Die Sache war vorbei. Winsors Leiche war weggeschafft, der Betonbau mit der Molchschleuse versiegelt und das Kokain auf dem Weg in die Asservatenkammer des FBI. Unmittelbar nach der Aufdeckung des Drogenschmuggels war es zunächst noch sehr turbulent zugegangen. Scharen von Journalisten und unzählige Kamerateams sowohl lokaler wie auch nationaler Fernsehsender waren herbeigeströmt, und die Vertreter des FBI, der DEA und des Customs Service hatten nicht besonders diskret versucht, einander gegenseitig auszustechen im Kampf um ein Höchstmaß an Publizität und öffentlicher Anerkennung.
Doch nach ein, zwei Tagen hatten sich Reporter und Kamerateams neuen Sensationen zugewandt. Auf der Tuttle Ranch kehrte Ruhe ein, und die Säbelantilopen und Steinböcke konnten wieder ungestört grasen.
Budge und Gonzales waren sicher in Mazatlán angekommen. Noch von unterwegs hatte Budge in dem kleinen Hotel angerufen, Chrissy berichtet, was geschehen war, und angekündigt, dass er in ungefähr zwei Stunden bei ihr sein werde. Als die Falcon 10 auf dem Flugfeld aufsetzte, wartete sie schon auf ihn. Die beiden umarmten sich, als wollten sie sich nie wieder loslassen. Doch ob ihre Liebe tatsächlich Bestand hat, wird erst die Zeit erweisen.
Und obwohl Window Rock einige hundert Kilometer von der Tuttle Ranch entfernt liegt, wurde auch Joe Leaphorn, wenn auch mit einiger Verspätung, noch in den Wirbel um die Aufdeckung des millionenschweren Drogenschmuggels hineingezogen. Louisa, die seit ein paar Tagen wieder von ihren Feldforschungen zurück war, rief ihn ans Telefon.
«Ms. Goddard – sie klingt ziemlich aufgebracht, die Dame.»
Der Legendäre Lieutenant seufzte und griff nach dem Hörer. «Leaphorn.»
Sie war es tatsächlich.
«Mr. Leaphorn», fauchte sie, «darf ich Sie daran erinnern, dass Sie mir, als wir uns verabschiedeten, versprochen haben, mich auf dem Laufenden zu halten?»
«Nun ja», sagte Leaphorn zögernd, «im Grunde genommen habe ich ...»
Sie ließ ihn nicht ausreden. «Hören Sie sich mal die Überschrift der Titelgeschichte an, mit der unsere Konkurrenz heute aufgemacht hat: ‹Prominenter Industrieanwalt Kopf eines Drogenkartells›.»
«Ja, so etwas Ähnliches stand auch in der Farmington Times, aber ich kann Ihnen versichern, dass ich von den neuesten Entwicklungen genauso wenig mitbekommen habe wie Sie. Im Übrigen waren Sie doch, wenn ich mich recht erinnere, hinter einer Geschichte über die verschwundenen Milliarden aus dem Indian Trust Fund her ...»
«Irrtum, Mr. Leaphorn», sagte sie spitz, «ich habe wegen eines ungeklärten Tötungsdelikts recherchiert. Ein Mann namens Gordon Stein, wie Sie sich vielleicht erinnern. Allerdings nannte er sich zum Zeitpunkt, als ihn die Kugel traf, Carl Mankin.»
«Über den letzten Stand der Ermittlungen im Fall Stein/ Mankin bin ich leider nicht informiert», sagte er. «Tut mir Leid.»
«Nun ja, wenn Sie es sagen, muss ich es wohl glauben. Es heißt, dass Stein getötet worden ist, weil dieser Winsor und seine mexikanischen Partner dessen Interesse an Pipelines auf ihr Drogengeschäft bezogen haben, während es ihm in Wirklichkeit darum ging, den Skandal um die veruntreuten Trust-Fund-Milliarden aufzuklären.»
«Davon hatte ich keine Ahnung», sagte Leaphorn wahrheitsgemäß.
«Na, ganz so ahnungslos, wie Sie jetzt tun, können Sie doch eigentlich gar nicht sein», bemerkte Goddard. «Man sagt, Sie seien derjenige gewesen, der darauf gekommen ist, dass dieses mexikanisch-amerikanische Kartell eine alte Pipeline zum Schmuggeln reaktiviert hat.»
Leaphorn schwieg.
Goddard seufzte. «Nun gut, es hat ja keinen Zweck, mich mit Ihnen zu streiten. Fällt Ihnen vielleicht doch noch etwas ein, was Sie mir erzählen könnten?»
«Alles, was ich weiß, stammt aus der Farmington Times», erklärte Leaphorn. «Das dürfte für Sie also kaum von Interesse sein. Wie es im Moment aussieht, ist der Fall Stein/ Mankin ad acta gelegt. Kein Mensch beschäftigt sich mehr damit.»
In diesem Punkt irrte er. Zur selben Zeit saß nämlich Sergeant Chee an dem kleinen Tischchen, das er zwischen Bett und Schrank in seinem ohnehin schon sehr vollen Trailer geklemmt hatte, stellte den Computer an und schrieb den letzten Absatz seines Berichts.
Unterlagen, die in Zusammenhang mit Ermittlungen im Falle eines millionenschweren Rauschgiftschmuggels beschlagnahmt wurden, brachten zutage, dass mexikanisch-amerikanische Drogengangster Stein in der irrtümlichen Annahme töten ließen, er sei ihnen auf der Spur.
Gerade als er das letzte Wort getippt hatte, klopfte es an der Tür.
Es war Bernie. Sie trug immer noch einen Verband um den Kopf, aber der Bluterguss unterhalb ihres Haaransatzes ging allmählich zurück.
Er bat sie herein und bemerkte, wie sie sich interessiert umsah. «Bernie», sagte er und zog sie in seine Arme, «du bist die schönste Frau, die ich kenne. Und wenn du mich heiratest, verspreche ich dir, dass ich immer auf dich aufpassen werde.»
Bernie erwiderte seine Umarmung. «Einverstanden», sagte sie und lächelte ihn strahlend an. «Aber vorher musst du mir helfen, den alten Trailer in den Fluss zu schieben, damit wir hier ein richtiges Haus bauen können.»
Das zu versprechen fiel ihm nicht schwer.
