In der Südsee

Robert Louis Stevenson


Vorwort

Robert Louis Stevenson, dessen literarische Bedeutung Ernst Weiß in seinem Nachwort zu dem Abenteuerroman »Die Schatzinsel« (Deutsche Buch-Gemeinschaft) eingehend würdigt, hielt 1887 endgültig Umschau nach einem Wohnsitz, wo es ihm trotz seiner von jeher schwächlichen Veranlagung möglich wäre, eine ganze Reihe dichterischer Pläne zu verwirklichen. Zunächst nahm er für den Winter 1887/1888 seine Zuflucht zu einem neu eingerichteten Sanatorium für Lungenleidende in den Vereinigten Staaten, nahe der kanadischen Grenze. Die alte Liebe zur See erwachte mit neuer Heftigkeit im Frühling; seine Frau, die zum Ankauf eines geeigneten Fahrzeuges nach St. Franzisko gereist war, telegraphierte ihm, daß die Jacht »Casco« für eine Fahrt zu den Südseeinseln gepachtet werden könne. Stevenson entschloß sich, vierzigtausend Mark, zwei Drittel seines Vermögens, für seine Gesundheit zu opfern, ließ die Jacht herrichten, engagierte den erfahrenen Kapitän Otis nebst einem chinesischen Koch und vier tüchtigen Seeleuten und verließ am 28. Juni 1888 den Hafen in der Absicht, nach mehrmonatlichen Fahrten in den warmen Seewinden wieder in zivilisierte Gegenden zurückzukehren und dann vielleicht in Madeira sein Heim aufzuschlagen. Seiner Frau, die ihn überallhin begleitete, hatte er angedeutet, daß er ein Seemannsgrab in den Wellen des Ozeans dem Dahinsiechen auf dem festen Lande vorziehen würde, wenn seine Krankheit sich verschlimmern und die Strapazen der Seefahrt ihn niederwerfen sollten. Aber seine Gesundheit kräftigte sich, das Klima sagte ihm zu, so daß er fast drei Jahre auf Hin- und Herfahrten zwischen den verschiedenen Inselgruppen verbrachte. Er besuchte alle völkerkundlich und landschaftlich interessanten Plätze und ließ sich schließlich 1891 auf der Insel Upolu der Samoagruppe nieder, wo er im Dezember 1894 an Gehirnschlag starb, erst vierundvierzig Jahre alt.

Neben der laufenden literarischen Produktion, die stofflich zum Teil aus den neuen Erlebnissen genährt wurde, wollte Stevenson ein umfassendes Werk über die Südsee schreiben, deren soziale und wirtschaftliche Verhältnisse rasch einer völligen Auflösung entgegentrieben. Es mag sein, daß Stevenson bei längerer Lebensdauer die Kraft gefunden hätte, diese gewaltige anthropologische Aufgabe zu lösen, aber wahrscheinlich ist es, daß seine dichterische Phantasie ihm auch in späteren Jahren nicht die nötige Ruhe zu einer rein wissenschaftlichen Beschäftigung gegeben hätte. Er hinterließ umfangreiche Aufzeichnungen, die nach seinem Tode gesammelt und geordnet wurden, und so entstand schließlich der ansehnliche Band »In the South-Seas«, der hier in vollständiger Übersetzung vorliegt.

Eine Karte liefert einen Überblick über die Fahrten, die der Dichter unternahm. Zunächst trug die Schonerjacht »Casco« die Reisenden in zweiundzwanzig Tagen zu den Marquesas, einer Gruppe von gebirgigen Inseln unter französischer Oberhoheit, die äußerst selten von Globetrottern besucht wurden und abseits von den Schiffahrtsstraßen lagen. Der erste Teil des Werkes schildert die Erlebnisse und Erfahrungen auf den vulkanischen Inseln Nuka-hiva und Hiva-oa, deren Bewohner noch vor kurzer Zeit die leidenschaftlichsten Menschenfresser Polynesiens gewesen waren und nun aus verschiedenen Gründen wie Schnee im Frühlingswind dahinschmolzen. Der Aufenthalt dauerte vom 28. Juli bis zum 4. September 1888, also verhältnismäßig kurze Zeit, aber die Ergebnisse waren erstaunlich mannigfaltig, wie der erste Teil unseres Buches zeigt. Dann ging die Fahrt weiter zu den Paumotuinseln, wo man am 6. September eintraf und bis Ende September verweilte. Eine völlig andere Welt! Diese Lagunenriffe umschließen in einem Kranz oder Oval eine Art Binnensee, der allmählich durch Ablagerungen des Seewassers seichter wird. Der Korallenkranz ist mehr oder weniger dicht besetzt mit Palmen, unter denen die Häuser der Eingeborenen stehen, und zwar an der Lagunenseite, nicht an der Meeresküste, wo die blutgierigen Geister der Abgestorbenen ihr menschenfresserisches Unwesen treiben. Der erstaunliche Gegensatz zwischen der Bevölkerung der »hohen« und der »niedrigen« Inselgruppen kommt in der plastischen Schilderung Stevensons lebendig zum Ausdruck.

Die Jacht trug sie südwestlich weiter nach Tahiti in der Gruppe der Gesellschaftsinseln, wo Stevenson inmitten der herrlichsten Südseelandschaft schwer erkrankte. Er erholte sich jedoch bald und durchlebte die schönste Zeit seiner freiwilligen Verbannung, über die sich leider in seinem Tagebuch keine Aufzeichnungen fanden: der Dichter war von der Großartigkeit der Inseln so überwältigt, daß er die Niederschrift seiner Erlebnisse versäumte und statt dessen seine epischen Werke wesentlich förderte. Am Weihnachtstag 1888 nahm die »Casco« ihre Passagiere wieder auf und führte sie gen Honolulu, von wo Stevenson Molokai besuchte, die Insel der Leprakranken, aber auch hierüber fehlt ein Bericht, und man ist auf vereinzelte Briefe angewiesen, die er damals an seine Frau und zwei Freunde richtete.

In den folgenden Monaten wurde eine Fahrt vorbereitet in solche Gebiete, die möglichst unberührt waren von jeder Zivilisation, und im Juni 1889 trug der kleine Handelsschoner »Equator« die Reisegesellschaft zu den Gilbertinseln dicht am Äquator. Jener Teil der Tagebücher, der sich mit den Zuständen und Menschen auf diesen Koralleninseln beschäftigt, gehört ohne Zweifel zu den interessantesten und lebendigsten Partien des vorliegenden Werkes. Namentlich das groß angelegte Porträt des Königs Tembinok' von Apemama übertrifft an Farbigkeit alles, was in Stevensons Aufzeichnungen vorgefunden wurde. Vier Jahre später hatte sich auf den Inseln Butaritari und Apemama alles geändert, Tembinok' war gestorben, die Gilbertinseln waren von England annektiert worden, und ein Knabe spielte den Herrscher unter der Leitung eines britischen Residenten. Stevensons Bericht hat also eine einzigartige völkerkundliche Bedeutung.

