Die Neue Rechte in Deutschland will unsere Kultur erobern und der Demokratie den Kampf ansagen – online wie offline. Dafür führt sie einen Krieg mit alten Theorien und modernen Waffen: mit Carl Schmitt und Influencer-Marketing sowie Troll-Armeen.
Patrick Stegemann und Sören Musyal erklären die Ursprünge in der Gamer-Szene und die Strategien der Radikalisierung im Netz. Sie stellen die wichtigsten Protagonist*innen der digitalen rechten Szene vor und erklären, wie Fake News, Hass und rechtsextreme Inhalte in den Timelines normaler Nutzer*innen landen. Ein ganzes Netzwerk aus rechten Vereinen, Zeitschriften und Influencer*innen arbeitet daran, die gesellschaftliche Debatte zu kapern und seine gefährliche Ideologie zu verbreiten. Die sozialen Medien helfen ihnen dabei, solange Viralität ihre Währung ist und nicht Wahrheit. Es ist höchste Zeit, die Social-Media-Giganten zu regulieren und die digitale Zivilgesellschaft zu stärken.
Wie radikale Netzaktivisten die Demokratie angreifen
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-2264-3
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Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
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Für Gerd.
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Freundschaft!
Das Netz bleibt nicht im Netz – diese Lektion mussten viele schmerzhaft lernen. Es ist an der Zeit, genauer hinzusehen, wie digitale Kulturen längst Politik machen.
Es ist ein heißer Sommernachmittag im Jahr 2019. In der Leipziger Innenstadt fährt eine Gruppe Tourist*innen mit Segways über den Markt, ein paar Jugendliche hängen lustlos herum. Er ist vor uns da, wartet wie verabredet vor dem Burger King. »Gut zu erreichen, auch mit der S-Bahn (wegen Klima)«, hatte er in seiner Mail gescherzt. Wir treffen jedoch keinen Klimaaktivisten, sondern einen der führenden Köpfe der rechtsextremen Jugendorganisation der Identitären Bewegung in Deutschland. Die IB ist eine Gruppe völkisch-rassistischer Politaktivist*innen, die vor allem durch öffentlichkeitswirksame Aktionen und gekonnte Medienauftritte ihre Ideen von einer homogenen europäischen Kultur zu verbreiten versuchen.
Alexander Kleine nennt sich selbst Alex Malenki. Er läuft barfuß, wie fast immer (»ist gut für’n Rücken«), hat einen Jutebeutel von der rechten Theoriezeitschrift Sezession dabei und trägt trotz fast 30 Grad einen blassgrünen Parka. Er begrüßt uns freundlich: »Schön, euch mal persönlich kennenzulernen.« In den nächsten zwei Stunden wollen wir über Demokratie sprechen, über den Nationalstaat, über Instagram und YouTube. Er sagt: »Digga, ich werde hier auf der Straße angehalten: Mach weiter, das letzte Video war geil.« 50.000 Follower seien sein Antrieb – auch, wenn es manchmal schwer sei, Aktivismus, Privatleben und das YouTuber-Dasein unter einen Hut zu bringen. Überhaupt sind für ihn und die Identitäre Bewegung schwere Zeiten angebrochen. Seit dem Sommer 2019 überwacht der Verfassungsschutz ganz offiziell die Gruppe, mehrere Instagram- und YouTube-Accounts einflussreicher Aktivist*innen wurden in den vergangenen Wochen gelöscht, und der österreichische Ableger steht unter Druck, weil er Verbindungen zum späteren Christchurch-Attentäter hatte. Dass einige ihrer Funktionär*innen von den sozialen Netzwerken ausgeschlossen wurden, schmerzt die Identitären, die sich so sehr auf die Radikalisierung im Netz spezialisiert haben, besonders.
Irgendwo im sächsischen Amt für Verfassungsschutz gibt es eine Akte, auf der auch Malenkis Name steht. Wenn die Verfassungsschützer*innen gut informiert sind, werden sie wissen, dass Malenki zwar häufig von Gewaltfreiheit und demokratischer Beteiligung redet, dass er aber ein völkisches, autoritäres Weltbild vertritt und zumindest früher enge Kontakte in die Hooligan- und gewaltbereite Naziszene der Stadt pflegte.
