Inbetween

Zwischen Bahnsteig und Bestatter

 

Ein Gay Drama in fünf Akten

von Svea Lundberg

 

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2017

http://www.deadsoft.de

 

© the author

 

Cover: Irene Repp

http://daylinart.webnode.com/

 

Bildrechte:

© Volodymyr Tverdokhlib – shutterstock.com

© Bogdan Sonjachnyj – shutterstock.com

 

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-136-9

ISBN 978-3-96089-137-6 (epub)

 

Inhalt:

Als erfolgreicher Architekt steht Ilian Nyström mit seinen 46 Jahren fest im Leben und weiß genau, was er will: eine lockere Affäre mit dem 22-jährigen Kunststudenten Leonard. Und das obwohl Leonard mit seinem Dickkopf nicht gewillt ist, sich Ilians Regeln für eine unkomplizierte Liaison einfach so unterzuordnen.

Ilian fällt es schwer, Kompromisse einzugehen, doch nach einem schweren gesundheitlichen Schicksalsschlag muss er erkennen, dass er Leonard möglicherweise mehr braucht, als er sich eingestehen wollte. Denn nach der Diagnose „Hirntumor“ ist mit einem Mal nicht mehr jeder Schritt auf Ilians Lebensweg berechenbar.

 

I. Akt – Regenbogenbunt

 

Hamburg, Deutschland, Februar 2016

 

Ilian

 

Die Tragfläche der Boeing 747 neigte sich schräg nach unten und zerteilte den Himmel dadurch mit einer anderen Linienführung als noch Sekunden zuvor. Mit Sicherheit fiel dem Großteil der Fluggäste dieser Umstand nicht auf. Sie alle sahen nur die weißen Schäfchenwolken näherkommen, ehe das Flugzeug durch die Wolkendecke stieß und die ersten Häuser in der Tiefe sichtbar wurden.

Beim Anblick des Stadtpanoramas fing mein Herz an, schneller zu klopfen. Nicht, weil ich mich vor der Landung fürchtete oder besonders erfreut darüber war, Hamburg wieder einmal zu besuchen. Meine erhöhte Herzfrequenz war nicht meiner persönlichen Beziehung zu dieser Stadt geschuldet – im Grunde verband mich mit Hamburg nicht mehr als mit London, Amsterdam oder New York –, aber dieses Schmuckstück im Norden Deutschlands präsentierte sich im Landeanflug mit schemenhaften Linien, die sich von denen anderer Metropolen unterschieden.

Hätte ich meinem Sitznachbarn, einem beleibten Bosch-Vertreter, wie mir sein Namensschild mit Firmenlogo verriet, von meinen Überlegungen erzählt, hätte er mich bestimmt verwirrt angesehen. Vielleicht sogar an meinem Verstand gezweifelt. Doch dieser war geschärfter denn je. Meine tägliche Arbeit als Architekt veranlasste mich dazu, sämtliche Objekte in meiner Umgebung nach ihrer Linienführung zu beurteilen. Nicht selten überprüfte ich sie in Gedanken auf ihre Statik. Zugegeben, mit manchen Objekten, wie Kaffeetassen oder Cremetiegeln, mochte diese Angewohnheit eher lästig denn sinnvoll sein. Aber Hamburgs Skyline zog mich jedes Mal aufs Neue in ihren Bann.

Erst ein zaghaftes Rütteln an meiner Schulter brachte mich dazu, den Kopf zu drehen. Fragend blinzelte ich in das Gesicht der Stewardess, die sich mit einem Zahnpastalächeln zu mir hinunterbeugte.

»Wir befinden uns im Landeanflug, Herr Nyström. Legen Sie bitte den Sicherheitsgurt an.«

Ich nickte der jungen Frau höflich zu, fragte mich, ob ihr Lächeln in meiner Gegenwart tatsächlich breiter war als bei den übrigen Fluggästen. Innerhalb eines Sekundenbruchteils prüfte ich ihr schmales Gesicht auf Symmetrie und kam zu dem Entschluss, dass sie nicht nur nach analytischen Kriterien einem Schönheitsideal entsprach, sondern auch in meine Vorstellungen einer wirklich attraktiven Frau passte. Als wollte ich sie diese Erkenntnis wissen lassen, schenkte ich ihr meinerseits ein Lächeln. Nicht als Flirt gemeint, sondern als anerkennende Geste.

Ob sie verstand, vermochte ich nicht zu sagen, denn ein stechender Schmerz hinter dem rechten Auge lenkte meine Aufmerksamkeit plötzlich auf meinen Schädel. Schwer atmend kniff ich die Augen zusammen. Das Stechen verschwand so schnell, wie es gekommen war, und ich schaute wieder direkt in das Puppengesicht der Blondine.

»Geht es Ihnen gut, Herr Nyström?« Zumindest die kleinen Wehwehchen der ihr anvertrauten Reisenden schien sie genau zu durchschauen. »Möchten Sie noch ein Glas Wasser?«

»Danke, sehr aufmerksam von Ihnen. Würden Sie mir bitte noch einen Latte macchiato bringen?«

»Natürlich.« Ein letztes Lächeln, dann trippelte sie auf ihren bewundernswerten Absätzen durch die Reihen davon. Normalerweise schenkte das Personal so kurz vor der Landung keine Heißgetränke mehr aus und in aller Regel war ich ein sehr genügsamer Passagier. Doch in der Businessclass konnte man sich so einige Extrawünsche leisten und da noch für den späten Nachmittag ein Treffen mit einigen Architektenkollegen angesetzt war, konnte ich es mir nicht erlauben, mich von irgendwelchen obskuren Jetlag-Symptomen beinträchtigen zu lassen. Überhaupt behelligten mich in den letzten Wochen zu viele mir bis dato unbekannte Wehwehchen, die mir überdeutlich zu signalisieren versuchten, es sei höchste Zeit für einen Wellness-Urlaub.

Ganz sicher würde ich mir den im Sommer auch gönnen, doch die nächsten drei oder vier Monate waren regelrecht zugepflastert mit persönlichen Treffen und Video-Konferenzen bezüglich eines Großprojektes. Die Planungen für die neue, hochmoderne Hamburger Shopping-Mall liefen auf Hochtouren und gerade weil Einkaufszentren nicht unbedingt zu meinen bevorzugten Bauprojekten gehörten und ich mich in die Architektur würde einarbeiten müssen, konnte ich es mir unmöglich erlauben, auszufallen.

Im Grunde konnte ich der meist recht eintönigen Architektur eines solchen Gebäudes nicht viel abgewinnen. Doch für die Hamburger Mall hatten die Investoren sich offenbar außergewöhnliche Bauformen in den Kopf gesetzt und so brannte ich darauf, endlich einen eingehenden Blick auf die bisherige Planung zu erhaschen.

Vermutlich würde ich sie über den Haufen werfen. Ich arbeitete nicht gerne mit den Entwürfen anderer Leute. Verließ mich am liebsten nur auf meine eigenen Ideen und Fachkenntnisse, doch das musste ich den Herren Geldgebern ja nicht gleich beim ersten persönlichen Treffen auf die Nasen binden.

Die Stewardess unterbrach erneut meine Gedanken. Merkwürdig, denn normalerweise ließ ich mich von Nichts und Niemandem in meinen Grübeleien stören.