Der Schoner setzte Anfang Dezember 1889 seine Reise fort nach Samoa und traf am 7. Dezember in Apia ein, der Hauptstadt von Upolu. Hier versuchte Stevenson alles Material zu sammeln, das ihm als Unterlage dienen sollte für seine umfassende Arbeit über diesen Teil der Südsee, und er entschloß sich zu einer besonderen Veröffentlichung unter dem Titel »A Footnote to History«, die viel Staub aufwirbelte und in Deutschland später verboten wurde, aber die grundsätzlichen Bemerkungen über die Behandlung der Eingeborenen haben sich im Verlauf der Jahrzehnte als unanfechtbar richtig erwiesen. Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu erfahren, daß der deutsche Generalkonsul Dr. Stübel zu den vertrautesten Freunden Stevensons gehörte und von ihm als der fähigste und einsichtsvollste Diplomat der Großmächte in der Südsee bezeichnet wurde.

Das Heim, das Stevenson nach seiner Rückkehr in Madeira geplant hatte, wurde nun in Samoa errichtet, er kaufte Land in der Nähe Apias, bevor jedoch der dichte Busch gerodet und die Fundamente gelegt werden konnten, reiste er wieder fort, besuchte Australien und später viele ihm noch unbekannte Südseeinseln, bis er 1891 ernstlich seinen Plan zur Ausführung brachte und sein Haus auf der Insel Upolu bauen ließ: der entscheidende Wendepunkt seines Lebens, das allerdings nur noch etwa drei Jahre währen sollte. Ein Freund schrieb ihm aus England: »Seit Byron in Griechenland war, hat nichts auf die Literaten einen so tiefen Eindruck gemacht wie Ihr Aufenthalt in der Südsee.« Der Dichter nannte seinen Besitz »Vailima«, »Fünfwasser«, weil er im Gebiet von fünf Flüssen lag, und die Eingeborenen gaben dem Dichter den Namen »Tusitala«, Geschichtenerzähler. Der Platz lag ungefähr drei Meilen von der Küste entfernt und sechshundert Fuß über dem Meeresspiegel, durch das Gelände führte ein Weg, den befreundete Häuptlinge mit ihren eigenen Händen herrichteten, und den sie »Ala Loto Alofa«, »Weg des liebenden Herzens«, nannten. Rund um das dunkelgrün gestrichene Holzhaus herrschte tiefe Stille, von fernher drang das leise Rauschen der Brandung, und man kann sich schwerlich einen friedlicheren Ort in der weiten Welt vorstellen als Stevensons Waldheim auf Upolu. Häuptlinge und Weiße suchten ihn häufig auf, um seinen Rat einzuholen, man nannte sein Heim »das Haupthaus der Weisheit«.

Das Klima Samoas schien Stevenson zu kräftigen, er verlangte nicht mehr volle Gesundung, sondern war zufrieden mit der Möglichkeit, sein dichterisches Werk zu fördern. Die Lungenschwindsucht kam zum Stillstand, er war imstande eifrig zu schreiben und vermißte nur seine englischen Freunde und die heimatliche schottische Landschaft, so daß ihn nicht selten die schmerzlichen Empfindungen eines Verbannten überfielen. Seine Vailima-Briefe legen von dieser Sehnsucht nach der alten Heimat beredtes Zeugnis ab. Aber alles in allem hatte er endlich nach langen Wanderungen einen Ort gefunden, an dem er sich wohl fühlte, und hätte die Krankheit nicht doch unmerkbar und unaufhaltsam den Körper verwüstet, so wäre bei seiner lebendigen Schöpferkraft wohl noch manche herrliche Dichtung entstanden. Heimtückisch überfiel ihn der Tod an einem Tage, da er zu seiner Frau gesagt hatte, er fühle sich so gesund wie nie zuvor. Als die Abendmahlzeit nahte, holte er eine Flasche Burgunder aus dem Keller und trat heiter plaudernd zu seiner Lebensgefährtin, als er sich plötzlich mit beiden Händen an den Kopf griff und ausrief: »Was ist das? Sehe ich sonderbar aus?« Dann brach er in die Knie nieder, verlor das Bewußtsein, wurde in die Halle getragen und der deutsche Arzt Dr. Funk herbeigeholt, aber menschliche Bemühungen waren umsonst, und umgeben von seinen Freunden und den farbigen Hausgenossen starb er gegen acht Uhr abends am 3. Dezember 1894.

So fand Tusitala, der Geschichtenerzähler, ein Grab inmitten des Großen Ozeans auf einer Insel der Südsee, die er fast sosehr liebte wie seine schottischen Berge, und auf seinem Grabe hoch oben auf dem Gipfel von Vaea steht das von ihm selbst verfaßte Requiem, das wir im Urtext wiedergeben:

Under the wide and starry sky,
Dig the grave and let me lie.
Glad did I live and gladly die,
And I laid me down with a will.

This be the verse you grave for me:
Here he lies where he longed to be;
Home is the sailor, hom[e] from sea,
And the hunter home from the hill.

Die Häuptlinge belegten den Ort mit einem Tabu gegen Schußwaffen, damit die Vögel droben nisten und ihre Lieder an seiner Ruhestätte ungestört singen konnten.