Doch davon ist bei unserem Treffen nichts zu spüren. Malenki scherzt, spricht mit feinem sächsischen Akzent und wirkt wie ein Berufsjugendlicher. Für unser Gespräch haben wir uns in ein Café gesetzt. Nach ein paar Minuten blickt Malenki auf, schaut zum Nachbartisch und lädt zwei Teenager ein, die interessiert herüberschauen: »Ihr könnt euch gerne dazusetzen!« Die beiden zögern, schütteln schüchtern den Kopf. Sie werden das Gespräch aufmerksam vom Nebentisch verfolgen. Malenki hat es zu einiger Bekanntheit gebracht, die beiden Jugendlichen sind etwa 15 Jahre alt und kennen ihn vermutlich »aus dem Internet«, als den lustigen, etwas dicklichen Jungen mit Bart aus den Insta-Stories. Für sie ist Malenki einer von vielen freundlichen Typen, die ihnen auf Instagram täglich aus ihrem Leben erzählen.
Der 27-jährige Malenki ist ein rechter Influencer, gemeinsam mit einem Gesinnungskameraden betreibt er die YouTube-Show Laut Gedacht, die über 50.000 Abonnent*innen hat. Außerdem hat er einen kleineren, privaten YouTube-Kanal, auf dem er Messer und Äxte testet oder übers Imkern redet, und er hielt 8.000 Follower*innen über einen ziemlich erfolgreichen Instagram-Kanal auf dem Laufenden – bis die Plattform ihn im Sommer 2019 verbannte. Vor allem aber ist Malenki ein politischer Aktivist der extremen Rechten, genauer: Regionalleiter der IB in Sachsen. Anders als die verhuschten Neonazi-Aktivist*innen noch bis zum Anfang des Jahrzehnts versteckt Alexander »Malenki« Kleine sich nicht. Sein Auftreten ist strategisch geplant und professionell getimt. Er zeigt sich gern und lächelt in die Kamera. Und das ist das wirklich Gefährliche an ihm.
Nicht im hellen Lichte eines Sommertages, sondern im sprichwörtlichen Dunkel eines geschlossenen rechtsextremen Trollservers begegnen wir Nikolai Alexander. Er ist der »Oberbefehlshaber« von Reconquista Germanica – was so viel bedeutet wie die »Rückeroberung Deutschlands«. Und genau darum geht es ihm. »Unser Anteil am AfD-Wahlerfolg, der ist ganz beachtlich«, sagt er uns im Herbst 2017. Im zurückliegenden Bundestagswahlkampf hat Alexander zum »Meme-Krieg gegen die Köterrasse im Bundestag« aufgerufen. Mit Memes (also im Netz geteilten Bildcollagen), Hassattacken und Trolling wollte er die AfD so stark wie möglich ins Parlament bringen.
Bis dahin war er ein rechter YouTuber, der mit pathetisch-nationalen Videos samt Streichmusik und wehenden Fahnen 30.000 Abonnent*innen erreichen konnte. Jetzt also »Oberbefehlshaber«. Bis zu 10.000 Menschen sind seinem Kriegsaufruf gefolgt, haben Fake-Accounts auf YouTube & Co. angelegt, haben Hassbotschaften unter Wahlvideos anderer Parteien geschrieben, Hashtags auf Twitter gekapert oder rassistische Bilder auf Facebook geteilt. Auf dem Trollserver herrscht eine strenge Hierarchie, es gibt »Sturmtrupps«, »Verteidigungslinien« und Tagesbefehle, und wer »Gefreiter« oder »Medienoffizier« werden will, muss vorher zum Bewerbungsgespräch.
