Kerstin und Ulrich Wendel

Vom Glück des Loslassens

Wie Herz und Leben leicht werden

SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

INHALT

Über die Autoren

  1. Loslassen? Bloß das nicht!

  2. Loslasser sind keine Verlierer: Warum Loslassen so entscheidend ist

  3. Kopfkino: Sorgen loslassen

  4. Auf mein Recht pochen? Erwartungen loslassen

  5. Häwelmann, ich mag dich!? Besitz loslassen

  6. »Unverzeihliches« vergeben: Schuld loslassen

  7. Mach es dir einfach: Überforderung loslassen

  8. Ich, mir, meins: Ego loslassen

  9. Den Rahmen vergrößern: Bilder von Menschen loslassen

10. Rühr mich nicht an: Bilder von Jesus loslassen

11. Großer Schritt, schwerer Schritt! In Übergängen loslassen

12. Hohe Schule: In schweren Zeiten loslassen

13. Bahn frei: Gute Erfahrungen loslassen

14. Festhalten! Um jeden Preis!

Danke

Anmerkungen

ÜBER DIE AUTOREN

Kerstin Wendel (Jg. 1965) ist verheiratet mit Ulrich. Sie haben zwei erwachsene Kinder und wohnen in Wetter/Ruhr. Nach ihrem Lehramtsstudium und einigen Jahren Schuldienst lebt und arbeitet sie heute als Autorin und Referentin. kerstinwendel.blogspot.com

Dr. theol. Ulrich Wendel (Jg. 1964) ist Redakteur des Magazins »Faszination Bibel« und Programmleiter für Bibel und Theologie bei SCM R.Brockhaus sowie Herausgeber verschiedener Bibelausgaben und Mitherausgeber des Lexikons zur Bibel.

Das Geheimnis des Loslassens

Wie oft ist unser Alltag geprägt von Sorgen, Verletzungen, schwierigen Situationen oder zu hohen Erwartungen. Die Gedanken kreisen, das Herz ist schwer. Wer kennt das nicht?

Kerstin und Ulrich Wendel zeigen authentisch und alltagsnah, wie wir lernen können, uns nicht mehr an etwas festzuklammern, was uns beschwert. Einfühlsam führen sie uns in die Kunst des Loslassens ein – damit das Herz leicht wird und das Leben schwerelos.

»Praktisch-Konkret. Lebensnah. Biblisch fundiert. Lesenswert.« Dr. Michael Diener, Präses Evangelischer Gnadauer Gemeinschaftsverband

1. LOSLASSEN? BLOSS DAS NICHT!

Ich bin sieben Jahre alt und lebe im Paradies. Himbeerhecken, Apfelbäume, Kartoffelfelder, Blumenbeete. Eine Schaukel und ein Gartenhaus. Einfach herrlich! Dazu raffinierte Plätze, um mich verstecken zu können: »Eins, zwei, drei, ich komme!«

All das gibt es im Garten meiner Großeltern. Mein Kindheitsparadies. Tagein, tagaus. Denn ich wohne direkt im Nachbarhaus. Im Sommer heißt das Früchte naschen, im Herbst das Kartoffelfeuer mit Opa Karl entfachen, im Winter aus den Schneebergen ein Iglu bauen, im Frühling Schneeglöckchen bestaunen.

Für mich ist eins klar: Hier will ich, Kerstin, bleiben! Für immer! Wer oder was sollte mich dazu bringen, freiwillig das Paradies zu verlassen?

Gute dreißig Jahre später lebe ich 60 Kilometer entfernt von meinem Kindheitsparadies in Marburg, zusammen mit Ehemann Uli und unseren beiden Kindern. Das aktuelle Projekt?

Diesen beiden Kindern ein Kindheitsparadies ermöglichen. Ein Baumhaus soll es sein. Begeistert und fröhlich werkeln wir. Mit der Hilfe von lieben und fähigen Menschen entsteht im Pastorengarten ein kleines Kunstwerk. Unsere Kinder sind vorfreudig, erwartungsvoll, glücklich.

Ach, wie ist das schön. Am liebsten würden wir die Zeit anhalten. So idyllisch und harmonisch soll es immer bleiben. Immer!

Und Uli?

Ich lebe und arbeite in einer Gemeinde. Darf predigen und schulen. Meine Gaben helfen anderen weiter. Ich komme mit Menschen unterschiedlichen Alters zusammen. Genieße Vertrauen. Habe prima Mitarbeiter um mich herum, die aktiv und hingegeben ihre Aufgaben erledigen.

Welch ein Vorrecht! Ein wunderbarer Arbeitsplatz! Natürlich gibt’s auch mal Probleme. Wie überall. Aber trotzdem, es geht voran.

Hier lässt es sich gut leben!

Hier will ich bleiben

Wir Wendels kennen das starke Gefühl, die Zeit anhalten zu wollen. Loslassen? Aufbrechen? Gerade jetzt?

Bloß das nicht! Auf keinen Fall. Jetzt ist doch gerade alles gut. Vielleicht sogar wunderbar. Wir sind glücklich. Die Stimmung in der Familie könnte fast nicht schöner sein. Weil uns auch ganz andere Zeiten mit Stress und Problemen allzu vertraut sind, wollen wir diese Momente einfach nur genießen und festhalten. Sind wild entschlossen: Hier bleiben wir! Wir wollen doch unser Lebensglück nicht verlieren.

Wie kommt es nun, dass wir doch nicht dortgeblieben sind?