David Slate streckte seinen Arm über den schmalen Tisch im Bistro Bis und händigte seinem Gegenüber, einem älteren Mann mit grauem, militärisch kurz geschnittenem Haar, einen Umschlag aus.
«Ab heute heißen Sie Carl Mankin», sagte er, «sind ein gerade in den Ruhestand getretener Mitarbeiter der CIA und gegenwärtig tätig als Berater für Seamless Weld. Dieser Umschlag hier, Carl, enthält neben Ihrer Kreditkarte eine Reihe authentischer Papiere von Seamless Weld: Geschäftskarten, Formulare für die Spesenabrechnung und so weiter. Der Kreditrahmen der Karte sollte ausreichen, alle anfallenden Kosten zu decken.»
«Carl Mankin», sagte der Grauhaarige, öffnete den Umschlag, zog die Kreditkarte hervor und betrachtete sie aufmerksam. «Gut zu merken. Und die Legende passt auch einigermaßen.» Wie er da saß, straff, aufrecht, sonnengebräunt, konnte er für einen Mann um die fünfzig durchgehen. Erst wenn man genauer hinsah, erkannte man, dass er bereits an die sechzig sein musste. Jetzt begann er die Unterlagen durchzublättern, stutzte und blickte Slate fragend an. «Ich vermisse einen Vertrag», sagte er.
Slate lachte. «Ich glaube, den erwarten Sie nicht wirklich ernsthaft, oder? Der Senator ist noch jemand von der alten Schule. Ihm reicht ein Gentlemen’s Agreement als Sicherheit. Das klingt, wenn man Washington kennt, vielleicht ziemlich sonderbar, aber einige der weißhaarigen Veteranen glauben nach wie vor daran, dass es selbst unter Politikern so etwas wie einen Ehrenkodex gibt.»
«Dann lassen Sie uns kurz unsere Vereinbarung rekapitulieren», sagte der Mann, der jetzt Carl Mankin hieß. «Wenn ich mich recht erinnere, bin ich für Sie tätig, bis der Job erledigt ist, anderenfalls längstens dreißig Tage. Unabhängig vom Erfolg erhalte ich vorab einen Betrag von fünfzigtausend Dollar.»
Slate nickte. «Plus Spesen», sagte er. «Ihre täglichen Ausgaben können Sie alle über die Kreditkarte bestreiten, es sei denn, Sie müssen einen Informanten bezahlen, und der zieht es vor, das Geld bar auf die Hand zu bekommen.»
Der grauhaarige Mann schob die Kreditkarte und die anderen Papiere zurück in den Umschlag und legte diesen neben seinen Teller. «Wer bezahlt eigentlich am Ende meine Kreditkartenrechnung?», fragte er. «Wie ich gerade gesehen habe, ist auf der Karte El Paso, Texas, als mein Wohnsitz angegeben.»
Slate nickte. «Ja, dort befindet sich die Zentrale von Seamless Weld.»
«Und Seamless Weld gehört dem Senator? Das überrascht mich etwas, ehrlich gesagt.»
Slate schüttelte den Kopf. «Nein. Seamless Weld ist eines von vielen Tochterunternehmen der Searigs Corporation.»
«Searigs? Das ist doch der Konzern, der die Bohrinseln vor der Küste von Nigeria gebaut hat.»
«Ja, und einen Teil der Plattformen in der Nordsee», nickte Slater, «für die Norweger ...», er hielt einen Moment inne, «oder waren es die Schweden?»
«Dann gehört Searigs also dem Senator?», wollte Mankin wissen und sah Slate fragend an.
«Nein, Searigs ist wiederum Teil von A.G.H. Industries, jedenfalls sind die dort die Mehrheitsaktionäre. Aber worauf wollen Sie eigentlich hinaus?»
«Ich versuche nur herauszufinden, für wen ich überhaupt arbeite», antwortete sein Gegenüber.
Slate nahm einen Schluck von seinem Orangensaft, lächelte etwas spöttisch und sagte: «Sie glauben doch nicht im Ernst, dass man mir das gesagt hat?»
Sein Gesprächspartner musterte ihn kühl. «Nein, aber ich vermute, dass Sie es trotzdem wissen. Sie sind die rechte Hand des Senators, derjenige, der die Leute aussucht, die vor den Ausschüssen auftreten, denen er vorsitzt, derjenige, der den immer wieder auftretenden Dreck unter den Teppich kehrt, derjenige, der mit den Lobbyisten dealt ...» Er lachte etwas abschätzig. «Und – muss ich es wirklich erwähnen? – selbstverständlich auch derjenige, der sich darum kümmert, jemanden wie mich zu finden, wenn der Senator einen Job zu erledigen hat, für den dann wiederum jemand anderes, der im Hintergrund bleibt, die Kosten trägt.» Er sah Slate fest an. «Ich gehe davon aus, dass Sie wissen, wer dieser Jemand ist. Die Frage ist nur: Wollen Sie es mir sagen?»
Slate lächelte undurchdringlich. «Wohl eher nicht. Im Übrigen bin ich mir fast sicher, dass Sie mir sowieso nicht glauben würden.»
«Wenn das so ist, wäre es vielleicht besser, ich bekäme mein Honorar im Voraus.»
Slate nickte. «Das war ohnehin so vorgesehen. Wenn wir unser kleines Arbeitsessen beendet und Sie mit Ihrer neuen Visa-Karte die Rechnung beglichen haben, fahren wir gemeinsam zu einer Bank, mit der ich seit längerem Geschäfte tätige. Ich werde dort 49 500 Dollar auf ein Konto einzahlen, das auf den Namen Carl Mankin lautet, und Ihnen anschließend den Einzahlungsbeleg aushändigen.»
«Und was ist mit den restlichen fünfhundert?»
Slate zog seine Brieftasche hervor, entnahm ihr eine Bankquittung und reichte sie seinem Gegenüber. Sie trug das Datum vom Vortag und belegte die Eröffnung eines Kontos auf den Namen Carl Mankin sowie den Eingang von 500 Dollar. Der Grauhaarige steckte den Beleg zunächst in seine Hemdentasche, holte ihn dann wieder hervor und legte ihn vor sich auf den Tisch.
«Eine Kontoeröffnung für eine nicht existierende Person und ohne deren Unterschrift», bemerkte er. «Bis heute wusste ich nicht, dass so etwas überhaupt geht.»
