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1

Officer Bernadette Manuelito hatte heute bereits zwei Einsätze erfolgreich hinter sich gebracht. Sie mochte ihren Job bei der Navajo Tribal Police und verlor immer mehr das Gefühl, eine blutige Anfängerin zu sein.

Unangenehme Dinge zuerst, war ihr Leitspruch, und so war sie gleich am Morgen zum Chapter House von Cudai gefahren, um Desmond Nakai einen Haftbefehl zu überbringen. Sie hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, ihn anzutreffen, doch zu ihrer Überraschung erwartete er sie schon und ersparte ihr damit, eine Fahndung nach ihm einzuleiten. Ihr Chef, Captain Largo, hatte sie gewarnt, Nakai werde, falls sie ihn überhaupt antreffe, sicher unangenehm werden. Doch Nakai nahm es gelassen, und alles verlief völlig problemlos.

Anschließend war sie nach Beclabito gefahren. Die Schule dort hatte einen Einbruch gemeldet. Doch das Ganze stellte sich schnell als harmlos heraus. Ein Aushilfstechniker hatte offenbar etwas zu tief ins Glas geschaut und war plötzlich auf die Idee verfallen, sich seine Jacke zu holen, die er am Freitag nach der Arbeit hatte liegen lassen. Da die Schule am Wochenende geschlossen war, hatte er kurzerhand im Erdgeschoss eine Scheibe eingeschlagen. Er war jedoch bereit, für den entstandenen Schaden aufzukommen. Bevor sie sich auf den Weg zu ihrem dritten Einsatz machte, meldete sie sich in der Funkleitzentrale. Der Kollege teilte ihr mit, die Fahrt zum Sweetwater Chapter House habe sich erledigt. Das bedeutete, ihr nächstes Ziel war Red Valley.

«Und, Bernie», fuhr der Funker fort, «wenn du mit Red Valley fertig bist, hab ich gleich einen neuen Job für dich. Wir haben einen Anruf bekommen, dass in einer Schlucht abseits der Sandpiste, die zur Schule von Cove führt, ein verlassener Wagen stehen soll. Blassblauer Pick-up mit Doppelkabine. Sieh mal nach und gib uns das Kennzeichen durch, wahrscheinlich ist er als gestohlen gemeldet.»

«Wieso hast du dir das Kennzeichen nicht gleich vom Anrufer geben lassen?»

«Weil der Anrufer ein Pilot von El Paso Natural Gas war, der den Wagen gestern Nachmittag und heute Morgen beim Überfliegen des Gebiets dort unten hat stehen sehen. Er sagte, er sei zu hoch gewesen, um das Nummernschild lesen zu können.»

«Aber nicht zu hoch, um zu erkennen, dass der Wagen verlassen war?»

«Ach komm schon, Bernie, wer lässt schon seinen Wagen über Nacht in einem Trockenbach stehen? Es sei denn, er hat ihn sich für eine kleine Spritztour ausgeliehen, und ganz danach sieht’s aus.» Der Funker erweiterte seine Beschreibung des Standorts noch um ein paar Details und entschuldigte sich dann, dass er ihr heute so viel Arbeit zumute.

«Ach, das geht schon in Ordnung, Rudy», entgegnete Bernie. «Tut mir Leid, wenn ich eben etwas gereizt klang.»

Der Funker in der Zentrale war Rudolph Nez, einer der dienstältesten Kollegen. Er war der Erste gewesen, der sie, jung, wie sie war, und dazu noch weiblich, als Cop akzeptiert hatte. Inzwischen betrachtete sie ihn fast als Freund und hatte den Verdacht, dass er ihr absichtlich besonders viele Aufträge aufhalste, um ihr zu zeigen, dass er sie nicht schonte und sie als den anderen Beamten ebenbürtig betrachtete. Nach Cove zu fahren kam ihr außerdem ganz gelegen. Sie würde die Möglichkeit nutzen, auf dem Weg dorthin einen Abstecher zum Roof Butte zu machen, mit gut dreitausend Metern eine der höchsten Erhebungen in der Navajo Reservation. Dort oben war ein guter Platz, um eine Pause einzulegen. Den verlassenen Pick-up zu finden hatte ja keine besondere Eile.