»Ihr Latte macchiato, Herr Nyström. Würden Sie bitte den Sicherheitsgurt anlegen?«

Hatte ich das noch nicht getan? Ich runzelte die Stirn, worauf sich das eben verklungen gewähnte Stechen mit einem monotonen Pochen zurückmeldete. Vielleicht hätte ich doch stilles Wasser ordern und eine Kopfschmerztablette einnehmen sollen. Doch nun rann eine Mischung aus Kaffee, Milch und Zucker meine Kehle hinab und füllte meinen Magen mit wohliger Wärme. Ein latent unruhiges Ziehen tief im Inneren blieb jedoch und trieb mir ein schiefes Lächeln auf die Lippen. Wurde Ilian Nyström etwa im zarten Alter von 46 Jahren doch noch nervös in Voraussicht auf ein Treffen mit wichtigen Geldgebern?

 

~~~

 

Wenige Meter vor dem Ausgang des Flughafens blieb ich abrupt stehen. Mein Blick schweifte über die wartenden Taxis, dann über das Schild, welches mir zu seiner Rechten den Weg zur S-Bahn wies. Wie lange war ich schon nicht mehr Zug gefahren?

Kurz entschlossen machte ich auf dem Absatz kehrt und steuerte auf die Rolltreppe zu, die hinunter zum Bahnsteig führte. Auf dem Weg fragte ich mich bei vorbeieilenden Leuten nach der richtigen Linie in die Innenstadt durch. Ich hastete durch die Unterführung und quetschte mich mit meinem Koffer gerade noch rechtzeitig zwischen den sich schließenden Türen hindurch. Die Luft in der Bahn war stickig, schlechter als im Flugzeug. Mit einem innerlichen Seufzen ließ ich mich auf einen freien Sitz fallen und atmete tief durch. Noch immer pochte es dumpf in meinem Kopf und ich hoffte inständig, die Kopfschmerzen, die mich seit Wochen immer wieder quälten, mochten nun nicht mit erneuter Wucht zuschlagen.

In den Taschen meines Anzuges tastete ich nach einer Ibuprofen, fand jedoch nur ein Päckchen Pfefferminzbonbons und wunderte mich über meine eigene Unachtsamkeit. Normalerweise war ich immer vorbereitet. Auf alles und jeden. Selbst auf Kopfschmerzen, die eigentlich nicht zu meinen primär befürchteten Zwischenfällen zählten. In den letzten Wochen hatte sich das jedoch geändert und so war es umso verwunderlicher, dass ich nicht vorgesorgt hatte.

Ich begnügte mich mit einem Pfefferminzdragee und förderte mein iPhone zutage. Ein Blick auf das Display zeigte mir zehn ungelesene Mails an, die während des Fluges von Stockholm nach Hamburg eingetrudelt sein mussten. Hatte ich Elin nicht vor meiner Abreise gesagt, sie solle mir nur wichtige Mails auf mein privates Handy weiterleiten? Offensichtlich war auch meine Assistentin urlaubsreif.

Mit einem flüchtigen Blick auf die Absender beschloss ich, dass die Mails noch bis zu meiner Ankunft im Hotel warten konnten. Stattdessen verriet Google mir nach einigen Klicks, dass ich die Bahn nach nur drei Haltestellen verlassen und in eine andere Linie würde umsteigen müssen. Laut Netzplan hielt die betreffende Bahn dann nur wenige Querstraßen von dem Hotel entfernt, das Elin für mich gebucht hatte.

Zum Umsteigen blieben mir dreizehn Minuten, sodass ich die Zeit nutzte und mich an einem Kiosk mit Mineralwasser und zwei Schokoriegeln eindeckte. Die Kommunikation mit dem Verkäufer verlief etwas holprig. Meine Zunge schien sich erst wieder an die Satzmelodie des Deutschen gewöhnen zu müssen.

Ich steuerte eine leere Reihe aus Metallsitzen an, stellte mein Gepäck direkt daneben ab und ließ mich erleichtert nieder. Nicht nur mein Kopf brummte, ich fühlte mich zudem matt und ausgelaugt. Dabei hatte ich einfach nur ein paar Stunden im Flugzeug gesessen. Zucker! Ja, Zucker würde sicher helfen. Das Papierchen des Schokoriegels knisterte verführerisch. Gleich darauf veranstalteten Schokolade, Erdnüsse und Karamell eine regelrechte Geschmacksexplosion auf meiner Zunge. Wie lange hatte ich keine Süßigkeiten mehr gegessen? Jahrelang hatte ich auf Low Carb und eine ausgewogene Vitamin- und Mineralstoffzufuhr geachtet und was hatte ich nun davon? Kopfschmerzen und Müdigkeit. Männliche Wechseljahre?

Schnaufend sank ich auf dem Sitz zurück. Durch die Unterführung pfiff ein eisiger Wind. Eisig, selbst wenn man Stockholm im Winter gewohnt war und schon einige Wochen zum Langlaufen in Lappland verbracht hatte. Fröstelnd zog ich das Jackett und den Mantel darüber enger zusammen, biss noch einmal in den Riegel, ließ den Blick schweifen und blieb an einem jungen Mann hängen, der wenige Schritte von mir entfernt auf dem Bahnsteig stand.

Er war über und über mit einer braunen Ledertasche und Stapeln von Büchern, Mappen und losen Papieren bepackt. Auf einem der Stapel balancierte er überflüssigerweise noch einen Starbucks-Becher. Das Gebilde kam gefährlich ins Wanken, als ein weiterer Windstoß durch die Unterführung fegte. Geistesgegenwärtig klemmte der Kerl den Becher mit dem Kinn auf dem Stapel fest. Dabei rutschte ihm durch die Bewegung das eine Ende seines dicken Wollschals über die linke Schulter nach hinten und fiel herab.

Ich fragte mich unweigerlich, warum man sich einen so langen Schal anzog. Das Ende schleifte fast schon über den Boden. Dieser Umstand schien auch den jungen Mann zu stören, doch er hatte die Hände zu voll, um irgendetwas an seiner Misere ändern zu können. Theoretisch zumindest. Nach kurzem Zögern löste er sein Kinn vom Pappbecher, vertraute diesem offenbar, dass er seinen Stand wahrte. Der Kerl verrenkte sich beinahe den Hals und vielleicht auch den Kiefer, als er anfing, mit Lippen und Zähnen nach dem Schalzipfel zu angeln.

Ich musste grinsen – und helfen. Ich erhob mich, doch da bekam der Mann den Schal zu fassen. Wie ein hungriges Raubtier grub er die Zähne in das faserige Material. Fehlte nur noch ein Knurren. Er zog daran, zerrte den Schal weiter über die Schulter nach vorne und …

Ich öffnete den Mund zu einem Warnruf, aber zu spät. Schon kippte der Starbucks-Becher, getroffen von der Wange, und neigte sich gen Boden. Der Papierstapel geriet in Schieflage. Kurz schien es, als könne der junge Mann ihn halten, doch eine weitere Böe machte sich einen Spaß daraus, das gesamte Gebilde zum Einsturz zu bringen. Begleitet von einem inbrünstig gerufenen »Fuuuck!« segelten Bücher, Mappen und lose Blätter dem Bahnsteig entgegen. Letztere verfingen sich im Wind, trudelten Meter von der Unglücksstelle entfernt auf den Asphalt.

»Gottverdammte Scheiße, ehrlich wahr!«

Den Fluch geflissentlich ignorierend, trat ich zu dem Pechvogel und ging neben ihm in die Knie.

»Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?« Das Deutsch klang schon ein wenig flüssiger als beim Schokoladenkauf. Dank gewohnter schwedischer Zurückhaltung und Schweigsamkeit erwartete ich ein erfreutes und leise gemurmeltes »Gerne, danke«, erntete stattdessen aber ein brummiges »Nee, geht schon.«

Ich hielt bereits ein Blatt in der Hand, da schaute mein Gegenüber auf. Unter einer grünen Mütze schauten dunkelblonde Haare hervor. Und durch verirrte Strähnen traf mich ein Blick aus grauen Augen. Grau wie ein Gewitterhimmel, kurz bevor der erste Blitz sich daraus löst.

»Sorry, ich meine, danke.« Der junge Mann lächelte zaghaft und ich konnte nicht anders, als die Geste zu erwidern.