Trotz der eben beschriebenen starken Gefühle, die uns halten wollten, haben wir als Familie und Ehepaar immer mal wieder losgelassen. Gerade auch unsere »Heimat«. (Aber bei Weitem nicht nur das!)

Aktuell wohnen wir im Ruhrgebiet. Sieben Umzüge und momentan 160 Kilometer liegen zwischen mir, Kerstin, und meinem Kindheitsparadies (es waren auch schon mal knapp 400 Kilometer). Unsere Kinder wohnen nicht mehr im Baumhaus, sondern an anderen Orten innerhalb Deutschlands.

Und Uli?

Ich arbeite mittlerweile in einem christlichen Verlag, nicht mehr in einer Gemeinde. Das ist für mich gut so.

Also haben wir tatsächlich alles verlassen, was uns so lieb und teuer war?

Ja, das haben wir. Weil es irgendwann dran war. Irgendwann kam die Zeit, Liebgewonnenes loszulassen. Angestupst von Gott sind wir neue Wege gegangen. Haben manchmal sogar ein neues, unbekanntes »Paradies« erobert. Unglaublich!

Vielleicht macht mancher Leser jetzt große Augen: Wieso denn sich verändern, wenn alles – oder wenigstens manches – gut ist? Ist es nicht völlig menschlich, das Gute festhalten zu wollen? Wer sagt einem denn, dass es hinterher auch wieder paradiesisch wird? Oder wenigstens einigermaßen positiv?

Und was ist, wenn statt Glück, Erfüllung, Harmonie und Segen das blanke Chaos daherkommt? Heißt es nicht: »Schuster, bleib bei deinen Leisten«?

Festhalten ist menschlich

Es muss ja gar nicht immer gleich um so eine große Nummer wie einen Umzug gehen. Viele von uns haben bereits im banalen Alltag ihre Tricks, um »festzuhalten«. Das kleine Lebensglück wollen wir wiederholen:

Wir tragen unsere Lieblingskleidung, weil wir uns gut darin fühlen. Wir pflegen unsere Rituale wie die geliebte Tasse Kaffee am frühen Morgen, Zeitunglesen am Feierabend, Grillen am Wochenende. Wir gehen zu »unserem« Italiener, weil der die beste Pizza macht. Backen zum Geburtstag den gewohnten Lieblingskuchen oder bereiten an Weihnachten den Gänsebraten zu »wie immer«. Einfach, weil es gut so ist und uns gefällt.

Wir investieren in die vertrauten Beziehungen. Wir schließen Versicherungen für unser Hab und Gut ab. Wir feiern unsere Hochzeitstage. Wir schreiben Tagebücher oder Jahresbücher. Mancher reist wiederholt in die lieb gewordenen Feriendomizile.

Und natürlich werden bei vielen dieser Momente Fotos gemacht. Wir halten den wunderbaren Augenblick fest. Konservieren das Glück. Teilen es auch gleich mit anderen. Facebook, Twitter, Instagram – wir kommen. Jede Generation hat neue Ideen, um ein wenig »festzuhalten«. Und zuletzt: Manche von uns zögern Abschiede gern hinaus. Es ist doch gerade noch so schön beieinander.

Lauter kleine und große Gewohnheiten, um festzuhalten. Das alles ist für uns ganz normal. Selbstverständlich.

Wie lief es früher? Kannten die Menschen der Bibel auch dieses starke Bedürfnis, an etwas festzuhalten?

Werfen wir einen Blick in die Bibel. Vor zweitausend Jahren hat Petrus es auf seine Weise versucht: Mitten in einem starken Jesus-Erlebnis möchte er keineswegs loslassen.

Drei Jünger sind mit Jesus auf einem Berg. Jesus wird dort durch Gottes Gegenwart so stark berührt, dass man es ihm ansieht. Und so sprudelt es begeistert aus Petrus heraus: »Herr, wie wunderbar ist das! Wenn du willst, baue ich drei Hütten, eine für dich, eine für Mose und eine für Elia« (Matthäus 17,4).

Hütten – Immobilien also. Dableiben, am Ort festhalten ist menschlich. Selbst für Petrus, einen der ersten Nachfolger von Jesus, ist das naheliegend.

Petrus, du bist echt sympathisch! Aber hast du darüber nachgedacht, wo du auf dem Berg Baumaterialien für Hütten finden könntest?

Da hatten wir es im Marburger Pastorengarten mit unserem Baumhaus leichter.

Und hattest du Proviant für mehrere Personen zur Hand?

Diese Fragen scheinen unwichtig zu sein. Was dich interessiert, ist der wunderbare Augenblick. Gottes Gegenwart. Dazu die Gegenwart von starken Vorbildern. Du, Petrus, denkst da an nichts anderes.

Schon gar nicht daran, dass es unrealistisch ist, auf dem Berg zu bleiben. Auch nicht daran, dass Jesus mit dir vielleicht noch anderes vorhat. Und ebenso wenig daran, dass Immobilien eben immobil, unmobil machen und dass Nachfolge ja eine Bewegung ist.

Der Augenblick zählt. Ach, könnte alles doch immer so bleiben. Es ist so herrlich hier mit Jesus!

Mancher von uns kennt solche »Berg-Erlebnisse«: die Geburt des eigenen Kindes, das Glück in der Familie, das geistliche Highlight auf der Freizeit oder sogar im banalen Gemeindealltag, der fantastische Urlaubstag, das herausragende Projekt, der überwältigende Sex mit dem Ehepartner, das besondere Reden Gottes, Wachstum und Aufbruch in der Gemeinde, der beglückende Austausch mit einem Menschen.

