PHNOM PENH, Kambodscha, 12. April (AFP) – Die USA
räumten heute morgen hier ihre Botschaft. Sechs Hubschrauber
landeten auf dem Botschaftsgelände, um den Botschafter
und seinen restlichen Stab zu evakuieren.
Zu diesen Aktionen kam es, als der letzte Widerstand der
kambodschanischen Armee zusammenbrach und die Truppen
der Roten Khmer zum großen Teil auf erbeuteten Panzern
und Lastwagen in die Hauptstadt strömten.
12. April 1975
Als Moon durch die Tür der Nachrichtenredaktion trat, signalisierte Shirley ihm, daß sie jemanden in der Leitung hatte. Er gab ihr mit einem Zeichen zu verstehen, daß er zurückrufen werde, warf seinen Hut auf den Tisch mit den Meldungen und blickte auf D. W. Hubble.
«Nicht viel», sagte Hubble. «AP hat einen frühen Tornado in Arkansas. Ziemlich mittelmäßig, könnte aber besser werden. In Nam geht noch immer alles zum Teufel, und Ford hat eine Pressekonferenz für 11 Uhr Washington-Zeit einberufen, und Kissinger hat eine Verlautbarung abgegeben, und General Motors –»
«Was hat Henry gesagt?»
Hubble machte sich nicht die Mühe, von seiner Pflichtübung aufzuschauen, die im Moment darin bestand, Meldungen aus dem Telex zu reißen, sie zu individuellen Geschichten zusammenzustellen und in Ablagekästen zu sortieren. Die Kästen trugen so verschiedene Etiketten wie SEITE EINS, SPORT, LUSTIG, HERZSCHMERZ und ROHEISEN – wobei Roheisen nach Hubbles Meinung «das echt langweilige Zeug» war, «das von der League of Women Voters gelesen wird».
Hubble sagte: «Was Henry gesagt hat? Sehen wir mal nach.» Er warf einen Blick auf die oberste Meldung im ROHEISEN-Kasten. «Henry sagte, Dick Nixon habe zu Recht erklärt, daß wir den Krieg in Südostasien gewonnen haben. Er sagte, die Nordvietnamesen seien einfach zu störrisch, um das einzusehen, und die Presse bausche die gegenwärtigen Rückschläge auf, um sie wie eine Katastrophe erscheinen zu lassen, und es sei die Schuld des Kongresses, weil er nicht mehr Geld schicke, und ohnehin dürfe man Kissinger keinen Vorwurf machen. So ungefähr seine Worte.»
«Was hätten wir denn Gutes als Aufmacher?» fragte Moon und durchstöberte flink den TITELSEITE-Kasten. Die USA schienen die Botschaft in Phnom Penh zu räumen. Diese Meldung legte Moon sich zurück. Der neue Präsident von Südvietnam, ein Sowieso-Thieu, stellte sich für sein Kabinett eine Truppe zusammen, die Kampf bis zum Tod propagierte. Moon entschied sich dagegen. Ein Gesetzentwurf zur Preisregulierung in der einheimischen Ölproduktion stand zur Abstimmung in einem Senatsausschuß. Das war schwach, aber eine Möglichkeit. Die Südvietnamesen tönten von einem weittragenden Sieg bei Xuan Loc, wo auch immer das sein mochte. Er legte auch das beiseite. Senator Humphrey erklärte, wir sollten ein gesondertes US-Erziehungsministerium einrichten. Das dürfte von gewissem Interesse sein. Die Durance County Commissioners hatten die Straße zum Skigebiet auf der Prioritätenliste eins höher gesetzt. Die meisten der 28000 Abonnenten, auf die die Zeitung sich berief, dürften daran interessiert sein. Und dann war da ein einfühlsamer, wenn auch grausiger Bericht über die Misere der Flüchtlinge, die aus dem Norden nach Saigon strömten.
Damit konnte man zwar die Leser rühren, aber noch beim Lesen wurde Moon klar, wie schnell diese Berichte über Tragödien aus Vietnam zu reinen Füllseln geworden waren – wie die Comics, Ann Landers und das Kreuzworträtsel. Noch vor ein paar Jahren hatte er ein persönliches Interesse an ihnen gehabt. Damals hatte er die Nachrichten noch auf Hinweise auf Rickys Lufteinsatz-Brigade durchstöbert, auf Kampfhandlungen mit Hubschraubern, auf alles Erdenkliche im Zusammenhang mit dem Da-Nang-Sektor, wo Rickys Wartungskompanie stationiert war. Aber seit Ricky 1968 seinen Auftrag gekündigt hatte, war Ricky aus der Sache raus. Und seit 1973 waren auch die USA aus der Sache raus. Der Krieg spielte sich nur noch abstrakt in der Ferne ab. Wie Hubble es einmal beschrieben hatte: «Nur noch so ein Fall, in dem unsere Schlitzaugen ihre Schlitzaugen umbringen.» In der gesamten amerikanischen Presse und im Morning Press-Register von Durance, Colorado, war der Krieg kein Thema mehr für die Titelseiten.
Aber im Press-Register war er manchmal noch ein Titelthema – bis zum letzten Monat. Ricky war noch in Nam, spielte als Randfigur mit. Das weckte Moons Interesse und ließ ihn glauben, den Lesern des Press-Register könne es ebenso gehen. Jetzt war Ricky tot, leitete nicht mehr die R. M. Air und reparierte nicht mehr Hubschrauber für die Armee der Republik Vietnam, so wie er sie für die US-Army repariert hatte. Wahrscheinlich sogar dieselben Hubschrauber. Aber wie Ricky in einem seiner seltenen Briefe geschrieben hatte, brachte das «höllisch viel mehr Geld ein und höllisch viel weniger Ärger mit dem Divisionsstab». Es mußte zwar Schmiergeld an die hohen Tiere der ARVN gezahlt werden, aber für Ricky war das «nur so eine Art Einkommensteuer».
