Olivier Guez, 1974 in Straßburg geboren, ist Autor und Journalist. Er arbeitete unter anderem für Le Monde, die New York Times und die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Für das Drehbuch von »Der Staat gegen Fritz Bauer« erhielt er den deutschen Filmpreis. Sein Roman »Das Verschwinden des Josef Mengele« (Aufbau, 2018) wurde zum internationalen Bestseller und stand in Deutschland viele Wochen auf der Spiegel-Bestseller-Liste. Olivier Guez lebt in Paris.
Nicola Denis wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Sie übersetzte u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Éric Vuillard, Olivier Guez und Anne Dufourmantelle. Nicola Denis lebt seit vielen Jahren in Frankreich.
»Dem Charme von Jacques Koskas muss einfach jeder erliegen!« Leila Slimani
Jacques Koskas hockt in der französischen Provinz, träumt von wilden Liebschaften und einer Karriere als Journalist. Doch der Mittdreißiger wird von den Erwartungen seiner sephardisch-jüdischen Familie gequält. Irgendwann hält es Koskas nicht mehr aus und steigt in den nächsten Zug nach Berlin. Dort lernt er Barbara kennen. Durch Berlins Straßen und Kneipen weht die Aufbruchstimmung der Nullerjahre und Koskas glaubt endlich zu wissen, wo er hingehört. Bestsellerautor Olivier Guez nimmt uns mit auf eine humorvolle, philosophische Reise in seine Vergangenheit. »Koskas und die Wirren der Liebe« ist sein Debüt, aber vor allem sein persönlichstes Buch!
»Herrlich amüsant!« David Foenkinos, Bestsellerautor
»Kraftvoll, sprühend und unverschämt!« Le Figaro littéraire
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Koskas und die Wirren der Liebe
Roman
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Inhaltsübersicht
Über Olivier Guez
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Epilog
Glossar
Impressum
Meinem Vater, diesem Helden
Frage nie jemanden nach deinem Weg.
Es könnte sonst sein, dass du dich nicht verirrst.
Rabbi Nachman von Brazlaw
Man muss warten, bis der Zucker schmilzt.
Henri Bergson
Samstag, 6. Oktober 2003
Sie sah ihn an. Eine üppige nackte Nixe am Ufer. Von ihren mandelförmigen Augen ging ein sanftes, entwaffnendes Leuchten aus, ein Appell an sämtliche Sinne. Sie war den orangefarbenen Fluten entstiegen und kam auf ihn zu. Sie sah ihn an, Jacques fehlten die Worte, seine Hände zitterten, Schweiß perlte ihm von der Stirn, und aus seinen Augen sprudelten Tränen wie aus einem Brunnen. Die Meerjungfrau war strahlend schön, Jacques aber schluchzte.
»Warum weinst du, Jacques?«
»Wer bist du? Woher weißt du, wie ich heiße?«, stammelte er.
»Ich bin die Leopardin, deine Leopardin. Du hast nichts zu befürchten, Jacques!«
»Woher kommst du? Welcher Fluch hat dich dem Wasser entrissen?«
»Beruhige dich und vertrau mir. Ich bin die, auf die du schon immer gewartet hast, von der du Nacht für Nacht träumst und die du an jedem Tag, den Gott gemacht, herbeisehnst.«
»Wirklich? Ich weiß nicht. Du bist die Leopardin?«
»Ja. Mach dir nur keine Sorgen mehr, und hör auf zu weinen!«
Die Leopardin strich über die langen Locken, die Jacques’ Gesicht rahmten, und schloss ihn fest in die Arme, so wie ihn noch nie jemand umschlungen hatte. Er entspannte sich, während der Scirocco seine Tränen trocknete, und hielt dem Kirschmund der Leopardin blaue Weintrauben, saftige Beeren und feuchte Feigen hin. Die Leopardin leckte ihm die Finger, und bald würde er ihre prallen Lippen lecken. Ihre heißen Zungen wanden sich im Takt umeinander, sinusförmige, ausgetrocknete Ellipsen. Nun bebte die Leopardin vor Lust. Ihre herrlichen Brüste schienen Jacques geradezu anzuflehen.
Schon wollte er nach ihnen greifen, als er plötzlich einen heftigen Schmerz in der Rippengegend verspürte. Ein mit unverdauten Pepperoni angereicherter Atem ruinierte den paradiesischen Augenblick.
»Ya rabbi, Jacques! Wach auf, verdammt noch mal! Dein Vater wird gleich die Thora vorlesen. Und du wirst uns wieder mal blamieren!«
Jacques verfluchte seinen Großonkel Ezechiel, der mit seinem Mundgeruch die Leopardin verscheucht hatte. Er streckte seinen langen Körper und rieb sich, geblendet von den Neonröhren der sephardischen Synagoge im guten alten S., gähnend die Augen. Er lockerte seinen Krawattenknoten. Wie jedes Jahr hatte der Küster die Heizung schlecht reguliert, und Jacques langweilte sich an Jom Kippur zu Tode. Raoul Chelly, der Gemeindevorsitzende, hämmerte mit seiner feisten Faust auf das Pult.
»Rabotai, spenden Sie für unsere schöne Synagoge, deren Renovierung auch 5764 noch nicht abgeschlossen sein wird!«
Die Zuhörer machten ihrem Unmut Luft, allerdings ohne den Redner aus dem Konzept zu bringen.
»Das Überleben unserer Gemeinde steht auf dem Spiel. Es geht um die Zukunft unserer Kehillah, unserer lieben Kinder und um unser Schicksal als Juden in diesen dramatischen Zeiten, wo unsere Feinde uns verleumden. Amen!«
Die Versteigerung begann, alle hielten die Luft an. Sämtliche Arme schossen in die Höhe, auf der Empore stießen die Frauen unterdrückte Schreie aus, während die Preise explodierten. Um an Jom Kippur die Haftara lesen zu dürfen, war man bereit, sich gegenseitig abzumurksen. Der Gemeindevorsitzende Chelly, von seinen Untergebenen »das Pummelchen« genannt, rieb sich die Hände: Ihm schwebte eine neue Mikwe für seine Gemeinde vor, renommierte Vortragsgäste aus der ganzen Welt, ein Satz zweifarbiger Tücher für die Pfadfindergruppe Pinhas und vor allem, ja vor allem endlich eine blickdichte Sicherheitsschranke – manche nannten sie Mauer –, die die vereinzelten unreinen Geister in der Zuhörerschaft daran hindern würde, nach einer zarten Fessel oder einem spitzen Schuh auf der Frauenempore zu schielen.
»Fünfzehntausend zum Ersten, fünfzehntausend zum Zweiten, fünfzehntausend zum Dritten! Jacques Haïm Khamous Clément Koskas, Sohn von Jacques Issac Koskas, gelobt sei dein Name!«, brüllte das Pummelchen.