Nach einer knappen Stunde Fahrt erreichte sie Roof Butte und ließ sich im Schatten einiger Espen und Rottannen auf einer mächtigen Sandsteinplatte nieder. Von hier aus bot sich ihr in Richtung Norden die schönste Aussicht. Pastora Peak und die Carrizo Mountains versperrten ihr zwar den Blick auf die Rockies von Colorado, und die Gipfel in Utah lagen hinter dichten Bergwäldern verborgen. Aber direkt unter ihr erstreckte sich die unermessliche Weite von New Mexico, und zur Linken konnte sie den nördlichen Teil von Arizona sehen. Die scheinbare Unendlichkeit des zu ihren Füßen liegenden Landes, das durch die Schatten der darüber hinwegziehenden Wolken wie gefleckt aussah, und der Anblick der majestätischen Berggipfel ließen Bernie für eine Weile den Alltag vergessen. Sie dachte zurück an jenen Tag, als sie zusammen mit Jim Chee hier oben gestanden hatte. Sie war damals ganz neu im Polizeidienst gewesen, und Jim Chee war mit ihr auf diesen Gipfel gefahren, um ihr diese phantastische Aussicht auf die Navajo Nation zu zeigen. Nach Nordosten zu, über der Chaco Mesa, hatte sich eine Gewitterfront gebildet, und auch im Osten über dem Tsoodzill, dem Türkisberg, türmten sich drohend dunkle Wolkenberge. Doch das hügelige grüne Land ringsum hatte in hellem Sonnenschein gelegen. Chee hatte auf eine rotierende graue Säule aus Staub und Schmutz gedeutet, die sich jenseits des Highway 66 in schnellem Zickzackkurs auf sie zubewegte. «Ein Staubteufel», hatte sie gesagt.

«Ein Staubteufel», hatte er nachdenklich wiederholt, «ja, dasselbe habe ich eben auch gedacht. Seit meiner Kindheit fällt mir beim Anblick dieser tückischen Windhosen immer die Geschichte vom Kampf der Hard Flint Boys mit den Wind Children ein. Die guten yei bringen uns kühle, frische Luft und Regen für unser Weideland, die schlechten geben dem Wind Unheil mit auf den Weg.»

Es war ihr vorgekommen, als habe Chee ihr an diesem Nachmittag zum ersten Mal einen kurzen Blick in sein Inneres gestattet.

Sie packte ihr Lunchpaket aus und überlegte, wie sie sich Chee gegenüber verhalten sollte. Vielleicht wäre es am besten, alles zu lassen, wie es jetzt war. Freundlich und unverbindlich. Sie war sich immer noch unschlüssig, was sie von ihm wollte. Ihre Mutter dagegen schien einer Beziehung wohlwollend gegenüberzustehen. «Dieser Mr. Chee», hatte sie ihr vor ein paar Tagen völlig überraschend gesagt, «stammt, wie ich gehört habe, mütterlicherseits von den Slow Talking Diné und väterlicherseits von den Bitter Water ab.» Mehr hatte sie dazu nicht gesagt, aber das war auch nicht nötig. Bernie wusste jetzt, dass ihre Mutter sich über Chee erkundigt und die Auskunft etwaige Besorgnisse zerstreut hatte. Da Bernie von den Ashjjhi Diné abstammte, würde eine Verbindung zwischen ihr und Chee keines der Inzesttabus der traditionellen Navajo-Gesellschaft verletzen. Bernie durfte Chee also weiter zulächeln. Und vielleicht würde es auch beim Lächeln bleiben, dachte sie, denn oft hatte sie das Gefühl, ihn nicht zu verstehen.

Sie grübelte noch immer über Jim Chee nach, während sie auf der Suche nach dem verlassenen Wagen nun schon den dritten Trockenbach hochfuhr. Plötzlich sah sie vor sich etwas hell aufleuchten. Sonnenlicht, das vom Rückfenster eines Pick-up reflektiert wurde. Blassblau, mit Doppelkabine. Genau wie beschrieben.

