John Green

 

Das Schicksal

ist ein mieser

Verräter

 

 

Aus dem Englischen von

Sophie Zeitz

 

Carl Hanser Verlag

 

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel

The Fault In Our Stars bei Dutton Books, New York.

 

Published by arrangement with Dutton Children’s Books,

a division of Penguin Young Readers Group, a member of

Penguin Group (USA) Inc.

 

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

 

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

www.johngreenbooks.com

 

ISBN 978-3-446-24093-3

© 2012 by John Green

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2012

4. E-Book-Auflage 2019

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Lektorat: Saskia Heintz

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

Für Esther Earl

 

 

»Ich besinge die Zeit, die verhüllt und entschleiert,

die Zeit, die uns mit den Toten vereint, die Zeit,

die wie das Wasser zerstört, was sie nährt.«

 

Peter Van Houten, Ein herrschaftliches Leiden

Vorbemerkung des Autors

Dies ist weniger eine Vorbemerkung des Autors als die Erinnerung daran, was schon auf Seite zwei im Kleingedruckten steht: Dieses Buch ist ein fiktives Werk. Ich habe es frei erfunden.

Sich zu fragen, ob eine Geschichte auf Ereignissen in der Wirklichkeit beruht, kommt weder einem Roman noch seinen Lesern zugute. Derartige Versuche untergraben die Idee, dass erfundene Geschichten Bedeutung haben, eine Idee, die mehr oder weniger die Grundlage unserer Spezies ist.

Ich bedanke mich für die Kooperation.

KAPITEL EINS

Im Winter meines siebzehnten Lebensjahrs kam meine Mutter zu dem Schluss, dass ich Depressionen hatte, wahrscheinlich, weil ich kaum das Haus verließ, viel Zeit im Bett verbrachte, immer wieder dasselbe Buch las, wenig aß und einen großen Teil meiner reichlichen Zeit damit verbrachte, über den Tod nachzudenken.

In jeder Krebs-Broschüre oder Website oder Infoseite zu dem Thema werden Depressionen als Nebenwirkung von Krebs genannt. Doch in Wirklichkeit sind Depressionen keine Nebenwirkung von Krebs. Depressionen sind eine Nebenwirkung des Sterbens. (Auch Krebs ist eine Nebenwirkung des Sterbens. Eigentlich ist fast alles eine Nebenwirkung des Sterbens.) Aber meine Mutter glaubte fest, dass ich eine Therapie brauchte, und deshalb brachte sie mich zu meinem Hausarzt Dr. Jim, der ihr bestätigte, dass ich bis zum Hals in einer lähmenden und absolut klinischen Depression steckte und dass meine Medikamente neu eingestellt werden müssten und ich außerdem einmal die Woche eine Selbsthilfegruppe besuchen solle.

Die Selbsthilfegruppe bestand aus einer wechselnden Besetzung von Jugendlichen in verschiedenen Stadien des tumorbedingten Unwohlseins. Warum wechselte die Besetzung? Noch so eine Nebenwirkung des Sterbens.

Natürlich war die Selbsthilfegruppe wahnsinnig deprimierend. Sie fand im kreuzförmigen Keller einer backsteingemauerten Episkopalkirche statt. Einmal die Woche setzten wir uns in einem Kreis in der Mitte des Kreuzes zusammen, an der Stelle, wo sich im übertragenen Sinn die beiden Balken überschnitten, also da, wo Jesus’ Herz gewesen wäre.

Der Gedanke kam mir, weil Patrick, der Leiter der Selbsthilfegruppe und der Einzige über achtzehn in der Runde, bei jedem einzelnen blöden Treffen von Jesus’ Herzen redete und davon, dass wir als Krebskinder direkt in Jesus’ superheiligem Herzen wohnten und so weiter.