Ricky hatte noch mehr geschrieben. Er hatte geschrieben: «Komm und schließ Dich mir an, großer Bruder. Komm und werde Mitglied im Team. Komm und hab Spaß. Es wäre wie in alten Zeiten.» Er hatte geschrieben: «Südvietnam geht unter, und zwar schnell. Bald gibt es keine dicken Aufträge mehr von der ARVN, aber es wird noch immer eine große Nachfrage bestehen nach dem, was die R. M. Air zu bieten hat. Hilf mir, diesen Laden für die neuen Zeiten flottzumachen.» Und er hatte geschrieben (Moon erinnerte sich an den genauen Wortlaut): «R. M. Air ist als Slogan nicht geeignet. Wir benennen es in M. R. Air um, für Moon und Rick. Dann heißt es ‹Mister Air›. Ich kümmere mich ums Geschäft, Du sorgst dafür, daß die Motoren laufen. Also komm. Bei all dem Geld, das Mom sich jetzt angeheiratet hat, braucht sie Dich nicht mehr. Aber ich brauche Dich.»
Aber damit wollte Rick es ihm nur schmackhaft machen. Ihre Mutter hatte ihn nie gebraucht. Victoria Mathias war keine Frau, die Menschen brauchte. Und Ricky brauchte auch niemanden. Doch Blödsinn oder nicht, Moon hatte die Vorstellung gefallen, den Schritt zu wagen, obgleich er sich die Frage stellte, warum Ricky ihn wohl eingeladen hatte. Aber den Brief hatte er nie beantwortet. Dazu hatte ihm die Zeit gefehlt.
«Dieser Twister in Arkansas wird immer vielversprechender», sagte Hubble, während er den Text las, der jetzt aus dem Telex kam. «Nach der neuesten Trendmeldung haben sie jetzt schon dreizehn Tote.» Er winkte Moon mit dem Blatt zu und konnte dabei einen Hauch von Selbstzufriedenheit nicht verhehlen.
«Arkansas ist noch immer ziemlich weit weg», sagte Moon. «Hat die Lokalredaktion keine bessere Story als die Straße zum Skigebiet?»
Hubble leierte die Palette lokaler Nachrichten ohne große Begeisterung herunter. Ein Lkw-Pkw-Zusammenstoß mit einem Toten, Vandalismus an einer Grundschule, eine Übersicht der Kandidaten der bevorstehenden Wahl zum Stadtrat. Hubble gähnte und tat den Rest mit einer Handbewegung ab.
Moon nahm seinen Stapel mit «Bitte zurückrufen»-Notizen zur Hand. Die oberste stammte von Debbie: «Ruf mich sofort an. Es ist ein Notfall.» Für Debbie konnte es schon ein Notfall sein, wenn ihr der Nagellack ausgegangen war. Doch bei diesem ging es wahrscheinlich nur darum, ihn an ihren Geburtstag zu erinnern, der morgen war. Trotzdem wählte er ihre Büronummer. Ihr Anrufbeantworter sprang an, und mit ihrer süßen Stimme lud sie ihn ein, eine Nachricht zu hinterlassen.
«Debbie, wie wär’s –», begann er. Aber Shirley brachte ihn zum Schweigen, und Shirley hielt nichts von Debbie. «Ich bin bei der Zeitung», sagte er. «Ich melde mich später noch mal.»
Shirley reichte ihm eine weitere «Bitte zurückrufen»-Notiz.
«Ich glaube, es ist Ihre Mutter.»
«Ich wette, sie ist es nicht», sagte Moon. Victoria Mathias tätigte keine Telefonanrufe. Sie kommunizierte per Brief, in sauberer und präziser Handschrift auf gesellschaftlich korrektem Briefpapier. Shirleys Reaktion drückte aus, daß die Freundlichkeit, die sie ihm erwiesen hatte, indem sie mit dieser Nachricht zu ihm gekommen war, nicht hinreichend gewürdigt wurde. «Ich denke, es geht um Ihre Mutter», sagte sie.
Shirley führte die Aufsicht über die Telefonanlage und – inoffiziell – auch über das Büro. Sie war alt und müde und hätte sich schon vor Jahren zur Ruhe gesetzt, wäre sie nicht auf das Geld angewiesen. Er spürte einen Hauch von Schuldgefühl, weil er etwas schroff gewesen war. «Entschuldigung», sagte er. «Ich ruf sofort an.»
Aber die Rückrufnummer auf dem Zettel war nicht Victoria Mathias’ Nummer. Die Vorwahl war nicht die von Miami Beach. Und die Notiz lautete: «Bitte sofort Robt. Toland anrufen betr. Ihrer Mutter.»
Moon runzelte die Stirn. Was, zum Teufel, hatte das zu bedeuten? Er drückte die Taste für ein Amt und wählte.
«Philippine Airlines bedankt sich für Ihren Anruf. Mit wem darf ich Sie verbinden?» Es war die Stimme einer jungen Frau, die jedes Wort überdeutlich aussprach.
«Philippine Airlines?» fragte Moon.
«Ja, Sir. Hier ist Philippine Airlines.» Der etwas veränderte Tonfall schien Betrunkenen, Irren und denen, die eine falsche Nummer gewählt hatten, zu gelten.
Moon unterdrückte seine Verblüffung. «Gibt es bei Ihnen einen Mr. Robert Toland. Mein Name ist Malcolm Mathias. Er bat um Rückruf.»
«Einen Moment bitte.»
Moon hörte, wie das Telefon läutete.
«Sicherheitsbüro», sagte eine Männerstimme.
«Robert Toland, bitte», sagte Moon. Was hatte das Sicherheitsbüro –
«Einen Moment.»