Zugelassen in New Mexico, stellte sie fest und notierte das Kennzeichen. Dann stieg sie aus und ging langsam auf den Wagen zu. Beide Seitenfenster waren offen. Sie blieb stehen. In einer Halterung am Rückfenster befand sich ein Gewehr. Merkwürdig. Wer würde sich aus dem Staub machen und es einfach zurücklassen, eine willkommene Beute für Diebe?

«Hallo», rief sie und wartete. «Hey! Ist da jemand?»

Alles blieb still. Sie ließ das Holster aufschnappen, fasste mit ihrer Rechten nach der Pistole und näherte sich langsam der Beifahrertür.

Seitlich ausgestreckt auf den Vordersitzen, den Kopf Richtung Fahrertür, lag ein Mann. Er trug Jeansjacke und Jeans. Eine rote Basecap verdeckte den größten Teil seines Gesichts.

Da hat es mal wieder einer nicht nach Hause geschafft, dachte Bernie. Betrunkene, die ihren Rausch im Auto ausschliefen, waren für jeden Polizisten im Four-Corners-Gebiet ein vertrauter Anblick. Doch der übliche Whiskygestank fehlte. Und der Mann lag ein wenig zu still da. Regungslos, ohne sichtbare Atembewegung.

Sie holte tief Luft und trat einen halben Schritt näher. «Ya eeh teh», sagte sie laut. Der Mann im Wagen rührte sich nicht. Sie spähte durch das Wagenfenster. Kein Zeichen von offener Gewaltanwendung, nirgendwo Verletzungen oder Blut. Unter der Basecap lugten ein paar blonde Haarsträhnen hervor. Kleidung und Schuhe waren staubbedeckt. Der Mann muss bewusstlos sein oder tot, überlegte sie. Sie öffnete die Beifahrertür, griff mit ihrer Linken um den Türholm und schwang sich aufs Trittbrett. Dann beugte sie sich ins Wageninnere, schob eines der beiden Hosenbeine ein wenig hoch, umfasste mit Daumen und Zeigefinger das Fußgelenk des Mannes und suchte nach dem Puls. Der Knöchel fühlte sich kalt an, wie der eines Toten. Sie nahm keinen Puls wahr.

Bernie machte einen großen Schritt zurück, herunter vom Trittbrett. Der Kontakt mit dem leblosen Körper hatte augenblicklich die Wurzeln ihrer Navajo-Herkunft freigelegt. Tausend Jahre bevor die Diné etwas von Bakterien und Viren ahnen konnten, wussten sie um die Ansteckungsgefahr, die von frisch Verstorbenen und Sterbenden ausgeht. Die Windseele kann sich nicht vollständig vom Körper lösen, Reste bleiben zurück und üben als chindi, als böser Geist, auf alle, die mit ihm in Berührung kommen, einen zerstörerischen Einfluss aus. Schon als Kind hatte man Bernie gelehrt, sich von solchen Toten vier Tage lang fern zu halten, wenn der Tod im Freien eingetreten war. Andernfalls reichten vier Tage nicht aus, da ein chindi sich etwa im Innern eines Hauses auch für längere Zeit festsetzen konnte.

Allmählich wich ihr Schrecken, und Bernie überlegte, was zu tun sei. Als Erstes musste sie natürlich Meldung machen. Sobald sie dann wieder zu Hause war, würde sie ihre Mutter anrufen und sie bitten, ihr einen Schamanen zu nennen, der eine Reinigungszeremonie durchführen könnte, um sie vor der unheilvollen Wirkung des chindi zu schützen.

Sie ging zu ihrem Streifenwagen zurück und berichtete der Funkzentrale, was sie vorgefunden hatte.

«Natürlicher Tod also?», fragte der Kollege. «Keine Schusswunden? Keine anderen Anzeichen für Gewaltanwendung?»

«Er sieht aus, als habe er sich zum Schlafen hingelegt und sei nicht wieder aufgewacht», sagte Bernie. «Das war wohl eine Flasche zu viel.»