Jacques Senior, Jacques’ Vater, hatte seine marokkanischen Gegner bezwungen, sodass im Hause Gottes bald der anmutige tunesische Ritus erklingen würde. Jacques seufzte. Sein Vater, ein in der ganzen Gegend bekannter Gynäkologe, hatte sich wieder einmal übers Ohr hauen lassen: Die Bieter waren Verschwörer, sie hatten nie ernsthaft vorgehabt, die Mitzwa zu erwerben, sie wollten nur Koskas drankriegen, wie immer an Jom Kippur, schon seit Ewigkeiten. Der Großonkel Ezechiel brummte in seinen Bart, dass er mit einer solchen Summe gut zwei Jahre hätte leben können. Guibor, Jacques’ vorbildlicher Schwager, blieb unerschütterlich.
»Die Perversen gleichen einer stürmischen See, die sich nicht besänftigen lässt und deren Gewässer brodeln vor Schlamm und Schlick. Kein Friede, sagt mein Gott, den Bösen!«
Die Stentorstimme jagte den Gläubigen einen Schauder über den Rücken, und Jacques ließ seine Seele baumeln. Er bewunderte die mit den zwölf Stämmen Israel geschmückten Glasfenster, zupfte seine Ärmel zurecht und glättete sich die langen Koteletten, während er den Gemeindebrief überflog. Dort wurde der Tod eines vermögenden Viehhändlers beklagt. Jacques gähnte verstohlen, sein Schlaf war schon im Morgengrauen vom Gurgeln seines Vaters und dem Kreischen seiner Nichten Batia und Chani unterbrochen worden. Ihre Eltern, Ruth und Guibor, ehemals Céleste und Jean-Rémi, hatten sie aus Israel importiert, um die Festtage im Kreis der Familie zu verbringen.
Am Morgen des Versöhnungstags herrschte bei den Koskas stets ausgelassene Freude. Es war nicht so, dass diese erlauchte Familie sich nichts vorzuwerfen gehabt oder nicht gottesfürchtig gelebt hätte. Jacques Senior und seine Gattin Claire, eine unfehlbare Urologin, übertrieben es, um etwas von der Welt zu sehen, mit den Ärztekongressen, waren aber nicht minder auf ihre Traditionen bedacht. Insbesondere Jacques wachte streng über die Ahnenreihe illustrer Rabbiner und Kabbalisten aus Nabeul-sur-Mer, einer Ortschaft in Tunesien, wo einer seiner Vorfahren zur Zeit Amadeus I. sogar Konsul des erzkatholischen Spaniens gewesen war. Claire Koskas, geborene Scholem, hatte ihre aufklärerischen Ambitionen zurückgestellt, nachdem sie auf dem Facharztball diesen spindeldürren Angeber, nach dessen Schnurrbart sich damals alle Krankenschwestern auf der gynäkologischen Station des Unikrankenhauses verzehrten, kennengelernt hatte. In jener Nacht hatten Jacques und Claire zu Popcorn von Hot Butter wild getanzt, und als im schummrigen Licht die ersten Takte von La maladie d’amour erklangen, hatten die beiden jungen Ärzte, Claire und Jacques, Jacques und Claire, begriffen, dass es endgültig um sie geschehen war. Seitdem entschuldigte sie unzählige Verspätungen und Verrücktheiten ihres Gatten, wie zum Beispiel das Verbot, am Schabbat kein Feuer zu entfachen. Sie tolerierte die ausgedehnten Besuche seines Pariser Onkels, des steinreichen Ezechiel, analphabetischer Herold aus der Blütezeit des Sentier-Viertels. Hypochondrisch, von ebenso rätselhaften wie kurzlebigen Krankheiten befallen und häufig von Blähungen geplagt, stattete er seinem Neffen regelmäßige Besuche ab, damit dieser ihm zu Terminen mit den besten Spezialisten im Rheintal verhalf. Fast achtzigjährig hatte Ezechiel seit Langem sämtliche Management-Tricks des jungen Jahrhunderts verinnerlicht und, als berüchtigter cost cutter und legendärer Geizkragen, S. am Vortag an Bord eines holländischen Sattelschleppers per Anhalter erreicht.
Bei dem Festschmaus vor dem Feiertag hatte der Millionär vor einem Berg von Couscous, den Claire mit der Zeit immer raffinierter zuzubereiten wusste, der Dame des Hauses eine minina und drei gammlige Zitronen überreicht. Batia und Chania hatte er zwei Puppen aus Lumpen, Streichhölzern und angepinselten Kichererbsen mitgebracht. Ruth und Guibor, beides Augenärzte, und die Koskas plauderten mit vollem Mund und fettigen Fingern über Nierenszintigraphien, Vasektomien und Beckenbodenschmerzen, während sie an ihren Multivitaminsäften nippten. Jacques, den Kopf über seinen überquellenden Teller gebeugt, sagte als Einziger kein Wort. Die Vorstellung, aus Wasser und Fleisch, aus Blut und ein paar defekten Organen zu bestehen, machte ihn krank. Mit achtzehn hatte auch er sich mit dem Gedanken an eine medizinische Laufbahn getragen, doch der Besuch eines Krankenhauses mit seinem Ballett aus Gehbehinderten und Rollatoren, dem Karussell der Tragen und Tabletts, die zu einer Uhrzeit serviert wurden, wenn andere, zivilisierte Völker Tee tranken, vor allem aber mit seinem Formolgeruch, hatte ihn für immer davon abgebracht. Die Koskas verschmerzten diese Enttäuschung, als sie ein paar Jahre später ihren famosen Schwiegersohn Guibor Zylberstein kennenlernten.
Der scheue Zionist war ausnahmsweise mal gesprächig. Er lag gerade in den letzten Zügen seiner Doktorarbeit, eine poetisierende Studie über die Familienvorkommen der Birdshot-Chorioretinopathie. Warum neigten die Träger des Antigens HAL-A29 eher dazu, eine chronische beidseitige posteriore Uveititis mit den charakteristischen gelblichen Flecken im Augenhintergrund zu entwickeln als Nichtträger dieses HAL-Merkmals? Batia und Chani bereiteten dem reizenden Geplauder ein jähes Ende. Batia hatte ihrer Schwester die Puppe weggenommen und ihr zu allem Unglück eine Kichererbse abgerissen. Chani, trotz ihrer zwei Jahre so stark und zottig wie Samson, hatte Bania gepackt, die sofort zugekniffen hatte, und nun plärrten beide. Verärgert, dass die lieben Kleinen seine Ausführungen unterbrochen hatten, verpasste der Vater, der gerne impulsiv und heftig reagierte, den undankbaren Gören zwei Ohrfeigen. Nun brüllte die Mutter, redete auf ihre weinenden Töchter ein und schimpfte mit ihrem Gatten, sekundiert von Jacques Senior, der sie schon immer besonders gemocht hatte.
»Kommt schon, hört auf mit dem Zirkus! Das geht doch nicht am Tag vor einem gemeinsamen Jom Kippur«, dozierte das Familienoberhaupt.