H. S.

Neuntes Kapitel

Das Haus Temoana

Die Geschichte der Marquesaner ist in den letzten Jahren durch das Kommen und Gehen der Franzosen stark verwirrt. Wenigstens zweimal haben sie von dem Archipel Besitz ergriffen, wenigstens einmal haben sie ihn verlassen, und in der Zwischenzeit haben die Eingeborenen fast ohne Unterbrechung ihre planlosen Kannibalenkriege geführt. Durch diese Ereignisse und den Wechsel der Dynastien sieht man nur eine beachtenswerte Gestalt schreiten: die des Oberhäuptlings Temoana, eines Königs. Allerlei bunte Einzelheiten seiner Entwicklung kamen mir zu Ohren: wie er zuerst Konvertit der protestantischen Mission war; wie er entführt oder aus seiner Heimat verschleppt wurde, als Koch an Bord eines Walfischfängers arbeitete und gegen ein kleines Entgelt in englischen Häfen gezeigt wurde; wie er schließlich nach den Marquesas zurückkehrte, unter den starken und segensreichen Einfluß des verstorbenen Bischofs geriet, seine Macht in der Inselgruppe ausdehnte, eine Zeitlang Mitregent des Prälaten war und endlich als Hauptförderer des Katholizismus und der Franzosen starb. Seine Witwe erhält noch jetzt zwei Pfund monatlich von der französischen Regierung. Königin nennt man sie gewöhnlich, aber im amtlichen Almanach wird sie als »Madame Vaekehu, Oberhäuptlingsfrau« bezeichnet. Sein Sohn – ob natürlich oder adoptiert, weiß ich nicht – Stanislao Moanatini, Häuptling von Akaui, dient in Tai-o-hae als eine Art Minister der öffentlichen Arbeiten, und die Tochter Stanislaos ist weiblicher Oberhäuptling der südlichen Insel Tauata. Das ist also das mächtigste Geschlecht des Archipels, und wir hielten es auch für das achtbarste. Dies ist die Regel in Polynesien, mit wenigen Ausnahmen: je höher die Familie steht, desto besser sind die Menschen – besser an Vernunft, besser an Sitten und gewöhnlich auch körperlich größer und stärker. Ein Fremder geht blindlings vor, er macht seine Bekanntschaften zufällig. Abgesehen von der Tätowierung bei den Marquesas deutet nichts den Rangunterschied an, aber fast immer bewährten sich unsere Freunde als Personen von Würde. Ich sagte, »gewöhnlich auch körperlich größer und stärker«. Ich könnte noch bestimmter sein: für ganz Polynesien und einen Teil von Mikronesien trifft diese Regel zu, die Großen der Inseln und selbst der Dörfer sind auch kräftiger an Knochen und Muskeln und oft schwerer an Fleisch als die gewöhnlichen Bürger. Die landläufige Erklärung, daß das hochgeborene Kind sorgfältiger schampuniert, d. h. gewaschen und mit Öl eingerieben wird, ist wahrscheinlich stichhaltig. In Neukaledonien wenigstens, wo der Unterschied nicht existiert oder nie beobachtet wurde, scheint auch die Sitte des Schampunierens unbekannt zu sein. Ärzte würden gut tun, diesem Punkt ihr Studium zuzuwenden.

Vaekehu lebt, von der Regentschaft aus gesehen, am andern Ende der Stadt, jenseits der Missionsgebäude. Ihr Haus ist nach europäischer Art gebaut, ein Tisch steht in der Mitte des Hauptraumes, Photographien und religiöse Bilder hängen an den Wänden. Nach beiden Seiten hat man eine entzückende Aussicht. Vorn blickt man auf grünen Rasen, herumrennende Schweine, fächerartig herabhängende Zweige der Kokospalmen und den Glanz der tosenden Brandung; nach hinten heraus auf anstrebende Waldtäler und Kränze von Schluchten. Hier, in scharfer Zugluft, empfing uns Ihre Majestät im einfachen bedruckten Kattunkleid, ohne ein anderes königliches Abzeichen als die vollendete Schönheit ihrer Tätowierung, die wie Handschuhe wirkt, die Feinheit ihrer Bewegungen und das sanfte Falsett, in dem alle sorgfältig erzogenen marquesanischen Damen – und Vaekehu an erster Stelle – wohlgefällig ihre Worte singen. Eine Adoptivtochter verdolmetschte unsere Reden und fragte nach allen unseren Freunden in Anaho mit ihrem Namen. Während wir uns unterhielten, konnten wir durch die Tür auf der Landseite eine andere Dame ihre Toilette unter den grünenden Bäumen vollenden sehen, die bald darauf, als ihr Haar aufgesteckt und ihr Hut mit Blumen geschmückt war, mit graziösen Verbeugungen auf der hinteren Veranda erschien.

Vaekehu ist sehr schwerhörig: » merci« ist ihr einziges französisches Wort, und ich erinnere mich nicht, daß sie mir klug vorkam. Ihre ausgezeichnete Liebenswürdigkeit und Erziehung, leicht überschattet von Quietismus, der wohl von den Nonnen stammte, machte den größten Eindruck auf uns. Oder wir empfanden vielmehr diese erste Begegnung als eine Art Informationsbesuch von unserer Seite, der mit bescheidener christlicher Höflichkeit von unserer Gastgeberin angenommen wurde. Ein anderer Eindruck entstand, als sie sich freier fühlte und mit Stanislao und seiner kleinen Tochter an Bord der »Casco« kam. Sie hatte bei dieser Gelegenheit große Toilette gemacht, trug ein weißes Gewand, das zu ihrem strengen braunen Gesicht gut paßte, und saß essend und zigarettenrauchend zwischen uns, von aller Unterhaltung abgeschnitten oder nur hier und da durch die Vermittlung ihres Sohnes ins Gespräch gezogen. Diese Situation hätte lächerlich sein können, aber ihr gereichte sie zur Zierde. Sie tat, als ob sie alles höre und verstände, auf ihrem Gesicht strahlte das Lächeln der guten Gesellschaft, wenn man ihrem Blick begegnete; ihre Bemerkungen, so selten sie sein mochten, waren stets verbindlich und liebenswürdig. Dem Kinde wurde keine Beachtung geschenkt, außer wenn sie es anredete oder sich an seiner Stelle bei uns bedankte. Ihr Abschied beim Fortgehen war graziös und zierlich wie ihr ganzes Benehmen. Als meine Frau ihr die Hand reichte, um ihr Lebewohl zu sagen, nahm Vaekehu sie, hielt sie fest und lächelte einen Augenblick, ließ sie sinken, und dann, wie in Gefühlserregung und zartfühlender Herablassung, streckte sie beide Hände aus und küßte meine Frau auf beide Wangen. Bei gleichen Alters- und Rangunterschieden würde man auf der Bühne der Comédie Française so gespielt haben, genau so gütig herablassend würde Madame Brohan sich gegen Madame Broissat im Marquis von Villemer benommen haben. Es war meine Aufgabe, unsere Gäste an Land zu bringen. Als ich das kleine Mädel beim Abschied auf den Stufen des Piers küßte, stieß Vaekehu einen Ruf des Entzückens aus, streckte ihre Hand zum Boot nieder, nahm die meine und drückte sie mit jener einschmeichelnden Sanftheit, die in allen Ländern der Erde die Koketterie alter Damen zu bilden scheint. Im nächsten Augenblick schon hatte sie Stanislaos Arm genommen, sie schritten im Mondlicht den Pier entlang und ließen mich verwirrt zurück. Dies war eine Kannibalenkönigin; sie war vom Kopf bis zu den Füßen tätowiert und vielleicht gegenwärtig das größte Meisterwerk dieser Art auf der Erde, so daß ihr Bein vor einiger Zeit, ehe sie prüde wurde, eine der Sehenswürdigkeiten von Tai-o-hae war. Sie war aus der Hand eines Häuptlings in die des andern gewandert, man hatte um sie Kriege geführt und sie geraubt; vielleicht hatte sie auf dem Hochgericht gesessen, da sie ja eine so große Dame war, und dort als einzige ihres Geschlechts gethront, während die Trommeln zwanzigweise gedröhnt und die Priester die blutgetränkten Körbe mit Menschenfleisch (Langschwein) herbeigetragen hatten. Und nun stelle man sich, nach einer solchen Vergangenheit der Gewalttaten und furchtbaren Feste, diese ruhige, sanftmütige, wohlerzogene alte Dame vor, denen ähnlich, die man zu Hause in manchen Landhäusern findet, auch behandschuht, aber nicht oft von so feinem Benehmen. Aber Vaekehus Handschuhe waren aus Farbe, nicht aus Seide, und nicht mit Geld, sondern mit gekochtem Menschenfleisch bezahlt. Mit einem Ruck tauchte in mir die Frage auf, wie sie selbst wohl darüber denke, und ob sie im innersten Herzen nicht den Wandel bedaure und sich nach ihrer barbarischen und aufregenden Vergangenheit zurücksehne. Aber als ich Stanislao ausforschte, sagte er: »O, sie ist zufrieden, sie ist fromm und verbringt alle ihre Tage bei den Schwestern.«

