Durch mich gelangt man zu der Stadt der Schmerzen,
Durch mich zu wandellosen Bitternissen,
Durch mich erreicht man die verlorenen Herzen.
DANTE ALIGHIERI,
Hölle III
Die Glocken riefen mit ohrenbetäubender Stärke zum Osterhochamt in den Dom. Aufdringlicher als sie war nur noch das Flirren des Geschmeides und das Wabern der Parfümwolken, die einem in die Nase stiegen, wenn man inmitten der Menschenmasse stand.
Ich hätte auf meinen Schwiegersohn hören sollen, der gesagt hatte, die Gläubigen würden uns erdrücken. Wir hatten das Haus gute zwei Stunden nach dem Mittag verlassen, und obwohl wir so eine Stunde zu früh für die Messe an diesem Ostersonntag waren, drängten sich die Menschen dicht an dicht. Gestern mit Jana auf dem Domplatz hatte ich geglaubt, die Florentiner hätten ihre edelsten Gewänder getragen; jetzt wurde ich davon überzeugt, dass es tatsächlich noch Steigerungen gab.
Brokat schimmerte auf fließender Seide, Perlen und Diademe schienen wie Bäche aus funkelndem Gestein aus den fantastischen Frisuren der Frauen zu strömen, und die Schwerter, die in goldverbrämten Scheiden von den stoffschweren Hüften der Männer hingen, hätten weniger einen Söldnertrupp in die Flucht schlagen als vielmehr seine Dienste für mindestens ein ganzes Jahr kaufen können. Es war ein bunter, ein schillernder, ein von Pretiosen und Schmuck blitzender Strom, der sich in das Innere der Kirche hineinwälzte, als die Türen endlich geöffnet wurden. Im Kirchenschiff roch es nach Weihrauch und viel mehr noch nach Duftflacons und den ölgetränkten Tüchlein, mit denen Männer und Frauen gleichermaßen herumwedelten.
Nicht einmal die in großer Zahl erschienenen Bettler und Krüppel, die sich an den Wänden entlang aufreihten und ihre kaputten Gliedmaßen zur Schau stellten, konnten langfristig dagegen anstinken.
»Wenn das Jana sehen könnte …«, raunte ich meinem Schwiegersohn zu und fühlte erneut einen ärgerlichen Stich darüber, dass sie die Einladung des Patriziers Benozzo Cerchi auf sein Landhaus dem Besuch der Ostermesse vorgezogen hatte.
Mein Schwiegersohn Johann Kleinschmidt seufzte und machte ein unzufriedenes Gesicht. Seine Augen huschten hin und her, als seien sie schon jetzt auf der Suche nach seinen gefürchteten Geschäftskonkurrenten aus dem Hause Fugger. Er hatte uns durch ein Seitenportal an der Nordwand in die Kirche geführt. Schon hier hatten sich zwei Männer grob hinausgedrängt, als wir hineinwollten – als ob es ihnen im Inneren des Doms plötzlich zu eng geworden wäre. Ich legte den Kopf in den Nacken, um in die gewaltige Öffnung der Kuppel hinaufzustarren, die sich gleich nach dem Seitenportal ausdehnte.
»Lasst uns in der Nähe des Portals bleiben, da ist das Gedränge nicht so groß«, flüsterte Kleinschmidt. Ich ignorierte ihn und machte unserem Gefolge ein Zeichen, tiefer in die Kirche vorzudringen. Die drei Männer aus dem Gesinde, die Kleinschmidts Entourage darstellen sollten – mit noch nassem Haar und rot aufgescheuerten Gesichtern von der ungewohnt gründlichen Rasur –, bewegten sich ungelenk. Die unerwartete Ehre und Sauberkeit, die der überraschende Einsatz als Kleinschmidts »Ehrengarde« ihnen beschert hatte, ließ sie mit tapsiger Würde einhertreten. Sie hätten schlechter aussehen können. Sie drehten sich zu Kleinschmidt um, der sich von ihnen mit gottergebenem Gesicht in die Mitte nehmen ließ. Ich nickte ihnen lobend zu.
Trotz aller Entschlossenheit kamen wir nicht weit. Niemand dachte daran, zur Seite zu weichen. Der Platz, den ich uns erkämpfte, war dennoch nicht der schlechteste. Am Eingang zum Chor befand sich eine Holzbalustrade, vor der etliche Personen standen und sich unterhielten, und zwischen ihnen und der Menge der Gottesdienstbesucher bestand eine breite Gasse, die sich quer von Nord nach Süd durch den Boden unter der Kuppel zog. Wir kamen hinter den Rücken derer zum Stehen, die die Letzten vor dem freien Stück Raum waren. Ich schob Kleinschmidt wie ein Kind nach vorn und stellte mich hinter ihm auf, sodass ich mühelos über ihn und seine Vordermänner hinwegschauen konnte. Einige drehten sich um und starrten uns an; ich verbeugte mich und trat Kleinschmidt auf die Zehen, der murmelnd die Lüge vom Abgesandten des Handelshauses Hochstetter über mich verbreitete. Das Interesse der Angesprochenen war nicht sonderlich groß.
Einer der Dienstboten stieß mich sanft in die Seite und zeigte auf eine Gruppe von Männern, die vorn an der südlichen Öffnung der Holzbalustrade stand. »Ser Lorenzo!«, zischte er.
Lorenzo de’ Medici stand zwischen zwei Männern, die schlichte Priesterkleidung und Tonsuren trugen. Er schien sich zu langweilen und der stockenden Unterhaltung, die die beiden Geistlichen mit ihm führten, nur mit halbem Ohr zu lauschen. Als er sich umdrehte, um die Menge zu mustern, sah ich ein blasses, fleckiges Gesicht, von lockigem, schulterlangem dunklen Haar eingerahmt, in dem zwei prüfend zusammengekniffene Augen und eine lange, platte Nase auffielen. Er hatte breite Kinnbacken, die seinen Unterkiefer vorschoben, und wirkte in seiner zweifarbigen, links schwarzen, rechts rosenroten Schaube doppelt so massiv und kräftig wie die Priester. Er schien auf etwas zu warten. Ein paar Männer in seiner Nähe, ebenso prächtig gekleidet wie er, doch einige Jahre älter, folgten seinen Blicken. Ich beugte mich zu Kleinschmidt und bemerkte, dass er den Herrn des Hauses Medici wie gebannt anstarrte.
»Kennst du ihn näher?«, fragte ich ihn. Er schüttelte den Kopf, ohne die Blicke von ihm abzuwenden. Unwillkürlich sah ich mich nach der Ehrfurcht gebietenden Gestalt des Mannes um, den Kleinschmidt mir als Lorenzos erbitterten Gegner geschildert hatte: Jacopo de’ Pazzi, der knorrige, weißhaarige alte Aristokrat und Herr der Familie Pazzi, die die Finanzverwaltung des Heiligen Stuhls aus den Händen der Medici gerissen hatte. Ich konnte ihn nirgends sehen. Vermutlich zog er den Besuch der Messe in der Franziskanerbasilika Santa Croce dem Zusammentreffen mit seinem Feind vor dem Altar Santa Maria del Fiores vor.
