Joe Leaphorn, früher einmal Lieutenant bei der Navajo Tribal Police, aber nun schon seit Jahren im Ruhestand, saß am späten Vormittag mit zwei ehemaligen Kollegen bei einer Tasse Kaffee im Navajo Inn und bemühte sich, sie davon zu überzeugen, dass ein Zusammenhang bestehe zwischen dem, was sich damals vor fünfzig Jahren in der Nähe des Salt Woman Shrine zugetragen hatte, und Billy Tuves erst kurze Zeit zurückliegendem Versuch, im Leihhaus von Gallup einen Diamanten zu versetzen. «Ihr müsst die beiden Ereignisse als Ursache und Wirkung betrachten», sagte er. «Alles hängt mit allem zusammen. Im Grunde ist das ganze Universum wie eine hochkomplizierte Maschine, deren unendlich viele Einzelteile reibungslos ineinander greifen.» Seine Zuhörer folgten diesen Worten mit höflicher Aufmerksamkeit, wirkten jedoch nicht sonderlich beeindruckt.
Leaphorn schien ihre Skepsis zu spüren. «Ich gebe zu, der zeitliche Abstand von einem halben Jahrhundert zwischen dem Tag der Flugzeugkatastrophe und Billy Tuves Auftauchen in der Pfandleihe scheint auf den ersten Blick ein Problem darzustellen», sagte er, «aber wenn man sich dann alles genauer ansieht, ist klar zu erkennen, wie das eine zum anderen geführt hat. Dann fällt einem die Verbindung deutlich ins Auge.»
Captain Pinto, Largos Nachfolger in der Zentrale der Navajo Tribal Police in Window Rock, stellte seine Tasse ab und gab der Kellnerin, die hinter dem Tresen Leaphorns Ausführungen interessiert gefolgt war, ein Zeichen, ihm Kaffee nachzuschenken. Er sah Leaphorn abwartend an, ob der seine letzte Bemerkung noch weiter ausführen wollte, doch der Lieutenant hatte gesagt, was ihm wichtig war, und nickte nur noch einmal, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, kurz mit dem Kopf.
«Grundsätzlich teile ich ja deine Überzeugung, Joe, dass alle Dinge im Universum miteinander zusammenhängen», schaltete Pinto sich nun ein. «Ein heftiger, heißer Wind lässt umherfliegende Vögel ermüden, die sich daraufhin auf einem Baum niederlassen. Unter der Last ihres Gewichts bricht ein Ast und fällt in den am Fuß des Baumes vorüberfließenden Fluss. Das eben noch gleichmäßig dahinströmende Wasser wird umgelenkt und unterspült das Ufer, was zu einem Erdrutsch führt, der den gesamten Fluss staut. Das umliegende Land wird überflutet, die Pflanzenwelt verödet, was zur Dezimierung der Tierwelt führt und am Ende die dort lebenden Menschen, die sich von der Jagd ernährt haben, zwingt, ihre angestammte Heimat aufzugeben und sich an einem anderen Ort niederzulassen. Und wenn wir nun noch einmal Schritt für Schritt alles zurückverfolgen, so landen wir bei dem heißen Wind als Ursache für all diese Veränderungen.»
Pinto hielt inne, nahm einen Schluck Kaffee und fuhr fort: «Was aber nun deinen Versuch angeht, Joe, uns plausibel zu machen, dass das Unglück vor fünfzig Jahren und Billy Tuves Versuch, einen Diamanten zu verpfänden, miteinander zusammenhängen, so wirst du, denke ich, ziemliche Mühe haben, auch Joanna Craig in dieses Ursache-Wirkung-Prinzip einzupassen. Irgendwie schwer vorstellbar, dass sie die lange Reise von New York hierher nur unternommen hat, weil ein geistig etwas zurückgebliebener Hopi einen Diamanten versetzen wollte.»
Jetzt ergriff auch Captain Largo das Wort. Er war an diesem Morgen nach Window Rock gekommen, weil er hier an einer Tagung zum Thema «Alkohol am Steuer» teilnehmen wollte. «Das Problem ist, wie du selbst schon gesagt hast, Joe, der zeitliche Abstand. Fünfzig Jahre lassen sich eben doch nicht so einfach überbrücken. Du sagst, alles hätte angefangen mit einem Passagier an Bord einer United-Airlines-Maschine, der eine Kamera dabeihatte und der Stewardess sagte, er würde gerne ein paar Fotos vom Grand Canyon machen. Die Stewardess teilt seinen Wunsch dem Piloten mit, der daraufhin eine elegante Kurve steuert, um aus der Wolke herauszukommen, die den Blick nach unten behindert. In diesem Moment taucht unvermittelt eine Maschine von Trans World Airlines vor ihm auf, er kann ihr nicht mehr ausweichen, kracht in sie hinein, und die Maschine wird in zwei Teile gerissen. So geschehen am 30. Juni 1956. Bis hierher ist alles gut nachvollziehbar. Passagier äußert Wunsch, Pilot kommt dem nach. Dann der große Knall. Beide Maschinen brechen auseinander, es gibt keine Überlebenden. Die Versicherungen leisten ihre Zahlungen, und damit scheint die Sache abgeschlossen. Dann, fünfzig Jahre danach, betritt in diesem Frühjahr ein Hopi namens Billy Tuve ein Pfandleihhaus in Gallup und will für zwanzig Dollar einen Diamanten versetzen, der tatsächlich ungefähr zwanzigtausend wert sein dürfte, wie spätere Schätzungen ergeben. Und setzt damit, ohne es zu ahnen, eine völlig neue Kette von Ereignissen in Gang. – Um es klar und deutlich zu sagen, für mich ist das Auftauchen von Tuve nicht die Fortsetzung einer alten, sondern der Beginn einer völlig neuen Geschichte. Überleg doch mal, Joe! Tuve war, als die Flugzeugkatastrophe geschah, noch nicht mal auf der Welt. Und auch Joanna Craig war noch nicht geboren.»