Moon wartete. Es hatte keinen Zweck, sich darüber Gedanken zu machen oder zu spekulieren.
«Toland. Was kann ich für Sie tun?»
«Ich bin Malcolm Mathias», sagte Moon. «Man hat mich gebeten, Sie anzurufen.»
Man hörte Papier rascheln.
«Mr. Mathias, Ihre Mutter wurde heute morgen hier im Warteraum krank. Es wurde ein Krankenwagen gerufen, und man brachte sie ins West Memorial Hospital.» Weil die Informationen auf seinem Blatt Papier offenbar erschöpft waren, sprach Mr. Toland nicht weiter.
«Krank?» sagte Moon. «Wie krank?»
«Das entzieht sich meiner Kenntnis.»
«Was tat sie denn in Ihrem Warteraum?» fragte Moon. «Wissen Sie, mit wem sie sich dort traf?»
«Sie wartete auf ihren Flug. Zumindest hatte sie ihr Gepäck schon eingecheckt. Möchten Sie die Telefonnummer des Krankenhauses haben?»
Moon erwog, was er gehört hatte. Victoria Mathias würde weder in einem Flughafen-Warteraum krank werden, noch würde sie ein Flugzeug besteigen. Er lachte. «Da muß eine Verwechslung vorliegen», sagte er. «Ich glaube, Sie haben die falsche Person.»
«Wir ermitteln den nächsten Angehörigen aus dem Paß», sagte Toland. «Spreche ich mit» – eine Pause – «sind Sie Malcolm Thomas Mathias, Morning Press-Register, Durance, Colorado?»
«Ja», sagte Moon, «das bin ich.»
Das war er natürlich: Malcolm Thomas Mathias, seit zwei Jahren Chef vom Dienst des Press-Register. Und das bedeutete, daß seine Mutter ihren Paß dort hervorgekramt hatte, wo immer sie ihn aufbewahrte, jemanden gefunden hatte, der sich in ihrer Wohnung in Miami Beach um Morick kümmerte, zum Miami International Airport gefahren war und ein Ticket gekauft hatte, um mit Philippine Airlines irgendwo hinzufliegen. Ein neuer Gedanke kam Moon.
«Wo sind Sie?» fragte er. «Wo ist das?»
«Was meinen Sie?» sagte Toland. «Wir sind das Sicherheitsbüro der Fluggesellschaft.»
«Am Miami International? Ich wußte nicht, daß die Philippine Airlines ...»
«LAX», sagte Toland irritiert. «Los Angeles International Airport.»
Irgendwie wurde dadurch alles für Moon plötzlich begreifbar. «Sie lebt? War es etwas Ernsthaftes?»
«Ich weiß nur, was ich Ihnen bereits erzählt habe», sagte Toland.
«Welcher Flug war es?» sagte Moon. «Wo, zum Teufel, wollte sie hinfliegen?»
«Der Flug führt nach Honolulu, Manila und Hongkong», sagte Toland. «Ich könnte ihr Ticket holen und nachschauen.»
«Schon gut», sagte Moon. Er wußte, wohin seine Mutter hatte fliegen wollen. Irgendwo in Richtung Südostasien. Irgendwohin, wo ihr gescheiter und so vielversprechender jüngerer Sohn in einem abgestürzten Hubschrauber zu Asche verbrannt war.
SAIGON, Südvietnam, 13. April (UPI) – Präsident Nguyen
Van Thieu erklärte heute, die Regierungskontrolle über die
provisorische Hauptstadt Xuan Loc sei durch einen, wie
er sagte, «weittragenden Sieg über die kommunistischen
Streitkräfte» wiederhergestellt worden.
Gestern hatte Radio Hanoi bekanntgegeben, daß Truppen des
Vietcong die nur 35 Meilen nördlich von Saigon gelegene
Stadt eingenommen hätten. Flüchtlinge, die in die Hauptstadt
strömten, wußten über erbitterte Kämpfe zwischen
kommunistischen Panzern und ARVN-Fallschirmjägern
zu berichten.
13. April 1975
Seine Mutter schlief. Nein, sie war ohne Bewußtsein. Im Koma. Oder vielleicht auch nur ruhiggestellt. Sie lag da, wie keine schlafende Person es natürlicherweise täte: flach auf dem Rücken, die Beine unter der Bettdecke parallel und gerade ausgestreckt, die gestreckten Arme eng an den Körper gelegt.
Ein durchsichtiger Schlauch war an Stöpsel in ihren Nasenlöchern angeschlossen. Moon vermutete, daß ihr damit Sauerstoff zugeführt wurde. Vier isolierte Drähte aus Überwachungsgeräten verschwanden unter Victoria Mathias’ weißem Krankenhausnachthemd. Einer davon endete unter einem Stück Klebeband hoch oben auf dem Brustkorb seiner Mutter. Ein weiterer Schlauch verband ihren linken Arm mit einer Flasche, die über dem Bett hing. So klein hatte Moon Mathias seine Mutter nicht in Erinnerung. Wo auch immer sie auftauchte, war sie ihm größer vorgekommen als alle anderen. Jetzt schien sie geschrumpft zu sein, als ob all diese Schläuche ihr die Substanz ausgesaugt hätten.
Jemand stand hinter ihm. Es war eine Frau, ungefähr in Moons Alter, schwarz, mit einem freundlichen runden Gesicht und einem Labyrinth von Falten um die Augen. Eine Krankenschwester. Was sagt man unter solchen Umständen? Moon fiel nichts ein, was nicht töricht geklungen hätte. Er versuchte es mit einem Lächeln.
«Sie sind ihr nächster Angehöriger?» fragte die Krankenschwester. «Familie?»
«Ich bin ihr Sohn.»
«Man glaubt, daß alles in Ordnung gehen wird», sagte die Krankenschwester. «Es scheint ein Problem mit ihrem Herzen zu sein. Dr. Jerrigan muß hier irgendwo sein. Er kann Ihnen mehr dazu sagen.»