Hinter uns stockte das Raunen der Kirchenbesucher plötzlich, um dann lauter zu werden und in vereinzelte fröhliche Rufe auszubrechen. Ich drehte mich um und sah aus dem Augenwinkel, dass Lorenzo de’ Medici sich aufrichtete und das Kirchenschiff entlangspähte. Es kam Bewegung in die Menge. Sie drängte auseinander, als stünde dort vorn ein Moses, der die Fluten des Roten Meers teilte. Ich sah das Licht, das vom geöffneten Hauptportal in die Kirche drang. Kleinschmidt reckte den Hals und sagte dann voller Spannung: »Giuliano!«
»Ser Lorenzos Bruder?«
Er nickte.
Giuliano de’ Medici schritt langsam durch die Gasse zum Chor, Arm in Arm mit einem kleinen Mann, der ein zynisch überlegenes Gesicht machte und damit das Wohlwollen abzuwehren schien, das über seinen Kopf hinweg auf Giuliano de’ Medici zuschwappte. Der junge Mann war noch immer so bleich wie gestern, als Jana und ich ihn von weitem gesehen hatten, ein großer, schlanker Adonis mit halblangem Haar, der die gesamte Schönheit der Familie, falls es so etwas gab, geerbt zu haben schien. Der kleinere Mann redete auf ihn ein und schien ihn aufheitern zu wollen, denn Giuliano lachte und reagierte sowohl auf seine Worte als auch auf die freundlichen Gesten der Messbesucher mit einem fröhlichen Lächeln. Der zweite Mann in seiner Begleitung wirkte wie ein Angehöriger des Gossenpöbels, der zufällig in ein teures Gewand geschlüpft ist, grob und untersetzt, mit kurzen, muskulösen Beinen in einer engen Hose. Vielleicht war er ein Leibwächter. Als ich sie die Gasse heraufschreiten sah, erkannte ich in den beiden Männern in Giulianos Begleitung diejenigen, die sich bei unserem Eintreten vorhin so hastig durch das Seitenportal gedrängt hatten. Sie schritten an uns vorbei und durchquerten den freien Raum zur Holzbalustrade. Lorenzo entspannte sich; er lächelte breit und winkte seinem Bruder zu, der mit einem ebenso breiten Lächeln zurückwinkte. In diesem Moment, mit den identischen Gesten, sahen sie trotz ihres unterschiedlichen Körperbaus aus wie die Brüder, die sie waren. Keiner machte irgendwelche Anstrengungen, die gegenseitige Zuneigung, die sie offensichtlich verband, zu verbergen.
Der Chor setzte ein, zusammen mit dem Schellen von Silberglöckchen und dem Rasseln der Weihrauchbehälter, die vorn am Altar geschwungen wurden. Giuliano de’ Medici trat an die nördliche Öffnung der Holzbalustrade. Die Stimmen des Chors schwangen sich empor, als eine Gruppe von Männern in strahlend weißem Ornat aus der Sakristei kam und zum Altar schritt. Ein dunkelroter Farbtupfer unter ihnen war Kardinal Raffaelle Riario, den ich mehr an seinem Kardinalsmantel erkannte als an seinem gesenkten Gesicht. Einer der weiß gekleideten Priester blieb am Altar stehen und faltete die Hände; die anderen, mit ihnen der Kardinal, setzten sich auf die Bänke an der Seitenwand des Altarraums. Der Chor, unsichtbar hinter den blumengeschmückten Stellwänden im Chorraum, verstummte nach einem letzten Jubilieren.
Die gebannte Erwartung des Messbeginns ließ die Kirchenbesucher schweigen, wie sie es stets vermochte. Das immer gleiche Ritual, von den meisten unverstanden, von nuschelnden oder leidenschaftlichen Priestern vorgetragen, in vom vielen Gebrauch abgeschliffenem Latein – während der Zeit meiner weitesten Distanz von der Kirche hatte ich dafür nur schmerzvolle Verachtung verspürt. Hier, in diesem mehr als prachtvollen Gotteshaus, in dieser stein- und goldgewordenen Hingebung an die höhere Macht Gottes, spürte jedoch auch ich eine seltsame Berührung. Vielleicht hätte ich schon eher nach Florenz kommen sollen, um meine Verbindung zu Gott wieder zu suchen. Der Weihrauch wallte duftend in die Höhe und setzte sich kurzfristig gegen die Parfümwolken der Patrizier durch; in der Kuppel schienen die letzten Töne des Chorals zu verklingen. Die Gemeinde schwieg und gab nur die Geräusche von sich, die sich nicht vermeiden ließen: das Klirren von Armreifen, das Rascheln von Seide und das Scharren von Schuhsohlen auf dem Mosaikboden. Der Priester sah auf und hob beide Arme.
Vor der Holzbalustrade verschwanden Lorenzo und Giuliano de’ Medici plötzlich unter einem Gewimmel von Leibern. Noch bevor der Priester reagieren konnte, noch bevor die Kirchenbesucher einen Laut ausstießen, noch bevor ich spürte, wie sich Kleinschmidts Hand auf einmal in mein Wams krallte, gellten Schreie auf, und Männer taumelten vorn bei der Holzbalustrade zurück oder stürzten zu Boden. Jemand schrie aus Leibeskräften: »Prendi, traditore!« Ich sah einen der beiden Priester in Lorenzos Begleitung zurückprallen und über seine eigenen Füße stolpern. Das Gewühl aus aufgeregten Körpern löste sich plötzlich in einer ziellosen Rauferei auf.
Die Bewegung der Menschen glich der vorherigen bei Giuliano de’ Medicis Eintreten: Sie wichen krampfhaft zurück. Die Reaktion setzte noch vor dem Schrecken ein; dann erhob sich ein wüstes Kreischen und Geschrei, und ich wurde zur Seite und fast zu Boden gestoßen. Ich hielt mich an jemandem fest und starrte in Kleinschmidts totenblasses Gesicht. Die Messbesucher wandten sich zur Flucht, stießen und drängten und rissen uns mit sich, bis ich mich mit rudernden Armen freimachte und plötzlich allein vor der Holzbalustrade befand.
Giuliano de’ Medici stand dem muskulösen Mann aus seiner Begleitung gegenüber, der ihn scheinbar mit seinem Körper zu decken versuchte. Giuliano starrte ihn befremdet an. Dann trat der muskulöse Mann zurück und zog ein kurzes Schwert aus dem Körper Giulianos, und dieser brach zusammen. Der kleine Mann, der ihn beim Hereinkommen gestützt hatte, riss einen Dolch aus dem Gürtel und sprang zu dem Attentäter hinüber, sein Gesicht eine verzerrte Grimasse aus bleckenden Zähnen. Er stieß den Mann mit dem Schwert beiseite und fiel in seiner Hast über Giulianos zusammengekrümmten Körper.
Jemand packte meinen Arm und riss mich herum.