All das erzählt uns Nikolai Alexander kurz nach den Bundestagswahlen 2017. Dabei wissen wir das und noch viel mehr zu diesem Zeitpunkt längst, denn als er seine Trollarmee aufbaute, waren wir von Beginn an dabei – verdeckt. Monatelang bewegten wir uns, als rechte Aktivisten getarnt, im Netz, verbreiteten Hassbotschaften, um Vertrauen aufzubauen und in rechte Gruppen zu gelangen. Ein »Unteroffizier« hatte uns vor Monaten über eine Stunde mit Fragen malträtiert (»Was ist der große Austausch?«, »Was ist für dich Patriotismus?«), hatte unsere Social-Media-Accounts kontrolliert. Und uns dann endlich befördert. Seither waren wir dabei im rechten Trollkrieg – zur vermeintlichen Rettung des Vaterlandes. Denn darum geht es Nikolai Alexander und einem Großteil der Trolle auf dem Server: »Wir haben den Anspruch, dem Kontrollverlust des deutschen Volkes über sein eigenes Land entgegenzuwirken und die nationale Souveränität wiederherzustellen«, sagt Alexander. Ganz ähnlich formuliert es auch der rechte Influencer Malenki.
Verborgene Trolle und die Öffentlichkeit suchende rechtsextreme Influencer*innen verbindet eine gemeinsame Weltsicht: Sie glauben, dass wir kurz vor der Katastrophe stehen. Unsere Gemeinschaft, wahlweise Deutschland, Europa oder die »weiße Rasse«, sei bedroht, und nur sie könnten sie retten. Es ist die alte Geschichte vom Untergang des Abendlandes, die rechte Bewegungen seit Jahrzehnten erzählen. Es ist der Urmythos des Faschismus, der schon in den 1920er-Jahren kultiviert wurde, der faschistische Minimalkonsens. Weltweit verbindet er Rechte sehr unterschiedlicher Ausrichtung. Sie gruppieren sich um ein zentrales Gefühl: Angst. Kein Zufall, dass der deutsche Kultursoziologe Thomas Wagner sein Buch über die Protagonist*innen der Neuen Rechten Die Angstmacher genannt hat. Angst ist eine besonders starke Emotion – und Emotionen sind der Treibstoff sozialer Medien. In den vergangenen Jahren ist die Rechte ziemlich erfolgreich damit geworden, Angst auf neue Arten zu inszenieren. Die sozialen Medien haben ihr Mittel in die Hand gegeben, von denen sie zuvor nur träumen konnte und die ihr große Erfolge bescheren, nicht nur im Netz.
Uns begleitet das Thema rechter Mobilmachung schon länger: Wir sind beide in Ostdeutschland geboren und dort in den Neunziger- und Nullerjahren aufgewachsen. In unseren Parallelklassen gab es Nazis, am Bahnhof und auf dem Marktplatz. Mindestens einmal im Jahr marschierten Rechte aus der ganzen Region durch unsere Stadt, es waren freie Kameradschaften, anfangs viele Glatzen, später autonome Nationalisten, die ein bisschen so aussahen wie die lokale Antifa. Die Springerstiefel-Glatzen wurden mit den Jahren weniger, die schwarz gekleideten autonomen Nationalisten mehr. Nazis waren nicht mehr (nur) die krassen Schlägertypen. Es war eine erste Metamorphose der Rechten, die sich vor unseren Augen abspielte. Bald schon zog die NPD in die Landtage von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern ein, die Nazis auf dem Bahnhof fanden das irgendwie gut, die Rechten in der Parallelklasse auch, aber das hätten sie öffentlich nie gesagt.
Die NPD war uncool, altbacken, dümmlich und brutal. Nichts, womit man sich an einem Gymnasium brüstet, selbst dann nicht, wenn man offensiv rechts auftritt. Freie Kameradschaften und NPD versuchten dennoch ab Mitte der Nullerjahre, Anschluss an Jugendkulturen zu finden: Zunächst war es die Kameradschaftsszene, die 2004 ihre CD Anpassung ist Feigheit. Lieder aus dem Untergrund presste und auf Schulhöfen verteilte. In 20 Liedern besangen bekannte rechte Musiker aus Rock bis Neofolk Heimat und Männlichkeit. Im Begleitmaterial fanden sich Kontaktdaten sowie Weblinks zu Organisationen der Neonazi-Szene. Schon damals vernetzten sich Neonazis im Internet – die Freiheit des Internets hat immer auch jene angezogen, die die Freiheit bekämpfen. Für die breitenwirksame Propaganda aber suchten sich die Strategen jener Zeit eine CD aus.