Dann sprang er wie ein Stehaufmännchen plötzlich auf: Ezechiel schlug Alarm, er hatte am Himmel von S. einen Stern erblickt, das Fest war in greifbarer Nähe. Die Koskas machten sich auf den Weg zur Synagoge. Jacques blieb mit der im Gries vor sich hinvegetierenden einäugigen Marionette allein zurück. Er hatte noch nicht mal geduscht.
Er entwirrte seine langen Locken, verleibte sich eine Diät aus Bananen, ein paar Gläschen Mirabellenschnaps und zwei Litern Wasser ein, rauchte lässig am Fenster und wartete, bis es dunkel wurde, um mit dem grässlichen Fasten zu beginnen. Sein Dilettantismus, am Tag vor dem Versöhnungsfest noch geduldet, fand am nächsten Morgen, als sich die Familie auf Vater Koskas’ jüdisch-arabisch-andalusische Show vorbereitete, keine Gnade mehr. Niemand erinnerte sich, wann genau es losgehen sollte, aber entsetzt bei dem Gedanken, dass Jacques zu spät kommen könnte, überwachten seine Eltern ihn mit Argusaugen, als wäre er immer noch vierzehn. Jacques Senior ging schon einmal vor Richtung Synagoge, Claire hatte die schwierige Aufgabe, Jacques Junior daran zu hindern, sich gottlose Bücher zu schnappen, zu rauchen und zurück ins Bett zu kriechen, wobei sie von Ruth unterstützt wurde, die stets bereit war, sich für die Misshandlungen ihres Bruders von anno dazumal, als sie noch Céleste hieß, zu rächen. Einmal, das war ihr unvergessen, hatte er ihre Zahnbürste mit Ezechiels Pepperoni eingerieben.
Derart engmaschig überwacht, hatte Jacques die Synagoge erstaunlicherweise sogar mit ein paar Minuten Vorsprung erreicht. Jacques Senior erbrachte eine Darbietung auf höchstem Niveau, eine Spitzenleistung, wie sie selbst der Gemeindeälteste Benchimoun, ein Veteran aus dem Rifkrieg, noch nicht erlebt hatte. Nachdem er ein paar weitere hundert Euro für die guten Werke des Pummelchens draufgelegt hatte – sein Nachbar von gegenüber –, stürzte sich der angegraute Schnulzensänger, wie Muhammed Ali bei seinem Triumph in Kinsasha, unter dem Freudengeheul der weggesperrten Frauen, die er als Einziger intim kannte, auf seine Bewunderer. Den Schnurrbart hochgezwirbelt und mit hochroten Wangen schüttelte der Mann, der soeben dem Ewigen, unserem Gott und König des Universums, gedankt hatte, sämtliche ihm entgegengestreckte Hände. Obwohl sein Wanst in den letzten Jahren spektakulär angeschwollen war, glitt Doktor Koskas in seiner Bundfaltenhose, die ihm im Rapper-Outfit tief auf den Hüften saß, geschmeidig wie eine Raubkatze durch die Reihen der Gläubigen. Er umarmte und küsste ausgiebig, wobei einer seiner überschwänglichsten Fans an jenem Tag bestimmt Gabriel war, Jacques’ früherer Freund aus seiner Zeit an der Talmud-Schule von Yehouda Halevi. Der junge Mann umschlang ihn so beherzt, dass er dabei fast seine Starck-Brille mit dem Biolink-Gelenk verloren hätte.
Auf Gabriel ruhten sämtliche Hoffnungen der sephardischen Gemeinde von S. Ausgesprochen frühreif für seine einundzwanzig Jahre, hatte er eine erste Abhandlung über die geo-ökonomischen Herausforderungen der Wasserreserven auf den Golanhöhen verfasst, die in einer Randbemerkung der Revue française de science politique über den grünen Klee gelobt worden war. Seither erfreute er sich zunehmender Bekanntheit: Der Schreibwütige hatte etliche Schwarten über den israelisch-palästinensischen Konflikt verfasst, einen geostrategischen Atlas zu Galiläa, und, nicht zu vergessen, einen Band mit Kochrezepten aus der Zeit des Propheten Samuel, der 2002 den Spezialpreis der Women’s International Zionist Organization gewonnen hatte. Gabriel hatte den Clausewitz-Lehrstuhl an der Université de Bretagne ausgeschlagen, um nach S. zurückzukehren, wo er an der Yehouda-Halevi-Schule Geschichte und Erdkunde unterrichtete und nun auf eine seiner herausragenden intellektuellen Veranlagung entsprechende Berufung an der Fakultät wartete. Pünktlich und beflissen, wie er war, zählte Gabriel bereits zu den Honoratioren.
Der Gottesdienst ging weiter, und Jacques Senior setzte sich wieder auf seinen Platz. Sein Schwiegersohn Guibor gratulierte ihm mit verkniffenen Lippen, während Ezechiel in eine seiner Hängebacken griff.
»Hazak! Du wirfst zwar das Geld zum Fenster raus, aber deiner heiligen Mutter und den Koskas hast du alle Ehre gemacht!«
Jacques umarmte seinen Vater ungeschickt, hätte ihn (er war einen Kopf größer) um ein Haar umgeworfen und machte sich schleunigst aus dem Staub. Zum fünften Mal an diesem Vormittag ging der Trottel pinkeln, bevor er sich mit einem genialen Trick, den er sich als Kind ausgedacht hatte, um der lähmenden Synagoge zu entkommen, fortstahl.
In dem direkt ans Gotteshaus angrenzenden Parc du Contades steuerte Jacques auf eine einladende Bank zu und steckte sich unauffällig eine Zigarette an. Ein paar dem Gemeindezentrum entronnene Kinder spielten Ball auf dem Rasen, und Mütter mit ausgefallenen federgeschmückten Kopfbedeckungen schoben Kinderwagen vor sich her. An den Füßen Espadrilles aus unbeflecktem Leinen, wie das jüdische Gesetz es vorschrieb, beschnupperten sich in der Nähe des Musikpavillons ein paar Jugendliche. Jacques blieb ein, zwei Stunden so sitzen, zunehmend hungriger, leicht zugedröhnt und eine gähnende Leere im Kopf, während er das Kommen und Gehen bis zur nächsten Gebetspause beobachtete.
Trotz des unappetitlichen Himmels ergossen sich jetzt die Gläubigen über die Parkwege. In ihren Babouches schlurften alte Graubärte heran, mit weißen Togen und Feldmützen, am Tag des göttlichen Gerichts nach Reinheit lechzend. Junge Leute, frisch aus London, New York oder Hong Kong eingeflogen, unterhielten sich mit angehenden Wirtschaftsprüfern und bereits zu Wohlstand gelangten Optikern. Sie kannten sich alle aus der Pfadfindergruppe Pinhas und ließen keine Gelegenheit aus, ihre Heldentaten anlässlich der alljährlichen Wiedersehen an den sakrosankten Feiertagen des Tischri heraufzubeschwören.