«Ein Herzanfall», sagte Moon.
Die Krankenschwester blickte auf Victoria Mathias hinab, hinauf auf den Monitor, dann auf die Flasche und schließlich auf das Krankenblatt. «Sieht so aus, als warteten sie noch auf die Testergebnisse», sagte sie. «An Wochenenden geht alles langsamer. Aber als man sie hier einlieferte, haben wir sie wegen starker Herzschmerzen behandelt. Es begann draußen auf dem Flughafen, und deswegen sind die Sanitäter in aller Eile hingefahren. Das ist hilfreich.»
«Vermutlich», sagte Moon. «Hat sie mit Ihnen gesprochen? Ihnen davon erzählt, was geschehen ist?»
«Nein. Hat sie nicht, mir nicht», sagte die Krankenschwester. «Vielleicht mit dem Doktor. Aber es sieht nicht so aus, als sei ihr viel nach Reden zumute gewesen.»
«Ich habe keine Ahnung, was sie hier vorhatte», sagte Moon. «Nicht die geringste Ahnung. Sie wohnt in Miami Beach, dreitausend Meilen entfernt. Ihr Ehemann ist Invalide. Lou-Gehrig-Krankheit. Gelähmt. An einen Apparat gefesselt, der ihm beim Atmen hilft. Sie läßt ihn nie allein. Und sie kennt auch niemanden in Los Angeles.»
Als er das sagte, kam Moon in den Sinn, daß er eigentlich nicht wußte, ob das stimmte. Er hatte keine Ahnung, wer heutzutage die Freunde seiner Mutter waren. Oder wo sie sich befanden. Oder ob sie überhaupt welche hatte. Früher, als sie in Oklahoma wohnten, hatte sie natürlich Freunde gehabt. Er erinnerte sich an sie aus der Zeit, als er und Ricky Teenager gewesen waren. Hauptsächlich waren es Nachbarn gewesen, die Eltern ihrer eigenen Freunde, Leute, mit denen seine Mutter geschäftlich zu tun hatte, Leute aus der St. Stephen-Gemeinde in Lawton. Aber es waren ältere Menschen gewesen, uninteressant für Teenager.
Das war lange, lange her. Vor der Army. Bevor Victoria Mathias ihr Geschäft, Oklahoma und ihre Unabhängigkeit aufgegeben hatte, um ihm, ihrem enttäuschenden älteren Sohn, eine zweite Chance zu bieten, etwas aus seinem Leben zu machen.
«Ich weiß nur, daß der Krankenwagen sie vom Flughafen hierhergebracht hat», sagte die Krankenschwester. «Haben Sie in ihrer Handtasche nachgesehen? Vielleicht gibt es da einen Hinweis. Einen Brief oder so was.»
Victoria Mathias’ Handtasche hatte man in der Geschäftsstelle des Krankenhauses in Obhut genommen. Moon zeigte seinen Führerschein vor, leistete eine Unterschrift und trug die Handtasche in die Empfangshalle. Er hielt inne und setzte sich einen Moment. Die Handtasche hielt er auf dem Schoß. Eine Art Hemmung aus der Kindheit hielt ihn davon ab, das Klebeband zu lösen, mit dem die Sicherheitsbeamten der Fluggesellschaft sie versiegelt hatten. Man stöbert nicht in der Handtasche seiner Mutter.
«Das schickt sich nicht in unserer Familie», würde seine Mutter gesagt haben, womit sie nicht die neugierigen Menschen kritisierte, die sich in die Privatangelegenheiten anderer mischten, sondern ihre beiden Söhne auf einem Verhaltensniveau ansiedelte, auf dem besseres Benehmen zu erwarten war.
Er wendete die Tasche in seinen Händen. Sie bestand aus perlgrauem Glanzleder. Sie war groß und sah teuer aus. Als ihr Herz aussetzte, hatte seine Mutter bestimmt ein maßgeschneidertes Kostüm getragen, das exakt zu dieser Farbe gepaßt hatte. Ihre Schuhe waren gewiß geschmackvoll und auf Hochglanz poliert gewesen. Er wendete die Tasche abermals in den Händen. Eine Ecke war abgeschabt. Das Leder war angekratzt, wenn auch fast unmerklich. Angekratzt? Konnte das die Handtasche von Victoria Mathias sein?
Moon fischte seine Brille aus der Hemdtasche und sah sich die Stelle genauer an. Sie war von einer Art durchsichtigem Lack bedeckt. Vielleicht Nagellack. Sorgsam und präzis aufgetragen, wie seine Mutter es getan hätte. Er betrachtete die Handtasche mit neu erwachtem Interesse. Hatte sie in der Vorstellung von Victoria Mathias einen sentimentalen Wert gehabt? War seine Mutter weniger penibel als in dem Bild, das er von ihr hatte? Litt seine Mutter unter Geldmangel? Er dachte an die Wohnung, die sie nach ihrer Heirat mit Tom Morick bezogen hatte. Luxuriös mit ihrem Dachgarten im zehnten Stock und dem langen Balkon mit Blick auf die Brandung des Atlantiks. Als er sie nach der Miete gefragt hatte, schien sie peinlich berührt gewesen zu sein und hatte gesagt, Tom gehöre das Haus.
Die abgeschabte Stelle erleichterte es ihm, die Handtasche zu öffnen – als gehöre sie einer fremden Person, in deren Angelegenheiten er irgendwie verstrickt war.