«Ich habe vorhin einen Krankenwagen nach Toadlena geschickt», sagte der Funker. «Ich werde mal nachfragen, ob sie noch da sind. Bleib einen Moment dran, ich sag dir gleich Bescheid.»

Bernie wartete. Plötzlich bemerkte sie, dass ihre rechte Hand, mit der sie das Mikrofon hielt, ganz schmutzig war von feinem schwarzgrauem Staub. Asche. Vermutlich vom Hosenbein des Toten, dachte sie. Sie verzog angewidert das Gesicht, legte das Mikrofon beiseite, holte ein Taschentuch heraus und wischte sich die Hand sauber.

Gerade als sie fertig war, meldete sich die Zentrale. «Geht klar, Bernie. Ich hab sie noch erwischt. Sie müssten in einer Stunde bei dir sein.»

Diese Schätzung erwies sich allerdings als reichlich optimistisch. Die Ambulanz brauchte fast zwanzig Minuten länger. Bernie kam die Zeit wie eine halbe Ewigkeit vor. Zuerst war sie im Streifenwagen sitzen geblieben und hatte überlegt, wer der Tote sein mochte. Dann war sie ausgestiegen und noch einmal um den Pick-up herumgegangen, um sich zu überzeugen, dass sie im ersten Schock nicht etwas Wichtiges übersehen hatte – eine Reihe von Einschusslöchern in der Windschutzscheibe etwa oder Blutspuren auf dem Fahrzeugboden, dem Lenkrad oder dem Gewehr im Rückfenster. Oder einen zerknüllten Zettel mit ein paar Abschiedsworten in der Hand des Toten.

Sie entdeckte weder Blutspuren noch einen Abschiedsbrief, ihr fiel jedoch auf, dass an den Jeans des Toten unterhalb der Knie sowie an seinen Socken eine Menge Pflanzensamen haftete – Melde und Spitzklette waren am häufigsten vertreten, aber auch mehrere andere, ebenfalls mit Stacheln und Widerhaken bewehrte Samen, wie sie bei Pflanzen in extrem trockenen Landstrichen das Fortbestehen der Art sichern. Erst jetzt nahm sie bewusst wahr, dass in den Gummisohlen seiner Schnürschuhe etliche der starken, widerstandsfähigen Dornen von Goathead steckten, der Plage aller Motorradfahrer. Pflanzen waren Bernies Leidenschaft, und so überwand sie ihre Scheu vor Toten, streifte ein paar Samen von den Hosenbeinen ab und steckte sie in die Tasche ihrer Uniformjacke. Sie ging zu ihrem Wagen zurück und vertrieb sich die Zeit damit, zu überlegen, woher die Samen stammen mochten. Der Trockenbach hier lag in etwa dreitausend Meter Höhe, viel zu kühl für Melden. Kurz entschlossen stieg sie wieder aus und sah sich um. Ja, sie hatte Recht gehabt. Hier gab es weder Melden noch Spitzkletten oder Goathead. Ganz in der Nähe entdeckte sie eine Gruppe von Astern. Sie hatten infolge der niedrigen Temperaturen in dieser Höhe bereits sehr früh Samen ausgebildet. Bernie beschloss, ein paar davon mitzunehmen. Sie wollte ausprobieren, ob diese auch in dem sehr viel milderen Klima bei ihr in Shiprock gedeihen würden. Und da sie schon einmal dabei war, holte sie sich auch noch die Samen von einer Akelei und ein paar Gräsern sowie einer grünen Kletterpflanze, die sie nicht identifizieren konnte. Ein Stück weit dahinter, halb verborgen unter Unkraut, sah sie den Deckel einer kleinen Metalldose hervorblitzen. Sie bückte sich und hob sie auf. Die Dose hatte einmal Prince-Albert-Pfeifentabak enthalten. Sie war etwas schmutzig, aber genau richtig, um die gesammelten Samen darin aufzubewahren.