»Mein Gott, schnell, wir müssen hier heraus!«, schrie Johann Kleinschmidt. Ich schüttelte ihn ab. Der kleinere der beiden Männer aus Giulianos Begleitung rappelte sich auf und begann, mit seinem Dolch auf den am Boden liegenden Körper einzustoßen wie ein Rasender. Der Mann mit dem Schwert wandte sich um und stürzte auf die Gruppe um Lorenzo de’ Medici zu. Das Häufchen älterer Männer aus Lorenzos Begleitung floh von der Balustrade in unsere Richtung und rannte uns fast um.
»Was wollt Ihr hier noch?«, schrie Kleinschmidt. »Schnell!«
Der Priester, der zu Boden gestürzt war, versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Aus seiner Hand fiel ein Messer auf die Fliesen. Giulianos Bruder stand mit dem Rücken zur Balustrade, seinen kurzen Mantel um den linken Arm gewickelt, und fine einen Dolchstoß des zweiten Priesters ab. Lorenzo blutete stark aus einer Halswunde; mit der Rechten schwang er ein zierliches Schmuckschwert, aber der zweite Priester duckte sich und drang wieder auf ihn ein. Der erste Priester bückte sich nach seinem Dolch; der einzige Mann aus Lorenzos Begleitung, der nicht das Weite gesucht hatte, stürzte sich auf ihn und warf ihn wieder zu Boden. Lorenzo sprang über die Balustrade und floh durch den Chor. Aus dem südlichen Seitenschiff hasteten jetzt weitere Männer in den Chorraum, stießen die ineinander verkeilten, hinausdrängenden Messbesucher rücksichtslos zur Seite und zogen im Laufen ihre Schwerter. Lorenzos Gefährte versetzte dem Priester einen Tritt und sah sich nach Lorenzo um. Sein Blick fiel auf den muskulösen Mann mit dem Schwert, der Giuliano niedergestochen hatte; dieser schwang sich soeben über die Balustrade und rannte Lorenzo hinterher. Die in den Chorraum stürmenden Männer waren noch zu weit entfernt; Lorenzos Gefährte ließ von dem Priester ab und sprang ebenfalls über die Brüstung, dem Mann mit dem Schwert in den Weg. Als dieser ihm auswich, eilte er ihm nach, versuchte ihn mit beiden Armen zu umfangen, kam ins Stolpern und stürzte.
Ich wurde angerempelt und zur Seite gestoßen. Ein zweiter Trupp Bewaffneter eilte zu der Stelle, an der der blutüberströmte Giuliano lag und von dem kleinen Mann noch immer mit dem Dolch zerfetzt wurde. Aber jetzt quollen die Sängerknaben hinter den Stellwänden hervor und liefen kreischend im Chorraum herum. Als der kleine Mann die Männer sah, die sich fluchend durch die Knaben arbeiteten, sprang er humpelnd davon.
Auf der anderen Seite des Altars mühte sich der muskulöse Mann, sein Schwert aus dem Genick des Mannes zu ziehen, der ihn aufzuhalten versucht hatte. Er blickte sich wie rasend um, riss sein Schwert mit einer gewaltigen Anstrengung an sich, versetzte dem zuckenden Körper zu seinen Füßen einen Tritt und sprang zur Sakristeitüre hinüber, aber diese schwang soeben hinter Lorenzo de’ Medici zu. Er wandte sich zum Altarraum um. Der Priester, noch immer hinter dem Altar, hob entsetzt die Hände vors Gesicht und rannte dann mit wedelnden Armen in den Chorraum, in die Arme der Bewaffneten, die versuchten, den Attentäter einzufangen. Die weiß gekleideten Würdenträger, die bis jetzt wie gelähmt vor Schreck dem Geschehen zugeschaut hatten, sprangen ebenfalls auf und drängten in den Chorraum hinaus. Kardinal Riario hastete ihnen hinterher, verlor seinen weiten Kardinalshut, trat auf seine Robe und fiel auf den Boden.
»O mein Gott, da kommen sie«, keuchte Kleinschmidt. Ich fuhr herum. Die Gläubigen hatten sich von ihrer Fluchtrichtung zum Hauptportal hinaus abgewandt und rannten nun auf uns zu, zum Chorraum, zu den Seitenportalen, in Sicherheit. Plötzlich fanden wir uns in einem um sich schlagenden Gewühl an Gliedmaßen und Körpern wieder, Frauen und Männer gleichermaßen, denen Geschmeide vom Kopf rutschte, Ketten zerrissen, die ihre Perlen wie einen Hagelschlag um sich verteilten, die falsche Haarteile, Tücher, Schals und Handschuhe verloren und sich den Weg zum Portal freikrallten. Sie nahmen mir den Blick auf das weitere Geschehen, sie nahmen mir den Atem, sie trennten mich endgültig von meinem Schwiegersohn und schwemmten mich nach draußen.
Männer schrien nach ihren Frauen, Frauen nach ihren Kindern; nicht wenige schrien einfach um Hilfe oder flehten in ihrer Panik zu Gott. Die Menge platzte aus dem Seitenportal und rannte nach allen Richtungen auseinander. Ich taumelte zwischen ihnen und versuchte, nicht zu stolpern. Ich erwartete, dass Johann Kleinschmidt im nächsten Moment wieder neben mir auftauchen würde, aber ich konnte ihn nirgends entdecken. Wenn ich die Sprache beherrscht hätte, hätte ich nach ihm fragen können. So eilte ich ratlos in die verschiedensten Richtungen, um ihn inmitten des aufgeregten Volks zu erspähen. Über dem Platz hingen Staub und das entsetzte Geschnatter von tausend erregten Kehlen. Als nur wenige Straßenzüge entfernt plötzlich Glocken mit einem panischen Sturmgeläut einsetzten, zuckten alle zusammen und sahen in die Richtung, aus der der Lärm kam. Im nächsten Moment eilten fast alle auf das Läuten zu, lauter brüllend als zuvor. Ich blieb zwischen den Davonlaufenden zurück, verwirrt und mit zuckenden Beinmuskeln, atemlos und ratlos und noch immer voller Erregung über den Vorfall. Weitere Menschen, diesmal schlechter gekleidet – Handwerker, Arbeiter, Gassenpöbel –, rannten schreiend und armwedelnd an mir vorbei in jene Gasse hinein, die nach Süden führte. Mein Schwiegersohn blieb verschwunden. Ich setzte mich keuchend ebenfalls nach Süden in Bewegung, ohne daran zu denken, dass die vernünftigste Richtung, in die ich hätte rennen sollen, Norden war.
