Von Veritas erfuhr ich durch Gerüchte, die bis in meine Heimatstadt drangen. Es waren sonderbare Geschichten von einem merkwürdigen Wesen. Die einen behaupteten, es wäre eine Ausgeburt des Teufels, andere waren der Meinung, dass es sich um einen Engel, oder um ein Fabelwesen aus grauer Vorzeit handeln müsse. Diesem Gerede schenkte allerdings kaum jemand Glauben, am wenigsten ich. Trotzdem war mein Interesse geweckt. Da ich damals jede freie Minute, die mir das Studium der Medizin ließ, der Heimatforschung widmte, fasste ich den Entschluss, der volkstümlichen Sage nachzugehen, denn das schien es mir zu sein: Eine Geschichte aus dem Fundus heimatlicher Sagen. So machte ich mich eines morgens mit der Absicht auf den Weg, weitere Erzählungen, die im Zusammenhang mit dem Wesen standen, zusammenzutragen. Wie hätte ich ahnen können, was für eine schaurig-schöne Entdeckung ich machen würde?
Das Dorf, das immer wieder im Zusammenhag mit der Erscheinung genannt wurde, lag abseits der Landstraße, etwa eine Tagesreise von meiner Heimatstadt entfernt, und hieß Solthenau. Mein Vater bestärkte mich darin, diese Reise anzutreten, war er doch glücklich darüber, dass ich, was die Heimatforschung betraf, in seine Fußstapfen trat. Bereits bei meinem Eintreffen in Solthenau, als ich mich nach einer unsanften Fahrt mit der Postkutsche zu Fuß auf den Weg zum Gasthaus machte, wurde mir jede Menge stummer Aufmerksamkeit zuteil. Die Reise hatte ich vom nächsten größeren Ort aus alleine in der Kutsche zurückgelegt, was mich nicht verwunderte, denn wer sollte schon diesen vergessenen Landstrich aufsuchen? Überrascht war ich eher davon, dass die Post in Solthenau ein Büro betrieb.
Im Gasthof angekommen erfrischte ich mich ein wenig auf meinem Zimmer, das an Schlichtheit kaum zu übertreffen war. Auch sonst lag bezüglich meiner Unterkunft einiges im Argen. Die Wasschüssel aus Zinn war zerkratzt und der hölzerne Boden des niedrigen Zimmers war fleckig. Auf In einer Ecke fand sich eine tote Maus. Das alles brachte mich zum Schmunzeln. So ging es eben zu, auf der Welt, abseits der herrschaftlichen Häuser und der Paläste. Ich nahm eine kräftige Mahlzeit im Gastraum der Wirtschaft ein, in dem nur Einheimische, vor allem Bauersleut, zugegen waren. An die Zustände in der Küche wagte ich nicht zu denken, geschweige denn, dass ich sie persönlich in Augenschein hätte nehmen wollen. So saß ich also an dem groben Tisch und nahm meine Speise zu mir. Eine kräftige Kohlsuppe mit Speck und einem Kanten Brot. Ich unterließ es, dem Gastwirt, einem resoluten Mann, dessen Ehefrau mit gesenktem Blick herumlief, Fragen zu stellen. Meine Antworten auf seine Fragen blieben karg und im Ungefähren. Ich wäre Heimatkundler, sagte ich, was der Wahrheit entsprach, und wäre von meiner Neugierde hierher ins beschauliche Solthenau getrieben worden. Die Schweinsäuglein des Wirtes hingen an meinen Lippen, und ich sah die Enttäuschung darin, als ich nicht weiter auf die Ursache meines Besuches einging. Mitleid hatte ich mit dem feisten Kerl und seiner bescheidenen Frau nicht. Die beiden würden ohnehin bald erfahren, was der fremde Reisende in ihrem Ort zu suchen hatte.