«Largo hat Recht», stimmte Pinto dem Captain zu, «in deinem Ursache-Wirkung-Prinzip klafft nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine logische Lücke, Joe. Und was diesen Passagier mit dem Fotoapparat angeht, so ist das ja auch nur eine Vermutung von dir. Niemand wird je erfahren, was den Piloten bewogen hat, plötzlich dieses Manöver zu fliegen.»
Leaphorn seufzte. «Ihr beide starrt immer nur gebannt auf die Lücke und merkt gar nicht, dass ihr nur ein einziges großes Ursache-Wirkung-Prinzip vor euch habt. Ich dagegen sehe eine Vielzahl von Verknüpfungen, die sich alle in einem Punkt treffen.»
Largo wiegte skeptisch den Kopf, lächelte Leaphorn aber aufmunternd zu. «Wenn jetzt eine von deinen berühmten Landkarten hier vor uns auf dem Tisch läge, wie würde sich dieses Zusammentreffen der verschiedenen Ursache-Wirkung-Ketten dort niederschlagen?»
«Vermutlich als Spinnennetz», warf Pinto ironisch ein.
Leaphorn tat, als habe er die Bemerkung nicht gehört. «Tut mir den Gefallen und richtet euren Blick doch einmal auf Joanna Craigs Rolle bei der ganzen Geschichte. Die Tatsache, dass sie zum Zeitpunkt des Unglücks noch nicht geboren war, ist ja gerade ein Glied im Ursache-Wirkung-Prinzip. Beim Absturz der TWA-Maschine starb ihr Vater, und zwar unmittelbar vor der geplanten Hochzeit mit ihrer Mutter. Nach allem, was Joanna Craig erzählt, hat der Tod ihres Verlobten einen Schatten auf das Leben ihrer Mutter geworfen, weil die Familie des Toten sie ablehnte. Und auch Joannas Leben wurde durch diesen Tod und das, was daraus folgte, verdunkelt. Jim Chee hat mir gesagt, dass Joanna Craig nicht in erster Linie wegen der Diamanten nach New Mexico gekommen sei, sondern weil sie Genugtuung wollte für die Demütigungen und Erniedrigungen, die sie und ihre Mutter erfahren hatten.»
Largo und Pinto schwiegen.
«Ihr seht selbst, wie sich da Glied um Glied zu einer Kette fügt», sagte Leaphorn. «Auch Bradford Chandlers Auftauchen hier war nur eine logische Folge dessen, was damals passiert ist. Sein Beruf war eigentlich, Kautionsbetrüger aufzuspüren, aber er hatte den Job übernommen, zu verhindern, dass Joanna Craig fand, wonach sie suchte. Deshalb stieg er in den Canyon hinunter. Cowboy Dashee dagegen war dort, weil Tuve sein Cousin war und er es als seine Pflicht ansah, einem Verwandten zu helfen. Chee wiederum begleitete ihn, da er ihm dies als sein Freund schuldig zu sein glaubte. Und ...» Leaphorn hielt inne.
Pinto lachte leise. «Erzähl weiter, Joe», forderte er Leaphorn auf. «Was ist mit Bernie Manuelito? Wie wurde sie in die Sache hineingezogen?»
Leaphorn wiegte den Kopf. «Vielleicht hat die Geschichte sie interessiert», antwortete er, «oder aber sie ist aus Liebe zu Chee mitgegangen.»
«Weißt du, Joe», bemerkte Largo, «ich kann es immer noch nicht fassen, wie gut sich unsere kleine Bernie da unten im Canyon geschlagen hat. Ich meine, wie hat sie es bloß geschafft, aus der Sache lebendig und unverletzt herauszukommen? Und was mich genauso wundert, ist, wieso du eigentlich bei der Geschichte die Hände im Spiel hattest.» Er grinste. «Ich dachte, du seist im Ruhestand.»
«Daran ist Pinto schuld», antwortete Leaphorn. «Er hat mir von Shorty McGinnis, dem Betreiber des Short Mountain Trading Post, und seinem Diamanten erzählt und dass der alte Mann inzwischen gestorben sei, konnte mir aber nicht sagen, wann und wie. Ich habe Shorty viele Jahre gekannt. Deshalb habe ich angefangen, Nachforschungen anzustellen.»
«Ich wollte dir einen Gefallen tun, Joe», sagte Pinto. «Mir kam es so vor, als ob dir dein Ruhestand in den letzten Monaten etwas langweilig geworden wäre, und ich dachte, vielleicht hättest du Spaß dran, wieder einmal deine Fähigkeiten als Ermittler unter Beweis zu stellen.»
«Und ganz nebenbei schont so ein Freizeitdetektiv ja auch euer Spesenkonto», bemerkte Leaphorn mit einem kleinen Lächeln. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er nach Norden zum Short Mountain Trading Post aufgebrochen war, froh darüber, endlich wieder etwas zu tun zu haben. Und das nur, weil eine zwei Generationen zurückliegende Katastrophe unversehens wieder aktuell geworden war und heftig widerstreitende Emotionen ausgelöst hatte. Gier vor allem sowie Wut und Hass. Aber auch Treue, Zuneigung und Entschlossenheit. Und bei Bernie Manuelito vielleicht sogar Liebe.
Captain Pinto schob seinen Stuhl zurück und stand auf.
«Setz dich wieder hin», sagte Leaphorn, «ich muss euch doch noch erzählen, wie die Geschichte zwischen Bernie und Jim Chee nun ausgegangen ist.»
«Ich hole uns nur ein paar Doughnuts», erwiderte Pinto. «Geht ganz schnell. Bin schon sehr gespannt auf die Fortsetzung.»
Leaphorn konnte sich noch gut an den heißen Augustnachmittag erinnern, an dem er zum ersten Mal von dem Fall hörte, der später als «Skelett-Mann-Geschichte» bekannt wurde. Captain Pinto, sein Nachfolger bei der Navajo Tribal Police, hatte ihn am Tag zuvor angerufen und gefragt, ob er Zeit hätte, bei ihm vorbeizuschauen. Leaphorn hatte dankbar eingewilligt, froh, etwas Abwechslung zu haben.