Wir eilten durch eine lang gezogene, verwinkelte Gasse, in der es nach Häuten, offenen Feuerstellen, nach süßem und saurem Gebackenen und nach Fisch roch. An ihrem Ende öffnete sich ein weiter Platz, über den das Läuten mit wütender Heftigkeit erscholl. Über die Köpfe und Rücken, über drohende Arme und geschüttelte Fäuste hinweg erhob sich ein strahlend goldfarbener Bau; ich erinnerte mich, dass Kleinschmidt mir den schlanken Turm gezeigt und erklärt hatte, dies sei der Palast der signoria. Im breit ummauerten Kranz des Turms schwang die Glocke. Ich hörte von dort das Klirren von Ketten, die über Treppenstufen gezogen wurden, das Aufeinanderschlagen von Waffen und das heisere Gebrüll: »Popolo e libertà!« Es war eine Belagerung; nein, es war ein Sturm. Die Besatzung des Palazzo della Signoria versuchte die Tore zu schließen, während die Belagerer dagegendonnerten. »Popolo e libertà, uccidiamone i traditori!« Die Neuankommenden mischten sich zum Vorteil beider Seiten in den Kampf ein. Ein Mann schrie schrill auf und begann danach, abgehackt zu kreischen, als werde er in Stücke gerissen. Ich vernahm es, und aus keinem anderen Grund wich plötzlich die Erregung von mir und ließ mich stattdessen voller Angst um mein Leben zurück.
Zu dem Brüllen des ersten Verletzten gesellten sich weitere Schmerzensschreie. Ich sah dem Gemetzel über den Platz hinweg zu, ohne mich von der Stelle rühren zu können. Ich war Untersuchungsbeamter eines Bischofs gewesen und hatte in dieser Zeit genügend Tod und Gewalt erlebt; ich hatte die beiläufigen Toten eines Krieges gesehen, in dem ich um den Frieden verhandelte – aber diese kreischende Wut, mit der Bürger und Bewaffnete übereinander herfielen, lähmte mich. Es war offensichtlich die Befreiung von der lastenden Anspannung der vergangenen Jahre und Monate, in denen die Bemühungen des Papstes, die Republik zu schwächen, die Stadt in immer mehr feindliche Lager gespalten hatte. Es war das Überschwappen der Gewalt hinter die Mauern der reichsten Stadt Italiens. Es war die nackte Lust daran, seinem Gegner endlich die Augen herauszureißen. Wehe denen, die unvorbereitet zwischen die Parteien dieses Aufstands gerieten.
Und Jana und ihr Gefolge befanden sich auf dem Weg vom Landgut des Benozzo Cerchi zurück in die Stadt!
Ich keuchte vor Schreck und vergaß meinen Schwiegersohn. Ich wandte mich um; ich musste Jana am Stadttor abfangen.
Eine Hundertschaft brüllenden Pöbels stürmte den Platz, tobend und bis an die Zähne bewaffnet, angeführt von einem guten Dutzend Reiter. An ihrer Spitze bäumte sich ein Pferd auf, ein Mann fuchtelte mit einem Schwert, langes weißes Haar unter einem antiquierten Helm und den hageren Körper von einem Brustpanzer umschlossen. Jacopo de’ Pazzi, und er brüllte: »Pazzi, Pazzi, popolo e libertà!«
Kampfgeschrei erfüllte den Platz. Jacopo de’ Pazzi trieb seine kleine Armee voran; sie strömte an ihm vorbei, während er sein Pferd wieder und wieder in die Höhe steigen ließ und Kommandos hervorstieß. Seine berittenen Anhänger galoppierten auf den Eingang des Palasts zu. Ich drückte mich in einen Hauseingang. Niemand nahm von mir und den anderen Unglücklichen Notiz, die sich gleich mir in Eingangstoren oder Nischen verbargen und versuchten, nicht unter die Füße dieser Privatarmee zu geraten. Ich starrte mit weit aufgerissenen Augen und hörte mein Herz schlagen. Die Leute Pazzis kannten nur ein Ziel – den Palast; und ich wusste, wer ihnen auf dem Weg dorthin in die Quere kam, den würden sie in Stücke reißen. Sie rannten an mir vorüber, Männer in zerlumpten Wämsern zumeist, mit schmutzigen Gesichtern und fauligen Zähnen in den brüllend aufgerissenen Mäulern. Einer der Laufenden machte plötzlich einen Satz nach hinten und prallte auf den Boden, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Von einer Stelle des Pflasters stoben Funken auf, etwas wirbelte durch die Luft davon – Jacopo de’ Pazzi brüllte auf und deutete mit seinem Schwert auf den Turmkranz des Palastes. Ich sah zwei Männer dort oben, klein aus der Distanz, die abwechselnd mit Armbrüsten herunter in die Menge schossen. Aus den Gassenmündungen brachen weitere bewaffnete Männer hervor und mischten sich in den Kampf. Sie bewegten sich geordneter als der Haufen, der hinter dem alten Pazzi hergestürmt war, und ihr Eingreifen brachte die Pöbelarmee mit einem gewaltigen Aufprall von Körpern und Klingen zum Stehen. Die Vorwärtsbewegung löste sich plötzlich in Dutzende von Einzelkämpfen auf, aus der gezielten Woge gegen den Eingang des Palastes wurde ein gewalttätiges Wimmeln, das nicht mehr von der Stelle kam. Pazzi ließ sein Pferd herumtanzen und fluchte und brüllte, bis seine Stimme sich überschlug. Er wirbelte sein Schwert über dem Kopf herum und versuchte, seine Reihen zu ordnen, aber seine Männer hatten sich längst in Kämpfen Mann gegen Mann verzettelt. Die Ersten gingen bereits zu Boden und lagen dort still oder wanden sich vor Schmerz. Es kamen immer noch mehr bewaffnete Medici-Anhänger auf den Platz gerannt und fielen über den Pöbel her. Schon wandten sich Gruppen zu einem halben Dutzend und mehr zur Flucht; vereinzelte wurden wieder eingefangen und gingen schreiend unter einer hackenden, stechenden und prügelnden Traube zu Boden. Der alte Pazzi sah sich wild um; seine Reiter sprengten auf ihn zu und stießen zur Seite, was sich von ihren Kämpfern noch auf den Beinen hielt. Sie bildeten einen Ring um ihn, er schüttelte den Kopf, und ihre Gruppe setzte sich in Bewegung, fort vom Platz, fort vom Eingang des Palastes, dessen Besatzung jetzt einen Ausfall wagte. Einer der Männer auf dem Turmkranz legte die Armbrust erneut an, und ich glaubte fast, das Sirren des Bolzens zu vernehmen und den dumpfen Aufschlag, mit dem er sich in die Hinterhand eines der flüchtenden Pferde bohrte. Das Pferd wieherte schrill und brach aus, sein Reiter brachte es wieder unter Kontrolle, und die Männer stoben davon, durch die Reste ihrer geschlagenen Hundertschaft, die mit allen Kräften zu fliehen versuchten, verließen den Platz ihrer Niederlage, während sich in ihrem Rücken ein weiteres Kampfgebrüll erhob, das eindeutig den Sieg der Medici-Seite beschrie. Ich löste mich von der Wand und floh um die Ecke herum, verfolgt von Geheul und Geschrei und dem siegestrunkenen: »Palle, palle, vivano le palle!«
Während ich durch die Gasse hastete, versuchte ich zu erraten, durch welches Tor Jana wahrscheinlich die Stadt betreten würde. Keuchend mühte ich mich ab, mich an Janas Anordnungen gestern Abend zu erinnern. Benozzo Cerchis Gut lag im Norden, also würde sie auch durch eines der nördlichen Tore wieder hereinkommen. Wie viele Tore gab es auf der nördlichen Seite der Mauer? Mein Schwiegersohn Johann Kleinschmidt hätte es gewusst. Ich bemühte mich, Sorge um ihn zu empfinden, doch die Sorge um Jana drängte alles andere beiseite. Wenn überhaupt, fühlte ich Ärger, weil er mir nicht helfen konnte. Ich musste stehen bleiben und mich an einer Mauer abstützen; wenigstens führte die Gasse nach Norden.