Und so lief es ab in Jesus’ Herzen: Wir sechs oder sieben oder zehn Teilnehmer kamen bzw. rollten herein, bedienten uns an einem dürftigen Buffet mit Keksen und Limonade, setzten uns in den »Kreis des Vertrauens« und hörten zu, wie Patrick zum tausendsten Mal seine deprimierende Lebensgeschichte abspulte – wie er als Kind Krebs in den Eiern gehabt hatte und alle dachten, er würde sterben, aber er ist nicht gestorben, und jetzt war er hier, als erwachsener Mann in einem Kirchenkeller in der 137.-schönsten Stadt Amerikas, geschieden, videospielsüchtig, weitgehend freundlos, und verdiente seinen mageren Lebensunterhalt, indem er seine krebslastige Vergangenheit ausschlachtete, während er nebenbei auf einen Uni-Abschluss hinarbeitete, der seine Karrierechancen nicht verbessern würde, und wie wir alle darauf wartete, dass das Damoklesschwert endlich niedersauste und ihm die Erlösung verschaffte, die ihm vor all den Jahren versagt geblieben war, als der Krebs ihm beide Eier nahm, aber das ließ, was nur die barmherzigste Seele ein Leben nennen würde.

UND DU HAST VIELLEICHT AUCH SO VIEL GLÜCK!

Dann stellte sich jeder von uns vor: Name. Alter. Diagnose. Und wie es uns heute so ging. Ich bin Hazel, sagte ich, wenn ich an die Reihe kam. Sechzehn. Ursprünglich Schilddrüse, aber mit umfänglichen und hartnäckigen Metastasen in der Lunge. Und es geht mir ganz gut heute.

Wenn wir einmal durch waren, fragte Patrick, ob sich jemand der Gruppe mitteilen wollte. Und dann ging es los mit der Selbsthilfe: Alle redeten von Kämpfen und Siegen, vom Schrumpfen und vom Scannen. Um fair zu sein, Patrick ließ uns auch vom Sterben reden. Aber die meisten der anderen starben nicht. Die meisten würden wie Patrick erwachsen werden.

(Was dazu führte, dass unter uns ein ziemlicher Konkurrenzkampf herrschte, denn wir alle wollten nicht nur den Krebs besiegen, sondern auch die anderen in der Gruppe. Mir ist klar, dass es völlig irrational ist, aber wenn du gesagt bekommst, du hast eine – sagen wir – zwanzigprozentige Chance, noch fünf Jahre zu leben, dann fängst du automatisch zu rechnen an und rechnest dir aus, dass damit einer von fünf gemeint ist … also siehst du dich um und denkst wie jeder gesunde Mensch: Ich muss vier von den armen Schweinen hier überleben.)

Der einzige Lichtblick in der Selbsthilfegruppe war ein Junge namens Isaac, ein schlaksiger Typ mit langem Gesicht und glattem blondem Haar, das ihm über ein Auge fiel.

Und die Augen waren sein Problem. Er hatte diesen abartig seltenen Augenkrebs. Ein Auge hatten sie ihm rausgenommen, als er noch klein war, und jetzt trug er eine superdicke Brille, durch die seine Augen (das echte und das Glasauge) unnatürlich riesig aussahen, als würde sein ganzer Kopf nur aus dem künstlichen Auge und dem echten Auge bestehen, mit denen er einen anstarrte. Sein Blick hatte dadurch zwar eine unheimliche Intensität, aber Isaac war angenehm sarkastisch. Soweit ich es von den seltenen Gelegenheiten verstand, wenn Isaac sich der Gruppe mitteilte, hatten sie jetzt auch was im anderen Auge entdeckt, und das hing nun sozusagen am seidenen dem SonntagFaden.

Isaac und ich unterhielten uns ausschließlich durch Seufzer. Jedes Mal, wenn jemand von Antikrebs-Diäten oder dem Inhalieren von gemahlenen Haifischflossen oder so was redete, warf er mir einen Blick zu und seufzte leise. Darauf schüttelte ich kaum merklich den Kopf und atmete zur Antwort hörbar aus.

 

Die Selbsthilfegruppe war also ätzend, und nach ein paar Wochen sträubte ich mich mit Händen und Füßen gegen den ganzen Zirkus. Tatsächlich hatte ich just an dem Mittwoch, an dem ich die Bekanntschaft von Augustus Waters machte, alles versucht, die Selbsthilfegruppe zu schwänzen, während ich mit meiner Mutter auf dem Sofa saß und den dritten Teil eines zwölfstündigen America’s-Next-Top-Model-Marathons vom vergangenen Jahr sah, den ich zugegebenermaßen bereits kannte.