Zeit, steh still! Könnten wir dich doch für immer festhalten!

Die meisten von uns ahnen ja schon, dass nach dem Highlight manchmal eine Depri-Phase folgt. Das Tief nach dem Hoch. Man wird vielleicht trauriger und einsamer. Bleibt jedenfalls nicht ausgefüllt mit einer beflügelnden Hochstimmung.

Deshalb bloß den Augenblick konservieren! Der Absturz wird schon von ganz allein kommen.

SCHWERELOS WERDEN: Was oder wen halten Sie gern fest?

Es wimmelt nur so

Und jetzt ein Kontrast! Schauen wir in biblische Berichte hinein, dann begegnen uns viele Menschen, die ganz anders ticken: lauter Männer und Frauen, die nicht hauptsächlich festhalten, klammern, bewahren. Ob es sich nun um einen Angehörigen, die Heimat, eine bestimmte Aufgabe oder das eigene Glück handelt.

Vielmehr sind diese Menschen in Bewegung oder werden in Bewegung gebracht. Sie scheinen ein Loslass-Gen in sich zu tragen. Es sind Flüchtende. Suchende. Reisende. Aufbrecher. Alternative. Weltveränderer. Loslasser. Gelassene sind es.

Wie kommt das? Sind die ganz anders als wir Wendels im schönen Marburger Pastorengarten? Oder als Petrus auf dem Berg? Oder Sie nach Ihrem Freizeithighlight? Was sind denn das für Menschen?

• Da ist Noah, der weiß, dass er seine nackte Haut retten soll. Ein Aufbrecher der ganz extremen Art. Er baut auf Gottes Ansage hin die Arche, um irgendwann, wenn das Wasser in Strömen kommt, überleben zu können. Er wird sich danach in einer komplett anderen Welt wiederfinden.

Sicher, er ist mit seiner Lebensführung ein Sonderfall. Aber eben auch ein Zeichen dafür, das Loslassen manchmal sogar das blanke Leben retten kann.

• Da ist Abraham. Er bekommt von Gott seine Reise und seine Lebensaufgabe direkt angekündigt. Im Loslassen seiner Heimat wird ihm enorm viel geschenkt: »Ja, ich will dir und deinen Nachkommen das ganze Land Kanaan, in dem du jetzt als Fremder lebst, für immer geben« (1. Mose 17,8).

• Da sind Rut und die Schwiegermutter Noomi. Rut ist bereit, nach dem Tod ihres Mannes in die alte Heimat von Noomi zurückzukehren. Ganz solidarisch mit ihrer Schwiegermutter. Obwohl sie nicht weiß, ob ihr Leben sich dort zum Positiven entwickeln wird. Sie findet durchs Loslassen letztlich ihren Glauben, einen Mann, eine neue Heimat und wird eine Vorfahrin von Jesus.

• Da ist Jesus. Er verlässt das Beste, was es gibt. Raus aus dem Himmel. Rein ins menschliche Leben. Der Lebensretter begibt sich zu uns. An seinen Vater im Himmel kann er sich klammern. Aber ansonsten hat er überhaupt nichts zum Festhalten. Er sagt über sich selbst: »Füchse haben ihren Bau, und Vögel haben ihre Nester, aber der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sich hinlegen kann« (Matthäus 8,20).

• Da ist Levi, ein Steuereintreiber. Er gehört zu den vielen Berufstätigen, die Jesus mitten bei der Arbeit anspricht. Und wie gestaltet sich die äußerst kurze Konversation zwischen den beiden? »›Komm, folge mir nach!‹, sagte Jesus zu ihm. Da stand Levi auf, ließ alles liegen und folgte ihm nach« (Lukas 5,27b-28).

• Da ist Saulus, ein kluger Mann aus Tarsus. Der gibt sein bisheriges Lebensziel komplett auf, weil er von Gott eine klare Ansage für sein Leben bekommen hat: »Saulus ist mein auserwähltes Werkzeug. Er soll meine Botschaft den Völkern und Königen bringen und auch dem Volk Israel« (Apostelgeschichte 9,15). Damit ist klar, dass er seine Heimat aufgeben muss. Er wird ein Leben »unterwegs im Auftrag des Herrn« führen. Gefährlich, alternativ, erlebnisreich, gesegnet.

Viele andere wären noch zu nennen, Männer und Frauen. Die Bibel wimmelt nur so von Menschen, die ganz viel losgelassen haben. Und wie erstaunlich: Sie haben kein freudloses, verlustreiches, resigniertes, langweiliges, gescheitertes, unerfülltes Leben geführt.

Nein, im Gegenteil. Im Loslassen von dem, was nicht mehr dran war, begann ihr Lebensglück. Nicht immer war das, was dann kam, einfach – aber es war gesegnet. Und dieser Segen hatte eine enorme Reichweite. Er wirkte sich auf viele, viele Menschen ihres Lebensumfelds aus.

Noah? Er überlebte mithilfe der Arche und baute sich und seinen Nachkommen eine neue Existenz auf.

Abraham? Wurde zur Keimzelle des Volkes Israel und darüber hinaus eine Segensquelle für alle Völker der Erde.

Rut? Fand wie erwähnt einen Mann, eine neue Heimat und wurde zu einer Vorfahrin von Jesus.