Jacques schlenderte zum Rest seiner Familie am Sandkasten. Eine Schar sonntäglich gekleideter Sünder begrüßte das illustre Arztehepaar, dem viele ihre fabelhafte Fruchtbarkeit und neugewonnene Manneskraft zu verdanken hatten. Nebenbei unterzogen sie Jacques einem strengen Verhör. Fastete er auch richtig? Wo lebte er jetzt? War er verheiratet? Worauf wartete er noch, um sich fortzupflanzen? Wurde er als Journalist denn auch gut bezahlt? War die Nachrichtenagentur AFP wirklich antisemitisch? Diejenigen, die wie der bucklige Ezra Schapiero bereits beträchtlich geschrumpft waren, fragten ihn, ob er wohl noch weiterwachse. Die Augen gen Himmel gerichtet, die Hände in seiner haselnussbraunen Schlaghose vergraben, beantwortete Jacques lakonisch alle existenziellen Fragen. Ja, er stelle sie sich regelmäßig selbst, und nein, er habe keine Antworten, nur Durst und Hunger, einen Riesenkohldampf, und schon gar nicht sei er verheiratet, »Gott bewahre«. Batia und Chani vergingen vor Ungeduld, und er nahm ihr Gezappel zum Vorwand, um sich zu verkrümeln.
»Es gibt Städte, in denen es nach Sauerkraut riecht. Dagegen hilft kein Barock«, murmelte er in Erinnerung an seinen Lehrmeister Joseph Roth und entfernte sich von all den Labertaschen, die sich, nur weil sie an diesem Morgen ihren Zwieback nicht in den Kaffee getunkt hatten und Plastiksandalen trugen, von ihrem täglichen Geläster geläutert glaubten.
Während er die Mädchen zur Rutschbahn zog, sah er, wie Ezechiel sich Reisig und Kieselsteine in die Taschen stopfte. Der alte Hase würde wohl bald an einer Halogenlampe, einem Blitzableiter oder einem anderen Kunststück werkeln. Jacques hegte die ungute Vermutung, dass sein alter Freund Gabriel irgendwo in der Nähe stecken musste. Als er in der Synagoge dessen Freundin begegnet war, hatten ihn ihr üppiger Hintern und ein Wust hochgesteckter Haare, der die kindliche Rundung von ihrem Gesicht unterstrich und von einem unebenen Gebiss ablenkte, wie immer ganz kirre gemacht. Was fand dieses sinnliche Mädchen bloß an diesem Lackaffen, der sommers wie winters in kurzärmligen pastellfarbenen Hemden herumlief? Das blieb ein Geheimnis Gottes. Von Weitem sah Jacques, wie Gabriel vor den Schaukelpferden mit dem Pummelchen plauderte. Geistesgegenwärtig machte Jacques auf dem Absatz kehrt. Versprochen, seine Nichten sollten sich mit ihren Hüpfhasen amüsieren, aber an einem ruhigeren Ort.
Bloß nicht Gabriel über den Weg laufen, diesem Doppelspiegel, der ihm die eigenen Verfehlungen vorhielt. Jacques schnappte sich Bania und Chani und floh aus der Gefahrenzone. Das Trio ging an beängstigenden neogotischen Villen vorbei und stand plötzlich auf einer stinkenden Hauptverkehrsader voller blauer Zwerge, die mit einem Höllenlärm den Gehweg aufrissen. Die Mädchen brachen völlig verschreckt in Tränen aus, als ein Krankenwagen mit heulender Sirene, gefolgt von der Feuerwehr, vorbeiraste. Für die Bonbons, die ihr Onkel (wie durch ein Wunder) gerade aus einer Tasche seines Trenchcoats gezaubert hatte, erntete er nur eine angewiderte Grimasse.
»Hier isses hässlich! Wir wollen zur Rutsche, Onkelchen«, plärrten die gegen den Unverantwortlichen verbündeten Zwerginnen.
Vor ein paar verblüfften Passanten spielte er seine letzte Karte aus, sein absolutes Highlight: Er flatterte mit den Mantelschößen und brüllte »Krakukas!«, doch anstatt hochzufliegen, wäre er um ein Haar im Gully hängengeblieben. Jetzt war das Maß voll: Unter den skeptischen Blicken der Schaulustigen zwangen seine Nichten ihn umzukehren. Und natürlich, sobald sie wieder im Park waren, standen sie plötzlich vor Gabriel und Delphine.
»Deine Töchter sind ja zauberhaft! Die hast du uns aber bisher vorenthalten, du Geheimniskrämer«, scherzte der Geopolitikwissenschaftler.
Zu spät, Jacques riss sich zusammen und ging auf Gabriels Ton ein:
»Nicht schlecht, nicht schlecht, lieber Gabriel. Schön, dich in so charmanter Gesellschaft zu sehen! Batia, Chani, das sind Delphine und Gabriel. Wisst ihr, Mädels, den Mann mit der komischen Brille kenne ich schon ewig. Ich war so alt wie ihr, als ich ihn kennengelernt habe. Sagt ihr ihm Hallo?«
»Nee! Der Gabriel is hässlich. Pipikacka Gabriel«, stänkerte Chani und streckte ihm die Zunge raus.
Die beiden Weibsbilder blieben ungerührt und gänzlich unempfänglich für den Zweireiher, geschweige denn den Pelz, der kokett aus seinem Hemd lugte.
»Was soll’s, Gabriel, man kann nicht jedem gefallen«, grinste Jacques. »Ihr täuscht Euch, Mädels! Der ist supernett und hat außerdem eine Menge drauf. Er kann sogar den Hubschrauber. Gabriel, komm, nicht so schüchtern, die beißen schon nicht. Heb sie einfach hoch und dreh dich ein bisschen!«
»Nee!«, insistierte die freche Chani. »Wir wollen auf die Rutsche!«
»Soll Gabriel mitkommen?«
»Ja, ja, Onkelchen!«
»Gabriel, ich glaube, du hast keine Wahl. So hübschen jungen Damen kann man doch nichts abschlagen.«
»Aber ja, mein Schatz, geh nur, du magst Kinder doch so«, pflichtete Delphine bei und gab ihm einen flüchtigen Kuss.
Als sie endlich allein waren, entschuldigte sich Jacques in aller Form dafür, sie vorhin in der Synagoge nicht begrüßt zu haben.