»Kein Problem.« Dieses Mal klappte es einwandfrei mit der Artikulation des Deutschen, dafür kam mir meine Stimme ein wenig zittrig vor. »Ein bisschen viel auf einmal, hm?«

Das Grinsen meines Gegenübers bekam etwas Beschämtes, doch im gleichen Moment war da ein freches Blitzen in den Augen. Winzige Grübchen um den Mund.

»Mein zweiter Vorname ist Chaos.«

Mir lag schon die Frage auf der Zunge, wie denn sein richtiger Name lautete, doch der gebürtige Schwede in mir fing die Worte ein, ehe sie aus meinem Mund stolpern konnten. Schweigend sammelten wir den Papierkram ein. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf eine rote Mappe, die stark nach einem Zuhause von Skizzen aussah. Fast wie meine eigene Entwurfmappe. Ob ich …?

»Oh, Shit, meine Bahn!«

Noch ehe ich reagieren konnte, riss der junge Mann mir den Stapel aus der Hand, sprang auf und spurtete los. Über die Schulter hinweg rief er noch ein »Danke!«, dann hechtete er mit einem waghalsigen Satz in die Bahn, beinahe in eine alte Dame hinein. Der dicke Wollschal wippte fröhlich über Schulter und Rücken. Dann schlossen sich die Türen. Die Bahn fuhr mit einem kreischenden Geräusch an und ich hockte noch immer auf dem kalten Boden des Bahnsteigs.

Ich brauchte Sekunden, bis ich mich kopfschüttelnd erhob. Was war das denn? Wohl wirklich das Chaos in Person. Ein äußerst attraktives Chaos, nebenbei bemerkt.

Noch immer grinsend schlenderte ich zurück zur Sitzreihe. Ein prüfender Blick auf die Anzeigetafel offenbarte, dass meine Bahn als Nächstes einfahren würde. Ich warf mir mein Handgepäck über die Schulter und wollte gerade nach dem Koffer greifen, als mein Blick auf ein einsames Blatt Papier fiel, das sich unter dem Metallsitz verfangen hatte. Die Bahn ratterte heran, dennoch hob ich rasch die lose Seite auf. In der Kopfzeile prangte das Logo der Universität Hamburg. Darunter fanden sich Angaben zu Titel, Zeit und Ort der Veranstaltung, das Thema des zu haltenden Referates und ein Name: Leonard Marquart. Ich schluckte trocken, plötzlich durstig vom Schokoriegel. Konnte ein wandelndes Chaos Leonard heißen?

Ich wandte mich um, ergriff meinen Koffer und eilte zur Bahn. Beim Einsteigen sagte ich mir die beiden Worte abwechselnd vor: Chaos – Leonard – Chaos – Leonard. Warum eigentlich nicht?

Leonard

 

Unter dem tadelnden Blick der älteren Dame, die ich eben fast umgerannt hätte, quetschte ich mich auf einen freien Sitzplatz. Gar nicht so einfach, mit einer Skizzenmappe und der großen Unitasche nicht überall anzuecken. Gut, zugegeben, jeder andere hätte wahrscheinlich kein Problem damit gehabt, aber ich war nun mal ein Schussel und schaffte es auch im größten Raum, mich selbst und andere Leute zu verletzen. Ein Wunder eigentlich, dass ich mich eben auf dem Bahnsteig nicht an meinem Kaffee verbrüht hatte. Ob der charmante Herr Erste Hilfe geleistet hätte, wenn ich umgekippt wäre?

Ich schloss die Augen und rief mir sein Gesicht ins Gedächtnis, sah markante Wangenknochen, schmale, aber schön geschwungene Lippen und den Ansatz eines dunklen Bartschattens vor mir. Hach ja, von diesem Mund hätte ich mich gerne beatmen lassen!

Und diese tollen Hände! Ich schaute bei Männern immer zuerst auf die Hände und fand diese Eigenart durchaus gerechtfertigt, denn schließlich waren die Hände jene Körperteile, mit denen man in der Regel bei einem anderen Menschen zuerst in Kontakt kam.

Der Fremde, von dem ich nicht mal einen Namen wusste, hatte wirklich ausgesprochen schöne Hände gehabt. Nicht zu groß und nicht zu klein, mit schlanken, aber kräftigen Fingern. Sicher konnte er sowohl ordentlich zupacken als auch ganz sanft die Fingerkuppen über Haut streichen lassen.

Mit einem Seufzer öffnete ich die Augen. Wäre ja noch schöner gewesen, hier mitten in der Bahn einen Ständer zu bekommen. Nee, danke!

Hatte er einen Ehering getragen? Dunkel erinnerte ich mich an ein silbernes Schmuckstück, aber nicht am Ring-, sondern am Mittelfinger der rechten Hand. Trotzdem war der Kerl mit Sicherheit verheiratet. Oder zumindest hetero. Denn erstens waren Männer, ich die ich mich verguckte, IMMER hetero oder glücklich vergeben. Oder beides! Und zweitens … keine Ahnung.

Ich nahm einen großen Schluck aus meinem Starbucks-Becher oder vielmehr, ich versuchte einen Schluck zu nehmen, denn natürlich war das Teil aufgrund meiner Schusseligkeit und des daraus resultierenden Absturzes beinahe leer. Mist, und dabei war ich doch noch gar nicht richtig wach. Ebenfalls keine Seltenheit bei mir, meine biologische Uhr stellte sich prinzipiell erst ab etwa 14 Uhr in den Wachmodus um. Manchmal auch erst zum Ende der letzten Vorlesung. Dafür konnte ich wunderbar bis tief in die Nacht an meinen Skizzen oder den Texten für das Unimagazin arbeiten. Dumm nur, dass Uni, meine Jobs im Café und beim Magazin und das Zeichnen, mein privates Hobby, mit meinem Schlafbedürfnis kollidierten. Tja, Luxusprobleme eines Studenten …

Was der Typ von eben wohl beruflich machte? Einerseits hatte er ausgesehen wie ein erfolgreicher Businessman – selbstsicher, straight, elegant. Aber andererseits hatten der stylische Mantel und sein halblanges, unfrisiertes Haar ihn eher wie einen Künstler wirken lassen. Vielleicht war er ja erfolgreicher Künstler? Also mehr oder weniger genau das, was ich mal werden wollte. Auf jeden Fall sah er richtig gut aus, so männlich-kantig, einfach sexy. Kurzum: voll mein Typ!

Ich konnte nicht so genau sagen, woran es lag, aber Kerle in meiner Altersklasse zogen mich nicht an. Klar hatte ich schon ab und an mal mit einem Kommilitonen rumgemacht, aber so ganz das Wahre war das nie gewesen. Männer um die zwanzig wollten doch eh die ganze Zeit nur ficken, konnten aber genau das meist nicht richtig gut. Zumindest war ich bislang nur an solche Typen geraten, bei denen der ganze Spaß nach zehn Minuten Rumgepoppe schon wieder vorbei war. Nicht, dass ich selbst das mega Stehvermögen gehabt hätte, aber zumindest gingen meine Vorstellungen von gutem Sex weiter als ein bisschen Schwanzlecken und Finger in den Arsch schieben. Man konnte doch so viel machen – wenn man denn den richtigen Mann dazu hatte. Und einer wie dieser Fremde von eben wäre in meinen Augen genau das passende Modell.

Mit einem tiefen Seufzer tauchte ich aus meinen Träumereien auf und warf einen Blick durch die verschmierten U-Bahn-Scheiben nach draußen. Die Bahn fuhr gerade mit einem Rattern wieder an, ich erhaschte noch einen letzten Blick auf das Schild der vergangenen Haltestelle. Ja, herzlichen Glückwunsch, Leo, da hättest du rausgemusst!

Ilian

 

Es war beinahe Mitternacht, als ich an diesem Abend aus dem Chez Maélys trat, und ich war der Erste, der sich aus der Runde verabschiedet hatte. Die Herren Kollegen von der Bauleitung würden sich sicher noch stundenlang die französischen Qualitätsweine schmecken lassen – auf Kosten der Sponsoren, versteht sich. Mich jedoch zog es hinaus an die frische Luft und ich beschloss, auf dem Rückweg zum Hotel einen kleinen Umweg zum Hafen einzulegen. Von dort hatte man den besten Blick über Hamburgs nächtliche Skyline und vom Anblick der sanften Wellenbewegungen am Kai erhoffte ich mir eine Eingebung für das Design der Shopping-Mall.