Stanislao – Stanislaos unter Auslassung des letzten Konsonanten nach polynesischer Gepflogenheit – wurde vom Bischof Dordillon nach Südamerika geschickt und dort von den Patres erzogen. Er spricht fließend Französisch, redet klug und geistreich und leistet den Franzosen als Hauptaufpasser vorzügliche Dienste. Mit dem Prestige seines Namens und seiner Familie und, wenn nötig, mit dem Stock hält er die Eingeborenen bei der Arbeit und sorgt für gute Wege. Ohne Stanislao und die Gefangenen möchte ich die Existenzfähigkeit der heutigen Regierung in Nuka-hiva bezweifeln; vielleicht würden die Chausseen unpassierbar werden, der Landungssteg abbröckeln und die Residentschaft unter den Augen unfähiger Beamter zerfallen. Und obgleich er traditionsgemäß die Franzosenherrschaft begünstigt und fördert, vergißt er die Vergangenheit nie. Er zeigte mir, wo der alte Versammlungsplatz gewesen war, noch angedeutet durch verstreute Steinhaufen, erzählte mir, wie groß und schön er gewesen, auf allen Seiten von stark bevölkerten Häusern umgeben, aus denen bei Trommelschlag die Menge herbeigeströmt sei, um Feste zu feiern. Der Trommelwirbel der Polynesier besitzt einen sonderbaren und düsteren Reiz für die Nerven aller Menschen. Weiße empfinden ihn, bei diesen rasenden Tönen schlägt ihr Herz schneller; und nach den Berichten alter Einwohner war die Wirkung auf die Eingeborenen furchtbar. Mochte Bischof Dordillon flehend bitten und Temoana selbst befehlen und drohen: beim Ton der Trommeln triumphierten die wilden Instinkte. Würden sie heute auf diesen Ruinen erschallen, wer sollte zur Versammlung eilen? Die Häuser sind eingefallen, das Volk ist tot, die Nachkommenschaft erloschen, der Abschaum und die Flüchtlinge ferner Buchten und Inseln nisten sich auf ihren Gräbern ein. Den Verfall des Tanzes beklagt Stanislao besonders. »Jedes Land hat seine Sitten«, sagte er; aber die Anzeige irgendeines Gendarmen, der in verwerflichem Eifer die Zahl der Straffälle und seine Macht erhöhen will, läßt Sitte nach Sitte der Ausrottung anheimfallen. »Sehen Sie, ein Tanz, der nicht erlaubt ist«, sagte Stanislao; »ich weiß nicht warum, er ist sehr hübsch, nämlich so!« Und er steckte seinen Schirm aufrecht in die Erde und markierte die Schritte und Bewegungen. Seine Kritik der Gegenwart und das Bedauern über die Vergangenheit war stets überraschend gemäßigt und vernünftig. Die kurze Amtsdauer des Residenten hielt er für das Hauptübel der Verwaltung, denn der Beamte war eben erst eingearbeitet, wenn er abberufen wurde. Ich glaubte auch zu bemerken, daß er den kommenden Übergang vom Marine- zum Zivilgouverneur einigermaßen fürchtete. Ich selbst jedenfalls bin sicher, daß dies die richtige Auffassung ist, denn die Zivilbeamten Frankreichs sind dem Ausländer niemals als Elite ihres Landes erschienen, während die Marineoffiziere sich mit denen der ganzen Welt messen können. In allen seinen Reden betonte Stanislao stets, daß seine Heimat ein Land der Wilden sei, und wenn er eigene Meinung ausdrückte, bemerkte er, er sei ein Wilder, der Reisen gemacht habe. In dieser bewußten Bescheidenheit war ein gut Teil ehrlichen Stolzes. Aber etwas lag in dieser Vorsicht, was mich traurig stimmte; ich mußte befürchten, er wolle nur einer Zurechtweisung zuvorkommen, die er allzuoft erduldet hatte.

Zweier Unterredungen mit Stanislao erinnere ich mich mit Interesse. Die erste fand an einem Nachmittag der tropischen Regenzeit statt, den wir zusammen auf der Veranda des Klubs verbrachten; wir sprachen manchmal mit erhobenen Stimmen, wenn die Schauer über unseren Köpfen sich verstärkten, manchmal gingen wir in den Billardraum, um in dem matten, verschleierten Tageslicht jene Weltkarte zu befragen, die sein Hauptschmuck ist. Er kannte die englische Geschichte natürlich nicht, so daß ich ihm viel Neues berichten konnte. Ich erzählte ihm ausführlich das Leben Gordons, viele Einzelheiten aus dem Indischen Aufstand, berichtete von Lucknow, der zweiten Schlacht von Cawnpore, der Befreiung von Arrah, dem Tode des armen Spottiswoode und von Sir Hugh Roses abenteuerlichen Feldzügen. Er hörte begierig zu, sein braunes Gesicht, dicht bedeckt mit Pockennarben, leuchtete auf und wechselte den Ausdruck bei jeder Wendung der Geschichte. In seinen Augen glühte das Feuer der Schlachten, er richtete viele und kluge Fragen an mich, und besonders sie führten uns sooft zur Landkarte. Aber die lebendigste Erinnerung bewahre ich von unserem Abschied. Wir wollten am nächsten Morgen absegeln, und die Nacht war schon hereingebrochen, dunkel, stürmisch und regnerisch, als wir den Hügel hinaustasteten, um Stanislao Lebewohl zu sagen. Er hatte uns bereits mit Geschenken beladen, aber viele andere standen noch bereit. Wir saßen rund um den Tisch bei Zigarren und grünen Kokosnüssen; Windstöße fegten durch das Haus und löschten die Lampe aus, die stets sofort wieder mit einem einzigen Streichholz angezündet wurde; und diese wiederholten Augenblicke der Dunkelheit wurden wie eine Erleichterung empfunden. Denn es lag etwas wie Schmerz und Beklemmung über der Zärtlichkeit dieser Trennung. »Ach!« rief Stanislao aus, »Sie sollten hierbleiben, mein geliebter Freund! Sie gehören zu den Männern, die die Kanaken brauchen, Sie sind lieb, Sie und Ihre Familie, man würde Ihnen auf allen Inseln gehorchen.« Wir waren höflich gewesen, und nicht einmal immer, wie mir mein Gewissen sagte, aber nie darüber hinausgegangen; die Ursache seiner Bewegtheit war also nicht sosehr unsere Rücksichtnahme als vielmehr das schlechte Benehmen anderer. Den Rest des Abends, auf dem Wege zu Vaekehu und zurück bis ganz zum Pier, ließ Stanislao meinen Arm nicht los und schützte mich mit seinem Regenschirm, und als das Boot abgefahren war, konnten wir in der trüben Finsternis noch sein Abschiedswinken sehen. Seine Worte wurden, falls er sprach, vom Regen und von der dröhnenden Brandung verschlungen.