»Keine Sorge, Jacques, wir wissen doch alle, dass der Vormittag von Jom Kippur für dich immer stressig ist.«
»Danke für dein Verständnis«, sagte er und nahm ihren Arm. »Was gibt’s Neues bei euch?«
»Du hast doch bestimmt Gabriels Artikel in Jeux et Stratégies über die Skagerrakschlacht gelesen. Stell dir vor, der Chefredakteur war so begeistert, dass er ihm vorgeschlagen hat, eine monatliche Kolumne über die wichtigsten Schlachten der Geschichte zu schreiben! Und nächste Woche hält er an einer flämischen Universität einen Vortrag über die Geopolitik der Schia. Wirklich, ich staune immer mehr über Gabi.«
»Tatsächlich«, stammelte Jacques. »Seit wann interessiert er sich denn für die Schia?«
»Noch nicht so lange. Aber er sagt immer, dass man gar nicht viel wissen muss, um sich in den Medien zu äußern, es würde reichen, ein paar grundlegende Texte zu lesen und sich mit echten Spezialisten zu unterhalten. Einer seiner Lieblingssätze lautet: ›Wer wagt, gewinnt‹. Ich liebe diese positive Einstellung.«
»Und bei dir?«
»Hat dir Gabriel nichts gesagt?«
»Nein, ach weißt du, wir sprechen uns ja nicht mehr oft. Was denn?«
»Wir heiraten!«
»Endlich! Mazel tov«, brachte Jacques mit einiger Überwindung hervor.
Während er sie keusch auf die Wangen küsste, nutzte er die Gelegenheit, um ihren wohlgerundeten Hintern zu bewundern.
»Und was gibt’s Neues bei dir, Jacques? Bist du immer noch mit diesem Mädchen zusammen? Wie heißt sie doch gleich? Bei dir weiß man ja nie genau!«
»Charlotte? Nee, das ist vorbei. Wir waren einfach nicht auf einer Wellenlänge.«
Mittlerweile standen sie auf dem Spielplatz, wo Batia hoch in den Himmel schaukelte, während Chani neben der Rutsche mit einem anderen Zwerg stritt. Gabriel wirkte eindeutig überfordert. Zum Glück läuteten ein paar vom Himmel fallende Tropfen das Ende der Pause ein, Gott rief seine Schäfchen zum Gebet zurück.
»Ich überlasse dir deine reizenden Nichten wieder, Jacques. Tausend Dank für diese schöne Aufheiterung meines Tages!«
»Auf mich ist immer Verlass, Gabriel. Ich bring sie zu eurer Hochzeit mit. Bis bald mal wieder! Batia, Chani, strammgestanden, rechtsum kehrt und marsch, ab nach Hause!«
Jacques stürzte sich auf die beiden Mädchen und klemmte sie sich wie zwei kleine Teppiche unter den Arm. Im proppenvollen Gang des Gemeindezentrums, hinter der Sicherheitskabine, in der ein pockennarbiger Gnom sein Unwesen trieb, übergab er sie wieder ihrer Mutter, die gerade dabei war, einer ehemaligen Klassenkameradin das Heilige Land in den schönsten Farben auszumalen.
Vor dem Speiseplan des Kindergartens trocknete er seinen Wuschelkopf, während ihm in Anbetracht des Mittagsmenüs vom 8. Oktober (geriebene Möhren, Pilawreis, Fleischklößchen, Apfelkompott) das Wasser im Mund zusammenlief. Plötzlich packte sein Vater ihn am Arm und zog ihn mit in den Gebetsraum, wo der Gottesdienst wieder im Gange war.
Die Stunde war ernst, bald würde der Hirte Israels die Namen der glücklichen Auserwählten ins große Buch des Lebens schreiben. Die abgezehrten Gläubigen knieten nieder, schlugen sich an die Brust und warfen sich zu Boden. Guibor klopfte sich an den Oberkörper, den großen Gebetsschal über den Kopf gebreitet, und Großonkel Ezechiel leierte Bittgebete auf Aramäisch herunter. Jacques schaute ständig auf die Uhr.
»Du kannst wirklich nicht aus deiner Haut, oder?«, schnauzte sein Vater ihn an. »Du benimmst dich wie ein Achtjähriger. Gott weiß, wo du mit den Gedanken bist. Interessiert dich das alles denn gar nicht?«
»Doch, doch«, verteidigte er sich lustlos. »Ihr seid nur alle so konzentriert auf das Gebet, ich passe eben auf, dass der Gottesdienst nicht zu lange dauert. Ich bin Kronos und wache über eure Raum-Zeit.«
»Unsere Raum-Zeit, na wunderbar … Willst du uns verarschen?«, tobte Jacques Senior, dem dabei die Kippa vom Kopf fiel. (Beim Aufheben sah er neben den Füßen seines Sohnes eine Umhängetasche). »Warum hast du denn deine Tasche in die Synagoge mitgenommen?«, schimpfte er.
»Um Zeit zu sparen.«
»Die Zeit, die Zeit! Heute haben wir doch alle Zeit der Welt. Der einzige Tag im Jahr, wo sie mal nicht zu knapp ist. Welche Zeit willst du denn sparen?«
»Ich gehe nachher direkt zum Bahnhof, damit ich noch ein bisschen länger mit dir in der Synagoge bleiben kann.«
Jacques verkündete seinem Vater, dass er um 20 Uhr 06 den Zug nach Paris nehmen würde. Jacques Senior wusste nicht mehr ein noch aus: Um diese Zeit sei der Gottesdienst längst nicht vorbei! Ja, habe Jacques denn völlig den Kopf verloren, kaum da, sei er auch schon wieder auf und davon. Es gehe rapide bergab mit ihm, er müsse höllisch aufpassen, in seinem Alter seien schon andere auf die schiefe Bahn geraten. Jacques Senior verlangte eine Erklärung für diesen überstürzten Aufbruch, der das Leben seines Sohnes gefährdete – noch vor Ablauf des Versöhnungstags in einen Zug zu steigen, wie konnte er nur.
»Ist es wenigstens für deinen Job? Sitzt du an einem neuen Projekt? Eine Party bei den Koryphäen? Bei Bernard-Henri Lévy? Oder Claude Lévi-Strauss?«
Jacques schüttelte den Kopf und versuchte, seinen Vater zu beruhigen, indem er ihm das Proviantpaket zeigte, das seine Mutter zum Ende der Fastenzeit für ihn vorbereitet hatte: Wenigstens würde er keinen Schweinkram im Bordbistro essen.
»Deine Mutter lässt dir eben alles durchgehen, aber ich falle nicht darauf rein. Hast du denn keine Lust, an Jom Kippur einen Familienabend zu verbringen? Deine Schwester ist extra mit den beiden Kleinen aus Israel angereist. Ihr seht euch doch sonst nie. Und deine Mutter hat Heringe mit Sahne zubereitet, obwohl sie völlig abgekämpft ist. Die Traditionen, Jacques, die Traditionen, da geht doch nichts drüber. Denk daran, wenn du auf deiner schicken Party bist. Und wann besuchst du uns das nächste Mal? An Hanukka?«
»Papa, ich hab’ keine Ahnung, das ist in drei Monaten! Wir …«
»Ruhe«, schnauzte der Gemeindeälteste Benchimoun.
»Jacques, versprich mir wenigstens, nicht zu viel zu trinken und zu rauchen«, flehte Jacques Senior einen Tick leiser.