Ich ließ mich auf einer Bank nahe der Kaimauer nieder und schlug die Mappe mit den Entwürfen auf. Wie ich vorausgesehen hatte, würde ich keinen Einzigen davon in Betracht ziehen. Die bereits gefertigten Skizzen waren mir zu gewöhnlich, zu aussagelos … schlicht zu stringent. Ich mochte klare Linien, bevorzugte akkurate Symmetrie bei meinen Designs, aber schließlich musste eine Linie nicht gerade sein. Für den Eingangsbereich der Mall schwebte mir schon seit Tagen irgendein kuppelartiges Gebilde vor. Das Wasser des Hafenbeckens verschwamm bereits vor meinen Augen und formte sich zu Glas. Blind tastete ich in meiner Manteltasche nach einem Bleistift, doch ich fand stattdessen ein zusammengefaltetes und an den Ecken zerknautschtes Stück Papier.

Stirnrunzelnd zog ich es hervor und erkannte, dass es das Notizblatt war, das der zerstreute, junge Mann am Bahnhof verloren hatte. Ich überflog die Zeilen, verweilte bei dem Namen Leonard Marquart. Bei der Erinnerung daran, wie er voll beladen auf dem Bahnsteig gestanden und mit den Zähnen nach seinem Schal geangelt hatte, musste ich schmunzeln. Es war eine dieser flüchtigen, unbedeutenden Begegnungen, die aus irgendeinem Grund im Gedächtnis hängen blieben. Wahrscheinlich, überlegte ich, war es die fast schon naiv anmutende Verpeiltheit des jungen Mannes, die mich verfolgte, weil dessen Zerstreutheit so gar nicht zu mir selbst passen wollte.

Elin behauptete, ich gehörte zu jener Sorte Menschen, die alles gerne im Voraus planten. Das stimmte bis zu einem gewissen Grad auch und ich konnte es meiner Assistentin nicht verübeln, dass sie mir ab und an kopfschüttelnd ein »Kontrollfreak« hinterhermurmelte. Dabei ging es mir nicht darum, über alles und jeden Macht auszuüben. Im Gegenteil, ich schätzte Menschen, die eigene Ziele verfolgten, ihre Meinung vertraten und mir die Stirn boten. Lediglich über mich selbst und mein eigenes Leben behielt ich gerne die Kontrolle. Schließlich war jeder für sich selbst und das eigene Glück verantwortlich – und ich konnte von mir behaupten, ein erfülltes Leben zu führen. Nichts war perfekt und nichts hielt für die Ewigkeit, doch just in diesem Moment, hier am Hamburger Hafen, mit meinem Skizzenblock in der Hand, war ich zufrieden.

Ein Blick auf die Cartier an meinem Handgelenk zeigte, dass es bereits kurz vor ein Uhr war. Zwar waren für den nächsten Morgen keine Meetings angesetzt, sodass ich theoretisch ausschlafen könnte, doch ich war noch nie ein Langschläfer gewesen. Selbst nach ausladenden Feiern trieb es mich meist noch vor acht Uhr aus dem Bett. Das monotone, unterschwellige Pochen in meinem Kopf erinnerte mich jedoch an den Flug und daran, dass es sicher ratsam war, ein wenig Schlaf zu tanken. Also schob ich die Skizzen zurück in ihre Mappe und fischte mein Smartphone hervor, um ein letztes Mal vor der Nachtruhe meine Mails zu checken. Tatsächlich blinkte eine von meiner Assistentin im Posteingang.

Tut mir leid, Ilian, ich glaube, diese Mail ist mir durchgerutscht. Ich hoffe, es war nichts Wichtiges?!

Ich scrollte weiter nach unten zu der ursprünglichen Nachricht, welche Elin vergessen hatte, an mich weiterzuleiten. Ich kam jedoch nicht dazu, den Text zu lesen, denn schon beim Absender stockte ich.

Jerik Nilsson – meine Lippen formten seinen Namen lautlos. Ich hatte nicht erwartet, dass er sich tatsächlich melden würde. Die Handynummer, die ich von ihm gespeichert hatte, war ganz offensichtlich nicht mehr aktuell und daher hatte ich nicht damit gerechnet, dass seine E-Mail-Adresse es noch sein würde. Überhaupt hatte ich lange gezögert, ihm zu schreiben. Das mit Jerik und mir war beinahe drei Jahre her. Es war nichts Festes gewesen. Wir hatten seit seinem Abschied aus Stockholm keinen Kontakt gehabt. Und so war es mir merkwürdig vorgekommen, ihn nach all der Zeit zu kontaktieren, nur weil ich Geschäftstermine in seiner Heimatstadt wahrnahm. Doch die Zeilen, die er mir geschrieben hatte, zeugten nicht von Unmut über meine Kontaktaufnahme, ganz im Gegenteil.

Lieber Ilian,

wow, ich hätte niemals damit gerechnet, dass du dich meldest! Wie lange ist es her, dass wir uns getrennt haben?

Seine Wortwahl ließ mich schmunzeln. Trennung schien mir nicht der richtige Begriff für das Ende unserer Affäre zu sein. Wir hatten uns im Guten verabschiedet. Hatten beide von Anfang an gewusst, dass das zwischen uns nichts auf Dauer sein würde. Ich hatte nie eine Beziehung zu ihm gewollt – aus den unterschiedlichsten Gründen – und er hatte noch viel zu sehr an seinem Alexej gehangen, als dass er sich auf einen anderen Mann hätte einlassen können. Wir hatten eine schöne Zeit miteinander verbracht. Tiefgründige Gespräche und guter Sex – mehr war es nicht gewesen. Aber eben auch nicht weniger.

Jetzt bist du also in Hamburg, ja? Wann genau und für wie lange? Ich bin an der Schule momentan ziemlich eingespannt, aber ich würde mich freuen, dich zu sehen. Vielleicht kannst du uns besuchen kommen?

Der letzte Satz erweckte meine Aufmerksamkeit. »Uns« hieß dann wohl, dass Jerik in einer Beziehung lebte. Ob er und Alexej es tatsächlich geschafft hatten? Oder gab es nach all den Jahren voller Schmerz nun doch einen neuen Mann in seinem Leben?

Hier meine Handynummer.

Ich kopierte sie direkt in mein Telefonbuch, schloss die Mail nach einem letzten Blick auf Jeriks »Melde dich einfach« und seine »lieben Grüße« und erhob mich von der Bank. Ich würde mich sicher bei ihm melden, aber nicht mehr heute.

Ich hatte bereits die ersten Schritte getan, als mir auffiel, dass etwas fehlte. Ich wandte mich um und tatsächlich ruhte dort auf der Bank dieses leicht zerknautschte Blatt Papier. In der Kopfzeile prangte neben Leonard Marquarts Name auch ein Datum: der 10. Februar. Ich hielt einen Moment inne, vergewisserte mich mit einem Blick auf die Cartier, dass dieses Datum wirklich morgen war – oder genauer genommen heute, denn Mitternacht war ja lange vorbei.

Noch einmal überflog ich all die Angaben im Header des Dokuments. In meiner Brust wummerte es merkwürdig. 10-12 c.t. stand unter dem Datum. Es gab keinen Raum für Zweifel – in knapp neun Stunden würde Leonard Marquart vor einer Horde Kunstgeschichtler stehen und einen Vortrag zum Besten geben müssen. Fragte sich nur, ob er dank seiner schusseligen Art rechtzeitig merken würde, dass in seinen Unterlagen ein Blatt fehlte. Wahrscheinlich nicht, schoss es mir durch den Kopf. Ich konnte bildlich vor mir sehen, wie der junge Mann in seiner Tasche wühlte, sich dabei in seinem Schal verhedderte und sich der Kaffee aus dem Starbucks-Becher über all seine Handouts ergoss.

Diese bevorstehenden Missgeschicke waren nicht mein Problem, fielen nicht im Ansatz in meinen Verantwortungsbereich und dennoch rechnete ich mir in Gedanken aus, ob die Zeit morgen Vormittag ausreichen würde, um vor dem am Mittag anstehenden Termin zur Hamburger Uni zu fahren.

 