Eine größere Gruppe arbeitete sich plötzlich in entgegengesetzter Richtung die Gasse herab. Die Menschen wichen ihnen aus. Es war ein gutes Dutzend Männer, das einen weiteren Mann vor sich hertrieb. Dieser taumelte und hinkte und bewegte sich mit verzerrten Gesichtszügen voran. Er trug nur ein langes Hemd; seine Füße darunter waren bloß. In der Höhe der Oberschenkel klatschte das Hemd dunkelrot und nass auf seine Beine, als er vorwärts schwankte. Neben mir blieb jemand stehen und gaffte die Gruppe an.
»Eh, Franceschino, sei un cazzo!«, grölte er begeistert. Ich starrte dem Unglücklichen, als sie ihn an mir vorbeitrieben, ins Gesicht. Es war grau und nass vor Tränen. Etliche der Männer, die eben noch um ihr Leben gerannt waren, schlossen sich dem Zug an und heulten vor Spott und Freude wie die Wölfe. Ich hatte nur einen kurzen Blick mit jenem Unseligen gewechselt, aber es hatte mir genügt zu erkennen, dass er um seinen nahen Tod wusste und mich wortlos anflehte, ihm zu helfen. Ich fühlte mit den Händen nach der Mauer und hielt mich weiter daran fest, bis mir mein Herzschlag nicht mehr wehtat. Schließlich stieß ich mich ab und marschierte schwerfällig weiter. Nach ein paar Schritten ging es leichter. Ich spürte mein eigenes Hemd, das mir nass vor Schweiß am Körper klebte. Der Festgenommene war derjenige gewesen, der wie ein Rasender auf Giulianos Leichnam eingestochen hatte. Wo immer sie ihn gefunden hatten, jetzt führten sie ihn zum Palazzo della Signoria, der fest in der Hand der Medici war. Ich versuchte, nicht daran zu denken, was sie mit dem Mann dort anstellen würden. Die Medici-Anhänger rächten das Attentat auf ihren Liebling Giuliano und feierten das Überleben ihres Idols Lorenzo. Selbst mir war klar, dass die Revolte des alten Pazzi spätestens auf dem Platz vor dem Palast zusammengebrochen war. Nun begann das Strafgericht. Als ich über einen abgerissenen Zweig stolperte, dessen frühlingsgrünes Laub zerrissen und in den Dreck der Gasse getreten war, fiel mir ein, dass wir Christenmenschen heute eigentlich den Triumph unseres Erlösers über den Tod feierten.
Ich brauchte Verstärkung, um Jana mit einem Aufgebot beim Tor abfangen zu können. Zum wiederholten Mal verfluchte ich Johann Kleinschmidt und dass ich ihn aus den Augen verloren hatte. Ich hastete durch ein paar enge, unbelebte Gassen, in die ich noch vor dem Domplatz abgebogen war, um diesen zu umgehen. Meine Beine waren hart und schwer wie Steine. Auf meiner Reise mit Jana war ich zwar dünner geworden, aber nicht jünger; ich fluchte auf die Steifheit meiner Gelenke. Schließlich platzte ich in eine breitere Gasse, durch die das Gebrüll vom Palast herauf zu hören war. Über die Hausdächer zur Rechten erhob sich der Zinnenkranz eines gedrungenen Festungsbaus mit einem kurzen Turm; ihn hatte ich schon von der Loggia unseres Hauses aus erblickt. Ich rannte in die Gegenrichtung und stolperte auf die südöstliche Ecke des Domplatzes hinaus. Der Stadtpalast, in dem Jana uns eingemietet hatte, lag nur ein paar Schritte weiter. Ich sprang zu den geschlossenen Torflügeln des Hauses hinüber wie ein Dieb und hämmerte mit letzter Kraft dagegen.
Ein bleiches Gesicht erschien in der kleinen Klappe des einen Flügels und starrte zu mir heraus; einen Augenblick später riss jemand das Mannloch auf, und ich fiel fast in den Innenhof hinein. Ein paar von den Dienstboten standen darin und sahen mich ungläubig an. Der Springbrunnen plätscherte so friedlich, als würden sich die Florentiner draußen nicht gegenseitig totschlagen. Neben dem Springbrunnen auf einem Mauervorsprung saß mein Schwiegersohn.
»Wir haben Euch überall gesucht…«, sprudelte er hervor und sprang auf. Die Männer, die sein »Gefolge« gebildet hatten, sahen sich verlegen an und wichen meinen Blicken aus. »… nachdem in der Kirche … ich meine, um Gottes willen, nach dem Mord an Giuliano und nach Lorenzos Flucht … diese ganze Panik … ich konnte Euch nirgends mehr sehen … ich fürchtete das Schlimmste …«
»Halt den Mund«, keuchte ich. »Wir müssen uns sofort um Jana kümmern.«
»Was ist mit ihr?«
»Sie kann jeden Moment zur Stadt hereinkommen und weiß nicht, was hier los ist! Wir müssen sie abholen und sicher hierher geleiten.«
»Abholen? Aber … in der Stadt ist der Teufel los!«
Ich bemühte mich, wieder zu Atem zu kommen. »Was meinst du, weshalb ich mir Sorgen um sie mache? Sag den Männern, sie sollen sich alle sofort mit irgendetwas bewaffnen. Wir müssen zum Tor.« Ich tat ein paar aufgeregte Schritte im Innenhof herum. »Welches Tor wird sie nehmen, wenn sie von Cerchi kommt? Schnell!«
Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Von Cerchis Landhaus? Wenn sie in die Stadt herein will? Vermutlich … ich weiß nicht … am günstigsten liegt die Porta San Gallo …«
»Wo ist das?«
»Am Canto di Balla vorbei … nach der Baustelle von Santissima Annunziata … und dem Haus der Findelkinder …«
»Du musst mich hinführen. Los, sag den Männern, was ich von ihnen will!«
»Aber … ich … mein Gott, nein, wir müssen sofort …«
»Was?!«
»Die ganze Stadt ist in Aufruhr! Wir müssen Schutz suchen. Hier können wir auch nicht bleiben. Nur der Fondaco dei Tedeschi wird uns Schutz gewähren. Nach diesem Anschlag … wer weiß, wie die Geschichte ausgeht …«
»Ich weiß, wie sie ausgegangen ist«, unterbrach ich ihn grob.