»Versprochen!«
»Baba Jacques, du würdest mir das Blaue vom Himmel versprechen, damit ich dich gehen lasse.«
»Überhaupt nicht. Das schwör ich dir hoch und heilig. Aber ich muss bald los, damit ich mich nicht so abhetzen muss, ich soll mich doch schonen.«
»Wenn’s unbedingt sein muss«, seufzte Jacques Senior. »Shana tova u’metuka, mein Sohn, frohes neues Jahr! Achte auf deine Gesundheit, bitte. Sonst wirst du zum Wrack, du …«
»Ich weiß. Nicht schon wieder, Papa, bitte. Ich muss los, es ist wirklich wichtig. Dir auch alles Gute!«
»Verabschiede dich auch von deinem Großonkel und deinem Schwager. Mach dich nicht einfach so aus dem Staub!«
Als guter Sohn und raffinierter Taktiker tat Jacques wie ihm geheißen. Am liebsten wäre er wie ein Vöglein davongeflogen, doch mit seiner Tasche beschwert, musste er die gesamte Sitzreihe aufstehen lassen, um sich einen Weg zu bahnen. Als der Schamlose den Ausgang erreichte, warfen ihm die Anwesenden empörte Blicke zu, sein Vater sah bekümmert drein, Gabriel spöttisch.
Wie auch immer, auf dem Weg zum Bahnhof lächelte Jacques.
Ein menschenleeres Abteil. Auf dem orangefarbenen Kunstleder breitete Jacques das Büfett aus, das er sich zum Abschluss des Versöhnungstags zusammengestellt hatte. Eine Suppe aus Felsenfischen, ein in Garum und Essig gegrilltes Zicklein, gekochter Meerrettich, ein Weizenbrot, eine Dose Met sowie eine Phiole mit duftendem Weißwein. Von dem Wohlgeruch angelockt, war sein Schwager Guibor herbeigeeilt, um der Vorbereitung dieser sonderbaren Gerichte beizuwohnen – Claire Koskas stand unter der Oberaufsicht ihres Sohnes am Herd – und zu fragen, ob er sich neuerdings für Molekulargastronomie interessiere. »Du bist ein kleines Genie«, hatte ihm der mysteriöse Chefkoch entgegnet und ihn auf der Stelle aus der Küche befördert. Der israelische Augenarzt konnte das nicht verstehen. Im Übrigen hätte niemand, mit Ausnahme vielleicht von Jacques’ bestem Freund Cosmo Levitan und dessen Mutter (doch darum geht es hier nicht), begriffen, was er hier köchelte.
An einem Frühlingsnachmittag hatte Jacques auf einer Bank im Jardin du Luxembourg Die Kräfte der Nahrungsmittel, ein Buch von Galenos, gefunden. Von dem Zauberbuch des berühmten griechischen Gelehrten hatte er sich, wie er meinte, das Wesentliche gemerkt, nämlich, dass die absorbierten Nahrungsmittel Qualität und Frequenz des Geschlechtsakts bedingten. Bei den Bouquinisten am Seine-Ufer hatte Jacques noch weitere Abhandlungen von Galenos, Ovid, Lukian und Rufus von Ephesos (bald sein bevorzugter Therapeut) aufgetrieben, sodass er auf dem Gebiet der Sexualdiät künftig unschlagbar war, seine Gewürze dosierte, Körner aß und allmorgendlich seinen Urin prüfte.
Aphrodisia, aphrodisia. Bei seiner Ankunft in Paris würde es voraussichtlich kühl sein. Die Bouillabaisse aus Felsenfischen, die sich leicht im ganzen Körper ausbreitete, würde ihm helfen, seine Organe anzuwärmen und die starren Körpersäfte zu lösen. In der kommenden Nacht musste Jacques in Spitzenform sein, nicht etwa, um sich, anders als behauptet, mit den Kadiweu-Indianern am Rio Paraguay zu beschäftigen, sondern weil er ein Date mit Serena Bensoussan, der »Tigerin«, hatte.
Nachdem er einen letzten Schluck Met getrunken hatte, streckte er die Beine aus. Absolute Ruhe begünstigte das allmähliche Aufsteigen des Saftstroms, ja, nach Aristoteles galt das Sperma als Endprodukt der Verdauung. In seinem Walkman wogten Händels Klaviersuiten.
Nie und nimmer hätte Jacques Koskas in diesem rumpelnden Zug durch die Plaine Champenoise sitzen sollen. Sein Platz war am elterlichen Esstisch, im Kreise der Nichten und Heringe. Alles prädestinierte ihn dafür, und lange hatte er sich auch mit derlei einfachen, tröstlichen Freuden begnügt.
Jacques war ein folgsames und ängstliches Kind gewesen. In knielangen Hosen und weißen Söckchen, die Haare stets akkurat auf der rechten Seite gescheitelt, besuchte er jeden Sonntagabend seine Großeltern, Maurice und Greta Scholem, während seine Erzeuger im Krankenhaus ihren Verpflichtungen nachgingen. Nachdem er seine Hausaufgaben erledigt hatte, schlüpfte er, während Céleste Totenköpfe auf die eierkremgelben Wandbespannungen des Biedermeierzimmers malte, frühzeitig in seinen Schlafanzug und schaute mit ungebrochener Faszination Des chiffres et des lettres. Neben ihm rauchte sein über alles verehrter Opa einen Zigarillo und las in seinem Mahagonisessel L’Aurore. Jeden Mittwochnachmittag nach dem Junior-Training des AS Menora – trotz seiner Schüchternheit konnte Jacques ausgezeichnet dribbeln – schrieb er wie sein Held, Le Petit Chose von Alphonse Daudet, den er immer wieder mit Rührung las, mit einer Schreibfeder Artikel aus dem Kinderlexikon ab. Wenn sein Freund Gabriel zu Besuch kam, bauten sie riesige Messerschmitt-Modelle und bemalten Miniatursoldaten, während ihr Kinderlachen durch die Wohnung der Scholems schallte. Die beiden Buben rekonstruierten die großen Schlachten der Geschichte, entwarfen Bahnhöfe und Gleisübergänge, Fachwerkhütten und schmucke Rathäuser, die sie auf einer Sperrholzplatte anordneten, auf der die elektrische Eisenbahn, ein Geschenk von Väterchen Chanukka, ihre Bahnen zog.
Diese Freizeitbeschäftigungen, bis zu seiner religiösen Mündigkeit noch vertretbar, wurden suspekt, als Jacques Ende der 1980er Jahre auf die fünfzehn zuging. Tagtäglich vertiefte sich der Graben zwischen ihm und Gabriel, über dessen Brust und Rücken sich bereits ein dichter Pelz zog. Seine Klassenkameraden am Gymnasium, die in Adidas-Trainingsjacken steckten, konnten Seilklettern wie kräftige Schimpansen und streiften abends um die Mädchenschule Notre-Dame-de-Sion. Bis es endlich so weit war, wichsten alle wie besessen vor den pixeligen Bildern der Cicciolina auf ihrem Commmodore 64 oder, zumindest die Sprösslinge der betuchtesten Familien, auf ihrem Atari ST. Auf dem Parkplatz vor dem Bowling stellten sie bei wilden Moped-Rodeos ihre Männlichkeit zur Schau, rissen die Vorderräder hoch oder fuhren waghalsige Schleudermanöver. Manche waren schon mit den künstlichen Paradiesen vertraut und regelmäßig besoffen. Wieder andere wie Kevin oder Jean-Sébastien ließen sich von ihren Vätern im Renault 25 mit ihren ersten Dates in obskuren Waldherbergen absetzen.