Doch als er am nächsten Tag, den Hut in der Hand, unten in der Eingangshalle der Zentrale gewartet hatte, um sich anzumelden, kam er sich plötzlich völlig überflüssig und nutzlos vor. Die junge Frau hinter dem Empfangstresen hatte zunächst keine Notiz von ihm genommen, sondern erst in aller Ruhe irgendwelche Briefe weiter einsortiert, ehe sie sich ihm zuwandte. Als er ihr erklärte, dass Captain Pinto ihn erwarte, griff sie nach dem Telefonhörer und fragte: «Sie haben einen Termin?»
Leaphorn nickte stumm.
Sie sah auf ihren Kalender, streifte ihn mit einem kurzen, gleichgültigen Blick und sagte: «Und Ihr Name?»
Die Frage versetzte ihm einen Stich. Hier in diesem Gebäude hatte er den größten Teil seines Berufslebens verbracht, Anweisungen erteilt, Leute eingestellt und über die Jahre im Umkreis von einigen Meilen so etwas wie bescheidenen Ruhm erworben. Und nun musste er sich vorstellen.
«Joe Leaphorn», antwortete er und sah gleich, dass der Name ihr nichts sagte. «Ich habe mal hier gearbeitet», setzte er leise hinzu, aber die Aufmerksamkeit der jungen Frau galt schon wieder dem Telefon. «Ist schon ziemlich lange her», sagte er kaum hörbar, mehr zu sich selbst.
«Der Captain möchte, dass Sie gleich hochkommen», bemerkte sie und wies mit einer knappen Handbewegung zur Treppe.
Vor der Tür mit der Aufschrift «Special Investigations» zögerte er kurz. Dies war einmal sein Büro gewesen. Hier hatte sein Schreibtisch gestanden, und an der Wand hinter ihm hatte die große Landkarte mit den Stecknadeln gehangen. In diesem Zimmer hatte er tage-, ja manchmal wochenlang über komplizierten Fällen gebrütet, bis er die Lösung gefunden hatte.
Er klopfte an und trat ein. Captain Pinto, mit seinen vierzig Jahren in Leaphorns Augen ein noch junger Mann, war gerade damit beschäftigt, etwas in sein Notizbuch einzutragen. Er blickte hoch und bedeutete Leaphorn, auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen.
«Hast du schon gehört, dass Chee sich nun doch noch entschlossen hat zu heiraten?», fragte er statt einer Begrüßung.
«Ja», antwortete Leaphorn. «Wird auch langsam Zeit, wenn du mich fragst. Zum Glück ist Bernie Manuelito eine vernünftige und energische junge Frau. Ich denke, sie wird ihm helfen, endlich erwachsen zu werden.»
«Wollen wir’s hoffen», erwiderte Pinto, wühlte in einem Stapel Akten und zog nach einigem Suchen zwei Ordner hervor. «Ah, hier sind sie ja», bemerkte er befriedigt und schob sie zu Leaphorn hinüber. «Tu mir den Gefallen, Joe, wirf mal einen Blick hinein und sag mir, was du davon hältst. In dem oberen hier sind die FBI-Unterlagen zu dem Raubüberfall auf das Souvenirgeschäft in Zuni. Du hast sicher davon gehört. Der Inhaber wurde erschossen, der Täter entkam mit seiner Beute, vor allem Schmuck. Ein paar Tage später erschien in der Pfandleihe von Gallup ein Hopi namens Billy Tuve und wollte einen ungefassten Diamanten versetzen. Das Erstaunliche war die Summe, die er dafür verlangte, nämlich ganze zwanzig Dollar. Der Betreiber der Pfandleihe erkannte sofort, dass der Stein ein Vielfaches wert war, und forderte Tuve auf, vorn im Laden zu warten, er müsse sich den Diamanten erst genauer ansehen. Tatsächlich jedoch wollte er nur Zeit gewinnen, um die Polizei zu verständigen. Die Beamten trafen kurz darauf ein und nahmen Tuve gleich mit. Auf Befragen erklärte er ihnen, dass er den Diamanten vor Jahren von einem alten Indianer bekommen habe, dem er am Grund des Grand Canyon begegnet sei. Den Namen wisse er nicht. Im Büro des Sheriffs von McKinley County vermutete man einen Zusammenhang mit dem Raubüberfall in Zuni und setzte Tuve erst einmal fest, um weitere Ermittlungen durchzuführen. Man spürte ein paar Zeugen auf, die aussagten, dass einige Tage vor dem Überfall ein Hopi vor dem Geschäft herumgelungert habe. Dieser Hopi war, wie sich herausstellte, Tuve. Obendrein fanden sich in dem Souvenirgeschäft seine Fingerabdrücke. Und deshalb sitzt er jetzt in Untersuchungshaft.»
Nachdem Pinto mit seinem Bericht fertig war, sah er Leaphorn abwartend an, als rechne er mit Fragen. Doch der Lieutenant schwieg. Aus dem ersten Stock drang leise die klagende Melodie eines Willie-Nelson-Liedes zu ihnen herauf.
Leaphorn sah aus dem Fenster und betrachtete ein wenig wehmütig die ihm so vertraute Landschaft. Wie oft hatte er hier gesessen und nach draußen gesehen? In einiger Entfernung flog mit langsamem Flügelschlag ein Häher vorbei. Leaphorn seufzte. Bei Pintos Zusammenfassung eben hatte er sich wieder in alte Zeiten zurückversetzt gefühlt, als er hier Anweisungen gegeben und Berichte entgegengenommen hatte. Er schlug den Ordner auf und begann zu lesen. Auf der zweiten Seite fand sich ein Detail, das erklärte, wieso Pinto ihn hergebeten hatte. Aber er würde nicht von sich aus darauf zu sprechen kommen, sondern es dem Captain überlassen, den Anfang zu machen. Da Zuni in einer Reservation lag und somit der Jurisdiktion von Washington unterstand, fiel der Raubüberfall auf die dortige Pfandleihe formal in die Zuständigkeit des FBI. Doch die Kleinarbeit vor Ort blieb natürlich trotzdem an Pinto und seinen Leuten hängen. Das Büro hier war jetzt das Büro des Captain und er selbst nicht mehr als ein Besucher.