Nach dem Essen machte ich mich sogleich auf den Weg. Bereits die ersten Bewohner des Dorfes wurden mürrisch und missmutig, als ich mich nach einer Kräuterfrau erkundigte, von der man mir erzählt hatte, dass sie mehr über die Angelegenheit wisse. Niemand gab gerne Auskunft darüber. Eine dicke Frau mit einer schmutzigen Schürze, die von vier Kindern bedrängt im Türrahmen ihres Häuschens stand, eröffnete mir, dass im Dorf die Angst umginge, von der übrigen Welt als 'Hexendorf' verschrien zu werden, wenn die Geschichte von der alten Kräuterfrau und ihrem merkwürdigen Zögling die Runde mache. Die drei Mädchen sahen mich mit großen Augen an, während ihre Mutter sprach. Der Junge schlug derweil mit einem Stock nach einer Gans, die sich uns immer wieder mit vorgestrecktem Hals schnatternd näherte.
Da ich von der ängstlichen Frau nichts genaueres erfuhr, ging ich hinüber zum Postamt. Der Postbeamte zuckte mit den Schultern und meinte, dass er sich um seine Pflichten und um seine Familie zu kümmern habe und nicht um dummes Dorfgeschwätz. Der Pfarrer, den ich als nächstes aufsuchte, bekreuzigte sich, als ich ihn auf die Gerüchte hin ansprach, dann schlug er mir die Tür vor der Nase zu, nicht, ohne mir vorher zu bedeuten, dass der Herr im Himmel mir nahelege, Solthenau noch heute wieder zu verlassen. Der Küster Weidler, der auch die Kinder des Dorfs in den nötigsten Dingen unterrichtete, fand sich überraschenderweise zu einem Gespräch bereit. Er bat mich sogar in sein Haus, entschuldigte sich für das Durcheinander, das dort herrschte, und redete sich darauf hinaus, dass er nicht verheiratet sei. Natürlich ist den meisten Junggesellen anzusehen, dass die ordnende Hand einer Frau in ihrem Leben fehlt, schlichte Faulheit allerdings kann meines Erachtens ein solcher Hinweis nicht entschuldigen. Wenn die schmutzigen Schuhe übereinander auf dem Boden liegen und auf dem Ofen kalter, festgebratenere Brei in einem Topf klebt, so darf man das wohl auch einem Junggesellen ankreiden. Ich versuchte, mich trotz allem nicht an der Unordung zu stören. Schließlich war ich auf die Freundlichkeit des Mannes angewiesen.
Der Küster setzte sich in einen abgewetzten Sessel, der vor dem Kamin stand, und zündete sich eine Pfeife an. Bald hüllte ihn der Tabakrauch ein. Ich hatte ihm gegenüber auf einem etwas härteren Schemel Platz genommen, verkniff mir aber auch hier eine Bemerkung bezüglich seiner Nachlässigkeit. So kam ich mir vor wie ein Bittsteller, was dem Mann wohl behagen mochte, allerdings sah ich keine andere Sitzgelegenheit im dem kleinen Raum. Der Schemel, auf dem ich Platz genommen hatte, schien mir das geeignete Instrument zu sein, um übermütige Kinder zur Ordnung zu rufen, und ich war mir sicher, dass Weidler dieses Instrument zu nutzen wusste.
„Sie müssen die Menschen hier im Ort verstehen“, begann der Küster, „es ist schon eine unheimliche Geschichte.“
Ich nippte an dem Gläschen Likör, das er mir in die Hand gedrückt hatte und wartete gespannt. Weidler lächelte plötzlich. Dann wies er mit seiner Pfeife auf den Likör.
„Er schmeckt Ihnen?“
Ich nickte.
„Er schmeckt vortrefflich“, sagte ich.
„Das Rezept stammt aus dem Hausbuch meiner Großmutter.“
Ich nickte anerkennend, in der Hoffnung der Küster würde bald wieder zu unserem eigentlichen Thema zurückkehren. Doch er blieb bei seiner Großmutter. Sie sei, so sagte er, eine herzensgute Frau gewesen, die gerne Liköre gebrannt habe. Leider sei sie schließlich den dauernden Kostproben zum Opfer gefallen. In ihren letzten Jahren sprach sie wohl zu stark dem Alkohol zu, blieb aber eine herzliche und sanfte alte Frau, bis zu ihrem Ableben an ihrem neunzigsten Geburtstag.