Slate lachte. «Es geht alles. Vorausgesetzt, man hat einen real existierenden Vizepräsidenten, der sich bereit erklärt, denen unten die entsprechende Anordnung zu erteilen.»
Mankin nickte. «Okay. Dann würde ich jetzt gern noch einmal mit Ihnen über meinen Auftrag sprechen, damit auch wirklich alles klar ist. Sie wollen also, dass ich zu diesem riesigen Öl-Areal im Four-Corners-Gebiet fahre, mich umsehe und versuche, herauszubekommen, ob man das Pipeline-System dort unten manipuliert hat oder noch immer manipuliert, sodass ein Großteil der vertraglich festgesetzten Abgaben auf das geförderte Öl, die von Rechts wegen an den vom Department of the Interior verwalteten Treuhandfonds für die Indianer abgeführt werden sollten, stattdessen in den Taschen irgendwelcher Betrüger landet. Ist das so korrekt?»
«Ja, aber es ist sozusagen nur die Voraussetzung für alles andere. Das Wichtigste nämlich ist, die Namen derjenigen herauszufinden, die hinter diesen Manipulationen stecken, und zu erfahren, wer die Empfänger der umgeleiteten Geldflüsse sind.»
Mankin wiegte den Kopf. «Und dem Senator ist bewusst, dass die Chancen, diesen Riesenschwindel in allen Details aufzuklären, eher gering sind?» Er zuckte die Achseln. «Aber ich nehme an, dass meine Tätigkeit nur ein kleiner Teil breit gefächerter Bemühungen ist, die Hintermänner dieser Betrügereien dingfest zu machen. Wenn man den Artikeln in der Washington Post, die ja im vergangenen Monat beinahe täglich darüber berichtet hat, Glauben schenken darf, so sind dem Tribal Trust Fund durch die kriminellen Manipulationen zwischen vier und fünf Milliarden Dollar entgangen. Es heißt, die Innenministerin, deren Haus den Fonds verwaltet, und die honchos des Bureau of Indian Affairs stünden unter ziemlichem Rechtfertigungsdruck?»
Slate grinste. «War das als Frage gemeint? Sie wissen doch, was Pressesprecher in solchen Situationen zu antworten pflegen.» Er setzte eine dienstliche Miene auf und sagte in missbilligendem Ton: «Es widerspricht unseren Grundsätzen, Spekulationen zu kommentieren.»
«Die Washington Post hat außerdem behauptet, dass diese <Umleitung> der für den Treuhandfonds bestimmten Gelder bereits seit über fünfzig Jahren praktiziert wird. Angeblich stammen ihre Informationen aus regierungsamtlichen Quellen. Ehrlich gesagt, bin ich angesichts dieser Tatsache sehr skeptisch, ob es mir gelingt, etwas entscheidend Neues zu entdecken.»
«Es geht um viel mehr als bloß vier Milliarden», bemerkte Slate. «Das Government Accounting Office schätzt, dass die tatsächliche Fehlsumme sich auf bis zu 40 Milliarden belaufen könnte. Und die Anwaltskanzlei, die mit der Wahrnehmung der Stammesinteressen betraut worden ist, macht gegenüber der Regierung rückwirkend seit 1887 Ansprüche geltend auf eine Summe von 137 Milliarden Dollar, die dem Fonds an Abgaben seit dieser Zeit entgangen seien.» Er hob die Schultern und sah sein Gegenüber an. «Ich glaube, was der Senator vor allem wissen will, ist, ob diese Betrügereien zum jetzigen Zeitpunkt immer noch andauern.»
«Und er setzt irgendjemandes 50 000 Dollar auf mich, weil er glaubt, ich sei derjenige, der ihm diese Information liefern könnte.»
«Seine Freunde im State Department haben ihm erzählt, wie geschickt Sie im Irak agiert haben, um zu beweisen, dass und wie die irakischen Ölförderer zwischen den Pipelines hin und her gewechselt haben, weil sie das Exportverbot der UNO unterlaufen wollten. Ich denke, der Senator hofft, dass Ihnen im Four-Corners-Gebiet noch einmal dasselbe Kunststück gelingt.»
«Aber im Irak herrschten ganz andere Verhältnisse», gab Mankin zu bedenken. «Im Nahen Osten haben Sie’s zwar mit verschiedenen arabischen Gruppen zu tun, aber einer überschaubaren Zahl von britischen und amerikanischen Experten. Die bilden, wenn man so will, eine Art britischamerikanischen Ölclub, zu dem die Araber nie wirklich Zugang gefunden haben. Ich dagegen schon. In dem kleinen Kreis der Pipeline-Fachleute kennt jeder die Geschäfte des anderen. Man ist offen untereinander. Nachdem ich zwanzig Jahre lang immer wieder dort aufgetaucht bin, betrachteten sie mich als einen der Ihren. Sie haben meine Fragen beantwortet, mich in die Relaisstationen eingeschmuggelt, mir die Druckmesser und die ganze übrige technische Ausrüstung gezeigt. Es war also im Grunde ein Heimspiel. Dagegen bin ich für die in New Mexico nur irgendein fremder Schnüffler, und entsprechend schwierig dürfte es sein, Zugang zu allem zu bekommen.»
Slate war seinen Worten aufmerksam gefolgt. Jetzt lächelte er erleichtert. «Wenn ich Sie richtig verstehe, dann bedeuten Ihre skeptischen Einwände gegen zu viel Optimismus nichts anderes, als dass Sie sich tatsächlich entschlossen haben, für den Senator zu arbeiten. Habe ich Recht?»
«Wie? Oh ja, ich denke schon», antwortete Mankin. Er steckte den Einzahlungsbeleg in seine Brieftasche und bedeutete der Bedienung, er wolle zahlen. Als der Kellner mit der Rechnung am Tisch erschien, reichte er ihm die neu auf ihn ausgestellte Kreditkarte.
«Ihre erste Handlung als Carl Mankin», kommentierte Slate.