»Jacopo de’ Pazzi ist vor dem Palast zurückgeschlagen worden. Einen der Attentäter hat man blutend an mir vorbeigeschleift. Der Aufstand ist erledigt; Lorenzo de’ Medicis Leute haben die Stadt im Griff.«
»Das ganze Gebiet von Santissima Annunziata gehört Lorenzo … sie werden alles abgeriegelt haben …«
»Dann umgehen wir das Gebiet. Du kennst dich doch aus in Florenz.«
»Ich muss Euch was gestehen …«, sagte er unglücklich.
»Gerade jetzt? Sag den Männern endlich …«
»… ich habe Euch gar nicht gesucht. Ich war so erschrocken. Als ich Euch im Dom aus den Augen verlor, bin ich auf dem schnellsten Weg hierher gekommen und habe ich mich versteckt.«
Ich starrte ihn an. Sein Gesicht verzog sich.
»Die Stadt hat Giuliano geliebt«, rief er erregt. »Sie wollen Rache für seinen Tod. Sie werden jeden verdächtigen, der nicht von hier und ein ausgewiesener Medici-Anhänger ist … jeder Fremde ist für sie ein potenzieller Anhänger der Pazzi … alle Fernkaufleute werden sich im Fondaco verstecken … wir sollten lieber dorthin …«
»Erklär den Männern, was ich von ihnen will«, herrschte ich ihn an. »Sie sollen mich führen. Du bleibst hier und bewachst das Haus und passt auf die Frauen auf.«
Er schluckte. Ich stürmte auf den Treppenaufgang zu, bis mir einfiel, dass sich in unserem Gepäck keinerlei Waffen befanden und ich nicht wusste, wo ich in diesem Haus nach Schwertern oder Spießen hätte suchen sollen; und wie ich sie hätte verwenden sollen, wenn ich sie gefunden hätte. Meine Waffe war immer mein Verstand gewesen; in den letzten Jahren eine stumpfe Klinge. Ich bemerkte, dass ich begann, mich in eine fiebrige Panik hineinzusteigern, und versuchte durchzuatmen. Johann Kleinschmidt sah mich entsetzt und mit großen Augen an.
»Fang schon an!«, brüllte ich. »Oder ich ersäufe dich hier in diesem Springbrunnen!«
Fünf Männer machten sich mit mir auf den Weg, unter ihnen der majordomus und zwei der fein herausgeputzten »Gefolgsleute« meines Schwiegersohns. Ich fühlte eine Verachtung für ihn, die mir im Hals stecken blieb; ich konnte nur hoffen, er würde sich nicht unter den Röcken der Köchinnen und Küchenmädchen verkriechen, wenn jemand an das Tor pochte. Meine Gefährten trugen Küchenmesser in den Gürteln. Ich selbst war waffenlos. Meine Lunge brannte, während ich neben ihnen herrannte. Wir umgingen einige Gebäude, durchquerten ein Gassenkarree und kamen weit hinter Santissima Annunziata wieder auf die Gasse hinaus, die zur Porta San Gallo führte. Ich spürte, wie sich meine rechte Seite verkrampfte. Der majordomus sah mich besorgt an und verlangsamte seine Schritte. Ich winkte ihn weiter. »Mach, mach!«, stieß ich hervor, ohne dass er mich verstanden hätte. »Ich komme schon mit.«
Es war umsonst. Als wir das Tor erreichten, war es geschlossen. Ein Kordon von Stadtwachen schützte es nach innen, weitere Männer spähten vom Torturm herunter. Ich sah gespannte Armbrüste in ihren Fäusten. Der majordomus stellte einem Offizier ein paar Fragen, während ich schmerzhaft nach Luft rang. Ich sah den Mann auf alle Fragen den Kopf schütteln. Jana war nicht hier gewesen, niemand hatte etwas von ihr oder ihrem Gefolge gesehen, und wenn sie jetzt noch kam, würde sie nicht mehr eingelassen. Florenz war eine geschlossene Stadt.
Johann Kleinschmidt spähte selbst durch die Klappe und öffnete uns das mit zusätzlichen Riegeln verrammelte Tor, als wir nach unserer erfolglosen Mission dagegenschlugen. Trotz oder gerade wegen seiner Furchtsamkeit hatte er den Innenhof in eine verteidigungsbereite Festung verwandelt: Möbelstücke und Truhen verbarrikadierten den Treppenaufgang, und bis Eindringlinge sie beiseite geräumt hätten, wären sie von den beiden Stockwerken mit allen möglichen Wurfgeschossen eingedeckt worden. Ich nickte widerwillig zu Kleinschmidts Umsicht und erklärte ihm die Lage.
Danach warteten wir. Kleinschmidt fragte mich aus, was ich gesehen hatte, und gab zu meiner teilnahmslosen Schilderung seine üblichen unwillkommenen Informationen über Gebäude und Straßen ab. Die weiten Bogenöffnungen der Loggia im Obergeschoss ließen den Lärm herein, den ein entfesselter Pöbel veranstaltet, wenn er auf der Jagd ist. Ich starrte zum Dom hinüber, fühlte die Kälte der steinernen Brüstung der Loggia an meinen Händen und presste sie fest dagegen, um ihr Zittern zu beenden. Es gelang mir ebenso wenig, wie ich es vermochte, das vielfältige Toben der Gewalt in den Gassen der Stadt aus meinen Ohren zu verbannen.
In der Dämmerung loderten da und dort die Funkenspiralen auf, die verbrennendes Mobiliar in die Höhe sandte. Ich hoffte, dass die instinktive Furcht des Städters vor einer Feuersbrunst die Plünderer davon abhalten würde, ganze Häuser anzustecken, aber eigentlich war es mir egal. Ich fluchte auf das finstere Schicksal, das uns nach Florenz verschlagen hatte, und auf meine Sturheit, dass ich Jana hatte allein zu Benozzo Cerchi fahren lassen. Jana, deren Liebe mir in manchen Augenblicken mehr wert war als meine Familie und mein eigenes Geschick. Doch das finstere Schicksal war in Wirklichkeit Janas hartnäckige Jagd nach einem ganz besonders lukrativen Geschäft, meine Sturheit die beleidigte Reaktion darauf, dass Jana eine unserer Abmachungen gebrochen hatte; und von meiner Liebe, wie stark ich sie auch zuweilen fühlen mochte, wusste ich nicht mehr, ob sie noch immer von Jana erwidert wurde. Ich hörte schrilles, lang anhaltendes Heulen aus einer nahe gelegenen Gasse, zwischen deren Häusern ebenfalls Funken nach oben stoben, und fühlte Schwäche angesichts des Gedankens, dass dort jemand in den Scheiterhaufen seiner eigenen Existenz gestoßen wurde.
Ich zog mich in die Schlafkammer in der Loggia zurück und schloss die Fensterläden. Ich hätte gebetet, aber mir war zu übel dazu.
Eine Hand an meiner Schulter rüttelte mich aus dem unruhigen Schlaf, der mich überfallen haben musste. Ich starrte in Johann Kleinschmidts Gesicht und wälzte mich von der Decke des unaufgeschlagenen Betts herunter. Kalter Schweiß klebte meine Kleidung an meinen Körper.