Jesus? Wurde zum »Heiland« der Welt. In dem Wort steckt wirklich alles drin.

Levi? Hatte das Vorrecht, Jesus aus erster Hand erleben zu dürfen, entwickelte sich zu einem treuen Jünger von Jesus – und der kirchlichen Überlieferung zufolge schenkte er uns das Matthäusevangelium.

Saulus? Bekam eine komplett neue Identität, weil er jetzt Menschen zu Christus führte statt Christen ins Gefängnis. Er kämpfte dafür, dass die Botschaft von Jesus eine befreiende Nachricht blieb, und gab so unzähligen Menschen eine Richtschnur, um diese Freiheit auch in ihrem Leben zu finden.

Das ist gelinde gesagt herausfordernd! Es scheint nicht darum zu gehen, dass Gott seinem Wesen nach ein Abenteurer ist, der das Alltagsleben belanglos und langweilig findet. Der deshalb die Menschen zu Erlebnissen herausfordert, die ihr Leben komplett umkrempeln.

Aber entdecken wir in der Bibel nicht einen roten Faden? Ein Motiv Gottes? Verbirgt sich im »Loslassen« vielleicht ein geistliches Lebensprinzip? Eine Grundbewegung des Glaubens?

Wenn es so wäre, dann wäre das Loslassen ein Schlüsselerlebnis. Es würde Türen öffnen zu einem sehr gesegneten Leben.

Wir wollen in diesem Buch zeigen und davon erzählen, dass dies wirklich so ist.

Ausgerechnet Wendels?

Ein Bekenntnis zu Anfang: Wir Wendels sind nicht die geborenen Leichtfüßler, sind von Natur aus keine Abenteurer. Waren lange Zeit auch nicht bekannt als die Tiefenentspannten.

Ja, mehr noch: Wir schätzen manche Rituale und lieben ab und an Bewährtes. Uns sind Dinge in die Wiege gelegt worden wie Ernsthaftigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Fleiß, Sensibilität auch für die Bedürfnisse anderer. Und am Anfang unseres selbstbestimmten Erwachsenenlebens haben wir uns nach anderen Dingen ausgestreckt als nach einem »leichten Leben«.

Irgendwann haben wir jedoch gemerkt, dass wir es nötig haben. Unser Leben sollte keine Schlagseite bekommen. Darum haben wir uns nach dem ausgestreckt, was fehlte. Weiterentwicklung war nötig.

Und wie konnte das gehen?

Nun, wir haben uns auf den Weg gemacht.

Bei mir, Uli, ging es in kleinen Abschnitten vorwärts. Ich habe umgesetzt, was mir nach und nach bewusst wurde.

Bei mir, Kerstin, passierte es im Rahmen einer umwälzenden, heftigen Lebenskrise.

Durch Loslassen geschahen kleine und große Wunder. Und siehe da, das unbeschwertere Leben begann, seinen Siegeszug bei uns zu halten.

Wir hatten es also nötig. In diesem Sinne schreiben wir. Wir lassen Sie teilhaben an unseren Fragen, Glaubensschritten, Misserfolgen, Strategien, unserem Glück und unserem Segen. Vielleicht ist etwas für Sie dabei? Wir nehmen Sie mit in eine typische, herausfordernde Situation:

Wendels ziehen um

Winter 2009. Bei Wendels bahnt sich an, dass im Sommer 2010 wieder ein Umzug anstehen könnte. Die Gemeindesituation, das Alter der Kinder und eine neue berufliche Aufgabe am Horizont lassen uns als Paar hellhörig und unruhig werden. Könnte es sein, dass es wieder dran ist loszulassen?

Wir, die wir doch versucht haben, hier in Marburg jede Menge aufzubauen – übrigens nicht nur ein Baumhaus –, sollen wieder weiterziehen? Wir, die wir hier Reich Gottes mitgestalten durften und Freundschaften geknüpft haben? Ist das dran, Gott?

Als wir diese Fragen bewegen, bin ich, Kerstin, nicht gesund und keineswegs voller Tatendrang. Uli vibriert nicht vor Schwung, endlich mal wieder einen Umzug meistern zu dürfen. Im Gegenteil.

Aber dennoch haben wir das Gefühl: Wir müssen die Zeichen und Fragen auf dem Weg ernst nehmen. So zu tun, als ob nichts wäre, geht jetzt nicht. Am Bekannten festzuhalten, ist keine Option mehr.

Nachdem wir als Eltern damit schwanger gegangen sind und letztendlich Klarheit gewonnen haben, kommt der Jahresschluss. Wir wollen zunächst unseren Kindern (vierzehn und zehn Jahre alt) unsere Päne anvertrauen, bevor andere davon erfahren werden. Sitzen bei Tee und Plätzchen, und dann muss es raus: »Wir werden bald umziehen …«

Natürlich gibt es Tränen, Fragen, Aufbegehren. Puh! Das ist ganz verständlich. Ein schwerer Jahresschluss für uns alle. Das müssen wir aushalten. Durchstehen. Und als Familie müssen wir zusammenhalten. Damit wir irgendwann aufbrechen können.

»Wer versucht, sein Leben zu behalten, wird es verlieren« (Matthäus 16,25a).