Die Inhalte der Kameradschafts-CD wurden bundesweit von einzelnen Staatsanwaltschaften als strafrechtlich relevant eingestuft. Das hielt die NPD jedoch nicht davon ab, 2005 in einer Jungwähleroffensive eine eigene Schulhof-CD in Umlauf zu bringen: Mit einer Auflage von 200.000 Stück und vorbestraften Liedermachern wie Frank Rennicke warb sie um junge Wähler*innen. Damals war der Aufschrei groß: Staatsanwält*innen ermittelten, und die Bundesprüfstelle ging der Frage nach, ob die Inhalte jugendgefährdend seien. Aus heutiger Sicht wirken die Versuche der damaligen Rechtsextremen geradezu amüsant. Welch ein Unterschied: Von der Idee, eine Schulhof-CD zu machen, bis zu dem Moment, in dem sich ein*e Schüler*in, in deren Hände ein solches Exemplar fällt, tatsächlich in eine rechtsextreme Gedankenwelt hineinbegibt, muss eine Menge passieren: Musiker*innen müssen angefragt und CDs gepresst werden, die CD muss tatsächlich physisch in die Hände dieser Schüler*innen geraten, sie müssen sich von den schrammeligen Gitarren und dem schiefen Gesang angesprochen fühlen, sich online informieren, ein Gruppentreffen aufsuchen. Die Neue Rechte hat es heute dank Social Media wesentlich einfacher. Sie hat Influencer*innen, Musik für alle erdenklichen Nischen, sie hat Gesichter und Geschichten zu erzählen. Sie versteckt sich nicht – im Gegenteil. Schulhof-Aktionen, deren Erfolg höchst unsicher ist, braucht sie nicht mehr.
Für unsere Recherchen haben wir Hunderte Videos geschaut, folgen rechten Instagrammer*innen, sind in geschlossenen Servern und internen Chatgruppen der Neuen Rechten aktiv. Wir waren dabei, als aufgerüstet wurde: Wir haben einen rechten Cybermob auf Angela Merkel gehetzt, um das Vertrauen der Rechtsextremen zu gewinnen. Wir haben mit den Vorkämpfern des rechten Infokrieges und mit politischen Funktionären gesprochen. Wir sind durch das Internet und durch Deutschland gereist, sind in den USA Expert*innen begegnet, die glauben, dass liberale Demokratien das Rennen im Netz längst verloren haben. Wir haben Menschen getroffen, die von Hasskommentaren, Terror und Mord nichts wissen wollen und doch jeden Tag aufs Neue jene Ideologie und jene Ressentiments ins Netz blasen, die all das begünstigen.
Nicht selten gab es in den zurückliegenden Jahren Momente, in denen wir genug hatten vom Hass, von der Verachtung, der dunklen, überall Verschwörungen witternden Weltsicht. Doch wir haben weitergemacht, haben unzählige Posts gelesen und YouTube-Videos gebinge-watcht, weil sie uns tiefe Einblicke in das neurechte Denken erlauben. Sie helfen uns, die Angriffe zu verstehen, denen die liberale Gesellschaft ausgesetzt ist.
Der Philosoph Theodor W. Adorno hat 1967 in Wien einen Vortrag über den damals wieder aufkommenden Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik gehalten; die NPD war in einige Landesparlamente eingezogen. Der Text, erst 2019 publiziert, ist eine kluge Analyse rechter Politik und trifft in vielen Punkten auch heute noch zu. Adorno sieht die damalige NPD vor allem ihrer propagandistischen Finesse wegen in der Kontinuität der Nationalsozialisten. Das wirklich Perfide, das Erfolgversprechende sei ebendiese Propaganda: was die Rechten erzählen, an wen sie sich richten, wie sie ihre Erzählung der Angst immer wieder neu inszenieren. Die Propaganda mache die »Substanz ihrer Politik« aus, und so solle man sie trotz ihres »niedrigen geistigen Niveaus und (…) ihrer Theorielosigkeit« nicht unterschätzen.1
Gut 50 Jahre nach Adorno hat sich lediglich die Bühne geändert. Ein überwältigender Teil der rechten Propaganda passiert heute in den sozialen Medien. Vorreiter dieser Öffentlichkeitsarbeit sprechen freimütig von der »Einheit von politischer Theorie und Propaganda«. Jedes Video, jeder Instagram-Post folgt einer Strategie, hat ein politisches Ziel. Der Erfolg rechter Bewegungen im Netz ist geplant. Er hat eine Theorie, eine Geschichte, ein Ziel – und um all das soll es in den folgenden Kapiteln gehen.
