sich nach zwei Monaten gewinnbringend wieder scheiden zu lassen, konterte die Redakteurin kühl: Wenn das die Wirklichkeit sei, interessiere sie das nicht. Und den Zuschauer im Übrigen auch nicht. Sie ließ den Autoren ausrichten, sie seien Opfer ihrer Recherche geworden. Nachdem Grohl und Olaf das Loch beziffert hatten, das ihre Nachforschungen in die Haushaltskasse gerissen hatte, mussten sie ihr zustimmen.

Die zweite Absage war ein Blattschuss für Grohl. Hinter allem Zynismus hatte er im hintersten Winkel seines mit Zuckerersatzstoffen und Drehbuchmeetings geschredderten Herzens ein Projekt versteckt, für das er noch wirklich brannte: Einen Kinofilm über Anita Berber, die erste deutsche Nackttänzerin im Berlin der Zwanzigerjahre. Grohl fühlte sich dieser ebenso genialen wie destruktiven, kokainbeladenen Figur aus vielerlei Gründen verbunden. Die Eleganz ihrer schlangengleichen Tänze weckte in ihm eine tiefe Sehnsucht. Gerade weil sein Körper solche Bewegungsvielfalt ausschloss, liebte er Anita mit platonischer aber nichtsdestoweniger sinnlicher Leidenschaft.

Es hatten gleich zwei Sender auf sein Herzblutprojekt reagiert. Serienchef Matthias Seidel, im Norden der Republik beheimatet, ließ ihm mit hanseatischer Direktheit ausrichten, eine derart widerliche Figur werde es im deutschen Fernsehen selbst im Spätprogramm nur über seine Leiche geben. Es war ein denkbar schwacher Trost, dass Fernsehspielchef Siegbert Ellen vom mitteldeutschen Konkurrenzsender im Pluralis Majestatis verkünden ließ: Wir hätten dem Stoff durchaus nähertreten können, aber da bereits ein Stoff über die Brechtinterpretin Lotte Lenya im Hause favorisiert wird, können wir leider nur unsere Hochachtung vor den Autoren zum Ausdruck bringen.

Da Seidel und Ellen sich voller Inbrunst hassten, war dieses Lob ebenso vergiftet wie bedeutungslos.

Grohl, der sich gerade einen weiteren Kaffee geholt hatte, taumelte wie ein angeschlagener Boxer zur Couch, wo Olaf ihn mit einigen Donuts aufpäppelte, wobei er weitere E-Mails unauffällig zu löschen versuchte. Grohl durchschaute den Zweck seiner Erste-Hilfe-Maßnahmen und verlangte nach der vollen Dröhnung. Als Olaf sich weigerte, schob er ihn beiseite und klemmte sich selbst an den Schirm. Mit schiefem, starrem Lächeln betrachtete er die dritte Absage: Ein Kinofilm über eine Kindersoldatin, die auf einen Bundeswehrangehörigen im afrikanischen Kriegsgebiet traf. Mit diesem Buch hatte Grohl sogar einen Preis gewonnen. Da er sich vor zwei Jahren noch um Authentizität bemüht hatte, waren die meisten Dialoge in Pidginenglisch geschrieben. Abgesagt wurde es jetzt mit der Begründung, dieser Stoff benötige zu viele Untertitel.

Die Krönung war ein Fernsehfilm über eine Verkäuferin, die psychotische Schübe hatte und in die sich drei Mechaniker verliebten. Die Redakteurin ließ ausrichten, einfache Menschen litten nicht unter psychischen Krankheiten. Das sei ein bürgerliches Phänomen.