Nein, das ist keine biblische Umzugshilfe. Das ist klar. Vielmehr sagt Jesus das seinen Jüngern, als er ihnen die Grundprinzipien der Nachfolge erklären möchte. Er, Jesus, kennt uns Menschen ganz genau. Er versteht unsere natürliche Regung, unser Leben behalten zu wollen. Schließlich hat der Schöpfer uns mit einem Selbsterhaltungstrieb ausgestattet. Wie gut, dass wir den haben.

Dennoch möchte Jesus uns den Blick weiten:

Loslassen ist gar nicht das Ziel! Es ist nur der Weg zu dem, was kommt! Denn es heißt weiter: »Wer sein Leben für mich aufgibt, wird das wahre Leben finden« (Matthäus 16,25b). Jesus möchte Lebensfinder aus uns machen! Gewinner! Erfüllte! Glückliche! Darauf liegt sein Fokus. Deshalb diese steilen Sätze. Deshalb der Hinweis, loszulassen!

Im Grunde fordert Jesus hier nicht in erster Linie etwas: »Du musst aufgeben. Du solltest loslassen!« Sondern er verspricht vor allem etwas. Lebensqualität nämlich. Anders ausgedrückt bedeutet das:

Christwerden und Christsein heißt, sein Leben loszulassen und in Jesus alles zu finden. Ganz schön provokant, oder? Wir werden darauf in Kapitel 2 noch weiter eingehen.

Unser Marburg-Umzug hat uns das »Gewinnen« drastisch veranschaulicht: Ungefähr zwei Jahre später haben wir in Wetter an der Ruhr richtig Fuß gefasst.

Da hören wir von unseren Kindern, wie wichtig es gewesen sei, dass wir Marburg hinter uns gelassen haben und neu durchgestartet sind. Ihre Gewinne: eine coole Gemeinde, gleichaltrige Freunde – endlich auch in der Ortsgemeinde –, mehr Nähe zu Gott, kürzerer Schulweg, mehr Zeit im Alltag.

Wie schön! Wir freuen uns riesig mit! Unsere Hoffnungen für sie sind in Erfüllung gegangen. Sie haben wirklich gewonnen! Sind glücklich vor Ort. Was gibt es Schöneres für Eltern?

Wir haben diesen Umzug als Familie sehr einschneidend erlebt: Alle vier haben wir ganz viel Leben »verloren«, als wir von Marburg weggezogen sind.

Aber die Jahre am neuen Wohnort haben später gezeigt, wie viel wir gewonnen haben! Privat, gemeindlich, beruflich. Gott hat uns damals zum Loslassen motiviert. Dieser zunächst harte Schritt war für alle Wendels der richtige.

Loslassen – gut für uns alle?

Und dennoch: Wir Eltern sind vor dem Umzug unseren negativen Gefühlen begegnet: Bedenken, Zweifeln und Fragen

Ist es richtig, Marburg zu verlassen? Fliehen wir oder ist es Gott, der uns zieht? Haben wir die Energie, uns dem Neuanfang zu stellen? Wird der Wechsel den Kindern schaden? Werden sie lange rebellieren? Werden wir Freunde finden? Wo können wir wohnen? Wie sollen wir angesichts unserer Kräfte und Kerstins chronischer Erkrankung einen Umzug bewältigen?

Allein schon der Gedanke ans Loslassen kann Angst und Sorge verbreiten. Wer will schon geliebte Menschen verlieren oder eine gute Arbeitsstelle aufgeben?

Wir werden uns in diesem Buch mit vielen dieser Bedenken näher beschäftigen. Denn es geht natürlich nicht nur um Umzüge oder andere tiefe Einschnitte, sondern auch um Alltagssituationen, in denen wir loslassen müssen. In solchen Momenten können manche Zweifel und Fragen aufkommen:

Wenn ich jetzt 50 Euro spende, habe ich dann noch genug Geld für meine Bedürfnisse? Soll ich wirklich meine Zeit für dieses Ehrenamt investieren, oder fehlt mir dann die nötige Erholung? Wenn ich Gott die Kontrolle über diesen Lebensbereich überlasse, werde ich dann vielleicht Entscheidendes verlieren?

Festhalten scheint zunächst die verlockendere Alternative zu sein.

Daneben gibt es auch die Dinge, die mancher liebend gern loslassen würde: Ach, wenn ich mir doch nicht so viele Sorgen um meine Kinder machen würde! Wenn ich meinem Bruder doch endlich vergeben könnte. Wenn ich mich doch weniger gestresst fühlen würde.

Loslassen scheint manchmal die heiß ersehnte letzte Rettung zu sein.

Viele dieser Alltagssituationen sind mit Gefühlen verbunden. Und Gefühle sind dazu da, angeschaut zu werden! Ja, wir dürfen unsere Zweifel, Bedenken, aber auch Sehnsüchte und Hoffnungen haben. Gestatten Sie sich zunächst einen ehrlichen Blick auf Ihre negativen Gefühle!

SCHWERELOS WERDEN: Welche Ängste und Sorgen kommen in Ihnen auf, wenn Sie ans Loslassen denken? Werden Sie konkret, und schauen Sie sich die Lebensbereiche an, die Ihnen einfallen.

Und danach?

Wollen wir uns herausfordern lassen. Könnte es sein, dass …

• … es für uns alle unterschiedliche Lebenssituationen gibt, in denen Loslassen die bessere Alternative wäre?

• … sich dadurch unser Alltagsleben lockerer gestalten würde?

• … wir so mit Sorgen, Schuld, Besitz oder Überforderung besser zurechtkommen würden?