Ein schwacher Geruch entströmte der Tasche. Lavendel? Flieder? Eine Blume, die er aus der Kindheit kannte. Sie hatten ihr Blumen mitgebracht, Ricky und er. Ricky hatte sie auf einem Feld hinter dem Heuschober eines Nachbarn gefunden und sie gepflückt. Nur Unkraut, hatte Moon gedacht. Aber sie hatten eine Flasche für die Stiele aufgetan, und als Victoria Mathias von der Arbeit gekommen war, hatte sie eine richtige Vase für sie gefunden und sie auf den Kaminsims gestellt, bis ihre Blüten abfielen.
Moon kramte in der Tasche. Irgend etwas darin würde ihm ganz sicher verraten, was seine Mutter von der anderen Seite des Kontinents herübergeführt hatte. Er zog ein dickes Plastiketui heraus, das den Namen einer Bank in Florida trug. Er schlug es leicht auf seinen Handrücken und öffnete es. Hundert-Dollar-Scheine. Er schaute sich in der Empfangshalle um. Niemand schien ihn zu beobachten. Er zählte. Achtzig, die meisten neu. Achttausend Dollar. Ein weiteres Rätsel. Er steckte das Etui wieder in die Tasche und zog zwei Umschläge hervor. Einer trug einen Absender aus Manila: Castenada, Blake und Partner, Rechtsanwälte. Das mußte etwas mit Ricky zu tun haben. Dessen war sich Moon sicher. Vielleicht die Anwaltskanzlei, deren Klient Rickys Firma war. Der andere Umschlag trug eine handgeschriebene Adresse, aber keinen Absender. Die Briefmarke zeigte einen weißen Reiher im Flug vor einem grellbunten Himmel und war in Thailand abgestempelt. Dann bemerkte Moon, daß der Umschlag nicht an seine Mutter adressiert war, sondern an Ricky Mathias unter dessen Geschäftsadresse in Vietnam.
Auch der Brief war handgeschrieben, und als er ihn entfaltete, fiel ein Foto heraus. Es war ein Schwarzweißabzug, der eine Frau in einem kittelähnlichen weißen Gewand zeigte. Das Baby, das sie auf dem Arm trug, war mit einem Pyjama bekleidet. So sah es zumindest für Moon aus. Die Frau war eine Asiatin – oder vielleicht Eurasierin. Ihr Gesicht war der Kamera leicht abgewandt. Gedankenverloren blickte sie nach unten. Eine hübsche Frau. Das Baby starrte mit riesigen Augen in einem herzförmigen Gesicht direkt ins Objektiv. Moon überkam ein Anflug von Vorahnung. Da war etwas an dem Kind –
Moon drehte das Foto um. Die Rückseite war unbeschrieben.
Der Brief war vom 12. März 1975 datiert.
Lieber Ricky!
Ich schreibe dies in Nong Khai und gebe es mit George Rice auf die Reise. Also versuche nicht, mich hier zu erreichen, denn ich werde lange fort sein, wenn Du diese Zeilen erhältst. Unsere Aufgabe hier ist erledigt, und das gerade rechtzeitig, denn die Roten Khmer haben oben in den Bergen die reine Hölle veranstaltet. Ich fahre mit dem Bus hinunter nach Bangkok und fliege dann nach Saigon, wenn die Umstände es erlauben.
Wenn es in Saigon Schwierigkeiten gibt, wie ich nach dem, was ich über die Moral in der ARVN höre, erwarte, dann werde ich versuchen, alles von Thailand aus zu regeln. Wie immer, bin ich dann im Hotel Bonaparte de l’Ouest zu erreichen.
Übrigens, Eleth Vinh läßt liebe Grüße ausrichten und sagt, dem Baby geht es gut. Zum Beweis schickt sie ein Foto. Wie Du vermutet hast, macht sie sich Sorgen über die Bodengewinne, die Pol Pots Armee (wenn man sie eine nennen darf) zu verzeichnen hat, und wegen der Gefahren für ihre Familie. In Anbetracht dessen, was wir über das Verhalten von Pol Pots Banditen zu hören bekommen, ist ihre Furcht berechtigt. Ehrlich gesagt, ich glaube, Du solltest sie hier rausholen. Auch aus Vietnam natürlich. Ich lege Dir ans Herz, das sehr ernst zu nehmen und das optimistische Gerede zu vergessen, mit dem Dir deine hochgestellten Freunde kommen, ebenso wie das, was der US-Botschafter im Radio gesagt hat. Ich höre, daß bestimmte Leute schon Flugzeuge besteigen, die Saigon verlassen, und schweres Gepäck bei sich haben. In dem sich zum Beispiel wertvolle Stücke aus dem Museum befinden. Ich glaube, für Saigon ist die Zeit sehr bald abgelaufen.
Eilig überflog Moon den Rest, in dem es um Einzelheiten von Versanddaten, Abrechnungen und andere Belange von Rickys Geschäft ging. All das entzog sich seinem Verständnis. Ebensowenig erschloß sich ihm die Unterschrift: eine Kritzelei, die B. Yager oder G. Yeyeb hätte bedeuten können, aber auch sonst alles Erdenkliche mit der entsprechenden Anzahl von Buchstaben. Er faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück.
Seine Gedanken konzentrierten sich auf einen einzigen Satz: «Eleth Vinh läßt liebe Grüße ausrichten und sagt, dem Baby geht es gut.» Wer waren sie? Naheliegend war die Vermutung, daß Ricky sich um mehr als sein Geschäft gekümmert hatte. Hatte er sogar ein Kind gezeugt? Wenn ja, würde das erklären, was Victoria Mathias im Sinn gehabt hatte. Sie wollte das Baby besuchen. War diese Frau Vinh die Mutter oder ein Kindermädchen oder was sonst? Und wenn Ricky tatsächlich Vater, geworden war, warum hatte er Victoria nicht darüber informiert? Sie wäre schließlich die Großmutter des Kindes. Oder vielleicht hatte Ricky ja Victoria davon erzählt. Und warum hatte dann niemand ihm etwas gesagt? Er wäre der Onkel. Onkel Moon. Warum war ihm nichts gesagt worden? Aber darüber wollte er nicht nachdenken. Nicht jetzt. Es fiel ihm ein, daß Victoria Mathias sich schon immer Enkelkinder gewünscht hatte. Sie hatte Ricky und ihn, ihre beiden Junggesellen-Söhne, das wissen lassen, ohne es deutlich auszusprechen.
