Protokolle und Porträts

1912 – 1927

Die Dome, Holzschnitt, 1920
25,5 X 36 cm

»Ich«, bekannte er, »überlasse mich einfach der gütigen Fülle, denn alle Zudringlichkeit meines Witzes taugt zu nichts. Meine Empfänglichkeit hat ihre eigenen Grenzen, aber dem Goetheschen Schalten mit mir stehe ich grenzenlos offen. Ich darf sagen, er hat alle Alter meines Lebens immer wieder belächelt, meine selbsteigene Pein oft begütigt, unwirtliche Räume mancher tristen Gelegenheit mit Helle erfüllt. Er verhilft mir unversehens zu einer Heiterkeit, die aus mir selbst nur zähflüssig quillt, er hat Wärme, die mir so, wie sie von ihm ausgeht, nur zu sehr frommt – wahrhaftig, so manches herrliche Wort von ihm als Stiller der Wut eines Leidens und Löser seiner Bitterkeit ist probat geblieben und wird wohl auch an hilfreicher Gewalt nicht schwächer werden – wie wäre es, wenn ihr nun selbst versuchtet, ein bißchen weiterzufolgern?«

Barlach: Zum Goethe-Tag

Diario Däubler

Porträtstudie Theodor Däubler, Taschenbuchblatt aus Güstrow, Bleistiftzeichnung, 1912
16,4 X 9,7 cm
Barlach-Nachlaßverwaltung Güstrow (Heidberg)

Schwungbrettnatur: statt das Sichere, wenn auch Schwankende unter sich festzuhalten, macht er es zum Anlaß, ins Bodenlose zu kommen. Durch den Äther zu schießen ist ihm leichter, wenn auch über Kopf, als nach der Regel auf den Füßen zu stehen. Seine mächtige Leiblichkeit ist bei allem schwebend, nicht lastend.

 

Ziellosigkeit ist sein Wesen, denn eigentlich ist er immer am Ziel, er braucht nicht zu streben. So ist er jedem gut Freund und ausdauernder Genosse im Zeittotschlagen. Denn die Zeit ist seine Krankheit, er ist der Prophet der Zeitlosigkeit.

Sein Fett hängt an ihm wie seine Zeit, er kann es nicht loswerden und sie auch nicht. Und predigt doch immer, es gibt kein Fett und keine Zeit. Und in der Tat, wie er mit seinem Fett schwebt trotz seinem Fett – so ist er trotz seiner Zeit zeitlos.

 

Däubler – zeitig, fettig – ist Däubler, aber unzeitig schwebend – ist Erbrechen seiner selbst, Entleerung, Vernichtung des Viertels, um ein Ganzes zu füllen.

 

Sein Baden ist sein Bestes, er ersäuft seinen fetten Leib im salzigen Überall. Seine Zeit im Unbegrenzten, Reden, Beschwören, Prophezeien ist sein Bestes, gleichsam sein geistiges Baden; er erbricht sein Individuum im Absoluten.

 

Er möchte überall sein, und das heißt nirgendwo sein. Er möchte das Sehen umbringen, weil er weiß, das Licht, das bessere Licht, wird sich Augen schaffen, die ihm angemessener sind. Im Nordlicht schafft sich die Dunkelheit höheres Licht, Erde wird Gott.

 

Am Webstuhl der Zeit reißt er alles entzwei. Da – am Webstuhl – ist Menschentum und Begrenztheit, das lächerliche Gut-Schlecht, der Mensch, dies Wesen Gutböse, dies lächerlich erhabene Stück Natur, das das Gewand der Zeit schmückt, – aber er – Däubler – läßt Gutschlecht gut sein und hält sich ans Kristallisierte, ans Exkarnierte, sein Fleisch möchte sich entfleischen und zum Donner werden, sein Geist sich entzünden und zum Blitz werden. Er möchte sich entladen und entspannen, um an der allgemeinen Ruhe des großen Allglücks teilzuhaben.

 

Seine Predigt ist zugleich Liturgie.

 

Benehmen weltmännisch, mit den empfangenden Gebärden, die wie ein Blanko-Akzept zu sagen scheinen: Sie können schwatzen, wie Sie belieben, ich respektiere Alles. Er horcht zu wie auf Allerweltsweisheit, neigt den Kopf dabei, trinkgelddurstig nach jedem Wortgroschen.