Ich habe die Geschenke erwähnt: eine verwickelte Frage in der Südsee, deren Behandlung die allgemeine, gewohnheitsmäßige Unwissenheit belegt, mit der Völker in Bausch und Bogen beurteilt werden. An vielen Orten gibt der Polynesier nur, um zu empfangen. Ich habe Inseln besucht, wo mich die Bevölkerung verfolgte wie Hunde, die einem Händler mit Katzenfleisch nachlaufen, und wo die oft gehörte Redewendung: »Du mein Freund!« oder, mit noch mehr Pathos: »Du gleich wie mein Vater!« mit herzhaftem Gelächter und kräftigem Ausruf beantwortet werden muß. Und vielleicht wird überall ein Geschenk von Gierigen und Habsüchtigen als eine Art Wurst angesehen, mit der man nach der Speckseite wirft. Es ist Sitte, Geschenke zu spenden und Gegengaben zu empfangen, und solche Burschen werden, wenn sie die Gebräuche mitmachen, scharf darauf bedacht sein, daß sie keinen Verlust erleiden. Aber bei Personen anderen Schlages liegen die Dinge umgekehrt. Der schäbige Polynesier ruht nicht, bis er die Gegengabe erhalten hat, der edle fühlt sich beklommen, bis er sie geleistet hat. Der erstere ist enttäuscht, wenn man nicht mehr gegeben hat als er; der andere ist niedergeschlagen, wenn er seine Gabe für geringer achtet. Das ist meine Erfahrung; wenn sie der anderer Reisender widerspricht, bedaure ich ihr Geschick und preise das meinige; nichts kann ändern, was ich beobachtet, noch vermindern, was ich empfangen habe. Und ich finde in der Tat, daß alle, die mir widersprechen, von höchst eigenartigen Vorurteilen ausgehen. Sie vergleichen die Polynesier einer Idealfigur, vollgepfropft von Edelmut und Dankbarkeit, der ich nie das Vergnügen hatte zu begegnen, und vergessen, daß ihnen das unermeßlicher Reichtum ist, was uns beinahe Armut scheint. Ich will ein Beispiel anführen: ich sprach zufällig über diese Geschenke Stanislaos mit einem gewissen klugen Mann, einem großen Hasser und Verächter der Kanaken. »Nun, was war es denn!« rief er aus, »ein Paket Bärte alter Männer! Plunder!« Und derselbe Herr sprach eine halbe Stunde später, als seine Gedanken in andere Richtung gingen, ausführlich von der Wertschätzung, die solchen Besitztümern bei den Kanaken entgegengebracht wird, wie sie sie allen anderen außer Grund und Boden vorziehen, und von den hohen Preisen, die man dafür erzielt. Unter Zugrundelegung seiner eigenen Zahlen berechnete ich, daß die Geschenke Vaekehus und Stanislaos dieser Art allein einen Wert von zwei- bis dreihundert Dollars hatten, während das amtliche Gehalt der Königin nur zweihundertvierzig Dollars jährlich beträgt.

Aber Freigebigkeit einerseits und offenbarer Geiz anderseits sind in der Südsee wie in der Heimat Ausnahmen. Der gewöhnliche Polynesier wählt und überreicht seine Geschenke weder in der Hoffnung auf Gewinn noch mit dem lebhaften Wunsch zu gefallen. Einer klaren, sozialen Pflicht sieht er sich gegenüber, und er erfüllt sie korrekt, aber ohne die geringste Begeisterung. Wir können seine Auffassung am besten verstehen, wenn wir unsere eigene den anerkannt absurden Hochzeitsgeschenken gegenüber prüfen. Wir schenken ohne besonderen Gedanken an eine Gegengabe, aber ergibt sich die Gelegenheit, und das Gegengeschenk bleibt aus, so halten wir uns für beleidigt. Wir geben gewöhnlich ohne Liebe und fast nie mit echter Begierde zu gefallen, und unser Geschenk ist eher ein Beweis unserer Zahlungsfähigkeit als unserer Liebe zu den Empfängern. So geht es im allgemeinen auch den Polynesiern; ihre Geschenke sind Formsache, sie sollen die gesellschaftliche Anerkennung ausdrücken, und sie werden gegeben und erwidert, wie wir unsere Morgenvisiten machen und erhalten. Der Brauch, Ereignisse und Gefühle nach den Geschenken einzuteilen und zu bewerten, ist in der Inselwelt allgemein. Ein Geschenk gilt ihnen soviel wie Brief und Siegel, und die Erinnerung daran steckt tief im Herzen des Insulaners. Frieden und Krieg, Hochzeit, Adoption und Naturalisation werden durch Annahme oder Zurückweisung von Geschenken gefeiert oder angekündigt, und für den Inselbewohner ist es ebenso natürlich, ein Geschenk zu überreichen, wie für uns, eine Visitenkarte bei uns zu tragen.