Nachdem Leaphorn mit dem ersten Ordner fertig war, legte er ihn wieder zurück auf den Schreibtisch und griff nach dem zweiten, der offensichtlich sehr viel älter war. Er sah verstaubt aus und ein wenig stockfleckig und war ungewöhnlich dick.
Pinto musste etliche Minuten warten, bis Leaphorn schließlich den Kopf hob und nickte.
«Dir ist sicher aufgefallen, dass der Raub in Zuni eine gewisse Parallele aufweist zu einem früheren Fall von dir – einem Einbruch draußen in Short Mountain», begann Pinto. «Ich nehme an, du kannst dich noch daran erinnern.»
Leaphorn hob die Schultern. «Die Sache liegt eine halbe Ewigkeit zurück», antwortete er. «Mit Parallele meinst du vermutlich, dass damals auch ein Diamant gestohlen worden sein soll.»
Pinto nickte.
Leaphorn schüttelte leicht den Kopf, zog noch einmal den FBI-Ordner zu sich heran und schlug ihn auf. «Anscheinend habe ich mich verlesen. Ich dachte, der Diamant, den dieser Tuve versetzen wollte, hätte einen geschätzten Wert von ...» Er blätterte um. «Ah, hier steht’s. Marktwert zurzeit zirka 20000 Dollar.»
Pinto nickte wieder. «Ja, das ist die Summe, die der Experte vom FBI ermittelt hat. Der Stein hat 3,8 Karat, und er hat ihn in seinem Gutachten beschrieben als ‹von strahlendem Weiß mit einer Anmutung von Himmel darin›. Außerdem soll er einen so genannten Diamantschliff haben, und zwar die Asscher-Version dieses Schliffes, was immer das heißen mag. Das Gutachten müsste irgendwo bei den Unterlagen sein. Wenn du willst ...»
Doch Leaphorn winkte ab. «In der FBI-Akte wird erwähnt, dass damals bei dem Einbruch im Short Mountain Trading Post ebenfalls ein wertvoller Diamant verschwunden sein soll.» Er grinste. «Ich vermute, der Agent, der diesen Bericht verfasst hat, ist neu hier in der Gegend. Oder hältst du es für möglich, dass Shorty McGinnis irgendwo zwischen seinen Mehl- und Zuckersäcken einen wertvollen Diamanten aufbewahrt hat?»
Pinto schüttelte den Kopf. «Nein, schwer vorstellbar.»
«Und als er mir damals den Einbruch gemeldet hat, war von einem Diamanten keine Rede», fuhr Leaphorn fort. «Wahrscheinlich hat er sich gesagt, dass ich ihm sowieso nicht glauben würde. Ist dir übrigens aufgefallen, dass die Notiz über den angeblich geraubten Diamanten erst ein Jahr später zu den Akten genommen wurde? Damals bin ich gerade pensioniert worden, deshalb habe ich davon nichts mehr mitbekommen. Wenn ich recht verstanden habe, hat sich die Versicherung von McGinnis bei den Feds beschwert, dass die von uns erstellte Liste der gestohlenen Gegenstände nicht vollständig gewesen sei.»
Er blickte Pinto fragend an.
Der nickte. «Na ja, vielleicht hat McGinnis, als er dir die gestohlenen Gegenstände meldete, den Diamanten einfach vergessen, und er ist ihm erst wieder eingefallen, als er die Versicherung über seinen Schaden informieren wollte», bemerkte er mit einem kleinen ironischen Lächeln.
«Hast du McGinnis mal auf die Sache angesprochen?», erkundigte sich Leaphorn.
«McGinnis ist tot», erwiderte Pinto. «Und zwar schon eine ganze Weile, so wie es aussieht.»
Leaphorn sog scharf die Luft durch die Zähne.
«Shorty ist tot?», rief er. «Verdammt. Das wusste ich ja gar nicht.»
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Es fiel ihm schwer, zu akzeptieren, dass es diesen lebensklugen, zähen, immer etwas misanthropischen alten Mann nicht mehr geben sollte. Wieder eine Lücke in dem immer kleiner werdenden Kreis der Menschen, die sein Leben interessant und abwechslungsreich, mitunter auch schwierig und anstrengend gemacht hatten. Der alte Mann würde ihm fehlen, dachte er und blickte an Pinto vorbei nach draußen auf den schier endlosen tiefblauen Himmel. Nur gegen Norden über den Chuskas zogen erste dunkle Gewitterwolken auf. Vermutlich würde es heute noch Regen geben. Er erinnerte sich an die vielen Besuche, die er McGinnis im Laufe seines Berufslebens abgestattet hatte, und an die langen Gespräche, die sie miteinander geführt hatten. Er sah ihn vor sich, wie er in seinem schon etwas altersschwachen Schaukelstuhl saß und ein Coca-Cola-Glas aus den Fünfzigern hielt, das mit Whiskey gefüllt war, dabei mit seiner Hand sorgsam das sachte Auf und Ab ausgleichend, damit nichts von dem kostbaren Jack Daniels herausschwappte. Aber solange sie auch zusammensaßen, nie hatte Leaphorn ihm auch nur ein Wort mehr entlocken können, als McGinnis ohnehin bereit war zu sagen.
«Weißt du», sagte Leaphorn zu Pinto gewandt und lachte leise, «dieser Einbruch damals bei McGinnis, der liegt nun schon so viele Jahre zurück, dass ich ihn, ehrlich gesagt, fast schon vergessen hatte.»