«Mir ist, seit Sie mir das Angebot des Senators unterbreitet haben, die ganze Zeit etwas durch den Kopf gegangen», bemerkte der Grauhaarige. «Unter den jetzigen Umständen schätze ich, wie ich Ihnen schon sagte, meine Möglichkeiten, an wesentliche Informationen zu kommen, eher gering ein. Die Chancen, etwas zu erreichen, würden sich jedoch meiner Ansicht nach deutlich verbessern, wenn Sie mir klarer als bisher sagen würden, um was es dem Senator eigentlich geht.»
«Um die Wahrheit», erwiderte Slate lapidar. «Es geht ihm allein um die Wahrheit.»
«Damit sagen Sie mir nichts Neues», antwortete sein Gegenüber. «Sie werden sicher verstehen, dass ich mir angesichts der wirklich ungewöhnlichen Begleitumstände dieses Auftrags so meine Gedanken mache. Wieso zum Beispiel soll ich mich als Berater eines Unternehmens namens Seamless Weld ausgeben? Dem Namen nach zu urteilen, könnten die im Pipeline-Geschäft tätig sein. Habe ich nicht vielleicht doch Recht mit meiner Vermutung, dass der Senator Eigentümer dieser Firma ist, und Sie wollen es aus irgendeinem Grund mir gegenüber nur nicht zugeben?»
«Nein, da sind Sie auf einer ganz falschen Fährte», antwortete Slate. «Seamless Weld gehört zu einem großen Konzern, der wiederum Teil eines größeren Verbundes ist, an dem der Senator Beteiligungen hält. Wenn er tatsächlich, wie Sie annehmen, der offiziell eingetragene Eigentümer von Seamless Weld wäre, so hätte er auf jeden Fall dafür Sorge getragen, sein Unternehmen aus einer solchen Operation vollständig herauszuhalten, um, falls irgendetwas schiefläuft, keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.»
Sie hatten das Bistro verlassen und standen an der Bordsteinkante, um nach einem Taxi Ausschau zu halten.
«Okay, aber damit ist meine Frage von vorhin noch nicht beantwortet. Warum werde ich als Berater bei Seamless Weld geführt? Und kommen Sie mir nicht damit, das passiere nur aus steuerlichen Gründen. Also noch einmal: Wieso?»
Sie winkten ein Taxi heran. Slate öffnete die hintere Wagentür, ließ seinen Begleiter zuerst einsteigen und nahm dann neben ihm im Fond Platz. Er nannte dem Fahrer die Adresse der Bank, lehnte sich ins Polster zurück und bemerkte: «Sieht nach Regen aus.»
«Ich warte noch immer auf eine Antwort», insistierte Mankin. «Und ich denke, Sie wissen, dass ich nicht aus bloßer Neugier so hartnäckig bin. Ich werde in nächster Zeit vermutlich einer Menge Leute eine Menge Fragen stellen müssen, und das bedeutet meiner Erfahrung nach, dass ich mir selbst im Gegenzug eine Menge Fragen werde gefallen lassen müssen. Ich möchte vermeiden, falsche Antworten zu geben. Bei so einem Job kann ich es mir nämlich nicht leisten, als Lügner dazustehen.»
«Na schön», sagte Slate. Er zog ein schmales silbernes Zigarettenetui aus seiner Manteltasche, öffnete es, bot erst Mankin eine Zigarette an und nahm anschließend selbst eine, betrachtete sie einen Moment und legte sie dann wieder zurück. «Nun, ich nehme an, Sie wissen, dass jeder, der in dieser Stadt etwas Einfluss hat, sein Leben nach mindestens zwei Agenden ausrichtet: einer öffentlichen und einer zweiten, die sorgfältig abgeschirmt wird und der Verfolgung ganz persönlicher Ziele und Zwecke dient.»
Mankin nickte.
«So. Ich versuche am besten, Ihnen das Ganze anhand eines Beispiels zu erklären. Nehmen wir mal an, Sie melden sich bei Ihrem Börsenmakler, um sich zu erkundigen, wer der Eigentümer von Seamless Weld sei. Ein paar Tage später ruft er Sie zurück und sagt Ihnen, die Firma sei ein Tochterunternehmen der Searigs Inc. Daraufhin fragen Sie, wer denn hinter Searigs stehe, und Ihr Makler verspricht, es herauszufinden. Nach ein paar Tagen ruft er Sie erneut an, und Sie erfahren, dass A.G.H. Industries der Mehrheitsaktionär von Searigs ist. Nun ist unser Makler ein kluger Mann, er hat bereits Ihre nächste Frage antizipiert und erklärt Ihnen, dass die Aktienmehrheit von A.G.H. wiederum von einem Trust gehalten wird, dessen Interessen von einer Washingtoner Anwaltskanzlei vertreten werden, die aus vier Partnern besteht. Und einer dieser Partner ist ein gewisser Mr. Rawley Winsor. Punkt, Schluss, aus.»
«Den Namen habe ich, glaub ich, schon mal gehört», bemerkte Mankin. «Aber ich weiß nichts über ihn. Wer ist der Mann?»
«Man merkt, dass Sie sich immer nur kurze Zeit in Washington aufgehalten haben und offenbar auch keine engeren Beziehungen zur Wall Street unterhalten, sonst würden Sie ihn kennen», sagte Slate. «Rawley Winsor ist ... Ich überlege, wo ich anfangen soll.» Er hielt inne und fuhr dann fort: «Am besten wohl bei seiner Familie. Also, Winsor entstammt einer Washingtoner Patrizierfamilie, deren Angehörige schon seit Generationen zu den Spitzen der Gesellschaft zählen. Er selbst hat die in diesen Kreisen übliche Ausbildung durchlaufen: zuerst Princeton, dann Harvard Law School. Er fädelt im Capitol die wichtigen Deals ein, organisiert alle möglichen Wohltätigkeitsveranstaltungen, steuert aus dem Hintergrund eine Menge einflussreicher Lobbyisten und stünde wahrscheinlich längst regelmäßig ganz oben auf der Liste der reichsten Männer in Fortune, wenn er nicht seine finanziellen Beteiligungen und Transaktionen so überaus sorgsam verborgen hielte.»
«Lassen Sie mich raten. Der Senator handelt also entweder im Auftrag von Winsor, oder aber er sucht nach einer Möglichkeit, ihn bei etwas Gesetzwidrigem zu erwischen. Vielleicht macht er sich Hoffnungen, nachweisen zu können, dass dieser Winsor einer von denen ist, die sich an dem indianischen Treuhandvermögen bereichern. Oder noch einmal andersherum: Der Senator versucht, mit meiner Hilfe einen Hebel in die Hand zu bekommen, um zu erzwingen, dass ihn Winsor und die anderen an dem profitablen Geschäft beteiligen.»