2

Es war Joe Leaphorn nicht ganz leicht gefallen, sich an den Ruhestand zu gewöhnen, aber inzwischen kam er einigermaßen damit klar. Zum Beispiel hatte er gelernt, auf seine eigenen Bedürfnisse zu achten, wenn er Louisa Bourebonette auf einer ihrer ethnologischen Exkursionen begleitete. Meistens führten diese in abgelegene Teile der Navajo-Reservationen, wo sich die traditionelle indianische Lebensweise noch relativ unverfälscht erhalten hatte. Dort unterhielt sie sich mit den Alten des Stammes und nahm deren Erinnerungen mit dem Tonband auf. Er hatte dann meistens mit im Hogan gesessen, der im Sommer heiß war wie ein Backofen, oder sich draußen in Louisas Wagen herumgedrückt. Bis er eines Tages auf die Idee gekommen war, sich einen komfortablen Klappsessel anzuschaffen. Seitdem machte er es sich, wenn Louisa wieder eins ihrer Interviews führte, in der schattigen Laube bequem, die zu jedem Hogan gehörte.

In diesem Klappsessel saß er auch jetzt. Diesmal nicht in einer Laube, sondern unter einem Baum neben dem Heuschober des Two Grey Hills Trading Post. In einiger Entfernung, über der Bergkette der Lukachukais, türmten sich dunkle Kumuluswolken und ließen dann und wann ein verheißungsvolles Donnergrollen hören. Der Wind hatte aufgefrischt. Louisa wollte im Trading Post einen Teppich kaufen. Er sollte das Hochzeitsgeschenk für eine ihrer zahlreichen Nichten sein, und der Laden hier war berühmt für seine gute Auswahl. Da sie sogar beim alltäglichen Lebensmitteleinkauf sehr gründlich alles prüfte und dies ein Geschenk zu einem ganz besonderen Anlass sein sollte, war Leaphorn klar, dass er reichlich Zeit haben würde, um in Ruhe seinen Gedanken nachzuhängen. Im Augenblick war er dabei zu überlegen, wer wohl schneller sein würde: Louisa auf ihrer Suche nach dem vollkommenen Teppich oder das Gewitter. Es war natürlich auch möglich, dass er vergeblich wartete. Die Gewitterfront konnte sich in der trockenen Luft über der Prärie einfach auflösen und Louisa ohne Teppich aus dem Trading Post zurückkommen. Es konnte aber auch passieren, dass die Wolken stiegen, höher und immer höher. Ihre Unterseiten würden sich ins Blauschwarze verfärben, während sich oben glitzernde Eiskristalle bildeten. Dann sollte endlich der ersehnte Regen fallen. Auf dem zusammengebackenen, bräunlichen Staub des Parkplatzes von Two Grey Hills würden sich mit den ersten dicken Tropfen schnell dunkle Flecken ausbreiten, und Louisa würde in der Eingangstür erscheinen, unter dem Arm einen selten schönen Teppich. Und sie würde glücklich zu ihm herüberwinken, er solle mit dem Wagen bei ihr halten, damit das gute Stück nicht nass würde.

Über den Hang des Berges zuckte ein so greller Blitz, dass er instinktiv die Augen zukniff, gefolgt von einem Donnerkrachen wie bei einer Explosion. In diesem Augenblick rollte ein Chevy auf den Parkplatz, mit der Aufschrift SHERIFF an der Seite. Der Wagen bremste zunächst ab, anscheinend um in der Nähe des Eingangs anzuhalten, fuhr dann aber in einer großen Kurve zu Leaphorn hinüber.

«Lieutenant Leaphorn», sprach der Fahrer ihn an, «bei Gewitter sollten Sie aber nicht unter einem Baum sitzen.»

Ein Gesicht aus vergangenen Zeiten. Deputy Sheriff Delo Bellman.

Leaphorn hob seine Hand zum Gruß, überlegte, ob er «Hallo, Delo» sagen sollte, entschied sich dann aber für «Delo, ya eeh teh».

«Hast du heute schon Nachrichten gehört?», fragte Delo.