~~~

 

Um 10:05 Uhr fehlte von Leonard Marquart noch immer jede Spur. Zwar begann die Veranstaltung erst um 10:15 Uhr und es war wohl normal, dass Studenten das akademische Viertel bis Ultimo ausreizten, um noch kurz einen Kaffee zu trinken, Kopien zu machen oder einfach mit Kommilitonen zu quatschen. Aber doch nicht, wenn man ein Referat halten musste! Sollte Leonard nicht seine Unterlagen bereitlegen, Handouts verteilen oder den Beamer in Betrieb nehmen? Wie auch immer, er sollte zehn Minuten vor Vortragsbeginn zumindest anwesend sein.

»Entschuldigen Sie«, sprach ich einen vorbeischlendernden, Kaffee schlürfenden Kerl an. »Findet hier gleich das Seminar … mmh …« Ich warf einen flüchtigen Blick auf das Blatt in meiner Hand. »Animalität in der Kunst der Frühen Neuzeit statt?«

Mein Gegenüber blinzelte, schien überlegen zu müssen, zu welcher Veranstaltung er selbst hatte gehen wollen. Dann jedoch nickte der junge Mann.

»Joa, glaub schon.«

Wie hilfreich, hätte ich am liebsten in sarkastischem Ton entgegnet, begnügte mich jedoch mit einem höflich gemurmelten: »Okay, danke.«

Der Typ schlenderte weiter und in den Seminarraum hinein. Ich verglich zur Sicherheit noch einmal den Namen des dozierenden Professors mit dem Belegungsplan neben der Tür.

Immer mehr Studenten strömten an mir vorbei in das Zimmer, die Plätze füllten sich, doch Leonard Marquart blieb verschwunden. Ich warf einen prüfenden Blick auf meine Cartier. 10:09 Uhr. Wo steckte der Kerl?

Genervt stieß ich die Luft aus, fragte mich, ob ich gerade ernsthaft vor einem Seminarraum der Hamburger Uni stand und auf einen Mann wartete, dessen universitäres Schicksal mir aufgrund unseres mangelnden Kennens peripher am Hintern vorbeigehen konnte.

»För sjutton, Ilian«, murmelte ich leise vor mich hin und wandte mich um. Ich war bereits einige Meter den Gang entlang, fast schon am Aufzug, als ich aus dem Augenwinkel jemanden um die Ecke hasten sah. Flatterte da ein dicker grüner Schal hinter dem Mann her? Ich öffnete den Mund, doch da rempelte mich der Kerl bereits an.

»Shit!«

Mein Kopf flog herum. Direkt vor mir sah ich einen Becher durch die Luft segeln. Starbucks natürlich. Daran klebte eine Hand, der es tatsächlich gelang, ein weiteres Unglück zu vermeiden.

»Sorry, spät dran!«

Leonard Marquart stolperte weiter.

»Warten Sie!«

»Sorry!« Sonst keine Reaktion. Er war schon fast an der Tür zum Seminarraum.

»Leonard, stopp!«

Abrupt hielt der Angesprochene inne. Ich unterdrückte ein Grinsen. Befehlston wie bei einem entlaufenen Hund funktionierte offenbar.

»Was denn?« Leonard wirbelte herum. »Ich hab echt keine Zeit.«

»Ich weiß.« Ich bemühte mich um eine ernste Miene. Wie herrlich verpeilt dieser Kerl aussah! Seine Haare standen in alle Richtungen ab, als sei er gerade erst aus dem Bett gefallen. Der Schal baumelte schon wieder im Nirgendwo.

»Sie haben etwas verloren.«

»Was? Nee, hab ich nicht, alles da.« Wie zum Beweis hielt er den Kaffeebecher und eine Mappe in die Höhe.

»Und was ist damit?« Ich streckte ihm das lose Blatt Papier entgegen, jedoch ohne einen Schritt auf ihn zuzugehen. Leonard musterte mich zunächst irritiert, ehe er seine Mappe herumdrehte und von allen Seiten begutachtete, als wolle er sichergehen, dass dort nichts herausfallen konnte.

»Werfen Sie wenigstens mal einen Blick drauf«, bat ich und kam nicht umhin festzustellen, dass Leonard hinreißend aussah, wenn er auch noch die Stirn krauszog. Trotzdem kam er näher und beäugte das Papier, welches ich ihm hinhielt.