Zehntes Kapitel

Ein Charakterbild und eine Geschichte

Ich hatte verschiedene Male Veranlassung, den verstorbenen Bischof, Pater Dordillon, zu erwähnen, »Monseigneur«, wie er noch jetzt fast allgemein genannt wird, Apostolischer Vikar der Marquesas und Titularbischof von Cambysopolis. Überall auf den Inseln, bei allen Klassen und Stämmen, erinnert man sich des feinen, alten, liebenswürdigen und heiteren Mannes mit Liebe und Hochachtung. Sein Einfluß auf die Eingeborenen war unbeschränkt. Sie hielten ihn für den Höchsten auf Erden und für größer als einen Admiral, sie brachten ihm ihr Geld zur Aufbewahrung, holten seinen Rat ein bei Käufen und pflanzten keinen Baum auf ihrem eigenen Lande ohne Zustimmung des Vaters der Inseln. Als die Franzosen abzogen, repräsentierte er allein Europa, lebte in der Residentschaft und regierte durch die Vermittlung Tamoanas. Die ersten Wege wurden unter seiner Leitung und auf sein Anraten angelegt. Der alte Weg zwischen Hatiheu und Anaho wurde auf beiden Seiten gleichzeitig begonnen unter dem Vorwand, er werde sich gut eignen für einen Abendspaziergang, und unter Anstachelung des Wetteifers der beiden Dörfer vollendet. Der Priester erzählte in Hatiheu rühmend von dem Fortschritt in Anaho und pflegte den Leuten von Anaho zu erklären: »Wenn ihr euch keine Mühe gebt, werden eure Nachbarn über dem Hügel sein, bevor ihr oben seid.« Heute könnte man nicht mehr so arbeiten, aber damals war es möglich; Tod, Opiumsucht und Entvölkerung waren noch nicht so weit fortgeschritten, und die Leute von Hatiheu wetteiferten noch miteinander in ihrer Kleidung, wie man mir erzählte, sie pflegten familienweise in der Kühle des Abends auf der Bucht zu segeln und Bootrennen zu veranstalten. Etwas Wahres scheint mindestens in der allgemeinen Ansicht zu stecken, daß die gemeinsame Regierung von Tamoana und dem Bischof das letzte, kurze, goldene Zeitalter der Marquesaner war. Aber die Zivilgewalt kehrte zurück, die Mission wurde innerhalb einer Frist von vierundzwanzig Stunden aus der Residentschaft vertrieben, neue Methoden gewannen die Oberhand, und mit dem goldenen Zeitalter – wie es immer gewesen sein mochte – war es zu Ende. Es ist der stärkste Beweis für das hohe Ansehen von Pater Dordillon, daß er offenbar ohne Einbuße an Autorität diese übereilte Absetzung überstand.

Seine Behandlung der Eingeborenen war außerordentlich milde. Mitten unter diesen Kindern der Wildnis spielte er die Rolle des lächelnden Vaters und beobachtete in allen Dingen sorgfältig die Etikette der Marquesaner. So war der Bischof nach dem sonderbaren System künstlicher Versippung von Vaekehu als Enkel und ein Fräulein Fisher in Hatiheu als Tochter adoptiert worden. Von diesem Tage an redete der Monseigneur die junge Dame nur noch als seine Mutter an und schloß seine Briefe mit den Redewendungen eines pflichtgetreuen Sohnes. Europäern gegenüber konnte er streng bis zur Schärfe werden. Er behandelte Ketzer nicht schlecht und verkehrte freundschaftlich mit ihnen, aber die Vorschriften seiner eigenen Kirche wollte er beachtet sehen, und einmal wenigstens ließ er einen Weißen einsperren, der ein Heiligenfest entweiht hatte. Jedoch selbst diese Strenge, die den Laien unerträglich und den Protestanten lästig war, konnte seine Popularität nicht erschüttern. Wir können ihn durch Heranziehung von Vergleichen aus der Heimat am besten würdigen; wir haben wohl alle irgendeinen Geistlichen der alten Schule in Schottland gekannt, einen wortgläubigen Sabbatehrer, der am Buchstaben des Gesetzes klebte und doch im Privatleben bescheiden, unschuldig, liebenswürdig und heiter war. Einem solchen Mann glich Pater Dordillon anscheinend. Und seine Popularität hielt eine noch härtere Probe aus. Man sagte von ihm, und wahrscheinlich mit Recht, daß er ein gewitzter Geschäftsmann war, der achtgab, daß die Mission sich bezahlt machte. Nichts erregt die Gemüter sosehr wie die Einmischung religiöser Körperschaften in Handelsgeschäfte, aber selbst Kaufleute, die seine Konkurrenten waren, sprachen von dem Monseigneur gut.

Seinen Charakter zeichnet am treffendsten die Geschichte der Tage seines Alters. Es kam die Zeit, wo er aus Mangel an Sehkraft seine literarischen Arbeiten beiseitelegen mußte, seine marquesanischen Hymnen, Grammatiken und Wörterbücher, seine wissenschaftlichen Abhandlungen, Heiligenlegenden und religiösen Gedichte. Er blickte sich nach einem neuen Interessengebiet um, verfiel auf Gartenarbeiten, und nun sah man ihn den ganzen Tag mit Spaten und Gießkanne in kindlichem Eifer zwischen den Beeten tatsächlich hin und her rennen. Als der körperliche Verfall zunahm, mußte er auch seinen Garten verlassen. Sofort wurde eine andere Beschäftigung ersonnen, und er saß in der Mission und schnitt Papierblumen und -kränze. Seine Diözese war für seinen Arbeitseifer nicht groß genug, alle Kirchen der Marquesaner wurden mit seinem Papierschmuck versehen, und immer noch mußte er weiterschaffen. »Ach,« sagte er lächelnd, »wenn ich tot bin, wird es euch Spaß machen, meinen Plunder auszukehren!« Er war nun ungefähr sechs Monate tot, aber es freute mich, manche seiner Trophäen noch ausgestellt zu sehen, und ich betrachtete sie lächelnd: einen Tribut, den er, wenn ich seinen heiteren Charakter richtig verstanden habe, nutzlosen Tränen vorgezogen hätte. Krankheit machte ihn immer schwächer; er, der so kühn über die rauhen Felsen der Marquesas geklettert war, um kriegführenden Stämmen den Frieden zu bringen, wurde eine Zeitlang in einem Stuhl zwischen Mission und Kirche hin und her getragen, bis er schließlich durch Wassersucht ohnmächtig ans Bett gefesselt wurde, geplagt von Ischias und Wunden. So lag er ohne Klagen zwei Monate, und am 11. Januar 1888 entschlief er im neunundsiebzigsten Jahre seines Lebens und vierunddreißigsten seiner Arbeit auf den Marquesas.