Slate lachte. «Sie wissen doch: Es widerspricht unseren Grundsätzen, Spekulationen zu kommentieren.»
«Was ich nicht verstehe», fuhr Mankin fort, «ist, warum dieser Winsor sich auf solche kriminellen Machenschaften überhaupt einlassen sollte. Die sind schließlich mit erheblichen Anstrengungen, Stress und auch Gefahren verbunden. Und wenn er so ungeheuer reich ist, wie Sie sagen, ist er doch auf zusätzliche Einkünfte gar nicht angewiesen.»
«Möglicherweise ist er eine Spielernatur und liebt das Risiko», sagte Slate. «Vielleicht hält er es auch einfach nicht aus, zuzusehen, wie ein anderer von Washingtons Mächtigen an illegalen Geschäften profitiert, während er außen vor ist. Die Spatzen pfeifen es jedenfalls von den Dächern, dass er derjenige ist, der die Fäden zieht bei der groß angelegten Kampagne gegen die Unterzeichnung des Gesetzes zur Legalisierung von Marihuana für medizinische Zwecke. Warum mischt er sich in dieser Frage ein? Nun – man munkelt, er befürchte, dies könnte der erste Schritt sein, alle Art von Drogen, also auch Kokain und Heroin, zu legalisieren, was bedeuten würde, dass sie in behördlich konzessionierten Geschäften und hoch versteuert allgemein zugänglich wären. Nun gibt es viele gute Gründe gegen eine solche Legalisierung von Drogen. Unter anderem hat sich in der Vergangenheit herausgestellt, dass die Legalisierung von Rauschgift häufig eine nicht wünschenswerte Verschwendung öffentlicher Gelder nach sich zieht. Aber das dürfte kaum der Grund dafür sein, warum Winsor so vehement dagegen Sturm läuft. Niemand weiß mit Sicherheit, warum er sich in dieser Angelegenheit engagiert, aber es gibt natürlich Vermutungen. Und zynisch, wie man in Washington nun einmal ist, wird hinter vorgehaltener Hand darüber spekuliert, er betätige sich womöglich außerhalb des Scheinwerferlichts der Öffentlichkeit als Drogenimporteur. Eine Legalisierung von Drogen und ihre kontrollierte Abgabe würde ihm natürlich das Geschäft verderben. Wenn die Regierung den Anbau überwacht, den Preis festsetzt und den Vertrieb konzessioniert, ist es mit den Extraprofiten vorbei. Es wird keine jugendlichen Dealer mehr geben, die ihre Altersgenossen zum Konsum verführen, keine Messerstechereien mehr oder Bandenkriege, um die eigenen Absatzgebiete zu verteidigen.» Slate holte Luft. «Aber das ist ein anderes Thema.»
«Ich muss schon sagen, Ihr Szenario ist ziemlich kühn», bemerkte Mankin. «Der Mann ist mehrfacher Milliardär, und Sie unterstellen ihm, dass er sich in großem Maßstab im Drogengeschäft betätigt. Rauschgifthandel ist kein Kavaliersdelikt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand mit seinem Hintergrund so unvernünftig und gewissenlos ist, sich darauf einzulassen.»
Slate zuckte die Schultern. «Vielleicht haben Sie Recht. Aber vielleicht ist er doch in den Drogenhandel verwickelt, und man muss nach einer psychologischen Erklärung suchen. Meine Frau hat zu Hause drei Katzen. Eine der drei kommt stets als Erste, wenn es Futter gibt, schlingt so viel in sich hinein, wie sie nur kann, und nimmt dann neben dem Napf Aufstellung, um die beiden anderen am Fressen zu hindern. Sie faucht und fährt die Krallen gegen sie aus, obwohl sie längst satt ist. Ich frage mich seit langem, ob Menschen wirklich klüger sind als Katzen.»
Mankin nickte bestätigend. «Können Sie Französisch?»
«Nur ein bisschen», antwortete Slate überrascht.
«Französische Bauern haben eine spezielle Bezeichnung für den Eber, der die anderen Schweine dominiert und seine Stallgenossen regelmäßig vom Trog wegzubeißen sucht. Sie nennen ein solches Tier ‹porc sinistre›. In dem britischamerikanischen Ölclub, von dem ich Ihnen vorhin erzählt habe, war das der geläufige Spitzname für Saddam, weil er gewaltsam versucht hat, die Ölfelder des Iran zu annektieren, obwohl er im eigenen Land über mehr Öl verfügte, als er tatsächlich nutzen konnte. Und ein paar Jahre nach seinem Iran-Abenteuer ist er aus demselben Grund auch in Kuwait einmarschiert. Ihn trieb nichts als Gier, die Vernunft war vollkommen ausgeschaltet.»
«‹Porc sinistre›», wiederholte Slate. «Das ließe sich etwa mit <bösartiges Schwein› übersetzen, oder? Ein französischer Freund hat mir mal erklärt, dass man, wenn man das Wort ‹Schwein› im Französischen als Beleidigung gebrauchen möchte, das Wort ‹cochon› benutzt. Nach allem, was ich über Rawley Winsor gehört habe, wäre demnach ‹cochon sinistre› genau die richtige Bezeichnung für ihn.»