»What the … Woher haben Sie das?« Ziemlich unwirsch riss er das Blatt an sich.

»Das haben Sie am Bahnhof verloren.«

»Hm? Wie … am Bahnhof?«

Der Drang, den Kerl an mich zu ziehen und einmal durch das zerwühlte Haar zu strubbeln, um ihm die Gedanken im Schädel wieder geradezurücken, wurde übermächtig.

»Vorgestern. An der Haltestelle Gänsemarkt«, erklärte ich und konnte mir nicht verkneifen hinzuzusetzen: »Sie hatten da einen Kampf mit Ihrem Schal.«

In dem attraktiven Köpfchen schien es gewaltig zu rattern, ehe mit einem Mal ein Lächeln auf die schmalen Lippen trat. Herrje, der Kerl hatte ja noch küssenswertere Grübchen als Jerik!

Dieser Gedanke ließ mein Grinsen noch breiter werden. Ich dachte nicht oft an meine Ex-Affären zurück, aber Jeriks Lächeln war mir im Gedächtnis geblieben.

»Oh, Sie waren das? Wow, ich … danke! Mensch, ohne das Ding hier …«, er wedelte mit dem Papier vor meiner Nase herum, »wäre ich total aufgeschmissen. Das sind meine Diskussionsfragen fürs Plenum.«

Mir lag die Frage auf der Zunge, ob Leonard sein Referat in den letzten beiden Tagen nicht noch einmal durchgegangen war. Ob ihm das Fehlen des Papiers nicht hätte auffallen müssen. Doch da plapperte der junge Mann schon weiter: »Sie retten mir gerade echt das Leben! Der Hitzecker ist total geil auf die Plenumsfragen und der hat mich eh schon auf dem Kieker, weil ich ein paar Mal zu spät gekommen bin. Kann ich Sie nachher auf einen Kaffee in die Mensa einladen? Wobei … Sie sehen nicht wie ein Student aus. Sie sind doch kein Prof oder? Ich hab Sie hier noch nie gesehen.«

Ich grinste breit aufgrund des Wortschwalls. Wenn Leonard beim Referat genauso beschwingt reden würde, konnte ja nichts mehr schiefgehen.

»Nein, ich lehre nicht. Und machen Sie sich keine Umstände. Viel Erfolg beim Referat.«

»Ich … danke, ehrlich! Und Sie wollen wirklich keinen Kaffee?«

Mit nachdrücklichem Kopfschütteln lehnte ich ab. Keine Frage, Leonard war ein ziemlich attraktiver Mann und in aller Regel hätte ich nicht gezögert, es zumindest auf einen Versuch ankommen zu lassen, ob sich hinter der hübschen Fassade auch Köpfchen versteckte. Aber mein Zeitplan für den Aufenthalt in Hamburg war ohnehin schon straff genug getaktet, da blieb keine Zeit für eine spontane Affäre. Wenn dann für einen One-Night-Stand, und mit dem würde ich mir nicht die Mühe machen, vorher Kaffee trinken zu gehen. Außerdem bevorzugte ich für einmalige Abenteuer doch eher Männer in meiner Altersklasse, da ich die Erfahrung gemacht hatte, dass junge Kerle wie Leonard sich oft zu schnell in etwas hineinsteigerten.

»Danke, aber nein. Machen Sie’s gut.«

Die Lachfältchen verschwanden und zurück blieb eine enttäuschte Schnute. Zum Anbeißen. Küssenswert. Ich konnte einfach nicht verhehlen, dass ich – ganz abgesehen von meinen Angewohnheiten bei One-Night-Stands – eigentlich doch eher auf deutlich jüngere Männer stand.

»Okay, ich dachte … Na, egal. Danke noch mal.«

»Gerne.« Ich wandte mich um. Vom Ende des Flures kam ein Mann meines Alters angerauscht.

»Herr Marquart, was stehen Sie hier herum? Ab in den Seminarraum! Haben Sie den Beamer schon aufgebaut?«

Ich seufzte innerlich, setzte meinen Weg aber stillschweigend fort. Wenn das mal gut ging und Leonard nicht noch irgendetwas vergessen hatte.

Leonard

 

Das Café Meridian lockte mit kuscheliger Wärme und einer außergewöhnlich vielfältigen Crêpes-Karte im Aushang, aber leider war ich nicht zum Essen hergekommen. Hätte ich mir bei den horrenden Preisen des Innenstadt-Cafés auch gar nicht leisten können. Ich war schon froh, wenn Luigi, der Chefkoch, mir nach der Schicht zuzwinkerte und mir einen halben Flammkuchen hinschob.

Fröstelnd vom regnerischen Hamburger Wetter schälte ich mich aus meinem abgetragenen Trenchcoat, der trotz einiger kleinerer Risse eines meiner Lieblingskleidungsstücke war. Das Olivgrün der Jacke war einfach voll mein Ding und auch wenn meine beste Freundin meinte, es würde absolut nicht zum Sommerwiesengrün meines Lieblingsschals passen, kombinierte ich die beiden Teile oft miteinander. Hallo, wer war hier der Kunststudent und hatte ein Gespür für Farben?

»Leo, endlich, ich dachte, du hast deine Schicht wieder verpennt!« Louisa sah mich mit in die Seiten gestemmten Armen tadelnd an.

»Nee.« Ich beeilte mich, meinen Schal loszuwerden und mir die Schürze umzubinden. »Bin gleich startklar, dann kannst du nach Hause gehen.«

»Gut, ich muss noch für eine Chemieklausur pauken. Hier.« Sie streckte mir den Geldbeutel entgegen. »Hab meine Abrechnung schon fertig. Soweit sind alle Gäste abkassiert und versorgt, aber die Küche sollte für den Typen an Tisch 13 gleich einen Crêpe fertig haben.«

Gemeinsam verließen wir den kleinen Umkleideraum und betraten den Gastraum. Louisa ließ den Blick noch einmal prüfend über die Gäste schweifen, während ich damit beschäftigt war, einen doppelten Knoten in meine Schürze zu machen. Ich hatte so ein Talent dafür, mit der Schlaufe irgendwo hängen zu bleiben und mir den ganzen Vorbinder vom Körper zu reißen. War nicht schlimm, ich hatte ja was drunter, aber es kam einfach blöd bei den Gästen des Meridian, die meistens eher zur Upper-Class Hamburgs gehörten.

»Also, mach’s gut, Leo!« Louisa winkte mir über die Schulter hinweg, doch ich kam nicht dazu, den Gruß zu erwidern, da bereits das Glöckchen der Küche bimmelte. Mit einem sehnsüchtigen Seufzen nahm ich den Crêpe entgegen. Sauerkirschen und Schokolade. Meine Lieblingssorte!

Ich musste mich echt beherrschen, nicht zu sabbern, während ich den Teller zu Tisch 13 trug. Ich hatte seit einem Joghurt am Morgen nichts mehr gegessen, da der Hitzecker mich nach dem Referat noch mit Fragen bombardiert hatte. Keine Chance, noch schnell in der Mensa vorbeizuschauen.

»So, bitte sehr, der Herr, Ihr Crêpe. Ich hoffe, er … oh!« Beim Anblick des Gastes vergaß ich doch glatt kurzzeitig, was ich ihm noch hatte sagen wollen. Auch er schaute recht überrascht von seinem Latte macchiato auf, sodass mich ein direkter Blick aus stechend grünen Augen traf.