Ich: »Ich weigere mich, zur Selbsthilfegruppe zu gehen.«

Mom: »Das Desinteresse an Aktivitäten ist ein Symptom der Depression.«

Ich: »Bitte, lass mich einfach America’s Next Top Model sehen. Das ist auch eine Aktivität.«

Mom: »Fernsehen ist passiv.«

Ich: »Ach, Mom. Bitte.«

Mom: »Hazel, du bist ein Teenager. Du bist kein kleines Kind mehr. Du musst Leute kennenlernen, aus dem Haus gehen, dein Leben leben.«

Ich: »Wenn du willst, dass ich mich wie ein Teenager benehme, dann schick mich nicht zur Selbsthilfegruppe. Besorg mir einen gefälschten Ausweis, damit ich in Clubs reinkomme und Wodka trinken und Haschisch nehmen kann.«

Mom: »Erstens, Haschisch nimmt man nicht.«

Ich: »Siehst du, so was wüsste ich, wenn du mir einen gefälschten Ausweis besorgen würdest.«

Mom: »Du gehst zur Selbsthilfegruppe.«

Ich: »Aaaaaaaaaaaaarrggghhh.«

Mom: »Hazel, du verdienst zu leben.«

Darauf fiel mir nichts ein, auch wenn ich nicht nachvollziehen konnte, auf welcher Ebene die Teilnahme an der Selbsthilfegruppe die Definition von Leben erfüllte. Trotzdem ließ ich mich breitschlagen – nachdem ich ausgehandelt hatte, dass ich die 1,5 Folgen von ANTM aufnehmen durfte, die ich verpassen würde.

Der Grund, aus dem ich zur Selbsthilfegruppe ging, war derselbe, aus dem ich Krankenschwestern mit einer gerade mal achtzehn Monate langen Ausbildung erlaubte, mich mit Medikamenten mit exotischen Namen zu vergiften: Ich wollte meine Eltern glücklich machen. Denn es gibt nur eins auf der Welt, das ätzender ist, als mit sechzehn an Krebs zu sterben, und das ist, ein Kind zu haben, das an Krebs stirbt.

 

Um 16:56 Uhr fuhr Mom in die halbrunde Auffahrt vor der Kirche. Ich fummelte an meiner Sauerstoffflasche herum, um Zeit zu schinden.

»Soll ich sie dir reintragen?«

»Nein, geht schon«, sagte ich. Die grüne Metallflasche wog nur ein paar Pfund, und ich hatte einen kleinen Wagen, auf dem ich sie hinter mir herzog. Sie versorgte mich über einen durchsichtigen Schlauch, der sich im Nacken teilte, hinter meinen Ohren entlanglief und sich an den Nasenlöchern wieder traf, mit einem Liter Sauerstoff pro Minute. Der war nötig, weil meine Lunge grottenschlecht in ihrem Job war.

»Ich hab dich lieb«, sagte Mom, als ich endlich ausstieg.

»Ich dich auch, Mom. Bis sechs.«

»Lern Leute kennen!«, rief sie durchs runtergelassene Fenster hinter mir her.

Ich wollte nicht mit dem Fahrstuhl fahren, weil der Fahrstuhl in der Selbsthilfegruppe so was Letztes-Stündlein-Mäßiges an sich hatte, also ging ich zu Fuß die Treppe runter. Dann nahm ich mir einen Keks, schenkte mir Limonade in einen Plastikbecher und drehte mich um.

Ein Junge starrte mich an.

Ich war mir ziemlich sicher, dass ich ihn noch nie gesehen hatte. Er war groß und schlaksig, so dass der kleine weiße Plastikstuhl der Sonntagsschule wie ein Zwergenstühlchen unter ihm wirkte. Sein Haar war kastanienbraun, glatt und kurz. Er war vielleicht so alt wie ich oder ein Jahr älter und saß mit provozierend schlechter Haltung da, Hintern an der Stuhlkante, eine Hand in der Tasche seiner dunklen Jeans.

Ich wandte den Blick ab, während mir mit einem Mal all meine tausend Schwächen bewusst wurden. Die alten Jeans, die ich trug, waren mal eng gewesen, aber jetzt flatterten sie an den falschen Stellen, und die Band auf meinem gelben T-Shirt fand ich schon lange nicht mehr gut. Und meine Haare: Ich hatte diesen Bubikopf, den man trägt, wenn man vorher eine Glatze hatte, und hatte mir nicht mal die Mühe gemacht, mich zu bürsten. Dazu kamen die grotesk aufgeblasenen Hamsterbacken, noch so eine Nebenwirkung der Behandlung. Ich sah aus wie ein normal gebauter Mensch mit einem Luftballon als Kopf. Von meinen geschwollenen Fesseln ganz zu schweigen. Trotzdem – als ich mich wieder umsah, klebte sein Blick immer noch an mir.