Pinto seufzte. «Ich wünschte, ich könnte von den Feds dasselbe sagen», erwiderte er. «Aber leider Fehlanzeige. Übrigens hat McGinnis gegenüber der Versicherung den Wert des Steins seinerzeit auf zehntausend Dollar beziffert, ich nehme mal an, dass er heute ungefähr das Doppelte wert wäre. Nachdem sich die Versicherung damals bei den Feds wegen der angeblich unvollständigen Verlustliste beschwert hatte, sind die der Sache nachgegangen und ziemlich schnell zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei der Angelegenheit um versuchten Versicherungsbetrug handelte. Aber sie hatten keinerlei Beweis für diesen Verdacht, und so verliefen die Ermittlungen schließlich im Sande. Nachdem aber jetzt Tuve mit seinem vermutlich geraubten Diamanten im Pfandleihhaus auftauchte, hat irgendein Computer-Crack beim FBI einen Abgleich zwischen dem von McGinnis als gestohlen gemeldeten Diamanten und dem von Tuve präsentierten Stein vorgenommen, und überraschenderweise bestehen zwischen beiden Diamanten Übereinstimmungen, und deshalb haben uns die Feds jetzt aufgefordert, diese alte McGinnis-Geschichte nochmal aufzurollen.»
«Als sei das ein Kinderspiel nach all den Jahren», bemerkte Leaphorn kopfschüttelnd. «Haben sie wenigstens gesagt, was genau ihr in Erfahrung bringen sollt?»
Pinto nickte. «Sie wollen wissen, woher McGinnis’ Diamant stammte – vorausgesetzt, er hat überhaupt jemals einen besessen. Und wenn ja, ob er inzwischen vielleicht irgendwo wieder aufgetaucht ist. Na, und so weiter. Dieser Billy Tuve ist, wie du ja gelesen hast, von Zeugen als derjenige identifiziert worden, der sich ein paar Tage vor dem Überfall in der Nähe des Souvenirgeschäfts herumgetrieben haben soll. Und außerdem hat, wie du weißt, die Spurensicherung seine Fingerabdrücke dort gefunden, aber das muss nicht unbedingt bedeuten, dass er der Täter ist – es kann auch alles Zufall sein. Der einzige handfeste Beweis gegen ihn ist der Diamant, den er versetzen wollte – vorausgesetzt, der stammt tatsächlich aus dem Raubüberfall. Andererseits – rein theoretisch wäre es ja auch möglich, dass es sich bei dem Tuve-Diamanten in Wirklichkeit um den von Shorty McGinnis handelt, den er irgendwie in seinen Besitz gebracht hat. Und um das zu klären, wollen die Feds, dass wir herausbekommen, ob von diesem Diamanten nicht irgendwo ein Zertifikat existiert, auf dem sein genaues Gewicht, seine Farbe, sein Schliff und so weiter dokumentiert sind.»
Leaphorn nickte.
«Wir haben uns also», fuhr Pinto fort, «mit Tuba in Verbindung gesetzt, und die haben einen ihrer Leute nach Short Mountain geschickt, um McGinnis zu befragen. Aber an der Tür des Trading Post hing ein Zettel ‹Geschlossen›. Und auch sonst sah das ganze Anwesen ziemlich heruntergekommen und verlassen aus. Der Kollege aus Tuba hat sich daraufhin ein paar Meilen weiter auf einer Farm nach dem alten Mann erkundigt und erfahren, dass man ihn vor einiger Zeit mit einem Herzanfall nach Page ins Krankenhaus gebracht hätte. Seither habe man ihn nicht mehr gesehen. Der Kollege hat sich mit dem Krankenhaus in Verbindung gesetzt, doch dort konnten sie sich an einen Patienten namens McGinnis nicht erinnern. Keinerlei Unterlagen. Nichts. Es wäre natürlich möglich, dass er noch auf dem Transport gestorben ist und man irgendwelche Verwandten von ihm benachrichtigt hat, die eine Überführung des Toten veranlasst haben.»
Leaphorn wiegte nachdenklich den Kopf. Er glaubte nicht, dass McGinnis noch Verwandte gehabt hatte. Ihm gegenüber hatte der Alte jedenfalls nie etwas in der Richtung erwähnt. Aber er behielt seine Zweifel für sich.
Pinto schob ein paar Papiere zusammen, sah Leaphorn an und räusperte sich. «Joe», sagte er, «mal ganz ehrlich und unter uns: Hat McGinnis dir vielleicht doch mal etwas von einem Diamanten erzählt? Und woher er ihn hatte?»
Leaphorn schüttelte den Kopf. «Nein, da muss ich dich enttäuschen. Wenn ich gewusst hätte, dass er gegenüber der Versicherung angegeben hat, ihm sei ein Diamant gestohlen worden, hätte ich ihn auf jeden Fall darauf angesprochen. ‹Mister McGinnis›, hätte ich gesagt, ‹wie sind Sie denn zu so einem kostbaren Stein gekommen?›» Er lächelte. «Und McGinnis hätte wahrscheinlich geantwortet: ‹Officer Leaphorn, das geht Sie einen Dreck an.›»
Pinto blickte Leaphorn fragend an, ob er seiner Antwort noch etwas hinzufügen wollte, aber der schwieg.
«Immer vorausgesetzt, dieser Diamant hat überhaupt existiert, hast du dann eine Vermutung, woher der Alte ihn gehabt haben könnte?», fragte er schließlich.
Leaphorn schüttelte den Kopf. «Nein, tut mir Leid. Keine Ahnung», sagte er. «Aber ich hätte da mal eine Frage.»
«Schieß los.»
«Es geht mich ja eigentlich nichts an, aber mir ist aufgefallen, dass unsere Freunde vom Bureau, was den oder die Diamanten angeht, ein ungewöhnliches Interesse an den Tag legen. So wie ich dich kenne, hast du das bestimmt sofort gemerkt und gleich nachgehakt, welcher Agent dahintersteckt und woher sein Interesse rührt. Und jetzt würde ich gerne von dir erfahren, was er dir gesagt hat.»