Er betrachtete das Foto abermals sehr genau. Das Baby mit dem ernsten, herzförmigen Gesicht starrte noch immer direkt ins Objektiv. Wahrscheinlich ein Mädchen. Seine Nichte? Ihre Haare schienen schwarz zu sein, so wie Rickys. Womöglich Andeutungen der Gesichtszüge, die Ricky von ihrer Mutter geerbt hatte. Sonst jedoch nichts. Aber er vermochte auch nur selten bei einem Kind Ähnlichkeiten mit den Eltern festzustellen. Wenn sie Rickys Tochter war, dann handelte es sich bei der Mutter zweifellos um eine Asiatin. Thai oder kambodschanisch oder vietnamesisch, vielleicht auch chinesisch, malaiisch oder –
Er steckte das Foto zu dem Brief und öffnete den anderen Umschlag. Dieser Brief war mit der Maschine geschrieben, sauber zwar, aber mit einem fehlerhaften e und einem arg mitgenommenen Farbband.
Liebe Mrs. Mathias, mit Freude höre ich, daß die Papiere und andere persönliche Habseligkeiten Ihres verstorbenen Sohnes, meines guten Freundes und Klienten Richard Mathias, sicher und in gutem Zustand in Ihren Besitz gekommen sind. Ich stimme mit Ihrer Schlußfolgerung überein, daß diese Dokumente darauf hinweisen, daß Mr. Mathias mit der Geburt einer Tochter gesegnet war. Ich war mit diesem Umstand nicht vertraut, bis ich die Papiere studierte, die ich Ihnen übersandt habe.
Gemäß Ihren Anweisungen habe ich mit den Angestellten Ihres Sohnes in Vietnam Kontakt aufgenommen; und man hat mir versichert, daß Vorkehrungen getroffen werden, das Kind nach Manila zu bringen. Es wird hier von den Schwestern der Loretto-Klosterschule in Empfang genommen und bei den Nonnen in guter Obhut sein, bis die notwendigen Papiere beschafft sind und seine Reise in die USA arrangiert werden kann.
Zu meinem Bedauern muß ich Sie darüber informieren, daß die sich verschlechternde Lage in der Republik Vietnam das Reisen erschwert und teuer macht. Über das normale Maß hinausgehende Mittel sind erforderlich, da viele planmäßige Flüge ins Land gestrichen wurden und Flüge ins Ausland viele Tage im voraus ausgebucht sind. Daher habe ich mir die Freiheit genommen, von Richard Mathias’ Konto bei der Bank von Luzon die Summe von 2500 US-Dollar abzubuchen, um damit die, wie ich sagen möchte, ‹außergewöhnlichen Kosten› zu bestreiten, die vermutlich bei offiziellen Stellen in Saigon anfallen dürften.
Ich bin darüber informiert, daß von Rickys Teilhabern bei der R. M. Air in Vietnam Vorkehrungen getroffen werden, ein Visum für das Kind zu beschaffen und für einen Flug von Saigon nach Manila zu sorgen. Bisher kenne ich noch keine Einzelheiten, aber ich werde Sie telefonisch unterrichten, sobald ich erfahre, wann das Kind in Manila eintreffen wird.
Mit den aufrichtigsten Grüßen und zu Ihren Diensten,
Roberto Castenada Bolivar
Moon fühlte sich besser. Ricky schien seine Vaterschaft vor so gut wie jedermann geheimgehalten zu haben. Er nahm die Durchsuchung der Tasche wieder auf und fand eine zusammengefaltete Notiz.
Mrs. Mathias:
Drei Anrufe für Sie. Dieser Mann hat aus Manila angerufen und gesagt, er habe Sie zurückrufen sollen. Er wird es wieder versuchen, und dann gab es da noch zwei Anrufe von einem Mann, der sagte, sein Name sei Charley Ming, aber er riefe im Namen eines Lum Lee an. Ungefähr eine Stunde später hat er wieder angerufen, und diesmal sprach der andere Mann und sagte, es sei schrecklich wichtig, Sie zu erreichen, und würden Sie ihn bitte im Beverly Wilshire, Zimmer 612 anrufen. Wenn Sie sich nicht vorher bei mir melden, komme ich nächste Woche, um zu helfen.
Ella
Zwei Flugtickets steckten zusammengefaltet in einer Innentasche. Eines war auf den Namen Mrs. Victoria Morick ausgestellt, Hin- und Rückflug erster Klasse nach Manila über Honolulu. Das war jetzt keine Überraschung mehr. Ebensowenig war es das zweite Ticket, einfach von Manila nach Miami International. Der Name darauf lautete Lila Vinh Mathias, weibliches Kleinkind. Victoria Mathias war auf dem Weg gewesen, ihre Enkeltochter zu retten, als ihr Herz sie im Stich gelassen hatte.
WASHINGTON, 13. April (UPI) – Militärische Versorgungsgüter
im Wert von an die 700 Millionen Dollar wurden
von der südvietnamesischen Armee bei ihrem katastrophalen
Rückzug aus dem Zentralen Hochland zurückgelassen, wie
heute aus einer wohlinformierten Quelle des Pentagons
verlautet.
Der Offizier, der nicht genannt werden wollte, sagte: «Das ist
jetzt alles in den Händen der Nordvietnamesen. Wir hätten es
genausogut direkt nach Hanoi schicken können, dann wäre
uns eine Menge unnützer Aufwand erspart geblieben.»