Zum ersten Mal verstand ich, warum es Augenkontakt hieß.

Ich ging in den Kreis und setzte mich neben Isaac, zwei Plätze von dem neuen Jungen entfernt. Ich sah wieder in seine Richtung. Er beobachtete mich immer noch.

Also, ich sage es ganz offen: Der Typ war echt süß. Wenn man von einem nicht-süßen Jungen angestarrt wird, ist es im besten Fall peinlich und im schlimmsten Fall eine Form von Belästigung. Aber bei einem süßen Typen … na ja.

Ich kramte mein Telefon heraus und sah auf die Uhr. 16:59. Der Kreis füllte sich mit den unglücklichen Zwölf- bis Achtzehnjährigen, und dann stimmte uns Patrick mit dem Gelassenheitsgebet ein: Gott, gib mir die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Der Junge beobachtete mich immer noch. Ich war kurz davor, rot zu werden.

Irgendwann beschloss ich, die richtige Strategie wäre zurückzustarren. Immerhin haben Jungs kein Monopol aufs Starren. Also sah ich ihn von oben bis unten an, während Patrick zum tausendsten Mal von seinen verlorenen Eiern redete, und bald starrten der Junge und ich um die Wette. Nach einer Weile musste er grinsen, und dann endlich sah er mit seinen blauen Augen weg. Als er mich wieder ansah, zog ich die Brauen hoch, um ihm zu zeigen, dass ich gewonnen hatte.

Er zuckte die Schultern. Patrick redete weiter, und irgendwann ging es mit dem Vorstellen los.

»Isaac, vielleicht möchtest du heute anfangen. Ich weiß, dass dir in der kommenden Woche eine große Herausforderung bevorsteht.«

»Okay«, sagte Isaac. »Ich heiße Isaac. Ich bin siebzehn. Am Montag werde ich operiert, und danach bin ich blind. Ich will mich nicht beschweren oder so, weil ich weiß, dass es viele von uns hier schlechter erwischt haben, aber, na ja, blind werden ist irgendwie scheiße. Aber meine Freundin ist eine große Hilfe. Und Freunde wie Augustus.« Er nickte dem Jungen zu, der jetzt einen Namen hatte. »Tja … also«, fuhr Isaac fort. Er sah seine Hände an, die er zu einem Tipi gefaltet hatte. »Kann man nichts machen.«

»Wir sind für dich da, Isaac«, sagte Patrick. »Sagen wir es ihm, Leute.« Und dann sprachen wir alle im Chor: »Wir sind für dich da, Isaac.«

Der Nächste war Michael. Er war zwölf. Er hatte Leukämie. Er hatte immer schon Leukämie gehabt. Es ging ihm ganz gut. (Sagte er zumindest. Er hatte den Fahrstuhl genommen.)

Lida war sechzehn und hübsch genug, um die Blicke süßer Jungen auf sich zu ziehen. Sie war Stammgast – in der ewigen Remission einer Form von Blinddarmkrebs, von der ich vorher noch nie was gehört hatte. Wie jedes einzelne Mal, wenn ich hier war, erklärte sie, dass sie sich stark fühlte, was mir, der die Sauerstoffschläuche in der Nase kitzelten, ziemlich angeberisch vorkam.

Es stellten sich noch fünf andere vor, bevor er an die Reihe kam. Als er dran war, lächelte er ein bisschen. Seine Stimme war tief und rau und zum Umfallen sexy. »Ich heiße Augustus Waters«, sagte er. »Ich bin siebzehn. Vor anderthalb Jahren hatte ich den leichten Anflug eines Osteosarkoms, aber eigentlich bin ich heute nur hier, weil Isaac mich darum gebeten hat.«

»Und wie geht es dir heute?«, fragte Patrick.