Pintos Mund verzog sich zu einem anerkennenden Lächeln, das schließlich in lautes Lachen überging. «Verdammt, Joe», bemerkte er, «dir entgeht aber auch nichts. Also, bei dem fraglichen Special Agent handelt es sich um einen gewissen George Rice. Zuerst wollte er mich abwimmeln, die Ermittlungen seien reine Routine. Aber ich habe nicht lockergelassen. ‹Mir gegenüber können Sie doch offen sein›, habe ich gesagt, ‹oder trauen Sie mir etwa nicht?› Und dann hat er Klartext geredet. Ich wisse ja wohl, dass sich, seit ein paar Politiker nach dem New Yorker Anschlag die Idee gehabt hätten, ein Heimatschutzministerium zu gründen, für die Polizei- und Sicherheitsbehörden eine Menge geändert hätte. Außer den üblichen Besserwissern und Intriganten müsse man sich nun auch noch mit einer ganz neuen Sorte Bürokraten herumschlagen, die nicht auf dem normalen Beförderungsweg, sondern durch Protektion in ihre Positionen gelangt seien. Was nun diese Diamantengeschichte angehe, so habe er das Gefühl, dass möglicherweise ein Parteigänger der Republikaner, der sich während des Wahlkampfs durch das Einwerben besonders großer Summen hervorgetan habe, hinter den Kulissen Druck mache, um jemandem einen Gefallen zu tun. Ich wisse ja, wie so etwas laufe. Der große Unbekannte habe vermutlich auf eine frühere Bekanntschaft mit einem einflussreichen Lokalpolitiker, zum Beispiel in Phoenix, zurückgegriffen und ihm angedeutet, dass man im Weißen Haus überaus glücklich wäre zu erfahren, woher der überraschend in Gallup aufgetauchte Diamant denn nun stamme. Ich habe Rice gesagt, das klinge ja sehr geheimnisvoll, und er hat erwidert, gewisse Informationen deuteten darauf hin, dass dieser Diamant möglicherweise eine entscheidende Rolle spiele in einem Erbschaftsstreit, bei dem es um Millionen von Dollar gehe. Woraufhin ich bemerkte, das mache alles ja noch mysteriöser, und er mir entgegnete, er durchschaue das Ganze schon lange nicht mehr, aber da ja ganz offensichtlich politische Erwägungen in die Sache hineinspielten, halte er es für klüger, gewisse Dinge auf sich beruhen zu lassen.»
Leaphorn wiegte nachdenklich den Kopf. «Wenn ich so etwas höre, bin ich zur Abwechslung mal ganz froh darüber, dass ich im Ruhestand bin und mich mit solchen Dingen nicht mehr zu befassen brauche. Ich nehme an, du wirst jetzt erst einmal versuchen herauszubekommen, wo McGinnis’ Angehörige stecken beziehungsweise derjenige, der seine Leiche hat abholen lassen. Da müsste dann ja auch seine Hinterlassenschaft zu finden sein, das heißt, falls überhaupt etwas davon wert war, aufgehoben zu werden.» Er hielt inne und schüttelte den Kopf. «Weißt du, ich kann es immer noch nicht begreifen, dass der Alte so sang- und klanglos von uns gegangen ist. Und noch schwerer fällt es mir zu glauben, dass der Tod infolge eines Herzanfalls eingetreten sein soll. Bist du dir ganz sicher, dass er nicht vielleicht doch erschossen worden ist?»
Pinto lächelte. «Nein, nach allem, was ich gehört habe, ist er eines natürlichen Todes gestorben.»
Leaphorn erhob sich und griff nach seinem Hut.
«Wenn du das sagst, wird es wohl stimmen», bemerkte er. «Falls mir zufällig etwas über seinen Diamanten zu Ohren kommen sollte, lass ich es dich natürlich wissen. Ansonsten wird mir die Geschichte keine schlaflosen Nächte bereiten – ich glaube nämlich ohnehin nicht, dass es diesen Diamanten überhaupt je gegeben hat.»
Doch was das anging, wurde er bald eines Besseren belehrt.
Die Nachricht, die Joanna Craig bei ihrer Rückkehr auf dem Anrufbeantworter vorfand, war nichts sagend, aber der dringliche Ton, in dem ihr Anwalt gesprochen hatte, verriet, dass es sich um etwas Wichtiges handeln musste.
«Hallo, Ms. Craig», hatte er gesagt, «hier spricht Hal Simmons. Die private Ermittlungsfirma, die Sie beauftragt hatten, Ihre Angelegenheit im Auge zu behalten, hat mich gerade eben davon in Kenntnis gesetzt, dass es eine neue Entwicklung gibt. Ich würde mich gerne mit Ihnen darüber unterhalten. Wenn Sie Zeit haben, rufen Sie mich doch bitte an. Ich bin den ganzen Nachmittag in meinem Büro zu erreichen.»
Nach dem Tod ihrer Mutter hatte er ihr geholfen, den Nachlass zu ordnen, aber seitdem hatten sie nur noch selten und in großen Abständen Kontakt gehabt. Sie musste seine Nummer erst im Telefonbuch nachschlagen, wählte, aber die Leitung war besetzt. Ungeduldig griff sie erneut zum Hörer, rief den Portier ihres Apartmenthauses an und bat ihn, ihr ein Taxi zu besorgen.
Die gepflegte ältere Dame am Empfang der Kanzlei kannte sie noch aus der Zeit unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter, als sie beinahe wöchentlich hier gewesen war, um die vielen offenen Fragen zu klären, die sich nach dem Ableben eines Menschen ergeben, selbst wenn dieser vorausschauend und gut organisiert gewesen ist. Davon konnte bei Joannas Mutter allerdings nicht die Rede sein. Im Gegenteil. Sie war unsystematisch und sprunghaft in ihrem Vorgehen, vergesslich, was die alltäglichen Dinge anging, und lebte ganz in der Vergangenheit. Für ihren Psychiater war ihr Verhalten Symptom einer ‹senilen Demenz ›, und als Joanna protestierte, dafür sei ihre Mutter doch noch viel zu jung, Senilität sei doch eine Krankheit, die alte Leute betreffe, hatte er versucht, es ihr zu erklären. «Ihre Mutter hat eine Menge mitgemacht in ihrem Leben. Das hat Spuren hinterlassen. Und was ihre psychische Disposition angeht, so war sie schon immer, nun sagen wir, eigenwillig. Sie hatte ihren ganz speziellen, sehr persönlichen Blick auf die Welt.»