Wer gern über protestantische und katholische Missionen schelten hört, muß sein Vergnügen anderswo, aber nicht auf diesen Seiten suchen. Seien sie Katholiken oder Protestanten: trotz schwerer Mißgriffe und trotz des Mangels an Frohsinn, Humor und allgemeinem Menschenverstand sind die Missionare die besten und nützlichsten Weißen im Pazifischen Ozean. Wir werden dies Problem immer wieder streifen, aber ein Teil mag an dieser Stelle behandelt werden. Der verheiratete und der im Zölibat lebende Missionar, beide haben ihre besonderen Vorzüge und Mängel. Der verheiratete Missionar kann, wenn wir den günstigsten Fall annehmen, dem Eingeborenen etwas sehr Notwendiges bieten: ein vollendetes Vorbild häuslichen Lebens. Aber die Frau an seiner Seite hat die Neigung, ihn mit Europa in Verbindung zu halten und die innige Verquickung mit Polynesien zu verhindern, und so wird eine pastorale Etikette bewahrt und sogar verschärft, die weit besser vergessen würde. Das Gemüt des weiblichen Missionars beschäftigt sich beispielsweise ständig mit Fragen der Bekleidung. Nur mit den größten Schwierigkeiten kann man ihr begreiflich machen, daß auch andere Gewänder züchtig sind als die von London her gewöhnten; und um dies Vorurteil zu befriedigen, werden die Eingeborenen zu nutzlosen Ausgaben gezwungen, die Phantasie wird europäisch krankhaft, die Gesundheit wird gefährdet. Der im Zölibat lebende Missionar anderseits, sei er der beste oder schlechteste, geht leicht zu den Lebensgewohnheiten der Eingeborenen über, und hinzu kommt das allgemeine Merkmal eheloser Männer oder die Erbschaft mittelalterlicher Heiligen: nachlässige Kleidung und Unsauberkeit. Selbstverständlich gibt es hier Abstufungen, und die Ordensschwester – ihr sei alle Ehre! – ist selbstredend so blitzsauber wie eine Dame auf dem Ball, über die Art der Ernährung ist nichts zu sagen – sie muß den Polynesier verwundern und abschrecken –, aber über die Annahme der Eingeborenensitten sehr viel. »Jedes Land hat seine Sitten«, sagte Stanislao; sie zu ändern, ist die schwierige Aufgabe des Missionars, und je mehr er auf diesem Gebiete von innen heraus, vom Eingeborenenstandpunkt aus erreicht, desto besser wird er seine Aufgaben lösen. Hier sind die Katholiken meines Erachtens manchmal erfolgreicher, und im Vikariat Dordillons bin ich dessen sicher. Ich habe den Bischof tadeln hören wegen seiner Nachgiebigkeit gegen die Eingeborenen, besonders deshalb, weil er nicht mit genügender Energie gegen den Kannibalismus wütete. Es gehörte zu seiner Politik, wie ein älterer Bruder unter den Eingeborenen zu leben, ihnen zu folgen, solange es möglich, und sie zu führen, wo es notwendig war, nie zu übertreiben und die Entwicklung neuer Gebräuche zu ermutigen, statt die alten gewaltsam auszurotten. Und es mag auf die Dauer besser sein, eine solche Politik überall zu befolgen.

Man könnte annehmen, daß eingeborene Missionare sich als nachsichtiger erwiesen, aber das Gegenteil ist in Wirklichkeit der Fall. Neue Besen kehren gut, und der weiße Missionar von heute wird oft durch die Frömmelei seines eingeborenen Gehilfen behindert. Was sonst könnte man erwarten? Auf manchen Inseln wurden Zauberei, Vielweiberei, Menschenopfer und Tabakrauchen verboten, die Bekleidung des Eingeborenen geändert und er selbst in heftigen Redewendungen vor gegnerischen christlichen Sekten gewarnt, alles durch denselben Mann, zu derselben Zeit und in gleich autoritativer Weise. Wie und nach welchen Maßstäben soll nun der Konvertit das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden? Er schluckt die ganze Medizin auf einmal, denn Spielraum für die Phantasie und Beobachtung wird nicht gegeben, und ein Fortschritt wird nicht erzielt, abgesehen von dem rein äußerlichen Nutzen der Verbote. Um die Dinge beim richtigen Namen zu nennen: das alles heißt Aberglauben predigen! Es ist allerdings wenig glücklich, dies Wort anzuwenden: wenige haben Geschichte studiert und viele in kleinen atheistischen Broschüren geblättert, so daß die Mehrheit vorschnell zu dem Schluß kommen könnte, alle Arbeit sei umsonst. Weit gefehlt: dieser halbspontane Aberglaube, verschieden nach der Sekte des ersten Evangelisten und den Sitten der einzelnen Inseln, ist in der Praxis höchst fruchtbar, und besonders diejenigen, die ihn erlernt haben und nun weiterlehren, stehen als leuchtende Vorbilder da vor aller Welt. Das schönste Beispiel christlichen Heldentums, das ich jemals sah, ist einer dieser eingeborenen Missionare. Er hatte zwei Menschenleben unter Gefahr seines eigenen gerettet; gleich Nathan war er einem Tyrannen im Blutrausch entgegengetreten; als die gesamte weiße Bevölkerung floh, erfüllte er allein seine Pflicht, und sein Verhalten inmitten häuslichen Unglücks, das die Öffentlichkeit nichts angeht, erfüllte den Beobachter mit Sympathie und Bewunderung. Er sah aus wie ein kleiner, lächelnder, arbeitsamer Mensch, und man hätte glauben können, er besäße nichts als das, was er tatsächlich zu reichlich besaß, nämlich weiche Gutherzigkeit. (Die Rede ist hier von Maka, dem hawaiischen Missionar auf Butaritari in der Gilbertgruppe.)

Zufällig waren die einzigen Rivalen des Monseigneurs und seiner Mission auf den Marquesas einige dieser braunhäutigen Evangelisten, Eingeborene von Hawaii. Ich weiß nicht, was sie über Pater Dordillon dachten; sie sind die einzigen, die ich nicht befragte, aber ich habe den Verdacht, daß der Prälat sie wegen ihres Übereifers etwas von oben herab betrachtete, denn er war außerordentlich human. Während meines Aufenthalts zu Tai-o-hae kam die Zeit der jährlichen Ferien für die Mädchenschule, und eine ganze Flotte von Walfischfängerbooten von Ua-pu brachte die Töchter in die Heimat. An Bord befand sich auch Kauwealoha, einer der Pastoren, ein feiner, gepflegter, alter Herr jenes löwenartigen Typs, der auf Hawaii oft vorkommt. Er besuchte mich auf der »Casco« und erzählte mir eine Geschichte von seinem Kollegen Kekela, einem Missionar auf der großen Menschenfresserinsel Hiva-oa. Es scheint, daß kurz nach dem räuberischen Besuch eines peruanischen Sklavenhändlers die Boote eines amerikanischen Walfischfängers in eine Bucht dieser Insel einliefen, daß die Leute angegriffen wurden und mit knapper Not entkamen, aber ihren Steuermann, einen Mr. Whalon, in den Händen der Eingeborenen zurückließen. Der Gefangene wurde mit auf dem Rücken gefesselten Händen in ein Haus geworfen, und der Häuptling meldete Kekela die Gefangennahme. Jetzt folge ich der Darstellung Kauwealohas im besten Kanakenenglisch, und der Leser muß sich vorstellen, daß die Erzählung mit heftiger Erregung und sprechenden Gesten vorgetragen wurde.