»Oh, mir geht es toll.« Augustus Waters lächelte mit einem Mundwinkel. »Ich sitze in einer Achterbahn, auf der es immer nur aufwärts geht, mein Freund.«

Als ich dran war, sagte ich: »Ich heiße Hazel. Ich bin sechzehn. Schilddrüse mit Metastasen in der Lunge. Es geht mir ganz gut.«

Die Stunde verging schnell: Es wurde von Kämpfen berichtet, von gewonnenen Schlachten in Kriegen, die so gut wie verloren waren; es wurde von Hoffnung geredet; Familien wurden gepriesen und beschimpft; man war sich einig, dass Freunde es einfach nicht verstanden; Tränen wurden vergossen; tröstende Worte wurden gesprochen. Weder Augustus Waters noch ich sagten ein Wort, bis Patrick fragte: »Augustus, vielleicht möchtest du der Gruppe von deinen Ängsten erzählen?«

»Meine Ängste?«

»Ja.«

»Ich habe Angst vor dem Vergessen«, antwortete er, ohne zu zögern. »Ich fürchte das Vergessen wie der sprichwörtliche Blinde, der die Dunkelheit fürchtet.«

»Zu früh«, sagte Isaac und grinste.

»War das unsensibel?«, fragte Augustus. »Manchmal bin ich ziemlich blind für die Gefühle von anderen.«

Isaac lachte, doch Patrick hob mahnend den Finger. »Bitte, Augustus. Bleiben wir bei dir und deinen Kämpfen. Du hast gesagt, du fürchtest das Vergessen?«

»Ja«, sagte Augustus.

Patrick fiel nichts dazu ein. »Hm, möchte vielleicht jemand etwas sagen?«

Seit drei Jahren ging ich nicht mehr zur Schule. Meine besten Freunde waren meine Eltern. Mein drittbester Freund war ein Schriftsteller, der nicht einmal ahnte, dass ich existierte. Ich bin nicht der Typ, der sich dauernd meldet. Wenn irgendwo Freiwillige gesucht werden, ist meine bewährte Strategie, mich höflich im Hintergrund zu halten.

Doch dieses eine Mal beschloss ich, etwas zu sagen. Ich hob die Hand halb, und Patrick rief mich sofort auf, mit offenkundiger Freude: »Hazel!« Wahrscheinlich dachte er, dass ich mich endlich öffnete. Teil der Gruppe wurde.

Ich sah Augustus Waters an, der meinen Blick erwiderte. Seine Augen waren so blau, dass man fast durch sie hindurchsehen konnte.

»Es kommt die Zeit«, sagte ich, »da wir alle tot sind. Wir alle. Es kommt die Zeit, da es keine Menschen mehr gibt, die sich erinnern können, dass je irgendwer von uns existiert hat oder dass unsere Spezies je irgendwas geleistet hat. Dann ist keiner mehr da, der sich an Aristoteles oder Kleopatra erinnert und erst recht nicht an dich. Alles, was wir getan oder gebaut, geschrieben, gedacht oder entdeckt haben, alles wird vergessen sein, und all das hier« – ich machte eine allumfassende Geste – »hat keine Bedeutung mehr. Vielleicht kommt diese Zeit bald, vielleicht erst in Millionen von Jahren, aber selbst wenn wir den Kollaps unserer Sonne überleben sollten, überleben wir nicht für immer. Es gab eine Zeit, bevor die Organismen zu Bewusstsein kamen, und es wird eine Zeit danach geben. Und wenn es die Unausweichlichkeit des menschlichen Vergessens ist, die dir Angst macht, dann rate ich dir eins: ignorier sie einfach. Das ist weiß Gott, was alle anderen machen.«

Das hatte ich von meinem oben erwähnten drittbesten Freund Peter Van Houten gelernt, dem öffentlichkeitsscheuen Autor des Romans Ein herrschaftliches Leiden, welches für mich einer Bibel am nächsten kam. Peter Van Houten war der einzige Mensch, der mir je begegnet war, der a) verstand, wie es sich anfühlt zu sterben, und b) nicht gestorben war.