Unbeeindruckt von der hormonellen Störung seiner Mitschüler, spielte Jacques nach wie vor mit Masters of Universe und saß mit dem Piratenschiff von Playmobil in der Wanne.
Jeden Mittwoch lief er in aller Frühe zum Kiosk, um sich das neue Spirou-Heft zu kaufen, und als ihm seine Großeltern zum 16. Geburtstag ein Abo schenkten, vollführte er Freudensprünge. Unter Decken versteckt, die er seine Hütte nannte, fieberte er mit den Blauen Panthern und der Maus Sibylline, während ihn die Rundungen von Natascha, der Stewardess, völlig kalt ließen. Ebenso wenig begriff er das Glücksgefühl seiner Kameraden vor den Geschöpfen von Milo Manara oder Veyrons L’Amour propre, die im Werkunterricht heimlich in Umlauf waren. Im Sommer fanden längs der Grenze auf Heuböden oder neben Bunkern Überraschungspartys statt. Aber Jacques, Fan von Beatmusik, die er auf dem Schallplattenspieler seiner Mutter hörte, guckte lieber Champs-Elysées bei den Scholems, als sich zu Nena-Songs zu verrenken, oder, noch schlimmer, sich zu einem Slow von Bonnie Tyler an einem Mädchen zu reiben. Einmal, ein einziges Mal nur, streiften seine Lippen die eines jungen Mädchens, der Tochter seines Mathelehrers, die ihn zu einem Dreisekundenkuss auf den Mund animiert hatte. Eins, zwei und drei, kaum war die Zeit abgelaufen, machte er sich zu seinen Großeltern auf, angeekelt von der durchtriebenen Zunge und der Zahnspange des unmoralischen Weibchens: Gleich würde die neue Folge von Mannix beginnen.
Welch heiliger Frieden auf seinem keuschen Gesicht!
Jacques lebte in einer anderen Welt. Unbewusst kultivierte er sein Anderssein und sollte bald dafür zahlen müssen. In der zehnten Klasse drückten ihn zwei elsässische Separatisten in Kampfstiefeln mit weißen Schnürsenkeln an die Glastür des naturwissenschaftlichen Labors. Sie packten ihn am Kragen, zerbrachen ihm die Brille und rieten ihm, »zurück nach Israel« zu gehen. Er erwähnte diesen Vorfall mit keiner Silbe, schützte einen unglücklichen Sturz vor und spielte erneut mit seinem ferngesteuerten Peugeot 205 GTI – die beiden Gentlemen mit den ausrasierten Schläfen waren bereits Vergangenheit.
Doch der Weg, den Gott ihm bestimmt hatte, war voller Fallstricke. Ein Fehltritt im Hof, und Jacques Senior raste mit ihm in die Notaufnahme, um sein Handgelenk eingipsen zu lassen. Das launische Aufprallen eines Volleyballs, und Claire Koskas hetzte zum Optiker, um dem Pechvogel ein neues Gestell zu kaufen.
Ob der Ewige ihn wirklich so schmächtig wollte? Jacques, der Kleinste in seiner Klasse, war winzig. Der Unschuldsengel durfte umsonst ins Marionettentheater, zur ausgesprochenen Freude seines Großonkels Ezechiel, der ihn begleitete und triumphierend seinen (gefälschten) Kriegsversehrtenausweis vorzeigte. Sein Noten-Masse-Größen-Quotient beeindruckte die Lehrer, denen Jacques Senior nicht zu widersprechen wagte, weil er sich an der Vorstellung berauschte, ein Genie der räumlichen Geometrie gezeugt zu haben. Sein Mangel an Reife schützte ihn vor den lasterhaften Orten, die seinem Vater ein Dorn im Auge waren. So war er am 9. Juni 1990, dem Eröffnungstag der 14. Fußballweltmeisterschaft, weinend aus der Schule zurückgekommen: Man hatte ihn nicht in den Blauen Affen gelassen, wo er zur Feier des Turnierbeginns in Italien Tischfußball spielen wollte. Doch er hatte schnell wieder Grund zur Freude, als sein Vater ihm zum Trost das Panini-Bildchen von Roberto Baggio schenkte.
Trotzdem machte seine Mutter sich Sorgen um Jacques. War es normal, dass er an der Rezeption des Hilton anrief, um zu fragen, ob seine Eltern, die bei einer Bar Mitswa-Feier waren, noch lebten? War es gesund, dass ihr Sohn sich für Karl Malden in Die Straßen von San Francisco hielt? Michael Douglas war ja noch einigermaßen akzeptabel, aber der furchtbare Karl Malden … Jacques, in einem abgetragenen Regenmantel und Ziegenlederstiefeletten, hatte sich ernsthaft eine imposante Nase gekauft, um seinem Idol zu gleichen. In dieser Zeit ging er Abend für Abend selig lächelnd in den Parc de l’Orangerie. Claire Koskas schöpfte Hoffnung. Ob ihr Sohn sich vielleicht im Schatten einer Linde oder neben einem Beet wohlriechender Rosen mit einem Mädel traf? Eines Abends überließ sie die Pimmel ihrer impotenten Patienten kurzerhand sich selbst und folgte ihm unauffällig. Jacques ging Richtung Minizoo am Käfig mit dem Sibirischen Luchs vorbei und blieb plötzlich vor dem Pony-Gehege stehen. Er pfiff den Türkischen Marsch und rief nach einem gewissen Zantafio, ein Tier mit buschigem Schweif, das mit seinen kurzen Beinen auf dem Boden zu scharren begann. Jacques streichelte lange seine Flanken und las ihm die Passage aus dem Roman de Renart vor, als Goupil und Grimbert den Wolf Ysengrin zum Besten halten. Das Pony wieherte vor Freude, und Jacques’ Mutter konnte ihre Tränen nicht unterdrücken. Am folgenden Tag wiederholte sie das Experiment und wohnte der gleichen niederschmetternden Szene bei: Der beste Freund ihres Sohnes war ein klobiges Pferd. Ihr verging der Appetit, sie wurde von schrecklichen Alpträumen heimgesucht, in denen ihr kleiner Jacques mit sechzehneinhalb in die Fußstapfen von Rudolf Höss, dem Auschwitzkommandanten, trat, der als Jugendlicher ebenfalls lieber mit Tieren als mit Menschen zusammen gewesen war.