«Nur ganz kurz», antwortete Leaphorn. Bellman brauchte kein Radio, um auf dem neuesten Stand zu sein, dachte er. Der war bekannt als das größte Klatschmaul der ganzen Polizei im Four-Corners-Gebiet.

«Du weißt also noch nichts von dem Toten», stellte Bellman befriedigt fest. «Jemand von deiner alten Truppe hat gestern in der Nähe von Cove einen Mann tot in seinem Pick-up gefunden. Es handelt sich um den Neffen vom alten Bart Hegarty. Sein Name war Thomas Doherty.»

Leaphorn versuchte eine Miene zu machen, die zu der traurigen Nachricht passte. Doch seine Kontakte mit Sheriff Bart Hegarty waren weder zahlreich noch besonders erfreulich gewesen. Deshalb war er auch damals nicht zur Beerdigung gegangen. Der Sheriff war vor ein paar Jahren im Winter bei vereister Fahrbahn mit dem Auto gegen einen Brückenpfeiler geprallt. Er hatte den Unfall nicht überlebt. «Und die Todesursache?», wollte Leaphorn wissen. «Wenn er Hegartys Neffe war, wird er ja wohl kaum an Altersschwäche gestorben sein.»

Bellman lachte. «Nein, er war Mitte zwanzig. Hatte eine Kugel im Rücken», sagte er, und Leaphorn spürte seine geheime Lust an der Sensation. «Der Schütze hat ein Gewehr benutzt.»

Das überraschte Leaphorn, bedeutete es doch nichts anderes, als dass der Schuss den Mann außerhalb des Wagens getroffen haben musste. Aber er fragte nicht weiter nach, sondern nickte nur. Er wollte nicht zu interessiert erscheinen, um von Bellman nicht noch weiter ins Gespräch gezogen zu werden. Leaphorn hatte bereits gestern Abend aus den Fernsehnachrichten erfahren, dass man in der Nähe von Cove einen Toten in einem Pick-up entdeckt hatte, doch hatten die Feds weder die Todesursache noch den Namen des Opfers bekannt gegeben. Aber allein aus der Tatsache, dass das FBI den Fall an sich gezogen hatte, hatte er geschlossen, dass es sich entweder um einen gewaltsamen Tod handelte oder das Opfer ein gesuchter Verbrecher war.

Bellman grinste: «Ist das nicht komisch? Da heiratet eine Frau namens Hegarty einen Mann namens Doherty …» Als Leaphorn nicht reagierte, schob er hinterher: «Na, ’ne -arty heiratet ’nen -erty!»

«Danke, hab schon begriffen», sagte Leaphorn.

«Wahrscheinlich eine Jagdwaffe», fügte Bellman übergangslos hinzu. «Da hat einer aus ziemlicher Entfernung auf ihn angelegt, und dann: Bumm!»

Leaphorn nickte. Das hieß, die von der Spurensicherung waren zu dem Ergebnis gekommen, dass das Opfer erst nach dem tödlichen Schuss ins Auto gesetzt worden war. Interessant.

«Die Polizistin vor Ort hat auf eine natürliche Todesursache getippt. Er lag auf der Seite, und so konnte sie die Schussverletzung im Rücken nicht sehen.»

«Eine Frau?»

«Ja», antwortete Bellman, «die kleine Manuelito.»

Bernadette Manuelito also, dachte Leaphorn. Eine kluge junge Person. Zuletzt hatte er mit ihr zu tun gehabt, als er gemeinsam mit Jim Chee versucht hatte, den Überfall auf das Spielkasino aufzuklären. Wach und sehr umsichtig, aber ihr fehlte noch Erfahrung. «Na ja», sagte er, «manchmal übersieht man eben was. Ich kann ihren Irrtum schon nachvollziehen.»

Umso mehr, dachte er, als sie die Tochter einer ausgesprochen traditionellen Navajo-Familie war und man sie gelehrt hatte, gegenüber Verstorbenen auf Abstand zu achten, denn der Kontakt mit einem Toten barg die Gefahr spiritueller Verunreinigung, falls der chindi den Leichnam noch nicht vollständig verlassen hatte. Manuelito war vermutlich davor zurückgeschreckt, den Toten zu berühren oder sich auch nur länger als unbedingt nötig in seiner Nähe aufzuhalten. Hatte nur bei ihm ausgeharrt, bis die Besatzung des Ambulanzwagens ihn übernahm, und bis dahin möglichst Distanz gewahrt.