»Die Männer unten haben jemanden eingelassen, der behauptet, zu Euch zu gehören«, sagte Kleinschmidt halblaut.
Ich folgte ihm stolpernd zum Innenhof hinunter. Von draußen klang kein Geräusch mehr herein; die Nachtstille der Stadt wirkte nach dem Lärm des Tages mehr erschreckend als beruhigend. Der majordomus half mir über die Barrikade. Beim Brunnen saß ein Mann und hielt den Kopf in den Händen; zwei der Dienstboten beleuchteten ihn mit Fackeln. Der Mann trug nur ein schmutziges Hemd, eine nasse Hose und seine Stiefel. Als ich mich näherte, hob er seinen Kopf.
»Gott sei Dank, Herr Bernward«, stieß er hervor. Sein Gesicht war schmutzig und voll blutiger Flecken. Ich sah, dass seine Hände aufgerissen waren.
»Stepan Tredittore. Wo um alles in der Welt ist Jana?«
»Man hat sie verhaftet.«
Ich fühlte, wie mein Herz aussetzte. In den fehlenden Schlag schwang sich die Glocke vom campanile des Doms und dröhnte die Zeit: Mitternacht.
Ich will dein Führer sein
Und mit dir wandern durch die ewige Schwelle:
Dort wirst du hören der Verzweiflung Pein.
DANTE ALIGHIERI,
Hölle I
Was will der Kerl bloß?«, stieß Jana ungehalten hervor. Der Stallknecht vor ihr, der mit den Händen fuchtelte und nicht einen Fuß bewegte, um ihrem Wunsch nachzukommen, unsere Pferde aus dem Stall der Herberge zu holen, überschüttete sie mit einem Schwall pratesischen Dialekts. Sie funkelte mich an, doch als Messer Maurizio herankam, der unsere Reisegruppe von Venedig nach Prato geführt hatte, fand ihr Zorn ein neues Ziel.
»Warum gibt er die Pferde nicht heraus?«, fuhr sie ihn an.
»Mi dispiace«, seufzte er. »Ihr könnt Prato nischt mehr verlasse’ für ’eute. Es ist eine … man hat eine …«
»Was soll das heißen, wir können Prato nicht verlassen? Wir haben mit Euch vereinbart, dass wir uns hier von Eurer Gruppe trennen und allein nach Florenz weiterreisen!«
»Es ist etwas dazwisch’gekomme’. Wie sagt man …?«
»Dazwischengekommen? Ihr habt doch gewusst, dass wir Euch hier nur auszahlen und etwas essen wollten, mehr nicht. Warum habt Ihr uns überhaupt nach Prato hereingeschleppt, wenn wir nicht wieder hinauskönnen?«
Messer Maurizio warf mir einen Hilfe suchenden Blick zu.
»Isch ’abe es au’ nischt gewusst ’e«, verteidigte er sich. »Isch ’abe es ebe’ erst selbst erfahre’.«
Ich sah aus dem Augenwinkel Stepan Tredittore heranschlendern, den Boten vom Hof von Janas Vater in Krakau, der uns seit,Venedig begleitete. Ich berichtigte mich: Es war nicht mehr der Hof von Janas Vater. Es war jetzt Janas Hof. Eine der Botschaften Tredittores war die vom Tod Karol Dlugosz’ gewesen.
»Es ist eine Hinrichtung im Gange, Monna Jana«, erklärte Stepan Tredittore mit derselben Leichtigkeit, die es ihm bereitete, die verschiedenen Dialekte zwischen Venedig und Prato zu verstehen.
»Der Henkerskarren fährt gleich hier entlang. Wir können nicht hinaus, bevor er durch ist, und wir können nicht aus der Stadt, bevor die Hinrichtung vorüber ist.« Er grinste, so wie er es immer tat, wenn einer von Janas Plänen fehlschlug, und zwinkerte mir dabei zu. Seit er zu uns gestoßen war, ließ er es an feiner Verachtung für Jana und anbiedernder Freundlichkeit für mich nicht fehlen. Ich wandte den Blick ab und brummte unhörbar: »Schlange.«
»Eine Hinrichtung? Heute? Am Gründonnerstag?«
»Scheinbar wollten sie nicht bis zur Osterfeier warten, damit nicht noch jemand auf die Idee kommt, die Übeltäterin zu begnadigen.«
»Eine Frau? Was hat sie getan?«
»Eine Sklavin, Monna Jana. Die Leute sagen, sie habe ihren Herrn vergiftet.«
Ich verdrehte die Augen. Welche Hinrichtungsart man immer für die Unselige bestimmt hatte, sie würde nicht leicht sein.
»Und warum will man so unbedingt vermeiden, dass sie begnadigt wird?«, fragte Jana.
»Eine Frau, die einen Mann umbringt«, erklärte Tredittore mit Betonung. »Daneben«, er seufzte mit seinem eigenen Talent für sarkastische Nebenbemerkungen, »war er der podestà der Stadt. Die Bürger haben eine mächtige Wut auf die Täterin.«
»Der podestà?«
»Der oberste Polizeibeamte.« Tredittore stieß ein verächtliches Lachen hervor und deutete zum Tordurchgang des Herbergshofs, vor dem sich die Menschen drängten. »Ich habe den Eindruck, manche glauben, sie habe im Auftrag des Papstes gehandelt. Ihr wisst schon – beim Anschlag auf Herzog Sforza in Mailand vor drei Jahren war es das Messer in der Kirche, in Prato heute ist es eben das Giftfläschchen in der Küche … wieder für ein wenig mehr Ungleichgewicht gesorgt in den Republiken. Dona nobis pacem.«
»Was wird man mit ihr anstellen?«, fragte ich langsam.
»Ich weiß es nicht. Ich habe nur gehört, dass man sie durch jede Gasse fährt. Dabei werden die glühenden Zangen und die heißen Eisen wohl nicht ruhen.« Er zuckte mit den Schultern. »Soll ich nachfragen?«
»Ich will es gar nicht wissen«, murmelte ich. Ich sah in Janas Gesicht. Der Zorn darin war einem Ausdruck der Bestürzung gewichen.
»Santa Verena, ora per le«, brummte Messer Maurizio, ohne allzu viel Mitgefühl dabei aufzuwenden.
»Die heilige Verena ist die Schutzheilige der Dirnen, Diebe und Mörder«, erklärte Tredittore überflüssigerweise und völlig ungefragt.
»Warum stellt Ihr Euch nicht wieder hin und versucht, etwas zu sehen?«, fragte ich ihn. »Vielleicht könnt Ihr noch was lernen.« Er marschierte davon, ohne sonderlich gekränkt zu sein. Es war mir selten gegeben, ihn zu beleidigen.