Aber wie geduldig und behutsam er auch versuchte, sie über das Wesen ihrer Mutter aufzuklären, Joanna führte ihr Verhalten einzig und allein auf eine Ursache zurück – den Tod von John Clarke, Joannas Vater, und die anschließende schäbige Behandlung durch Clarke senior. Ihre Mutter hatte nur selten, und meist unter Tränen, von dem gesprochen, was sie damals erlebt hatte. Gerade deswegen hatte sich die Erinnerung an das Unrecht, das ihrer Mutter widerfahren war, Joanna von ihrer Kindheit an tief eingeprägt. Die Art und Weise, wie Clarke senior mit ihnen umgegangen war, hatte ihre Mutter kaum weniger getroffen als der plötzliche Tod ihres Verlobten bei dem Flugzeugunglück. Und über die Jahre waren der Schmerz und die Verletztheit ihrer Mutter auch zu Joannas Schmerz und Verletzung geworden.
Es war nicht der Verlust des Erbes, dachte sie. Sie brauchte das Clarke-Vermögen nicht, sie kam auch so sehr gut zurecht. Nein, dachte sie, es war der Mangel an Mitleid, mit dem man sich von ihnen abgewandt hatte, die Überheblichkeit und Verachtung. Diese Wunde würde erst heilen, wenn die Ansprüche ihrer Mutter anerkannt würden, wenn ihr wenigstens postum endlich Gerechtigkeit widerführe. Und sie wollte Genugtuung für alles, was sie und ihre Mutter über viele Jahre erlitten hatten. Vielleicht bedeutete Simmons’ Mitteilung, dass beides, Gerechtigkeit und Genugtuung, endlich in Reichweite war.
Bei Joannas Eintritt erhob Simmons sich aus seinem hochlehnigen Sessel hinter dem alten, an den Ecken schon etwas abgestoßenen Schreibtisch und kam ihr lächelnd entgegen. Er war noch immer eine imposante Erscheinung – groß und breitschultrig. Ihre Mutter hatte ihr einmal gesagt, man könne ihm vorbehaltlos vertrauen, und zumindest in diesem Punkt hatte sie Recht gehabt.
«Ms. Craig», sagte er, «bitte nehmen Sie Platz und machen Sie es sich bequem. Es wird eine ganze Weile dauern, bis ich Ihnen alles erklärt habe. Ich möchte keine zu großen Erwartungen bei Ihnen wecken, aber es scheint, als gebe es gewisse Entwicklungen, die darauf hinweisen, dass wir vielleicht jetzt doch eine Chance bekommen, Ihre Ansprüche durchzusetzen.»
Joanna fühlte, wie ihr Herz klopfte.
«Und wieso?»
«Offenbar ist einer der Diamanten aufgetaucht», sagte er.
Sie schloss für einen Moment die Augen.
«Fühlen Sie sich nicht wohl?», erkundigte sich Simmons besorgt. Er drückte die Taste der Gegensprechanlage und bat seine Sekretärin, ein Glas Wasser zu bringen.
«Nur ein Diamant?», fragte Joanna nach einer Weile mit schwacher Stimme.
Simmons sah sie forschend an, nahm seiner Sekretärin das Glas ab und reichte es Joanna, die in sich zusammengesunken in dem großen Besuchersessel saß und stumm aus dem Fenster starrte, aber das geschäftige Treiben draußen gar nicht wahrzunehmen schien.
«Ihre Mutter hat Ihnen ja damals erzählt, dass Ihr Vater die Diamanten, die er in Los Angeles eingekauft hatte, in einem speziell zu diesem Zweck angefertigten kleinen Lederkoffer bei sich trug, der mittels einer kurzen Kette an sein linkes Handgelenk angeschlossen war. Wenn nun einer dieser Diamanten, die er damals im Flugzeug bei sich hatte, jetzt aufgetaucht ist, so bedeutet das ...» Er überlegte, wie er in Worte fassen sollte, was er ihr sagen wollte. «Nun», fuhr er schließlich fort, «ich glaube, dass jetzt eventuell die Möglichkeit besteht, doch noch einen Teil seiner sterblichen Überreste zu bergen. Es gibt gewisse Hinweise in diese Richtung, aber dabei kann es sich natürlich auch um bloße Gerüchte handeln. Dennoch ...»
«Ich verstehe», sagte Joanna, setzte sich aufrecht hin und strich sich die Kostümjacke glatt. «Geben Sie mir doch bitte einen Rat, was ich Ihrer Meinung nach jetzt tun soll.»
Simmons kippte seinen Sessel ein wenig nach hinten, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Dann setzte er sie wieder auf und sah Joanna nachdenklich an.
«Als langjähriger Anwalt Ihrer Familie möchte ich Sie bitten zu bedenken, dass es Ihnen finanziell gesehen sehr gut geht. Das Vermögen Ihres Stiefvaters, das Sie von Ihrer Mutter geerbt haben, ist gut angelegt und bringt hohe Zinsen. Sie können sich so gut wie jeden Wunsch erfüllen, und zwar auch ohne dass Sie einen neuen Prozess um ein Millionenerbe anstrengen, der unweigerlich eine Menge Ärger und Stress mit sich bringen wird. Stimmen Sie mir da zu?»
«Ja, schon», erwiderte Joanna zögernd. «Aber das ist nicht der Punkt. Es ist mir immer nur am Rande um das Geld gegangen.»