Wehret den Anfängen. Forelle in Buttersauce, das Lieblingsessen des Führers, wurde ersatzlos vom Speiseplan der Familie gestrichen. Claire Koskas beschlagnahmte Jacques’ Spielsachen und verbot ihm, allein in den Zoo zu gehen. Seine Großeltern durfte er nur noch einmal täglich anrufen. Am darauffolgenden Schabbat tagte der Familienrat. Trotz der astronomischen Reisekosten würde der Kleine mit den Senioren der Pfadfindergruppe Pinhas (die 18 bis 45-Jährigen) – hartgesottene Junggesellen auf der Suche nach der großen Liebe im Death Valley – nach Kalifornien reisen. Bei Verkündigung des Urteilsspruchs wälzte sich Jacques auf dem Boden. Wie jeden Sommer wollte er bei Oma und Opa die Tour de France im Fernsehen mitverfolgen. Doch diesmal waren die Koskas unnachgiebig: Er brauche einen Elektroschock; eine Expedition ans andere Ende der Welt sei sicherlich äußerst heilsam. »Ende der Diskussion. Echte Männer weinen nicht. Wenn du jung bist, brauchst du Gesellschaft, wenn du alt bist, Einsamkeit. Bald wirst du ein Mann sein, mein Sohn«, versprach Jacques Senior.
Die Nacht vor der Abreise war dramatisch. Die ganze Familie war nach Paris hochgefahren, um ihm beizustehen, und stapelte sich in Roissy in der Zelle eines Formule 1-Hotels mit dem Charme einer MRT-Röhre. Niemand tat ein Auge zu. Jacques kroch schluchzend zu Céleste ins Bett, von dem Gedanken gepeinigt, den Sommer mit pubertierenden Unbekannten verbringen zu müssen und sein Flugzeug bereits in den Atlantik stürzen zu sehen: Er hatte gelesen, dass Kieselerde in isländischer Vulkanasche die Triebwerke verstopfen könnte. Außerdem würde ihm seine Familie entsetzlich fehlen. Wenn ihnen während seiner langen Abwesenheit etwas zustieße? Und wann würde er bloß sein Schulzubehör kaufen? Vor der Abreise hatte er sich noch nicht mal von Zantafio, dem Pony, verabschieden dürfen. Am nächsten Morgen schlich Jacques durch den Terminal 1 wie ein Todgeweihter zum Schafott.
Diese drei Wochen waren eine einzige Abfolge von Katastrophen. Er teilte das Zimmer mit einem Taubstummen aus der Gascogne – dem einzigen menschenähnlichen Wesen, von dem er geduldet wurde, alle anderen hatten eine Begleiterin aufgetan oder wollten sich nicht mit einem Rotzbengel abgeben. Ruben, der jüngere Sohn von Ezra Schapiero, dem Buckligen, hatte ihm die Fresse poliert, weil er sich über seine neonfarbenen Vans lustig gemacht hatte. In Disneyland fiel ihm auf dem Schiff von Captain Hook die Brille in das von mechanischen Krokodilen verseuchte Wasser. Fast blind, war er ein paar Tage später im Yosemite-Park dem Angriff einer Kobra hilflos ausgeliefert. Er zählte die Stunden bis zu seiner Rückreise, verpasste dann aber prompt den Anschlussflug nach New York. Völlig planlos, ohne einen Pfennig, sehbehindert, und wegen des üblen Bisses stark am Hinken, rief Jacques unter Tränen seinen Vater an, der bei der TWA eine notfallmäßige Rückführung ins Elsass veranlasste. Eine Stewardess versorgte ihn beim Start mit einem Malbuch und bescherte ihm den einzigen Lichtblick auf dieser grauenvollen Tour.
Die Koskas mussten den Tatsachen ins Auge sehen: Sie hatten einen Versager geboren, Jacques würde wohl nie erwachsen werden. Ein unsäglich trauriger Wind wehte durch die baufälligen Korridore ihrer Jugendstilvilla. Sogar Céleste hatte aufgehört, sich über ihren Bruder lustig zu machen. Sie kaufte ihm jeden Tag Carambar, und er lachte sich über die Witze auf dem Verpackungspapier krumm. Jacques, die pure Unschuld und Tugend, war als Einziger noch zum Scherzen aufgelegt. Die Anspannung wuchs ins Unermessliche, als die Scholems zu den Koskas kamen, um sich gemeinsam Les Dossiers de l’écran über den Aufstieg der Nationalsozialisten in Pommerellen anzuschauen. Die Ausstrahlung der Blechtrommel stürzte sie in tiefes Entsetzen. Claire Koskas brach in Tränen aus, und angesichts des tragischen Schicksals von Oskar Mazerath, eines anderen unseligen Liliputaners, rührte niemand den traditionellen Käsekuchen zum Erntedankfest an.
Im folgenden Sommer, nachdem Jacques bei der mündlichen Abiturprüfung in Französisch geglänzt hatte – der von seiner jugendlichen Begeisterung verstörte Prüfer hatte ihn La Chèvre de Monsieur Seguin kommentieren lassen –, reisten die Koskas nach Le Lavandou, wo sie ein Häuschen am Meer gemietet hatten. Im goldenen Abendstaub spürte der Jugendliche, dass ihm der schönste Sommer seines Lebens bevorstand. Im Spielzeugladen des Badeörtchens machte er die Bekanntschaft von Ralph, einem achtjährigen Schotten, mit dem er unzählige Leidenschaften teilte. Am Strand aßen die beiden gebrannte Erdnüsse und durchpflügten mit ihren schmächtigen Körpern die Wellen wie Flipper, der Delfin. Im Schatten eines Eukalyptusbaums hatte Jacques dem Freund Fotos von seinem Pony Zantafio gezeigt, und Ralph hatte sich mit Bildern von Karénine, seinem Deutschen Schäferhund, revanchiert.
Claudio im Schlepptau, einen jungen neapolitanischen Frauenhelden, den Céleste an einem Spielautomaten kennengelernt hatte, gingen die Koskas eines Morgens an der Ile du Levant an Land. Für diesen Ausflug hatte Jacques sich begeistert Gummistiefel übergezogen und sein rechtes Auge unter einer schwarzen Binde versteckt. Nachdem sie die Napoleon-Festung besichtigt hatten und auf das Naturschutzgebiet zustrebten, stießen sie plötzlich auf den Salzwasser-Pool eines in den Hügeln gelegenen Hotels. Breite Sichtfenster gaben den Blick auf das Mosaik der Bodenlinien und das reglose Blau frei. Das Becken wirkte menschenleer, als plötzlich ein graziler Schatten durch das Blickfeld der sich vor dem Schauspiel drängenden Koskas glitt: Eine nackte Wassernixe durchschnitt das lichtgesprenkelte Wasser. Der Torpedo winkelte die Knie an und spreizte die Beine, um sich an die Oberfläche treiben zu lassen. Hinter den aufsteigenden Luftblasen sah Jacques den Spalt der Vulva, die zwei herrlichen Orangenschnitze der aufgewölbten äußeren Schamlippen, und die zarten Nymphen, rosig wie eine Florida-Grapefruit.