13. April 1975
Die ersten Worte von Victoria Mathias waren: «Wir haben eine Enkelin.»
«Ja», sagte Moon. «Ich habe die Briefe in deiner Handtasche gefunden. Wie fühlst du dich?»
«Welcher Tag ist heute? Wie lange bin ich schon hier?»
«Erst einen Tag», sagte Moon. «Es ist der dreizehnte April.»
«Ich muß sie abholen», sagte Moons Mutter. Sie befand sich jetzt in einem anderen Zimmer, war in ein anderes Stockwerk verlegt worden, in ein anderes Bett. Aber die Drähte waren noch da, und auch die Schläuche. Ihre Haut hatte das bleiche, wächserne Aussehen einer Toten, und ihre Augen besaßen den verschleierten Blick derer, die die Realität kaum erfassen können. Moon nahm ihre Hand. Eine kalte und zerbrechliche Hand.
«Ricky ist tot, weißt du», sagte sie. «Tot. Aber er hatte eine Tochter.»
«Ich weiß», sagte Moon. «Ich weiß von Ricky und dem Baby.» Mein Bruder. Meine Nichte. «Sprich nicht, wenn es dich anstrengt. Du mußt dich jetzt schonen.»
Victoria Mathias wandte leicht den Kopf und sah ihn an. Sie hatte gesagt: Wir haben eine Enkelin.
Wir. Da war es.
«Ich habe Rickys Anwalt angerufen», sagte sie. Ihre Augen schlossen sich. Eine lange Pause. Moon schaute nervös hinauf auf den Monitorschirm. Die Linien darauf bewegten sich noch immer in einem regelmäßigen Muster, verrieten ihm aber nur, daß seine Mutter noch am Leben war. Sie schläft nur, dachte er. Gut. Aber dann sprach sie wieder, wenn auch mit so schwacher Stimme, daß er die Wörter kaum verstehen konnte: «... dieser Mann auf den Philippinen mit dem spanischen Namen. Ich glaube nicht, daß sie je dort angekommen ist.»
«Ich habe den Brief gelesen», sagte Moon. «Sie wird dort ankommen, okay? Es dauert nur. Du kümmerst dich jetzt darum, wieder gesund zu werden. Und die Nonnen in Manila werden sich um das Baby kümmern.»
«Er schien nichts zu wissen», sagte seine Mutter.
«Was ist mit der Mutter?» fragte Moon. «Warum kann sie das Kind nicht bringen?» Er hatte auch noch andere Fragen. Eine davon war: Warum behält die Mutter das Baby nicht? Aber Victoria Mathias schien nicht mehr wahrzunehmen, daß er bei ihr war. Ihr Körper, unter der Decke schon in sich zusammengefallen, schien noch weiter zu schrumpfen.
Sie zog die Stirn leicht in Falten, und ihre Lippen bewegten sich. «Sehr unbefriedigend», wollte sie wohl sagen. Aber die Stimme war zu schwach, um verständlich zu sein, und Moon vermutete, daß er sich diesen Kommentar wohl nur eingebildet hatte. Victoria Mathias kommunizierte per Brief. Nach Ansicht seiner Mutter waren alle Telefongespräche sehr unbefriedigend.
Die Person, der es oblag, das Leben seiner Mutter zu retten, war ein Arzt namens Jerrigan. Dr. Jerrigan machte seine Runde von zehn bis elf und hätte um ungefähr zehn Uhr dreißig auf dieser Station sein müssen. Jetzt war es viertel nach elf, und Dr. Jerrigan war noch nicht aufgetaucht.
Moon hatte seit mehr als einer Stunde auf dem glatten Plastikstuhl im Wartezimmer gesessen. Während der ersten halben Stunde Wartezeit hatte er jede erdenkliche Mutmaßung über den Zustand seiner Mutter angestellt und in Gedanken das durchgespielt, was er tun könnte. Er hatte nur ein paar Minuten darauf verwandt, sich zu überlegen, was wegen Rickys Tochter zu geschehen hätte. Selbstverständlich würde er zuerst den Anwalt in Manila anrufen, um sich über den neuesten Stand der Problematik zu unterrichten. Der zweite Schritt würde sich aus dem ersten ergeben. Nach dieser Entscheidung ließ er seine Gedanken zu den Problemen schweifen, die er bei seinem eiligen Aufbruch zum Flughafen hinterlassen hatte.
Wie immer war da zuerst Debbie. Was ihr Geburtstagsgeschenk betraf, konnte er etwas Besonderes in Los Angeles auftreiben – wenn er jemals aus diesem Krankenhaus herauskommen sollte. Und dann war da der Spaniel, den Shirley ihm anvertraut hatte, bis sie ihre neue Wohnung bezogen hatte, in der Spaniels geduldet wurden. Der Spaniel hatte einen Termin beim Tierarzt, und er hatte den verdammten Hund auf dem Weg zur Arbeit abliefern sollen. Das war ihm erst auf dem Flughafen von Denver wieder eingefallen, und er hatte im Büro anrufen müssen. Es war Shirleys freier Tag, und daher war die Last auf Hubble gefallen. Hubble hatte deswegen nicht gerade glücklich geklungen, aber gesagt, er werde schon jemanden finden, der sich darum kümmern konnte. Und das würde er auch. Hubby war ein Griesgram, aber verläßlich. Ein bißchen wie er selbst, dachte er.