Das Treffen der beiden Männer hatte an einem Montag stattgefunden. Unmittelbar danach hatte der Mann, der jetzt Carl Mankin hieß, seine Frau angerufen, um ihr zu sagen, dass er für mehrere Tage nach New Mexico fahren werde. Eventuell könnten es auch drei, vier Wochen werden. Anschließend hatte er sich im Taxi zum Department of Energy bringen lassen, dort bei einem Bekannten vorgesprochen und umstandslos alle gewünschten Informationen bekommen. Er wusste jetzt, welche Gesellschaften auf den ausgedehnten Ölfeldern im San-Juan-Becken die Pipelines betrieben, war im Bilde über das Auf und Ab der Fördermengen, das Steigen und Sinken der Ölpreise sowie über die Praktiken von Kauf und Weiterverkauf. Die wichtigeren Daten und Fakten über die gigantischen Ölvorkommen dort hatte er auf seinem Taschenrecorder festgehalten. Allein auf dem Gebiet von New Mexico wurde Öl und Gas aus mehr als 1900 Bohrlöchern gefördert. Und Jahr für Jahr kamen Dutzende neue dazu. Geologen schätzten, dass unter dem Felsgestein nahezu drei Billionen Kubikmeter Gas lagerten. Und mehr als zwanzig Öl- und Gaskonzerne konkurrierten miteinander um neue Förderlizenzen. Bevor er sich nach New Mexico auf den Weg machte, hatte er noch seinen Kontaktmann im Department of the Interior angerufen und fand bald bestätigt, was er befürchtet hatte: Die Akten über die Abgaben auf das geförderte Öl und Gas, welche in den treuhänderisch verwalteten indianischen Stammestrust fließen sollten, waren unvollständig und so gut wie nicht geordnet. «Das reinste Chaos», hatte sein Kontaktmann lakonisch kommentiert. Und das galt nicht nur für den aktuellen Bestand, sondern auch für alle diesbezüglichen Akten bis zurück in die vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts – noch weiter zurück hatte sein Informant nicht recherchiert. Die ganze Sache war im Grunde aussichtslos, hatte Mankin gedacht, aber 50 000 Dollar machten das Ganze, selbst wenn er nichts erfuhr, immerhin finanziell interessant.
Seitdem waren genau zwei Wochen vergangen, und er saß, 2400 Kilometer entfernt von dem eleganten Bistro Bis in Washingtons E-Street, in seinem gemieteten Jeep Cherokee etwas abseits einer unbefestigten Straße, die am Rand des Bisti-Öl- und -Gasfeldes verlief, dort, wo die Reservation der Jicarilla-Apachen an das Gebiet der Navajo Nation grenzt, mitten in Amerikas Gegenstück zum Persischen Golf – dem San-Juan-Becken.
Einen Moment vorher hatte er registriert, dass man ihm folgte – und das offenbar schon seit Tagen. Genauer gesagt, seit dem Abend, als er in El Paso das Gebäude von Seamless Weld verlassen hatte. Ihn überkam ein diffuses Unbehagen. Eigentlich hätte er es merken müssen, dachte er. Vor etwa dreißig Jahren, während seiner Zeit im Libanon, hatte ihm ein CIA-Veteran an der Botschaft in Beirut beigebracht, wie man einen Beschatter ausmacht, und auch, wie man ihn abschüttelt. In den Jahren danach hatte er reichlich Gelegenheit gehabt, diese Kenntnisse anzuwenden. Zuerst im Irak, in der Zeit, als Saddam Hussein und seine Republikanischen Garden gegen den Iran Krieg führten – damals galt der Despot im Zweistromland den USA allerdings noch als Verbündeter im Kalten Krieg. Dann erneut 1990, als Saddam, wegen der Besetzung Kuwaits nunmehr zum Feind geworden, durch den Einsatz von den UN beauftragter multinationaler Truppen sowie die Operation Desert Storm unter General Norman Schwarzkopf zur Kapitulation gezwungen wurde. Zur Vollendung gebracht hatte er die Kunst, einen Schatten zu entdecken und auszutricksen, schließlich im Jemen, von wo aus die Al-Qaida-Leute einen Teil ihrer Terrorakte planten. Damals hatte er in jedem Augenblick gewusst, wer gerade hinter ihm war.
Aber die vergangenen zwei Jahre in Washington hatten ihn sorglos und unachtsam werden lassen. Der Mann, den er jetzt als seinen Verfolger ausgemacht zu haben glaubte, war ihm zum ersten Mal vor zwei Tagen aufgefallen. Er hatte gegenüber dem Firmensitz von Seamless Weld auf der anderen Straßenseite gestanden, und er war ihm nur deshalb aufgefallen, weil er einen merkwürdigen, in zwei langen Spitzen auslaufenden Vollbart trug, und nicht etwa weil er besonders auf seine Umgebung geachtet hätte. Das zweite Mal hatte er den Mann bemerkt, kurz nachdem er das FBI-Büro in Gallup verlassen hatte. Er saß in einem Chevy auf einem Parkplatz schräg gegenüber und schien in eine Zeitung vertieft. Und gerade eben hatte er ihn zum dritten Mal entdeckt. Im Rückspiegel seines Cherokee. Auf dem Beifahrersitz eines Dodge Pickup.
Drei Begegnungen innerhalb von zwei Tagen an drei weit auseinander liegenden Orten – das war entschieden zu viel, um es als Zufall abtun zu können. Zum Glück war der Mann offenbar ein Amateur. Kein professioneller Beschatter würde riskieren, durch eine solch ungewöhnliche Barttracht die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das bedeutete, dass von dem Mann mit hoher Wahrscheinlichkeit keine unmittelbare Gefahr ausging. Vermutlich war es nur jemand, der losgeschickt worden war, um herauszufinden, wer er war und was er hier wollte, versuchte er sich zu beruhigen. Aber seine Erfahrung sagte ihm, dass mehr dahinter stecken musste. Der Mann war ihm auf den Fersen, seit er das Firmengebäude von Seamless Weld in El Paso verlassen hatte. Woher hatte er überhaupt gewusst, dass er dort auftauchen würde?
Vielleicht, dachte er, hatte der Senator oder derjenige, in dessen Auftrag er tätig war, ihn auf die Gehaltsliste von Seamless Weld gesetzt, weil man vermutete, dass diese Firma irgendwie in den großen Ölschwindel verwickelt war. Und die Gegenseite hatte Wind davon bekommen, dass man ihn als Ermittler angeheuert hatte, und daraus geschlossen, dass er sich vermutlich zuerst in El Paso blicken lassen würde, man also dort seine Spur aufnehmen könnte.
Er beobachtete, wie der Pickup auf der Sandpiste etwas unterhalb von ihm näher kam, den Bärtigen konnte er nicht sehen, er saß für ihn verdeckt. Der Mann am Steuer, ein junger Bursche mit blauer Baseballkappe, wandte, als der Pickup den Cherokee passierte, den Kopf und warf einen verstohlenen Blick hinüber, ehe er schnell wieder vor sich auf die Piste sah. Stümper, dachte der Grauhaarige verächtlich. Mit Sicherheit keine Profis.