»›Ich 'melikanischer Maat haben!‹ der Häuptling er sagen. – ›Was du wollen tun 'melikanischer Maat?‹ Kekela er sagen. – ›Ich gehen Feuer machen, ich gehen töten, ich gehen ihn essen‹, er sagen; ›du morgen kommen essen Stück‹. – ›Ich nicht wollen essen 'melikanischer Maat!‹ Kekela er sagen; ›warum du wollen?‹ – ›Dies böser Schiff, dies Sklavenschiff‹, der Häuptling sagen; ›einmal ein Schiff er kommen von Pelu, er nehmen weg mein Sohn. 'Melikanischer Maat er schlecht Mann. Ich gehen ihn essen, du essen Stück.‹ – ›Ich nicht wollen essen 'melikanischer Maat!‹ Kekela er sagen, und er weinen, ganzer Nacht er weinen! Morgen Kekela er stehen auf, er ziehen an schwarzer Rock, er gehen zu Häuptling, er sehen Missa Whela, ihn Hand gebunden so! (Zeichen.) Kekela er schreien. Er sagen Häuptling: ›Häuptling, du wollen Sachen von meine? du wollen Walfischfängerboot?‹ – ›Ja‹, er sagen. – ›Du wollen Gewehr?‹ – ›Ja‹, er sagen. – ›Du wollen schwarzer Rock?‹ – ›Ja‹, er sagen. – Kekela er nehmen Missa Whela an Schulter, er ihn nehmen sofort aus Haus, er geben Häuptling er Walfischboot, er Gewehr, er schwarzer Rock. Er nehmen Missa Whela sein Haus, machen ihn setzen nieder er Weib und Kinder, Missa Whela Gefängnis, er Weib, er Kinder in Amelika, er weinen. – O, er weinen. Kekela er traurig. Ein Tag Kekela er sehen Schiff. (Gesten.) Er sagen Missa Whela: ›Ma' Whala?‹ – Missa Whela er sagen: ›Ja!‹ Kanaka sie anfangen gehen runter zu Strand, Kekela er nehmen elf Kanaka, nehmen Ruder, nehmen alles. Er sagen Missa Whela: ›Nun du gehen rasch.‹ – Sie springen in Boot: ›Nun du rudern!‹ Kekela er sagen: ›Du rudern schnell, schnell!‹ (Heftiges Gestikulieren und dann Andeutung, daß der Erzähler das Boot verlassen hat und zum Strand zurückgekehrt ist.) Alle Kanaka sie sagen: ›Wie! 'Melikanischer Maat er gehen weg?‹ – springen in Boot, rudern nach. (Und wieder Übergang zur Andeutung des Bootes.) Kekela er sagen: ›Rudern schnell!‹«

Hier, glaube ich, verwirrte mich die pantomimische Darstellung Kauwealohas, ich erinnere mich nicht mehr seiner ipsissima verba und kann nur in meiner eigenen weniger bewegten Art hinzufügen, daß das Schiff erreicht, Mr. Whalon an Bord genommen wurde und Kekela zu seinem Amt unter den Kannibalen zurückkehrte. Aber wie ungerecht ist es, das Stammeln eines Fremden in einer nur teilweise beherrschten Sprache wiederzugeben! Ein gedankenloser Leser könnte Kauwealoha und seinen Kollegen für eine Art liebenswürdigen Affen halten. Aber ich kann den Gegenbeweis antreten. Als Belohnung für diese Tat tapferer Nächstenliebe erhielt Kekela von der amerikanischen Regierung eine Summe Geldes und von Präsident Lincoln selbst eine goldene Uhr. Aus dem Dankesbrief, den er in seiner eigenen Sprache schrieb, gebe ich den folgenden Auszug. Ich beneide niemand, der ihn ohne Bewegung lesen kann.

»Als ich sah, wie einer Ihrer Landsleute, ein Bürger Ihrer großen Nation, mißhandelt wurde und nahe daran war, gebraten und gegessen zu werden, wie man ein Schwein ißt, eilte ich herbei, ihn zu retten, voll Mitleid und Trauer über die schlechte Tat dieses umnachteten Volkes. Ich gab mein Boot für das Leben des Fremden. Dies Boot stammte von James Hunnewell, eine Freundschaftsgabe. Es wurde zum Lösegeld für Euren Landsmann, damit er nicht verspeist werde von den Wilden, die Jehovah nicht kennen. Es war Mr. Whalon und der Tag der 14. Januar 1864.

Was nun meine freundliche Tat betrifft, die Rettung Mr. Whalons, so kam der Same aus Ihrem großen Lande und wurde herbeigebracht von einigen Ihrer Landsleute, die die Liebe Gottes empfangen hatten. Er wurde in Hawaii eingepflanzt, und ich sorgte dafür, daß er in diesem Lande und in diesen dunklen Gegenden gepflanzt wurde, damit sie die Wurzel alles Guten und Wahren, die Liebe, empfingen:

  1. Liebe zu Jehovah.
  2. Liebe zu uns selbst.
  3. Liebe zu dem Nächsten.

Wenn ein Mann von diesen dreien zur Genüge besitzt, ist er gut und heilig wie sein Gott Jehovah in seinem dreieinigen Charakter (Vater, Sohn und Heiliger Geist), einer und drei, drei und einer. Hat er nur zwei und mangelt der einen, so ist es nicht gut, und wenn er eine hat und zwei fehlen ihm, so ist dies in der Tat nicht gut; aber wenn er alle drei umfängt, dann ist er in der Tat heilig nach der Lehre der Bibel.

Ihre große Nation kann sich dieses großen Dinges rühmen vor allen anderen Nationen der Erde. Von Ihrem großen Lande wurde ein überaus kostbarer Same zum Lande der Finsternis gebracht. Er wurde hier gepflanzt, nicht mit Hilfe von Kanonen und Kriegsschiffen und Drohungen. Er wurde gepflanzt durch Unwissende, Arme und Verachtete. So geschah die Einführung des Wortes des allmächtigen Gottes in diese Inselgruppen von Nuuhiwa. Groß ist meine Schuld an die Amerikaner, die mich alle Dinge gelehrt haben über dies und das zukünftige Leben.

Wie soll ich Ihre große Güte mir gegenüber vergelten? So fragte David Jehovah, und so frage ich Sie, den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Das ist meine einzige Gegengabe – die ich vom Herrn empfangen habe – die Liebe – ( aloha).«

Elftes Kapitel

Langschwein – Ein Hochsitz des Kannibalismus

Nichts erregt heftiger unsern Abscheu als der Kannibalismus, nichts erschüttert mit größerer Sicherheit die menschliche Gesellschaft, nichts, so könnten wir schließen, muß die Gemüter derjenigen, die ihm anhängen, sosehr verhärten und entwürdigen. Und doch machen wir auf Buddhisten und Vegetarier einen ganz ähnlichen Eindruck. Wir verzehren die Leiber von Geschöpfen, die uns verwandte Neigungen, Leidenschaften und Organe haben, wir essen Junge, wenn auch nicht unsere eigenen, und der Schlachthof hallt täglich wider von Schreien der Qual und Furcht. Wir machen Unterschiede, das ist wahr, aber die Abneigung vieler Nationen gegen das Fleisch von Hunden, Tieren also, mit denen wir aufs innigste zusammenleben, zeigt, wie fragwürdig die Unterscheidungen begründet sind. Das Schwein ist die Hauptnahrung der Eingeborenen auf den Inseln, und ich hatte oft Gelegenheit, da meine Phantasie durch die Kannibalenumgebung angeregt