Simmons seufzte. «Ja, ich weiß», sagte er. «Ihre Mutter hat unter der Ablehnung durch Clarke senior furchtbar gelitten. Und nachdem er kurz nach dem Unfalltod seines Sohnes gestorben ist, hat dann Plymale dafür gesorgt, dass Ihrer Mutter das ihr zustehende Erbe vorenthalten wurde. Sie wollen, dass er dafür jetzt endlich bezahlt. Das ist verständlich. Aber ...»
Joanna hob die Hand, um seinen Redefluss zu unterbrechen. «Ich will Gerechtigkeit, und ich will Genugtuung für das Leid, das er mir und meiner Mutter angetan hat. Sie können es, wenn Sie wollen, auch Rache nennen. Wenn es nach mir ginge, müsste er auf ewig in der Hölle schmoren.»
Simmons nickte und beugte sich leicht vor.
«Ihre Haltung ist nach allem, was Sie mitgemacht haben, nur zu verständlich. Wenden wir uns also einmal der konkreten Möglichkeit zu, Ihre Wünsche nach Gerechtigkeit und Genugtuung Realität werden zu lassen. Wenn es gelingt, die sterblichen Überreste Ihres Vaters zu bergen – genauer gesagt, den bei dem Absturz abgerissenen linken Arm – und eine brauchbare DNA-Probe entnommen werden kann, die beweist, dass John Clarke tatsächlich Ihr Vater war, dann, denke ich, haben wir eine gute Chance, in einem neuen Prozess Ihre Ansprüche auf das Erbe durchzusetzen. Gleichzeitig würden Sie Plymale damit in der Tat schwer treffen. Nach allem, was ich gehört habe, hat er sich seit Jahrzehnten am Vermögen der von Ihrem Großvater eingerichteten Stiftung schamlos bereichert. Wenn Ihnen das Gericht das Erbe zuspricht, wird die Stiftung aufgelöst, und das bedeutet, dass Plymale Rechenschaft darüber ablegen muss, wie er das Stiftungsvermögen in der Zwischenzeit verwaltet hat. Dann fliegen seine Betrügereien unweigerlich auf, und er landet vor dem Konkursgericht. Und wenn es ganz dick kommt für ihn, kann er sogar von einer Strafkammer belangt werden.»
Um Joannas Mund spielte ein befriedigtes kleines Lächeln. «Ich weiß, meine Haltung ist ganz und gar unchristlich», sagte sie, «aber diese Vorstellung gefällt mir. Um ehrlich zu sein, träume ich seit vielen Jahren davon, ihn endlich ganz unten zu sehen. Erledigt. Am Ende.»
Simmons nickte wieder.
«Als Erstes müssen wir die sterblichen Überreste Ihres Vaters finden. Und die einzige Möglichkeit dazu ist, soweit ich das sehe, sich mit demjenigen in Verbindung zu setzen, der neulich in Gallup versucht hat, einen der Diamanten aus dem Besitz Ihres Vaters im Pfandhaus zu versetzen. Es handelt sich übrigens um einen Hopi, der behauptet, den Diamanten vor Jahren von einem alten Indianer bekommen zu haben. Letztlich geht es darum, denjenigen ausfindig zu machen, der den Lederkoffer mit den Diamanten gefunden hat. Denn wenn wir den Koffer haben, haben wir wahrscheinlich auch den Arm. Die Suche kann unter Umständen langwierig und schwierig werden, erscheint mir aber nicht völlig aussichtslos. Allerdings müssen wir in Betracht ziehen, dass Plymale ebenfalls über diese neue Entwicklung informiert ist und sich bestimmt längst ausgerechnet hat, welche Konsequenzen es für ihn haben wird, wenn Sie plötzlich in der Lage sind, die Verwandtschaft mit John Clarke vor Gericht zu beweisen. Vermutlich hat ihm der Gedanke daran in letzter Zeit eine Menge schlafloser Nächte bereitet. Eins muss Ihnen klar sein, Ms. Craig: Plymale wird mit aller Macht versuchen, unsere Absichten zu durchkreuzen.»
Sie hob die Schultern. «Soll er ruhig», erwiderte sie entschlossen und sah ihn an. «Unser nächster Schritt müsste also sein, jemanden zu beauftragen, sich mit dem Mann, der da in Gallup mit dem Diamanten aufgetaucht ist, in Verbindung zu setzen.»
«Ja», antwortete Simmons zögernd. «Ich würde dann das Ermittlungsbüro von der neuen Auftragslage in Kenntnis setzen und Sie wie bisher über alles auf dem Laufenden halten.»
«Aber eigentlich haben Sie Bedenken», stellte Joanna fest.
Er nickte und sah sie eindringlich an. «Ms. Craig, als Freund Ihrer verstorbenen Mutter und als Ihr Rechtsbeistand kann ich Ihnen nur den guten Rat geben: Gehen Sie nach Hause und vergessen Sie, was Sie eben von mir gehört haben! Lassen Sie die alten Geschichten hinter sich und versuchen Sie, ein erfülltes, glückliches Leben zu führen. Ob der Diamant aus dem Besitz Ihres Vaters uns wirklich zu seinen sterblichen Überresten führen wird, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Fest steht aber, dass Sie eine Menge Aufregung verursachen, wenn Sie mich beauftragen, in dieser Richtung tätig zu werden. Und außerdem wäre da noch Plymale. Nach etwas zu suchen, von dem er will, dass es verborgen bleibt, könnte gefährlich sein. Ich glaube, er ist ziemlich skrupellos in der Wahl seiner Mittel.»
Joanna lächelte ihn an. «Danke. Und jetzt sagen Sie mir, womit wir konkret anfangen.»
Simmons schüttelte resigniert den Kopf.
«Nun ja, wie ich schon sagte: bei dem Mann, der in Gallup den Diamanten versetzen wollte. Nach dem müssen wir übrigens nicht lange suchen. Der sitzt zurzeit im Bezirksgefängnis von McKinley County und wartet auf seinen Prozess. Die Geschichte mit dem alten Indianer hat man ihm nämlich nicht abgenommen. Die Staatsanwaltschaft glaubt vielmehr, dass er den Stein bei einem Raubüberfall erbeutet hat.»