Er horchte auf das allmählich leiser werdende Motorgeräusch und fühlte, wie die Spannung allmählich von ihm wich. Auf einmal nahm er das feine Rauschen der Blätter im Wind wahr und beobachtete einen Moment lang einen Schwarm Krähen, der sich laut krächzend auf einigen Kiefern in der Nähe niederließ. Er stieg aus. Die Krähen flogen schimpfend auf. Der leichte Wind hatte sich für einen Moment gelegt, und es wurde plötzlich unerwartet still. Wieso war der Pickup so schnell außer Hörweite? Fuhr er vielleicht gerade durch ein dichtes Waldstück oder einen Abhang hinunter?
Er spürte, wie die Anspannung zurückkehrte, und überlegte, ob er wieder einsteigen und gleich weiterfahren sollte. Der Fahrer eines Halliburton-Wartungstruck, mit dem er ins Gespräch gekommen war, hatte ihn auf die Pipeline-Relaisstation am Rande der Jicarilla Reservation aufmerksam gemacht. «Da war, als ich neulich dort vorbeikam, plötzlich unheimlich Betrieb», hatte er gesagt. «Mir kam es vor, als würden sie dort neue Messinstrumente einbauen und einen größeren Kompressor. Dabei hat es die ganzen Jahre so ausgesehen, als sei die Station schon so gut wie aufgegeben. Merkwürdig, versteh ich nicht.»
Der Grauhaarige machte sich seine eigenen Gedanken. Neue Messgeräte – das konnte bedeuten, dass die alten nicht richtig gearbeitet hatten, womöglich manipuliert worden waren, um die Angaben für die durchgeflossenen Mengen absichtlich niedrig zu halten. Es war nicht auszuschließen, dass das Ganze mit dem großen Erdölschwindel zusammenhing, den er versuchte aufzuklären. Das erschien ihm zwar eher unwahrscheinlich, aber irgendwo musste er schließlich mit seinen Nachforschungen beginnen. Obwohl er jetzt deutliches Unbehagen spürte, beschloss er, hinüberzugehen auf die andere Seite der Sandpiste und sich die Relaisstation einmal näher anzusehen. Schließlich hatte er mehr als zwei Stunden gebraucht bis hierher, und es widerstrebte ihm, unverrichteter Dinge wieder umzukehren.
Während er die Piste überquerte, blieb er zweimal stehen, um zu horchen. Er vernahm das Rascheln der Blätter im wieder aufgefrischten Wind und hörte in einiger Entfernung ein paar Krähen rufen. Sonst war alles still. Das Gebäude war verschlossen. Er spähte durch eine halbblinde Fensterscheibe ins Innere: ein Kompressor, Stahltanks, verschiedene Messgeräte, ein wuchtiger Arbeitstisch, mehrere Rohrleitungen von unterschiedlichem Durchmesser. Nichts Auffälliges, alles so, wie er es in vielen solcher Stationen auf der ganzen Welt gesehen hatte – vom Nahen Osten bis Alaska, von Indonesien bis Wyoming. Anders als der Fahrer gesagt hatte, wirkte die Station allerdings, als sei hier schon länger nicht mehr gearbeitet worden.
Achselzuckend machte er sich auf den Rückweg und war schon fast wieder an seinem Jeep, als er den Bärtigen zum vierten Mal sah. Er stand ein paar Meter von dem Cherokee entfernt, im Schatten einiger Fichten, der Bursche mit der blauen Baseballkappe dicht neben ihm. Beide Männer blickten zu ihm hinüber. Der Bursche mit der Baseballkappe hielt ein Gewehr in den Händen. Jetzt hob er es langsam in die Höhe und richtete den Lauf auf den Grauhaarigen.
Der Mann, dem man den Decknamen Carl Mankin gegeben hatte, duckte sich weg und begann zu laufen. Für sein Alter war er überraschend schnell, es gelang ihm, noch gut ein Dutzend weit ausgreifender Schritte zurückzulegen, ehe ihn die Kugel im Rücken traf, ziemlich weit oben zwischen den Schulterblättern, und er mit dem Gesicht nach vorn auf den sandigen Boden stürzte.
«Wie ich dich kenne, wirst du mich sicher fragen, ob ich die weitere Untersuchung des Toten nicht gleich ganz übernehmen will», sagte Cowboy Dashee und blickte mit einem ironischen kleinen Lächeln zu Chee hoch. «Natürlich nur, um mir einen Gefallen zu tun. Damit ich mal wieder etwas Übung darin bekomme, wie man ein Mordopfer untersucht. Könnte ja sein, dass ich das inzwischen verlernt habe.»
Dashee hockte vor der Leiche eines mittelgroßen, schlanken Mannes um die sechzig mit grauem Bürstenhaarschnitt, der, das Gesicht zur Erde, unter einem niedrigen, verbuschten Bergahorn lag. Der Tote war locker mit Herbstlaub bedeckt, ob zufällig vom Wind oder mit der Absicht, ihn zu verbergen, ließ sich nicht sagen.
«Ja, genau», antwortete Chee mit einem leichten Grienen. «Die Entscheidung liegt natürlich ganz bei dir. Aber seit du in die Strafverfolgungsabteilung des Bureau of Land Management gewechselt bist, verbringst du, soweit ich weiß, die meiste Zeit hinter dem Schreibtisch. Da müsste es dich doch eigentlich reizen, mal wieder vor Ort zu sein und eine echte Leiche zu begutachten. Und ganz nebenbei kannst du auch gleich noch deine Kenntnisse darüber auffrischen, wie man einen Tatort sichert.»
Dashee war ein Hopi und hatte im Gegensatz zu Chee, der von Kindheit an geprägt war von der Navajo-typischen Scheu, einen Toten zu berühren oder sich auch nur im selben Haus mit ihm aufzuhalten, kein Problem, sich einer Leiche zu nähern. Als Angehöriger des Federal Bureau of Land Management trug er im Dienst gewöhnlich Uniform, doch heute war sein freier Tag, und deshalb hatte er Jeans und ein schon ziemlich verblichenes T-Shirt an. Er hatte in Shiprock zu tun gehabt und die Gelegenheit genutzt, um kurz in Chees Büro bei der Navajo Tribal Police vorbeizuschauen. Die beiden hatten sich gerade hingesetzt, um einen Kaffee miteinander zu trinken, als Chees Telefon summte. Ein Angestellter von El Paso Natural Gas hatte in einem Arroyo nordöstlich der Degladito Mesa, dort wo das Gebiet der Navajo Nation an die Jicarilla Apache Reservation stößt, einen Toten entdeckt.