• … Beziehungen auf diese Weise erfüllender gelebt werden könnten?

• … Schwellensituationen dadurch leichter gemeistert werden könnten?

• … wir deshalb Lebensübergänge positiver gestalten könnten?

• Wäre es vielleicht sogar möglich, dass wir am Lebensende gelassen loslassen können, wenn wir es im Alltag erfolgreich erprobt haben?

• Und zuletzt – Könnte es sein, dass unser Leben als Christ genau dies immer wieder erfordert: irgendetwas oder irgendwen gelassen loszulassen?

Spannende Fragen sind das. Wir lassen uns auf sie ein.

»Der ist gechillt!« ist für manche das höchste Lob, das sie geben können. Entspannen, abhängen, fünf gerade sein lassen: Viele sehnen sich nach diesen Fähigkeiten.

Vielleicht gibt es Neues zu entdecken und das Loslassen schenkt uns eine unbekannte Gelassenheit. Gewachsen durch viele neue Entscheidungen, Denkmuster, Angewohnheiten. Vielleicht können sich Leichtigkeit und Heiterkeit dadurch ausbreiten. Wenn wir Glück haben, werden sie länger anhalten als der chillige Abend auf dem Sofa, der leider wieder beendet werden muss. Ach, schade, es war doch gerade noch so schön …

Zunächst schauen wir in diesem Buch, was Loslassen grundsätzlich bedeuten kann. Anschließend wird es um viele typische Alltagssituationen gehen. Auch an Krisenerfahrungen wagen wir uns heran. Zu guter Letzt fällt der Blick aber auch auf das, was wir keinesfalls aufgeben dürfen – hier ist Festhalten dran.

Unser Leitgedanke bei alldem: Loslassen ist kein Selbstzweck. Es hat immer ein Ziel, nämlich: das, woran wir zu schwer tragen, abwerfen. Die Schwere loswerden. Schwerelos werden. Das Glück des Loslassens entdecken.

Schön, dass Sie uns auf diesem Weg begleiten!

2. LOSLASSER SIND KEINE VERLIERER: WARUM LOSLASSEN SO ENTSCHEIDEND IST

»Ich hab gleich wieder Kraft! Ich kann dann weiterspielen! Muss noch nicht schlafen!« So der Ausruf des Dreijährigen einer befreundeten Familie. Der Vater berichtet von den abendlichen Schlafengehen-Szenen, die sich manchmal über Stunden hinziehen. Der Kleine will einfach noch weitermachen mit dem Tag. Und diskutiert endlos.

Tja, wir kennen den Vater gut, er ist beredsam und eloquent … Da hat er seinem Sohn wohl etwas mitgegeben!

Wenig später ertappe ich (Uli) mich spätabends. Es war ein normaler Arbeitstag, die Stunden im Beruf waren vollgestopft mit Aufgaben, Telefonaten, Terminen. Abends habe ich noch ein paar Dinge für den Haushalt erledigt, Kerstin und ich haben ein wenig Zeit miteinander verbracht, und als es auf 22 Uhr zugeht, bin ich total unzufrieden.

Gern hätte ich noch mehr Zeit für mich selbst gehabt, noch ein wenig gelesen, Musik gehört, ein wenig meinen Gedanken nachgehangen – doch es wäre unvernünftig, weiter aufzubleiben und am Nachtschlaf zu sparen. Verabschieden will ich den Tag aber auch noch nicht. Ich mag nicht loslassen, ich will noch etwas vom Abend haben.

Und plötzlich merke ich: »Ich will noch nicht ins Bett!« ist nicht nur der Ausruf von Dreijährigen, sondern auch eine Regung von Erwachsenen. Das ganze Leben ist durchzogen von Momenten, in denen wir loslassen müssen.

Wir kennen ein Ehepaar, für die der Sommerurlaub einen sehr hohen Stellenwert hat. Und geht er dem Ende entgegen, hat jeder von ihnen seinen eigenen Weg, Abschied zu nehmen. Er sagt meist am vorletzten oder letzten Tag: »So, das war ein schöner Urlaub.«

Sie entgegnet dann sofort: »War? Ist doch noch schön. Wir sind doch noch nicht losgefahren.« Sie will alles bis zur letzten Sekunde auskosten und keinen Moment eher loslassen.

Er dagegen hat den Zeitpunkt selbst gewählt, an dem er sich von der schönen Zeit verabschiedet. Er ist bereit loszulassen, hat das Ende ein Stück selbst bestimmt. Sie hält fest, bis es nicht länger geht, und lässt sich den Schlussstrich vom Kalender ziehen.

Zwei Arten, Abschied zu nehmen: eine versöhnliche und eine gezwungene.

Loslassen als Alltagsübung. Mal leichter, mal schwerer. Für uns Wendels ist der Sommer die Lieblingsjahreszeit, und wird es Anfang September, versuchen wir scherzhaft, das Wort »Herbst« bloß noch nicht in den Mund zu nehmen. Wir reden vom »einsetzenden Spätsommer« oder vom »fortgeschrittenen mittleren Spätsommer« und wissen dabei natürlich, dass wir uns etwas vormachen. Der Herbst wird kommen.

Egal, ob Alltag oder Urlaub – sowohl für Kinder als auch für Erwachsene ist es wichtig, sich im Loslassen zu trainieren. Mal fällt es uns allen leichter, meistens aber eher schwer, wenn wir ehrlich sind. Vielleicht wirken gerade deshalb die radikalen Jesus-Gedanken, die gleich vorgestellt werden, kräftig herausfordernd?