Den YouTube-Kanal des wohl einflussreichsten jungen Rechtsextremen im deutschsprachigen Raum, des Österreichers Martin Sellner, zierte lange ein Bild mit der Aufschrift »Willkommen im Infokrieg«. Diese Worte richten sich als Motivation an seine Anhängerschaft – und als Warnung an die liberale Gesellschaft: »Passt bloß auf, wir erklären euch den Krieg, und unsere Waffen liegen im Internet einfach so rum. Wir haben das besser verstanden als ihr!«
Die extreme Rechte ist heute weltweit in der Lage, über ihre Kernzielgruppen hinaus ihre Botschaften zu platzieren. Sie kann damit Wahlen beeinflussen, und sie kann mitbestimmen, worüber ganze Gesellschaften sprechen. Die Rechte hat die sozialen Netzwerke entdeckt und auf diese Weise etwas erreicht, was ihr über Jahrzehnte nicht gelungen war: Sie hat Kontakt gefunden zu sehr unterschiedlichen Milieus, zu jungen Gymnasiasten, Studierenden, begrenzt auch zu jungen Frauen. Treibende Kräfte sind dabei selten Parteien – häufig sind sie mehr oder minder stille Profiteure. Parteien wie die AfD müssen nur klug genug sein, die Radikalisierung des Netzes wohlgesinnt zu begleiten und in ihre Kommunikation einzubinden. Bislang gelingt ihr das gut.
Im Pop der Gegenwart herrsche eine »rechte Hegemonie«, schreibt der deutsche Kulturkritiker Georg Seeßlen. In »beinahe jedem musikalischen Genre, jeder Mode, jedem Medium« hat sich ein »dezidiert rechtes bis faschistoides Segment« gebildet:2 in der Volksmusik wie im Rap, im Film, im Buchmarkt. Für die Welt, in die wir uns hineinbegeben werden, das Netz, stimmt das ganz sicher. Mit den unterschiedlichsten Kulturprodukten wirbt die Rechte um die Gunst des Publikums, für das das Internet eine immer zentralere Rolle einnimmt. Laut Reuter Digital News Report ist Instagram die wichtigste Informationsplattform der 18- bis 24-jährigen Deutschen. 23 Prozent konsumieren dort auch Nachrichten. Das beliebteste soziale Medium ist insgesamt in Deutschland YouTube, 74 Prozent aller Bürger*innen nutzen die Plattform. Diese schrittweise Verlagerung politischer Diskurse in soziale Netzwerke scheint insbesondere der extremen Rechten genutzt zu haben.
Wenn man im Jahr 2016, nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und nach dem Brexit-Volksentscheid, bereits ahnen konnte, dass Meinungen künftig verstärkt im Netz gemacht werden, so herrscht spätestens seit 2019 Gewissheit: Das Internet ist eines der mächtigsten Radikalisierungsinstrumente. Anfang des Jahres wird die Bundesrepublik vom »größten Hackerangriff ihrer Geschichte« erschüttert und muss in der Folge lernen, dass es keiner fremden Macht wie Russlands bedarf, um eine ganze Gesellschaft in Aufruhr zu versetzen. Es reicht ein 20-Jähriger mit mäßigen technischen Kenntnissen und viel Zeit. Johannes S., Nickname Orbit, veröffentlicht private Daten Hunderter Politiker*innen und Prominenter. Personalausweise, Lebensversicherungen, Kontodaten stehen fortan im Netz und werden dort so schnell nicht verschwinden. Auch Spitzenpolitiker*innen sind unter den Betroffenen.
Und so zeigt Anfang 2019 ein einzelner Hacker aus seinem Kinderzimmer heraus, wie verwundbar die Demokratie ist. Johannes S. ist behütet aufgewachsen, radikalisiert hat er sich im Netz. Er bewegte sich in Zirkeln, die angetrieben werden vom Hass auf den Islam, auf den Feminismus, auf die sogenannte Political Correctness. Geleakt hat er folglich Daten von liberalen Prominenten und Politiker*innen aller Parteien – mit Ausnahme der AfD. Trotzdem möchten die Ermittler*innen die Verbindungen ins rechtsextreme Netzmilieu lange nicht sehen. Erst Wochen später gibt BKA-Präsident Holger Münch in einer vertraulichen Sitzung des Digitalausschusses des Bundestages zu Protokoll, man untersuche nun auch Verbindungen des Täters ins rechte Spektrum.