«Ich bitte zu beachten, wie behutsam ich mit deinem Tatort umgehe», bemerkte Dashee. «Du hast hoffentlich mitbekommen, dass ich sorgfältigst darauf geachtet habe, wohin ich trete, um nicht eventuelle Fußspuren des Mörders oder desjenigen, der die Leiche hergeschleppt hat, zu zerstören. Oder auch die des Toten, falls er wider Erwarten auf eigenen Füßen hierher gekommen ist, um sich hier zu erschießen.»
«Ja, schon gut», sagte Chee ungeduldig. «Ich wär dir dankbar, wenn du jetzt möglichst schnell weitermachen würdest.»
«Ich bin durchaus nicht immer so sorgfältig», fuhr Dashee ungerührt fort, «aber der Mann hier ist vermutlich das Opfer eines Verbrechens, das auf eurem Stammesgebiet begangen wurde. Wie du weißt, ist für jedes Kapitalverbrechen, das auf einer Reservation begangen wird, automatisch das FBI zuständig, das heißt, sobald die Feds von dem Mord erfahren, werden sie umgehend hier erscheinen und den Fall an sich ziehen. Und wenn sich dann herausstellt, dass die Sache doch etwas komplizierter liegt, als man zuerst gedacht hat, und die Feds die Ermittlungen in den Sand setzen, dann werden sie wie üblich ganz schnell Ausschau halten nach einem Sündenbock, und dann möchte ich nicht derjenige sein, dem sie die Schuld in die Schuhe schieben können. Das hab ich nämlich während meiner Zeit als Deputy mal erlebt, und es ist keine Erfahrung, die ich wiederholen möchte.»
«Bis jetzt hast du alles richtig gemacht», sagte Chee beruhigend, während er Dashee aus einiger Entfernung bei seiner Arbeit beobachtete.
«Er hat hinten in der Jacke ein Loch», sagte Dashee. «Vermutlich durch den Eintritt einer Kugel. Weder Blut- noch Pulverspuren, soweit ich sehen kann. Ich mache aber, bevor ich ihn umdrehe, auf jeden Fall zur Sicherheit noch ein paar Fotos aus nächster Nähe.»
«Dann geh ich jetzt und verständige die Zentrale», erklärte Chee.
«Ein weiterer Grund, warum ich mich ganz entgegen meiner üblichen Nachlässigkeit um größtmögliche Sorgfalt bemühe, ist, dass ich noch sehr gut in Erinnerung habe, wie es deiner Freundin damals ergangen ist. Du weißt schon, als sie den Toten im Pickup für einen Betrunkenen hielt und die Ambulanz gerufen hat statt der Spurensicherung. Mann, und was für einen Riesenärger hat sie deswegen bekommen!» Dashee hielt einen Moment kopfschüttelnd inne, als er sich die Geschichte noch einmal vergegenwärtigte.
«Ich nehme an, du sprichst von Officer Bernadette Manuelito», sagte Chee. «Aber sie ist nicht meine Freundin, nur damit das klar ist.»
«Ach, stimmt ja», antwortete Dashee, «ich habe gehört, sie hätte dich verlassen. Dann also deine Ex-Freundin, Entschuldigung.»
«Sie ist erst recht nicht meine Ex-Freundin», widersprach Chee ärgerlich. «Sie hat für mich gearbeitet, sonst nichts. Wie du eigentlich wissen solltest, gehört es sich nämlich nicht, eine Beziehung zu einer Untergebenen aufzunehmen. Es ist sogar verboten.»
«Ach ja?», fragte Dashee und tat überrascht. Doch Chee war bereits unterwegs zu seinem Streifenwagen, um Meldung zu erstatten.
Der Diensthabende in der Funkleitzentrale bat ihn um eine Wegbeschreibung.
«Auf dem Highway 64 Richtung Osten bis Gobernador, dann durch den Vaqueros Canyon, nach fünfzehn Kilometern links über einen Kälberrost Richtung Norden auf eine Sandpiste, die zu einem Erdgasfeld führt. Nach elf Kilometern kreuzt eine weitere Sandpiste zum Buzzard-Wash-Gasfeld, das von El Paso Natural Gas in Pacht betrieben wird. Dort links. Mein Streifenwagen steht einen Kilometer die Piste runter. Ist nicht zu übersehen.»
Chee war auf halbem Weg zurück zum Tatort, als ihm Dashee entgegenkam. Er klopfte sich den Staub von den Händen und sagte grienend: «Wie viel zahlst du eigentlich dem Heiler, wenn er die Ghost-Way-Zeremonie für dich durchführt, um zu verhindern, dass der chindi eines Toten, mit dem du in Ausübung deines Dienstes zu tun hattest, Macht über dich bekommt? Ich finde nämlich, dass dieses Geld jetzt eigentlich mir zustünde.»
«Ich werde es abziehen von dem Betrag, den du mir für die Erteilung einer Nachhilfestunde in Spurensicherung schuldest», antwortete Chee.
Dashee schüttelte bedauernd den Kopf. «Na, dann eben nicht. Sieht so aus, als wären wir quitt. Der Tote dahinten dürfte dir übrigens noch eine Menge Arbeit machen. Er hat keine Brieftasche bei sich und auch sonst keine Papiere, sodass sich nicht ohne weiteres feststellen lässt, wer er ist. Die Sachen, die er trägt, sehen ziemlich teuer aus. Jacken- und Hosentasche waren leer.»
Chee runzelte die Stirn. «Ich frage mich, wie er hergekommen ist. Wir sollten Ausschau halten nach einem verlassenen Wagen.»
Dashee nickte. «Wie ich schon sagte, du wirst eine Menge Arbeit mit ihm haben. Und jetzt hast du nicht mal mehr die kleine Manuelito, die du früher immer losschicken konntest», fügte er mit gespieltem Bedauern hinzu. Er grinste. «Aber wer weiß, wenn du höflich genug bittest, leihen die Leute von der Border Patrol sie dir vielleicht zwischendurch mal aus.»