»Leonard  … Sie arbeiten hier?«

Natürlich tat ich das, weshalb sollte ich sonst mit einem Crêpe-Teller in der Hand und einer Küchenschürze bekleidet vor ihm stehen? Dennoch nickte ich, denn mir fiel auf seine wenig originelle Frage auch keine originellere Antwort ein. Stattdessen musste ich feststellen, dass es wirklich Schlimmeres gab, als von einem solchen Prachtexemplar von Mann verfolgt zu werden.

»Ja«, setzte ich rasch zu einer wirklich wenig einfallsreichen Antwort an. »Neben der Uni, wenn ich nicht gerade meine Schicht verschussle und mein Chef mir hinterhertelefonieren muss.« Noch während ich die Worte aussprach, fragte ich mich, warum zur Hölle ich mich vor ihm schon wieder selbst als komplett verplanter Trottel outete. Mit einer unsicheren Handbewegung deutete ich auf den Crêpe. »Der war für Sie?«

»Ja, danke sehr.«

Ich stellte den Teller vor ihm ab – halleluja, ganz ohne zu kleckern – und musste mich schon wieder zusammenreißen, dass mir nicht die Spucke aus dem Mundwinkel lief. Auf dem hauchdünnen, goldbraunen Teig türmten sich Kirschen und Zartbitterschokoladensoße. Der Duft waberte um uns herum und ich fragte mich unweigerlich, wie sich die dunkle Soße wohl auf den Lippen meines Gegenübers machen würde.

»Entschuldigung, geht es Ihnen nicht gut?«

Ich riss die Augen auf. Hatte ich ihn wirklich angestarrt? Und – Oh nein! – wurde ich gerade ernsthaft rot? Ich wagte es kaum, seinem Blick zu begegnen, doch zu meiner Überraschung wirkte er vielmehr amüsiert denn angefressen. War er es etwa gewohnt, von Männern angegafft zu werden? Verwunderlich wäre es bei seinem Aussehen nicht, er passte mit seinem markanten Gesicht, den herb-männlichen Zügen und diesem selbstsicheren Lächeln sicher in das Beuteschema von 99% aller schwulen Männer – und Frauen. Und er sah nicht besonders … nun ja … schwul aus. Wobei ich – ganz zu meinem Leidwesen – auch wirklich einen ausgesprochen schlecht programmierten Gaydar besaß.

»Alles in Ordnung, danke.« Ich straffte die Schultern, deutete auf den Crêpe. »Gute Wahl übrigens, ist mein Lieblingscrêpe.«

Als ob ihn das interessieren würde, Leo, schimpfte ich mich innerlich. Ich wollte mich schon abwenden, doch dann hielt ich wie angewurzelt mitten in der Bewegung inne.

»Möchten Sie einen Bissen?«

Bitte, was? DAS hatte er doch wohl nicht gesagt!

Ich blinzelte mein Gegenüber verwirrt an, doch er saß einfach da, ganz entspannt und doch aufrecht, und musterte mich forschend aus seinen grünen Raubtier-Augen. Irgendwie hatte dieser Mann etwas Furchteinflößendes an sich. Etwas Dominantes? Ich schluckte trocken, kratzte mein letztes bisschen Schlagfertigkeit zusammen. Ich war schon so oft bei vermeintlich schwulen Männern ins Fettnäpfchen getappt, dass es auf dieses eine Mal auch nicht mehr ankam.

»Prinzipiell gerne, aber ich fürchte, dass mein Chef etwas dagegen hätte. Ich würde allerdings nach meiner Schicht mit Ihnen essen gehen.«

Eine Augenbraue meines Gegenübers zuckte nach oben. Ansonsten zeigte das strenge Gesicht keine Regung.

»Mit einem Kaffee zum Dank geben Sie sich wohl nicht mehr zufrieden?«

»Sieht nicht so aus. Also?«

»Gerne, Leonard. Wann darf ich Sie abholen?«

Oh, wirklich jetzt? Nur nicht stammeln!

»Ich hab um 19 Uhr Feierabend. Geben Sie mir dann noch zehn Minuten zum Umziehen.« Ich wollte mich schon ganz kokett umdrehen, als mir noch etwas einfiel: »Mit wem bin ich überhaupt verabredet?«

Ein kaum merkliches Lächeln erhellte seine Züge. Die Geste ließ ihn gleich ein paar Jahre jünger erscheinen. Wie alt er wohl war? 40? 45? Gott, warum sprang ich auch ständig auf ältere Männer an?

»Ilian Nyström. Ihren Namen kenne ich ja bereits.«

Ilian – der Name klang aus seinem Mund weich wie ein Samtteppich.

»Freut mich. Dann bis später und guten Appetit.« Ich zwinkerte ihm zu, wandte mich ab und verschwand leichten Schrittes in Richtung der Schwingtür zur Küche. Nicht, dass ich dort etwas hätte holen müssen, aber ich brauchte mal ganz kurz ein paar Sekunden außer Sichtweite, um meinen Puls runterzufahren.

Ilian – das klang fast so lecker wie Schokosoße auf Sauerkirschen.

Ilian

 

Schmunzelnd beobachtete ich, wie Leonard das Weinglas zwischen den Fingern drehte und zum wiederholten Mal einen ehrfürchtigen Blick durch den Raum warf. Wahrscheinlich fragte er sich gerade, wie viel von seinem studentischen Monatsbudget nach diesem Abend noch übrig bleiben würde. Natürlich würde ich ihn einladen, sonst hätte ich ihn nicht in dieses noble, französische Restaurant geschleppt. Aber das musste ich ihm ja nicht direkt auf die Nase binden – immerhin war diese Verabredung auf Leonards Mist gewachsen.

»Wünschen die Herren das Lammpasteten-Trio zum Horsd’oeuvre oder den gebeizten Lachs an Champagnerschaum?« Erwartungsvoll sah der Kellner Leonard an, der erst mal verwirrt blinzelte.

»Ähm … für mich nichts, danke.«

Nun war es am Ober, pikiert zu blinzeln. »Wie meinen?«

»Wir nehmen die Lammpastete«, entschied ich und schenkte dem Kellner ein charmantes Lächeln. »Zwei Mal bitte.«

Von der anderen Seite des Tisches kam ein protestierender Laut.

»Sehr gerne. Darf ich Ihnen außerdem einen Aperitifwein empfehlen?«

»Danke, nein, wir bleiben bei Chardonnay.«

Der Kellner entfernte sich mit einem Nicken und ich wandte mich Leonard zu. Dieser saß mir mit verkniffener Miene gegenüber, was seinem entzückenden Äußeren keinen Abbruch tat. Nach wie vor erweckten seine leicht verstrubbelten dunkelblonden Haare in mir den Wunsch, hindurchzustreichen. Davon abgesehen hatte sich vor wenigen Sekunden die fragwürdige Idee in mir manifestiert, über den Tisch zu klettern, um wenigstens einmal ganz kurz zu versuchen, wie Chardonnay von seinen Lippen schmeckte.

»Mir würde ein Hauptgang wirklich reichen«, erklärte er und klang keineswegs amüsiert dabei. Vielleicht sollte ich ihn doch über die Finanzierung des Abends aufklären.