Der Fall Orbit brachte der Öffentlichkeit ein neues Wort bei: Doxing, das gezielte Ergaunern und Veröffentlichen privater Daten. Es ist eine wichtige Taktik rechter Netzkrieger*innen – bislang vor allem in den USA. Jetzt also lernen wir, dass es auch in Deutschland ganze Communities gibt, die politischen Gegner*innen im Internet nachstellen, ihre Accounts hacken, privateste Daten veröffentlichen. Es entsteht ein Verständnis dafür, wie im Internet entstandene Praktiken die Lebenswelt aller prägen können, dass das, was im Internet passiert, nicht zwangsläufig dort bleibt. Journalist*innen berichten über YouTube-Videos, die gegen den Islam hetzen, gegen Parteien, die nicht Alternative für Deutschland heißen und die den Hass gegen die offene Gesellschaft anstacheln. Gemacht werden sie von anonym auftretenden YouTubern mit Namen wie Die Vulgäre Analyse. Johannes S., also Orbit, schaut diese Videos gerne, lässt sich von ihnen beeinflussen. Und für einen kurzen Moment beschäftigt sich Deutschland mit all dem. Aber Deutschland ist nicht das Internet – es vergisst.
Bis der Terror zu uns kommt. Am 9. Oktober 2019 versucht ein bewaffneter 27-Jähriger, in die Synagoge von Halle einzudringen, um dort einen Massenmord zu verüben. Zu Beginn des Videos, das er während seines Anschlagversuchs live ins Internet streamt, bezeichnet er Juden als die Wurzel allen Übels. Dann setzt er sich seinen Helm auf, an dem die Kamera befestigt ist, und fährt zur Synagoge. Wie in einem Computerspiel begleitet das Publikum den Täter dabei, wie er an der Tür der Synagoge scheitert und wie er zwei Menschen erschießt. Die deutsche Öffentlichkeit hört an den folgenden Tagen von rechtsradikalen Onlineforen, in denen sich vor allem junge Männer radikalisieren, und von einer neuen Form des Rechtsterrorismus. Terror zielt immer auf ein Publikum, doch mehr denn je sitzt dieses nun zu Hause vorm Computer und surft im Internet. Wie sein Vorbild will der Angreifer von Halle eine ganz bestimmte Community im Netz erreichen, um dort gefeiert zu werden – und Nachahmer zu motivieren.
Denn der Täter aus Halle ist selbst ein Nachahmer. Die Vorbereitungen für seinen Anschlag beginnt er, so erzählt er es dem Haftrichter, am 15. März 2019, als ein Rechtsterrorist im neuseeländischen Christchurch 51 Menschen tötet. Die Fahrt zu den Tatorten, zwei Moscheen, und das Morden selbst werden live auf Facebook übertragen. Die Links zum Video und zu seinem »Manifest« postet dieser Täter in einem in Deutschland weitgehend unbekannten Internetforum namens 8chan. Die Welt ist geschockt – zunächst von der Kaltblütigkeit und vom Ausmaß der Tat, dann auch von den Reaktionen im Netz. Nicht nur, dass die Blutlust des Publikums so groß ist, dass allein Facebook innerhalb von 24 Stunden 1,2 Millionen Kopien des Videos direkt beim Hochladen blockieren und 300.000 Kopien entfernen muss, darüber hinaus gibt es Orte im Internet, an denen der Täter als Held verehrt wird. Noch heute, Monate nach dem Anschlag, werden täglich verherrlichende Bilder von ihm erstellt und geteilt.