Als ich fertig war, entstand eine lange Pause, und ich sah, wie sich ein Lächeln auf Augustus’ Gesicht ausbreitete – nicht das kleine schiefe Lächeln des Jungen, der versuchte sexy zu sein, während er mich anstarrte, sondern sein echtes Lächeln, zu groß für sein Gesicht. »Donnerwetter«, sagte Augustus leise. »Was für eine Frau.«

Den Rest der Stunde sprach keiner von uns. Am Ende mussten wir uns alle an den Händen nehmen, und Patrick sprach ein Gebet. »Herr Jesus Christus, als Krebspatienten haben wir uns hier in deinem Herzen versammelt, in deinem buchstäblichen Herzen. Du, und du allein, kennst uns, wie wir uns selbst kennen. Führe uns durch die Zeiten der Prüfungen zum Leben und zum Licht. Wir beten für Isaacs Augen, für Michaels und Jamies Blut, für Augustus’ Knochen, für Hazels Lunge und für James’ Luftröhre. Wir beten, dass du uns heilen mögest und dass wir deine Liebe spüren und deinen Frieden, der höher ist als alle Vernunft. Und wir erinnern uns im Herzen an die, die wir kannten und lieb hatten und die heim zu dir gegangen sind: Maria und Kade und Joseph und Haley und Abigail und Angelina und Taylor und Gabriel und …«

Es war eine lange Liste. Auf der Welt gibt es eine Menge Tote. Und während Patrick die Liste von einem Hilfszettel ablas, weil sie zu lang war, um sie auswendig zu können, hatte ich die Augen geschlossen und versuchte gebetsmäßige Gedanken zu haben, aber hauptsächlich dachte ich an den Tag, an dem mein Name auf der Liste landen würde, ganz am Ende der Liste, wenn keiner mehr zuhörte.

Als Patrick fertig war, sagten wir alle dieses dämliche Mantra im Chor – UNSER BESTES LEBEN HEUTE LEBEN –, und dann war die Stunde um. Augustus Waters stemmte sich aus seinem Stuhl und kam zu mir herüber. Sein Gang war so schief wie sein Lächeln. Er war viel größer als ich, doch er blieb ein paar Schritte vor mir stehen, damit ich mir nicht den Hals verrenken musste, um ihm in die Augen zu sehen. »Wie heißt du?«, fragte er.

»Hazel.«

»Nein, dein ganzer Name.«

»Hm. Hazel Grace Lancaster.«

Er wollte gerade etwas sagen, als Isaac dazukam. »Einen Moment«, sagte Augustus und hob den Finger, dann wandte er sich Isaac zu. »Es war noch schlimmer, als du gesagt hast.«

»Ich habe dich gewarnt, dass es deprimierend ist.«

»Warum gehst du überhaupt hin?«

»Keine Ahnung. Weil es irgendwie hilft?«

Augustus beugte sich vor, weil er dachte, ich könnte ihn nicht hören. »Ist sie auch immer dabei?« Isaacs Antwort hörte ich nicht, aber Augustus sagte darauf: »Aber hallo.« Dann legte er Isaac die Hände auf die Schultern und trat einen halben Schritt zurück. »Erzähl Hazel von der Klinik.«

Isaac hielt sich am Tisch mit den Keksen fest und richtete sein riesiges Auge auf mich. »Na ja, ich war heute Morgen in der Klinik und habe zu dem Chirurgen, der mich operiert, gesagt, ich wäre lieber taub als blind. Worauf er antwortete: ›Du kannst es dir nicht aussuchen‹, und ich habe gesagt: ›Ja, das ist mir klar. Ich wollte nur sagen, wenn ich die Wahl hätte, wäre ich lieber taub als blind, wobei mir klar ist, dass ich nicht die Wahl habe‹, und da hat er gesagt: ›Na, die gute Nachricht ist, du wirst nicht taub‹, und ich habe gesagt: ›Toll zu hören, dass man von Augenkrebs nicht taub wird. Es ist wirklich ein Segen, dass eine Koryphäe wie Sie sich dazu herablässt, mich zu operieren.‹«

»Klingt wie ein Spitzentyp«, sagte ich. »Ich werde versuchen, mir auch Augenkrebs zuzulegen, nur damit ich ihn kennenlernen kann.«

»Viel Glück. Na gut, ich muss los. Monica wartet auf mich. Ich muss sie viel ansehen die nächsten Tage.«

»Spielen wir morgen Modern Warfare?«, fragte Augustus.

»Auf jeden Fall.« Isaac drehte sich um und rannte die Treppe hoch, zwei Stufen auf einmal.

Jetzt wandte sich Augustus Waters wieder an mich. »Buchstäblich«, sagte er.