»Das Horsd’oeuvre geht auf’s Haus«, entgegnete ich also. »Ich hoffe, Lamm ist in Ordnung?«

Leonard zögerte einen Moment, schien noch zu überlegen, was er von der dezenten Bevormundung hielt, nickte dann aber mit einem leichten Lächeln. »Ja, passt schon, ich mag Fisch nicht so gerne.«

Ich grinste innerlich, verkniff mir den Kommentar, dass Fisch nun wirklich nicht gleich Fisch war. Mit Anfang zwanzig hatte ich mir darüber auch keine Gedanken gemacht. Wie alt Leonard wohl sein mochte?

»Wie lief Ihr Referat?«, fragte ich stattdessen und ergriff mein Weinglas.

»Können wir nicht mal zum Du übergehen?«

Ich stockte angesichts der Gegenfrage kurz, lächelte dann. »Natürlich. Ist mir ein Vergnügen, Leonard.« Ich hob das Glas und mein Gegenüber stieg grinsend darauf ein. Wein schien Leonard besser zu liegen als Lammpasteten.

»Mir auch, Ilian.« Er nahm einen Schluck Wein, ehe er antwortete: »Das Referat war ganz gut, der Hitzecker war zufrieden, auch wenn ich ein bisschen spät dran war.« Er zeigte schon wieder seine Grübchen und ich musste mich wirklich beherrschen, nicht die Hand auszustrecken, um einmal kurz über seinen Mundwinkel zu streicheln.

»Die Plenumsfragen fand er sogar richtig gut. Danke noch mal, ich wäre ohne den Zettel echt aufgeschmissen gewesen.«

»Gern geschehen. Wie war noch gleich das Thema?«

»Natura naturans und natura naturata bei Spinoza. Aber interessiert dich das wirklich? Hast du was mit Kunstgeschichte und Philosophie am Hut?«

»Nicht direkt, aber ja, es interessiert mich, sonst würde ich nicht fragen.«

»Okay, schön.«

»Also?«

»Hm? Was also?«

»Erzählst du mir, worum genau es in deinem Referat ging?«

»Oh … ja, klar.« Leonard zögerte kurz, schien zu überlegen, wie er einem Nicht-Kunstgeschichtler und Nicht-Philosophen das Thema begreiflich machen konnte. »Also, Spinoza unterscheidet zwischen Substanzen, die göttlicher Natur sind und damit durch sich selbst bestehen können. Diese nennt er natura naturans. Die natura naturata hingegen sind gewissermaßen die Modi des Denkens und der Ausdehnung. Diese sind hervorgebrachte Natur und können nicht ohne die hervorbringende Natur bestehen.« Er grinste schief. »Klingt abgehoben oder?«

»Tun das nicht die meisten geisteswissenschaftlichen Thesen? Aber nein, ich finde, es klingt einleuchtend und nach einem ergiebigen Thema.«

In Leonards Augen trat ein Funkeln.

»Ist es auch. Ich überlege sogar, meine Bachelorarbeit über Spinoza zu schreiben.«

Beim Wort »Bachelorarbeit« musste ich schlucken. Wenn Leonard nicht gerade beim Bund gewesen oder fünf freiwillige soziale Jahre absolviert hatte, war er allerhöchstens 23 oder 24 Jahre alt.

»Hast du noch ein zusätzliches Fach zu Kunstgeschichte?«

»Ja, Politikwissenschaften.«

Das überraschte mich nun wirklich und offenbar war es mir anzusehen, denn Leonard setzte hinzu: »Das glauben mir die Wenigsten. Aber ich finde Politik echt spannend. Und mal ehrlich: 99% der Kunstgeschichtestudenten enden entweder als Taxifahrer oder als Hilfsarbeiter irgendeines abgehobenen Profs. Ich hab weder auf das eine noch auf das andere Lust, aber ich finde Kunst faszinierend, also hab ich mir gesagt: Leo, du darfst das studieren, wenn du noch ein sinnvolles Fach dazunimmst.«

Diese Einstellung entlockte mir dann doch ein anerkennendes Lächeln. So viel Weitsicht hätte ich dem kleinen Chaoten gar nicht zugetraut.

»Möchtest du denn nach dem Studium etwas mit Politik machen?«

»Hm, mal sehen. Mein Traum wäre es, vom Zeichnen leben zu können, und ja, ich weiß, keine Chance. Eigentlich würde ich gerne als Journalist arbeiten. Schon klar, auch nicht der sicherste Job, aber ich schreibe seit ein paar Monaten für das Uni-Magazin und für ein kleineres Lokalblatt und es macht echt Spaß.«

Der Kellner und sein Lammpasteten-Trio unterbrachen das Gespräch für einen kurzen Moment. Leonard versenkte mit äußerst misstrauischem Blick seine Gabel in der ersten Pastete. Die Gabel für den Hauptgang im Übrigen, doch ich grinste nur und sah zu, wie Leonard sich den Bissen in den Mund schob. Er kaute vorsichtig, schluckte – und erklärte dann mit freudiger Miene: »Wow, das ist echt gut. Was ist das noch mal?«

»Lammpastete.«

»Cool«, meinte er und mein Herz wummerte blöde, weil in meiner Gegenwart noch nie jemand ein teures Horsd’oeuvre als »cool« bezeichnet hatte und weil Leonards Wort mir ein merkwürdig warmes Kribbeln im Nacken bescherte. Ich gönnte mir selbst einen Bissen von der Pastete und stellte fest, dass sie wirklich … cool schmeckte.

»Und du?«, nahm Leonard den Faden wieder auf. »Ich meine, was machst du beruflich?«

Die Pastete verklumpte in meinem Hals, sodass ich mich räuspern musste, ehe ich antworten konnte: »Architekt.«

»Echt? Das ist ja spannend. Mehr so normale Wohnhäuser oder Bürogebäude?«

Wieder musste ich dank Leonards unbefangener Art grinsen.

»Wohnhäuser, allerdings im hochpreisigen Segment.«

»Okay«, gab Leonard gedehnt zurück und verputzte den letzten Happen Pastete. »Hochpreisig heißt?«

»So ab einer halben Million aufwärts. Eher mehr.«

Meinem Gegenüber fiel fast die Gabel aus der Hand.

»Oh, wow! Dann … ähm … gehst du wohl öfter in solchen Läden hier essen?«

»Nicht in diesem Laden«, griff ich seine Wortwahl auf, »und nicht jede Woche, aber hin und wieder ganz gerne, ja.« Ich zögerte kurz, setzte dann etwas leiser hinzu: »Zu besonderen Anlässen.«

Leonards Brauen zuckten in die Höhe.

»Bin ich etwa ein besonderer Anlass?« Er fragte das mit einer solch naiven Unschuld in der Miene, dass ich ihm am liebsten einmal zärtlich über die Wange gestreichelt hätte.

»Ja.«

»Oh.« Ein Hauch Röte stieg in seine Wangen und wieder wollte ich am liebsten um den Tisch herumrennen und diesen Kerl an mich ziehen. So langsam begann ich, mir wirklich Sorgen um meinen Gemütszustand zu machen.

»Danke«, murmelte Leonard und fügte dann mit einigem Gestammel hinzu: »Ich muss das jetzt echt fragen: Stehst du auf mich? Ich meine … ähm … bist du überhaupt schwul? Oder wenigstens bi? Sorry, echt, es ist nur ’