Das Massaker von Christchurch markiert in vielerlei Hinsicht eine Zäsur. Wie wir heute wissen, bildet der 15. März 2019 die Blaupause für mehrere Nachahmungstaten. Halle ist nur eine von ihnen; Ähnliches war zuvor in Poway, El Paso und Bærum geschehen, wo junge Männer von Christchurch inspiriert Anschläge auf Minderheiten ausübten. Dabei ist der Terroranschlag von Christchurch nicht der erste, der am Ende einer langen Radikalisierung im Netz steht. Doch er zeigt besonders eindrücklich, wie ein Täter faschistische Ideologie und Netzkultur zu einem toxischen Gemisch anrührt. Der Täter ist ein Troll-Terrorist, den Anschlag inszeniert er als Medienereignis. Ein »netzgeborener Massenmord«, wie der New-York-Times-Journalist Kevin Roose es bezeichnet hat.
Der Gedanke von Christchurch ist in anonymen Foren im Netz geboren, nun soll die Botschaft der Tat (»Die weiße Rasse steht vor der Ausrottung – wir müssen dagegen ankämpfen!«) durch die mediale Übertragung in die Welt gelangen. Mit modernen Mitteln der Technik und der direkten Ansprache einer bestimmten Subkultur im Netz stellt der Täter sicher, dass seine Botschaft nicht im Äther des Internets verschwindet. Die Ansprache ist sonderbar, für Außenstehende kaum verständlich. Neben seinem Rassismus, seiner identitären Ideologie und seinem Hass auf Muslime, die deutlicher nicht sein könnten, gibt es zahllose Anspielungen, die nur begreifen soll, wer sich auskennt.
In diesen frühen Monaten des Jahres 2019 ist die rechte Internetkultur mit großer Brutalität für alle sichtbar analog geworden. Der 15. März erinnert daran, dass es im Internet eine radikale Subkultur gibt, in der Antisemitismus, Frauenhass und Rassismus florieren. Seit Jahren haben sie dort über den »War on Women« oder den »Krieg zur Verteidigung der weißen Rasse« schwadroniert. Das Netz, einst irgendwie mal Ort der Hoffnung auf eine bessere Welt, hat viele dunkle Seiten, die aus »Blut und Boden« und manchmal aus Tod bestehen.
Es ist dann aber ein ganz braves, kluges YouTube-Video, das aufs Neue zeigt, dass im Internet Politik mitentschieden werden kann. Knapp eine Stunde lang erklärt ein Typ mit blauen Haaren, warum er die CDU scheiße findet. Die Zerstörung der CDU von YouTuber Rezo erscheint am 18. Mai und erwischt die angesprochene Partei wie auch Teile der Medienlandschaft auf dem falschen Fuß. In rasender Geschwindigkeit verbreitet sich das Video, in dem Rezo die Politik der CDU zerlegt. Binnen einer Woche sammelt es fast neun Millionen Klicks und damit mehr als das erfolgreichste deutsche Video des Vorjahres: die Baby-Ankündigung der Beauty-Influencerin Bibi. Es dauert Tage, bis sich die CDU offiziell äußert. Sie veröffentlicht ein elfseitiges PDF-Dokument, das deutlicher nicht hätte sagen können: Wir haben keine Ahnung, was ihr jungen Leute da eigentlich macht in diesem Internet.
Rezo ist ein Influencer, er verdient Geld damit, dass Leute ihm dabei zuschauen, wie er Spiele spielt und über Dinge redet. Bislang hat er sich nie politisch geäußert. Mit seinem CDU-Video versammelt er Hunderte andere Influencer*innen und damit Millionen junge Menschen hinter sich. Sie sind keine Partei, keine Organisation, sie sind noch nicht einmal eine Bewegung. Sie sind – so hat es der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen genannt – ein Konnektiv. Verbunden für den Moment, für das Thema. Flüchtig, aber sehr mächtig. Rezo schafft in den Wochen nach der Veröffentlichung seines Videos, was schon lange überfällig ist: Er öffnet die Augen für die meinungsbildende Kraft von Influencer*innen – auch über Kaufentscheidungen hinaus – und dafür, dass die Plattformen, auf denen sich die jüngeren Menschen so rumtreiben, ganz und gar nicht unpolitisch sind. Dort spricht man irgendwie anders, sieht anders aus – erreicht aber oftmals ziemlich viele Leute. Die CDU verkündet nach dem Rezo-Debakel, sie wolle eigene Influencer*innen aufbauen, und zeigt damit vor allem, dass sie die sozialen Medien und das Phänomen der Influencer*innen noch lange nicht verstanden hat. Vor allem aber zeigen solche Pläne ein eigentümliches Verständnis von Kultur und Politik, das uns in diesem Buch noch häufiger über den Weg laufen wird.