Ein Grundmuster des Christseins

Niemand kommt darum herum, immer wieder etwas loszulassen. Meist geht die Welt dabei nicht unter – der Herbst ist keine Katastrophe, und abends das spannende Kapitel ungelesen zu lassen und stattdessen schlafen zu gehen, auch nicht.

Andere Herausforderungen gehen mehr ans Eingemachte: Wer merkt, dass er keine langen Strecken mehr mit dem Auto fahren kann, oder wer im Alter spürbar vergesslicher wird, der muss das erst mal unter die Füße kriegen.

Doch es gibt eine noch tiefere Dimension des Loslassens:

Loslassen ist das Grundmuster des Christseins. Ja, es ist geradezu die Definition für einen Christen: jemand, der sich selbst vollkommen losgelassen hat.

Jesus hat uns diese Definition gegeben. »›Wenn jemand mir nachfolgen will‹, sagte er, ›muss er sich selbst verleugnen, sein Kreuz auf sich nehmen und mir nachfolgen. Denn wer versucht, sein Leben zu bewahren, wird es verlieren. Wer aber sein Leben um meinetwillen und um der guten Botschaft willen verliert, wird es retten. Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber seine Seele verliert?‹« (Markus 8,34-36).

Das macht also einen Nachfolger von Jesus aus: Es ist ein Mensch, der einmal komplett an den Nullpunkt gekommen ist. Jemand, der alles aus der Hand gegeben hat. Der sich vollkommen an Christus verloren hat. Und der seitdem sein Leben nur deshalb hat und führen kann, weil Christus es ihm Stück für Stück wiedergibt.

Jeder Versuch, einen Sektor des Lebens noch unter der eigenen Kontrolle zu behalten, würde zum Totalverlust führen.

Dabei ist klar: Jesus hat nicht nur von Märtyrern gesprochen, nicht nur von den Christen damals, die für ihr Bekenntnis gesteinigt oder gekreuzigt oder in einer römischen Zirkusarena den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurden.

Nein, »sein Kreuz auf sich nehmen«, das zeigt sich vielfältig. Wir werden das noch vertiefen. Jesus hat ja zu einer großen Volksmenge gesprochen. Und jeder von seinen Zuhörern musste auf irgendeine Weise sein eigenes Leben drangeben, wenn er ihm folgen wollte.

Und noch etwas muss man sich klarmachen: »Sich selbst verleugnen« bedeutet nicht, geringschätzig von sich zu denken. Sich zu entwerten oder sich von anderen entwürdigen zu lassen.

Jesus meinte auch nicht den Verzicht darauf, ein starkes Ich im Sinne der Persönlichkeitsreifung zu entwickeln. Der Bibelausleger Adolf Pohl gibt das, was Jesus meint, mit folgendem Ausdruck wieder: »sich selbst eine Absage erteilen«. Er betont dabei, dass »diese Absage an Selbstdurchsetzung nicht Selbstauslöschung meint«. »Der Jünger hat sich nicht zum Verschwinden zu bringen, sondern zum Dienen. Gott ist ihm durch Jesus so nahe gerückt, dass er sich selbst ferngerückt ist«.1

Diese Definition für einen Christen ist sehr schroff. Sie ist auch ungewöhnlich. Vielleicht sogar eine Zumutung?

Unter einem Christen verstehen wir doch eigentlich jemanden, der eine starke innere Überzeugung hat, nämlich dass es Gott gibt und dass Jesus der Weg zu Gott ist.

Manche würden vielleicht sagen: Christen sind die, die bestimmte Werte vertreten, zum Beispiel Nächstenliebe oder Dienstbereitschaft. Oder sie sehen in Christen Menschen mit einer bestimmten Weltanschauung. Oder solche, die sich Jesus zum Vorbild genommen haben.

All das sind ja auch Konsequenzen des Christseins. Der Kern aber ist ein anderer, nämlich: sich selbst losgelassen und an Jesus verloren zu haben.

Christen – die entspanntesten Menschen überhaupt?

Eigentlich müssten Christen also Experten in Sachen Loslassen sein. Sie haben es doch so grundlegend erlebt!

Wer einmal völlig an die Nulllinie gekommen ist und sich komplett auf Gott verlassen hat, für den wäre es doch ein Leichtes, anschließend auch hier und da mal zurückzustecken. Der könnte doch locker mal darauf verzichten, ums Rechthaben zu kämpfen. Dem sollte es doch gelingen, Fehler nicht endlos nachzutragen.

Der könnte Geld lockermachen, um jemanden zu unterstützen, der das braucht. Dem bräche kein Zacken aus der Krone, wenn der Ehepartner oder der Kollege mal erfolgreicher sind als er selbst und mit ihren Ergebnissen glänzen können. Der käme damit zurecht, wenn er nicht bei jeder Party mitmachen kann, weil die Gesundheit das nicht hergibt. Der müsste auch nicht kleinlich jede erlittene Undankbarkeit verbuchen.

Diese Verluste wären ja ein Klacks gegen den großen Komplettverlust, in den man eingewilligt hat: sich selbst eine Absage zu erteilen, sein Leben zu verlieren. Wer nach dieser Erfahrung sowieso nichts mehr zu verlieren hat, wer sein Leben nur deshalb gewonnen hat, weil er es von Gott zurückbekam – der müsste doch der entspannteste Mensch auf dem Globus sein.