»Buchstäblich?«, fragte ich.

»Wir sind buchstäblich in Jesus’ Herz«, sagte er. »Ich dachte, wir wären in einem Kirchenkeller, dabei sind wir buchstäblich in Jesus’ Herz.«

»Jemand sollte Jesus Bescheid sagen«, gab ich zurück. »Ich meine, das muss doch gefährlich sein, lauter krebskranke Kinder im Herzen zu haben.«

»Ich würde es ihm selber sagen«, sagte Augustus, »nur stehe ich hier blöderweise mitten in seinem buchstäblichen Herzen, und wahrscheinlich würde er mich gar nicht hören.« Ich lachte. Er schüttelte den Kopf und sah mich nur an.

»Was ist?«, fragte ich.

»Nichts«, sagte er.

»Warum siehst du mich so an?«

Augustus lächelte halb. »Weil du schön bist. Ich sehe gerne schöne Menschen an, und vor einer Weile habe ich beschlossen, dass ich mir die einfachen Freuden des Lebens nicht mehr verkneifen werde.« Es folgte ein kurzes, peinliches Schweigen. Doch Augustus brach es tapfer. »Ich meine, erst recht in Anbetracht der Tatsache, die du so wunderbar ausgeführt hast, dass alles in Vergessen endet und so weiter.«

Ich räusperte mich oder seufzte oder atmete auf eine Art, die irgendwie gehüstelt klang, und sagte: »Ich bin nicht sch…«

»Du siehst aus wie die Millenniums-Natalie-Portman. Wie Natalie Portman in V wie Vendetta

»Nie gesehen«, sagte ich.

»Wirklich? Bildschönes Mädchen mit Kurzhaarschnitt und Abneigung gegen Obrigkeiten verliebt sich rettungslos in einen Jungen, der in Schwierigkeiten steckt. Deine Autobiographie, soweit ich es sehe.«

Er flirtete mit jeder Silbe. Und ehrlich gesagt fuhr ich voll darauf ab. Bis dahin hatte ich nicht gewusst, dass ich in der Lage war, auf Jungs abzufahren – jedenfalls nicht im richtigen Leben.

Ein jüngeres Mädchen kam an uns vorbei. »Na, wie geht’s, Alisa?«, fragte er. Sie lächelte und murmelte: »Hallo, Augustus.« »Memorial-Kunden«, erklärte er mir. Das Memorial-Hospital war das große Forschungsklinikum. »Wo bist du?«

»Kinderkrankenhaus«, sagte ich mit unerwartet schwacher Stimme. Er nickte. Unser Gespräch schien beendet. »Na dann«, sagte ich und nickte vage in Richtung der Treppe, die aus Jesus’ Buchstäblichem Herzen hinausführte. Ich kippte meinen Sauerstoffwagen auf die Räder und begann den Aufstieg. Er hinkte neben mir her. »Sehen wir uns beim nächsten Mal?«, fragte ich.

»Du solltest dir den Film ansehen«, sagte er. »V wie Vendetta.«

»Okay«, sagte ich. »Ich leihe ihn mir aus.«

»Nein. Mit mir. Bei uns zu Hause«, sagte er. »Jetzt.«

Ich blieb stehen. »Ich kenne dich kaum, Augustus Waters. Vielleicht bist du ein Axtmörder oder so was.«

Er nickte. »Das stimmt, Hazel Grace.« Er ging an mir vorbei. Die sehnigen Schultern füllten das grüne Polohemd aus, sein Rücken war gerade, und seine Schritte eierten nur leicht nach rechts, wenn er aufrecht und selbstbewusst mit dem Bein auftrat, das ich für eine Prothese hielt. Das Osteosarkom alias Knochenkrebs biss manchmal ein Stück von dir ab, um dich zu kosten. Dann, wenn du ihm schmeckst, holt es sich den Rest.

Ich ging hinterher, doch der Abstand wurde größer, weil ich so langsam war, denn Treppensteigen gehörte nicht zu den Lieblingsfächern meiner Lunge.

Und dann waren wir raus aus Jesus’ Herzen und standen auf dem Parkplatz, die Frühlingsluft kühl, aber perfekt und das strahlende Licht des Spätnachmittags himmlisch in seiner Schmerzhaftigkeit.