»Ich gehe wieder in die Stube hinein«, sagte Jana. »Ich will es weder sehen noch hören.«
»Es dauert nischte lange«, versicherte Messer Maurizio. »Ihr könnt sische’ bald abreise’. Die Karre ist schon ein’ Weile unterwegs. Sie müsse’ sisch beeile’, damit sie no’ lebt, wenn sie sie ertränke’.«
Jana verzog das Gesicht und stapfte zum Eingang der Herberge, ihre schweigsame Zofe Julia im Schlepptau. Messer Maurizio stieß hörbar die Luft aus und wurde einen Zoll kleiner.
Wann immer er mit Janas Zorn konfrontiert wurde, schien er sich zu spannen wie ein Bogen, und seine schwarzen Augen wurden starr vor Nervosität. Ich blickte auf den halb vollen Becher mit Wein in meiner Hand, den der Herbergspächter jedem Mitglied von Messer Maurizios Reisegruppe bei der Ankunft ausgehändigt hatte, und bot ihn ihm an. Er stürzte den Inhalt hinunter und reichte mir den Becher mit einem dankbaren Blick zurück. Wir waren zeitlich befristete Gefährten in den Unwettern von Janas Launen.
»Die Reise ’at Eure Gemahlin erschöpft«, sagte er schließlich. Der hartnäckige Gebrauch der Worte Gemahl und Gemahlin war seine Art, seine Missbilligung darüber auszudrücken, dass Jana und ich nicht Mann und Frau vor der Kirche waren. Die Tatsache, dass ein Großteil der anderen Reisenden in der von ihm geführten Gruppe – zumeist Prateser, Pisaner und Sieneser Kaufleute – in ihrem Tross junge Mädchen mitführten, die als Köchinnen, Näherinnen und Wäscherinnen bezeichnet und bei jeder sich bietenden Gelegenheit von ihren Herren ungeniert betatscht wurden, störte ihn bei weitem weniger. »Mi dispiace, wenn die Reise nischt so bequem war, wie sie ’ätte sein müsse’.«
Die Reise war so bequem und ereignislos gewesen, als wenn man von seinem Schlafzimmer in die Stube hinübergegangen wäre. Ein warmer Südwind hatte den frühen April zu Ausbrüchen von frischem Laub, Blüten und Blumen ermuntert, die die Dammlandschaft vor Bologna, die sanft ansteigenden Buckel der Romagna und das zerklüftete Mugello in eine Wellenbewegung aus zartem Grün, strahlendem Weiß und blau-rot-gelben Farbspritzern verwandelten, während wir aus der Tiefebene des Po in den Appenin hinein anstiegen. Jenseits der Alpen, die wir gut zwei Wochen vorher über Kempten, Innsbruck und Sterzing überquert hatten, lag das Land noch im Griff des scheidenden Winters, mit matt darniederliegendem Gras und leeren Ästen, die sich in einen ständig veränderten Wolkenhimmel krallten.
Das Wetter war uns ebenso hold geblieben wie das Glück: Keinem der Wagen unserer Gesellschaft war ein Rad abgesprungen, keines der Pferde und Packtiere hatte zu lahmen begonnen, und selbst in den Schluchten des toskanischen Hügellandes hatte uns kein selbst ernannter Zöllner belästigt, dessen schwerbewaffnete Spießgesellen seiner Forderung nach einer Weggebühr Nachdruck verliehen hätten. Wo es Schwierigkeiten mit geizigen Herbergswirten gegeben hatte oder mit Torwachen, die die Stadttore allzu früh am Abend vor unseren Nasen schließen wollten, hatte Messer Maurizio sie ausgeräumt. Peter Ugelheimer, der allseits bekannte Frankfurter Herbergswirt in Venedig, hatte ihn uns als patron empfohlen, und der patron hatte seine Gesellschaft sicher von Venedig nach Prato geführt. Wir waren dabei die zahlenmäßig kleinste Gruppe gewesen: Jana, ihre Zofe Julia, Stepan Tredittore, die beiden in Venedig gemieteten Rossknechte – und ich. Während die anderen Mitglieder der zusammengewürfelten Reisegesellschaft mit ihrem gesamten Tross an Waren, Geld und Begleitpersonal reisten, hatte Jana nach dem Abschluss ihres letzten Geschäfts ihr Personal samt den Gütern von Venedig aus nach Hause geschickt. Ursprünglich hätten wir dabei sein sollen; ursprünglich, bevor Stepan Tredittore aus Krakau kam mit seinen Botschaften und seinem herausfordernden Auftreten, mit dem er deutlich machte, dass er Jana bestenfalls als eine kurzfristige Erscheinung an der Spitze des Hauses Dlugosz betrachtete. Und Jana die Weiterreise nach Florenz beschloss, um dort noch ein letztes Geschäft abzuwickeln.
»Es liegt am Tod ihres Vaters«, sagte ich und sah unwillkürlich zu Stepan Tredittore hinüber, der die sichtbare Manifestation all der Dinge war, die Janas schlechte Laune verursachten. Messer Maurizio folgte meinem Blick, ohne dass seine Miene verraten hätte, ob er sich Gedanken über den Boten von Janas Hof in Krakau gemacht hatte und welcher Art diese Gedanken waren.
»Eine schlimm’ Botschaft«, bestätigte er.
»Ja, und umso schlimmer, da die Botschaft mit einer Forderung der Vettern und Geschäftsfreunde verbunden war, dass Jana heimreisen und die Führung des Handelshauses in die Hände irgendeines männlichen Verwandten zweiten Grades legen möge.«
»Isch verstehe nischts von Geschäfte’«, erklärte der patron. Er hatte sich einmal eine Diskussion mit Jana geliefert, als er eine abfällige Bemerkung über die Witwe eines ihm bekannten Handwerkers gemacht hatte, die versuchte, das Geschäft nach dessen Tod selbst weiterzuführen. Danach hatte er es vermieden, in solchen Dingen mit Jana nochmals unterschiedlicher Meinung zu sein.
»Ich werde meiner Gefährtin Gesellschaft leisten«, sagte ich. »Ich habe ebenfalls kein Bedürfnis, Zeuge zu werden, wie die Unglückliche auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung vor aller Augen gequält wird.«
Messer Maurizio fuhr sich durch die Haare. »Und isch werde den oste von die ‘erberge frage’, ob es noch eine Lager für Euch gibt. Ihr ‘ättet Euch ohn’hin beeile’ müsse’, Firenze ‘eute noch zu erreiche’. So kommt Ihr abe’ niemals reschtzeiti’ an.« Er warf einen Blick zum Tordurchgang, wo sich jetzt auch die Mitglieder unserer Reisegruppe drängelten und Stepan Tredittore versuchte, sich einen guten Aussichtsplatz zu sichern. Die Prateser hatten mit einem rhythmischen Singsang begonnen, der sich anhörte, als werde ein Name gerufen. Vielleicht war es der Name der Sklavin. »Schlimme Zeite’«, flüsterte Messer Maurizio und schlüpfte davon.
Es war die falsche Entscheidung gewesen, in die Schankstube zu gehen. Sie war dunkel und menschenleer und roch nach kaltem Rauch, abgestandener Luft und Bratfett, obwohl der WirtSie ist tot,bravo, bravo!Wie kann es eine Schutzpatronin für Mörder geben? –