Also keine Sorgen um den Hund. Sorgen eher wegen der anderen Verpflichtungen, die er hinter sich gelassen hatte. Wie zum Beispiel J. D.s Pickup. Moon betrachtete seinen Knöchel, der schon gut verschorfte, und seine Hände, die trotz intensiven Einseifens unter der Dusche in den tiefen Falten und unter den Fingernägeln noch immer Spuren von Schmiere aufwiesen. Sowohl Schmiere wie Schorf bewiesen J. D.s Unvermögen, sein Fahrzeug angemessen instand zu halten. Der babyblaue Lack schimmerte zwar stets, aber über den äußeren Schein ging J. D.s Interesse nicht hinaus. Nie sorgte er für die richtige Einstellung des Motors. Und er säuberte ihn auch nicht, was Moons schmierige Hände, die öligen Schraubenschlüsselgriffe und einen blutigen Knöchel erklärte. Nach Moons Meinung war Nachlässigkeit nur einer von J. D.s diversen charakterlichen Mängeln. Aber er war ein gutaussehender Junge, freundlich und großartig auf dem Tennisplatz. Und, nach Aussagen von Debbie, noch besser auf den Skipisten. Und jetzt stand also J. D.s schmucker kleiner GMC Jimmy in Moons Garage, mit einem schmucken kleinen Dieselmotor, der noch nicht wieder ganz zusammengebaut war. J. D. würde also ohne fahrbaren Untersatz sein, was Moon nicht sonderlich viel ausmachte. Aber Debbie zählte darauf, daß J. D. sie an diesem Wochenende nach Aspen fuhr.
Das Plastik des Wartezimmerstuhls knarzte, als Moon sein Gewicht verlagerte. Sein Rücken schmerzte. Und plötzlich wich die Spannung, die bisher den Schlaf in Schach gehalten hatte. Er gähnte. Und als er das geschafft hatte, fühlte er sich maßlos erschöpft. Die Augen schienen ihm den Dienst zu versagen, als er auf seine Uhr blickte. Wo, zum Teufel, blieb dieser Dr. Wie-hieß-er-noch-mal?
Dr. Jerrigan betrat das Wartezimmer. Er war ungefähr so alt wie Moon, aber um ein Drittel kleiner und um ein gehöriges Maß besser in Form. Er hatte die Bräune eines Surfers aus Kalifornien und besaß den harten, sehnigen Körper eines Handballers. Er betrachtete Moon, sah nichts, was sein Interesse weckte, und warf dann einen Blick auf sein Klemmbrett.
«Morick», sagte er. «Morick. Hiernach sieht’s so aus, als litte er unter einer Art koronarer Okklusion. Angesichts der Lage ist wahrscheinlich ein koronarer Bypass erforderlich. Aber das wissen wir erst, wenn –»
«Falsches Geschlecht», sagte Moon. «Es handelt sich um Mrs. Victoria Mathias. Ich bin ihr Sohn.»
Dr. Jerrigan sah Moon stirnrunzelnd an.
«Wie auch immer», sagte er und warf abermals einen prüfenden Blick auf sein Klemmbrett. «Ach ja. Das ist die Frau, die man gestern vom Flughafen gebracht hat. Die Notaufnahme hat sie aufgenommen.» Er blätterte durch die Seiten auf seinem Klemmbrett. «Wir haben noch nicht die notwendigen Ergebnisse aus dem Labor, aber – sehen wir mal –» Dr. Jerrigan studierte sein Klemmbrett mit angestrengter Miene. «Das EKG zeigt unbestimmte koronare Anomalitäten.»
«Was ist also die Prognose?» fragte Moon, wobei er hoffte, Prognose sei das korrekte Wort. «Wie schlimm ist es?»
Etwas an Dr. Jerrigans Gürtel machte biep-biep-biep. Dr. Jerrigan blickte auf seine Uhr, ging ungefähr zehn Schritte zu einem Haustelefon, nahm ab und sprach eine Weile. Als er zurückgekehrt war, betrachtete er wieder sein Klemmbrett. «Es sieht nicht besonders gut aus», sagte er. «Aber bevor wir nicht die Ergebnisse der Tests haben, die gestern abend gemacht wurden, kann ich wirklich nichts sagen.»
«Na gut», sagte Moon, «holen wir uns diese Testergebnisse. Auf der Stelle. Finden wir jemanden, der wirklich etwas sagen kann.»
Wie viele hochgewachsene Männer hatte Moon es so gut wie nie nötig, seinen Ärger zu zeigen, und tat es auch nur selten. Wenn er es jedoch tat, waren die meisten Menschen entsprechend beeindruckt. Dr. Jerrigan zählte jedoch nicht zu ihnen. Er reagierte auf Moons zornigen Blick, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
«Mr. Morick», sagte er, «Ihre Mutter ist nicht die einzige Kranke in diesem Krankenhaus. Sie ist nicht meine Patientin. Dr. Rodenski hat sie in der Notaufnahme aufgenommen. Heute ist Sonntag. Er hat frei. Ich kümmere mich neben meinen eigenen Patienten auch um sie. Wir können verdammt noch mal nichts tun, bis wir mehr über ihren Zustand wissen. Solange sorgen wir dafür, daß sie in guten Händen ist und stabil bleibt. Wir können diese Laborergebnisse erst auswerten, wenn sie fertig sind. Und ich muß mich um das Opfer einer Schießerei kümmern, das im Augenblick versucht, an seinen Verletzungen zu sterben.»
«Aber, gottverdammt, wie ist ihr Zustand?» fragte Moon. «Für mich hört es sich so an, als hätte sie einen Herzanfall gehabt. Geben Sie mir eine Einschätzung ihres Zustands. Ihre Überlebenschancen.»
«Soll ich raten?» fragte Dr. Jerrigan, das Gesicht gerötet. «Wie soll ich raten, wenn ich nicht mehr weiß, als wir wissen? Aber hier ist meine Vermutung. Das hier wurde wahrscheinlich durch eine Form koronarer Blockade des Herzens hervorgerufen. Ein Herzanfall. Die meisten Menschen überleben das. »
«Mit anderen Worten – einige nicht?»
«Natürlich», sagte Dr. Jerrigan. «Einige nicht.» Dann biepte sein Gerät wieder, und Jerrigan eilte davon.