«Soviel mir zu Ohren gekommen ist, haben die Feds nicht ganz so großes Verständnis wie du. Angeblich haben sie sich bei Captain Largo beschwert, wie sie die Sache angefasst hat …» Er ließ ein gehässiges kleines Lachen hören. «… oder auch nicht angefasst hat.»

«Was führt dich eigentlich nach Two Grey Hills?», fragte Leaphorn. Er wollte das Thema wechseln und hoffte, dass Bellman dann endlich verschwand.

«Wollte nur mal nach dem Rechten sehn», antwortete der Deputy. «Schauen, was so anliegt.» Er startete den Motor, beugte sich dann aber noch einmal aus dem Fenster.

«Ich möchte wetten, das FBI sorgt dafür, dass Jim Chee in der nächsten Zeit ’ne Menge Papierkram auf den Schreibtisch kriegt. Was meinst du?»

«Kann sein, kann auch nicht sein», sagte Leaphorn, obwohl er wusste, dass Bellman wahrscheinlich Recht hatte.

Der begann, höhnisch grinsend die Gründe für seine Annahme herunterzubeten. Erstens die allseits bekannten Spannungen zwischen Sergeant Chee und dem Federal Bureau of Investigation, die ja von der gesamten Polizei des Four-Corner-Gebiets mit großer Anteilnahme beobachtet wurden; zweitens die Tatsache, dass Captain Largo, also derjenige, der gegenüber dem FBI den Kopf hinhalten musste, Aktenarbeit verabscheute und diese daher so schnell wie möglich an Sergeant Chee weiterreichen würde; und drittens das Gerücht, dass sich zwischen Chee und Officer Manuelito etwas anbahnte. Woraus folgte, dass Chee sich beim Abfassen des fälligen Berichts alle nur erdenkliche Mühe geben würde, sie gegen den Vorwurf, sie habe sich am Tatort nachlässig verhalten, zu verteidigen.

«Und noch was, Joe», fuhr Bellman fort. «Ich hab das dumme Gefühl, dass dieser Fall auch dich noch beschäftigen wird.»

Leaphorn öffnete seinen Mund. Doch dann überlegte er es sich anders und entschloss sich, lieber zu schweigen. Er wollte Bellman los sein, ehe Louisa auftauchte und auf ihn zustürzte, ob mit oder ohne Teppich. Denn das hätte Bellmans Gerüchteküche nur wieder neuen Stoff geliefert.

Er konnte ihn schon hören: «Ratet mal, mit wem ich den alten Joe Leaphorn am Two Grey Hills Trading Post gesehen habe?» Doch seine Neugier war nun einmal geweckt, und so platzte es aus ihm heraus: «Wieso?»

«Wegen der Sachen in Dohertys Pick-up. Etliche Landkarten, einige Computerausdrucke mit geologischen und mineralogischen Daten und jede Menge Polaroidfotos, offenbar in irgendeinem Canyon aufgenommen.»

Leaphorn schwieg.

«Und außerdem ’n ganzer Ordner voll mit Fotokopien von Artikeln über die Golden-Calf-Mine», fügte Bellman hinzu. «Ich wette, das erinnert dich an den alten Wiley Denton und diesen… na, wie hieß er noch? Dieser Betrüger, den Wiley erschossen hat. McKay – war das nicht sein Name?»

«Marvin McKay», sagte Leaphorn. Bellman hatte leider Recht. Dass Doherty bei seinem Tode Unterlagen über die Golden-Calf-Mine bei sich hatte, rief sofort wieder die Erinnerung an den Fall Denton/McKay wach. Einen Fall, der ihn über all die Jahre nicht losgelassen hatte, weil er nie herausgefunden hatte, was mit Linda Denton, Wiley Dentons Frau, geschehen war.