Aber klar: So sind Christen oft nicht. Manchmal sind sie rechthaberischer als alle anderen Menschen. Und viele Menschen spüren, dass Loslassen oft ein Kampf ist. Wir merken daran deutlich:

Diese schroffe Jesus-Definition des Christseins ist nicht nur eine Zumutung für Menschen, die sich für den Glauben interessieren und Christen werden wollen. Sondern sie fordert auch Christen heraus, die Jesus schon lange nachfolgen. Wir müssen hier immer wieder neu einwilligen.

Doch es führt kein Weg daran vorbei: Ohne dass man sich selbst verliert, kann man kein Christ sein. Jesus hat das oft genug unterstrichen. Es war ihm so wichtig, dass er es zu vielen Gelegenheiten gesagt und mit verschiedenen Bildern veranschaulicht hat. Zum Beispiel im Bild vom Weizenkorn:

»Ich versichere euch: Ein Weizenkorn muss in die Erde ausgesät werden. Wenn es dort nicht stirbt, wird es allein bleiben – ein einzelnes Samenkorn. Sein Tod aber wird viele neue Samenkörner hervorbringen – eine reiche Ernte neuen Lebens.«

Und was folgt daraus? Jesus setzt den Gedanken unmittelbar fort: »Wer sein Leben in dieser Welt liebt, wird es verlieren. Wer sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es zum ewigen Leben bewahren« (Johannes 12,24-25).

Oder er gebraucht das Gleichnis vom Kaufmann:

»Das Himmelreich ist auch vergleichbar mit einem Perlenhändler, der nach kostbaren Perlen Ausschau hielt. Als er eine Perle von großem Wert entdeckte, verkaufte er alles, was er besaß, und kaufte die Perle!« (Matthäus 13,45-46).

Auch dieser Kaufmann bekam das, was sein Leben unschätzbar bereichern würde, nicht billiger: Er musste alles andere loswerden.

In diesen Bildworten hat Jesus zweierlei gesagt: Er hat klar benannt, was das Christsein kostet. Aber auch, wie groß der Gewinn ist. Am Ende steht keiner als Verlierer da. Nachfolgerinnen und Nachfolger von Jesus haben ein Qualitätslevel im Leben, das es anderswo nicht gibt.

Zum Beispiel die Möglichkeit, wirklich die entspanntesten Menschen überhaupt zu sein! Weil sie sich selbst nicht alles erkämpfen müssen, denn sie haben nichts mehr zu verlieren. Weil sie alles empfangen. Das ist der Gewinn für die, die sich auf Christus verlassen: Sie können alle Schwere loswerden. Schwerelos werden.

SCHWERELOS WERDEN: Woran reiben Sie sich besonders, wenn Sie die radikalen Jesus-Worte lesen?

Jesus war kein Verlierer

Das Image von Christen ist allerdings oft ein anderes. Sind das nicht die, die immer nachgeben müssen? Die die andere Wange hinhalten sollten, wenn sie geschlagen werden? Die den »unteren Weg« wählen müssen? Und ergibt das nicht ein recht jämmerliches Bild, wenn man sich so verhält?

Wenn Loslassen zum Kern des Christseins gehört, könnte man meinen, Jesus-Leute stünden auf der Verliererseite. Sich selbst verleugnen – das können doch nur Loser hervorbringen.

Der beste Beweis, dass das nicht stimmt, ist der Blick auf Jesus. Kaum jemand würde ihn als Schwächling bezeichnen. Die meisten Zeitgenossen schätzen ihn, auch wenn sie nicht an ihn glauben, als starken Charakter ein.

Das Loslassen allerdings verlief wie ein roter Faden durch sein ganzes Leben. Zuletzt lag er niedergestreckt im Olivenhain und focht einen quälenden Willenskampf aus. Er suchte nach einer Möglichkeit, dem sicheren Tod zu entgehen. Das Ergebnis war die Einwilligung: »Ich will deinen Willen tun, nicht meinen.« Losgelassen!

Doch damit hatte er noch nicht ausgekämpft, er betete weiter, und zwar immer heftiger, er ging bis an die körperlichen Grenzen. Drei Runden brauchte er, um wirklich loszulassen. Aber am Ende blieb er dabei: »Nicht mein Wille geschehe, sondern deiner« (siehe Matthäus 26,37-44; Lukas 22,41-44).

Schon zuvor hatte er generell auf vieles verzichtet und an wichtigen Weggabelungen alles losgelassen, was er bis dahin erreicht hatte. An einer Stelle seines öffentlichen Wirkens hatte er eine Krise heraufbeschworen. Das, was er lehrte, war allzu extrem.

»Daraufhin sagten selbst einige seiner Jünger: ›Das ist ungeheuerlich. Wie kann man das glauben?‹« (Johannes 6,60). Und wenig später liefen seine Anhänger in Scharen davon.

Schlau wäre es nun gewesen, wenigstens die letzten Getreuen um sich zu scharen und an sich zu binden. Ansonsten hätte er ja noch einmal ganz von vorn anfangen müssen.

Doch wie reagierte Jesus? Er fragte auch noch das Dutzend Nachfolger, das bei ihm ausgehalten hatte: »Wollt ihr auch weggehen?« (Johannes 6,67 LUT). Wie innerlich gelassen muss man sein, um sich das zu trauen!

Jesus hat niemanden an sich gebunden. Mit vollem Risiko ließ er los.