Im Mai 2019 also klopft die Jugend aus dem Internet an die Türen der deutschen Politik und lässt ein wenig die Muskeln spielen. Rezos Video, Fridays for Future und schon etwas früher die Debatte und Demonstrationen um das EU-Urheberrecht verweisen auf die politischen Potenziale von Internetpersönlichkeiten, die ein großes Publikum ansprechen und dessen Vertrauen genießen. Sie lassen aber auch erahnen, wie schwer es Parteien haben werden, sich den Begebenheiten einer digitalisierten Gesellschaft anzupassen, in der in einer Geschwindigkeit debattiert wird, die hierarchisch organisierte Feedbackschleifen quasi unmöglich macht.
Die Politisierung des Digitalen vollzieht sich nicht erst seit 2019, doch sie zeigt in diesem Jahr ganz deutlich ihre unterschiedlichen Facetten. Und es scheint so, als würden vor allem radikale Formen von ihr profitieren. Das zeigen die Attentate in den USA, in Neuseeland oder Halle, die im Netz kursierenden Todeslisten, die deutsche Rechtsextreme von politischen Gegner*innen anlegen, oder die Preppergruppen, die sich in Chats auf den Umsturz des Systems vorbereiten und die Anschaffung von Leichensäcken planen. Und es zeigt sich am Attentat auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019. Dessen mutmaßlicher Mörder wurde angefeuert von der Empörung rechter Netzkreise, die Lübcke wegen eines eigentlich harmlosen Zitats aus dem Jahre 2015 ins Visier genommen hatten: »Wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen«, hatte Lübcke auf einer Veranstaltung gesagt, bei der es um die Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft ging. Manche AfD-Politiker*innen instrumentalisierten das Zitat für ihre Zwecke, ebenso wie einige rechte Netzakteur*innen. Denn antidemokratische, rechte Kräfte haben ihre Influencer*innen längst. Soziale Medien sind für sie politische Werkzeuge.
Hass – ob online oder offline – entsteht nicht von allein. Er wird von jenen geschürt, die in ihm ein Mittel zum Zweck sehen. Nicht umsonst sprechen Rechte permanent vom Gegner (und meinen doch eigentlich den Feind). Die offen demokratische Gesellschaft und ihre Vertreter*innen sind es, die sie bekämpfen müssen, wenn sie ihr Ziel erreichen wollen. Hass im Internet spielt eine zentrale Rolle, um – wie es der Historiker Volker Weiß genannt hat – den Feind zu markieren. Kampagnen gegen die Grünen, gegen Merkel oder den öffentlich-rechtlichen Rundfunk werden so lange ventiliert, bis auch der Letzte verstanden hat, wen er zu verabscheuen hat.
Seit 2019 lässt sich der Hass nicht mehr ignorieren, denn die Gesellschaft hat eine Idee von seinen Folgen bekommen. Das Problem ist: Die Rechte weiß schon wesentlich länger um die Potenziale des Netzes und um die mobilisierende Wirkung von Hass und Emotion.
Die rechte Mobilmachung ist in vollem Gange. Neurechte Influencer*innen verkaufen auf Instagram und YouTube nicht nur Klamotten und Bücher der Neuen Rechten, sondern auch ihre politische Ideologie.
Der neue Rechtsextremismus ist eine gefährliche Mischung aus dem Gedankengut antiliberaler Theoretiker der Zwischenkriegszeit und ihrer Adepten sowie der Onlinekultur. Fast ist es so, als würde die extreme Rechte mit den sozialen Medien jene Werkzeuge in die Hand bekommen, auf die sie immer gewartet hat. Es ist ein Krieg mit dem Denken des konservativen Carl Schmitt – und mit Hochglanzbildern auf Instagram. Und überraschenderweise passt beides ziemlich gut zusammen. 2019 wurde uns all das wie auf dem Silbertablett präsentiert. Jetzt ist 2020, und wir haben das Internet aufgeschrieben, damit wir nicht wieder vergessen.