Mom war noch nicht da, was ungewöhnlich war, weil Mom fast immer auf mich wartete. Als ich mich umsah, fiel mein Blick auf ein großes, gut gebautes braunhaariges Mädchen, das Isaac an die Kirchenmauer drückte und ziemlich aggressiv küsste. Sie standen so nah, dass ich das komische Schmatzen ihrer Münder hörte, und ich hörte, wie er murmelte: »Für immer« und sie »Für immer« antwortete.

Plötzlich stand Augustus neben mir und flüsterte: »Die beiden sind große Verfechter des öffentlichen Austauschs von Zärtlichkeiten.«

»Was soll das mit dem ›für immer‹?« Die Schlürfgeräusche wurden lauter.

»›Für immer‹ ist ihr großes Ding. Sie lieben sich für immer oder so was. Nach meiner konservativen Schätzung haben sie sich im letzten Jahr die Worte für immer circa eine Million Mal per SMS geschickt.«

Noch ein paar Wagen fuhren vor und holten Michael und Alisa ab. Dann waren nur noch Augustus und ich übrig, und wir beobachteten Isaac und Monica, die zur Sache gingen, als würden sie nicht an der Mauer eines Gotteshauses stehen. Er griff ihr durch die Bluse an die Brust und knetete sie mit regloser Handfläche und hektischen Fingern. Ich fragte mich, ob sich das gut anfühlte. Sah nicht so aus, aber ich beschloss, Isaac zu vergeben, weil er bald blind sein würde. Mögen sich die Sinne laben, solange noch Hunger ist oder so.

»Stell dir die letzte Fahrt zum Krankenhaus vor«, sagte ich leise. »Das letzte Mal, dass du je am Steuer sitzt.«

Ohne mich anzusehen, sagte Augustus: »Du machst mir die Vibes kaputt, Hazel Grace. Ich versuche hier den Anblick junger Liebe in ihrer wunderbaren Ungelenkigkeit zu genießen.«

»Ich glaube, er tut ihrem Busen weh«, sagte ich.

»Ja, schwer zu sagen, ob er sie erregen oder eine Brustuntersuchung durchführen will.« Dann griff sich Augustus Waters in die Tasche und zog ausgerechnet ein Päckchen Zigaretten heraus. Er klappte es auf und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen.

»Ist das dein Ernst?«, fragte ich. »Findest du das cool? O Gott, du hast gerade alles kaputt gemacht.«

»Was alles?«, fragte er und sah mich an. Die Zigarette hing unangezündet im nicht lächelnden Winkel seines Mundes.

»Das alles, wo ein Typ, der weder unattraktiv noch unintelligent noch sonst irgendwie unakzeptabel ist, mich anstarrt und sich über den falschen Gebrauch von buchstäblich lustig macht und mich mit Schauspielerinnen vergleicht und fragt, ob ich einen Film mit ihm sehen will. Aber natürlich hat jeder Held eine Verfehlung, und deine ist, dass du, obwohl du schon mal KREBS gehabt hast, VERDAMMT NOCH MAL, einer Firma Geld dafür bezahlst, dass du NOCH MEHR KREBS KRIEGST. O Mann. Darf ich dir versichern, dass Nicht-atmen-Können RICHTIG SCHEISSE ist? Große Enttäuschung. Echt wahr.«

»Verfehlung?«, fragte er, die Zigarette immer noch zwischen den Lippen. Sein Kiefer war gespannt. Leider hatte er eine verdammt schöne Kieferpartie.

»Merkmal tragischer Helden«, murmelte ich und wandte mich ab. Ich ging zum Bordstein und ließ Augustus Waters stehen, und im gleichen Moment hörte ich, wie ein Motor angelassen wurde. Es war Mom. Sie hatte die ganze Zeit dagestanden und abgewartet, damit ich Freundschaften schließen konnte oder so was. Eine hässliche Mischung aus Wut und Enttäuschung stieg in mir hoch. Ich wusste nicht mal, was es für ein Gefühl war, nur, dass es eine Menge davon war, und am liebsten hätte ich Augustus Waters eine geknallt und außerdem statt meiner Lunge eine Lunge gehabt, die nicht so scheiße war. Ich stand mit den Spitzen meiner Converse-Turnschuhe direkt am Bordstein, die Sauerstoffflasche auf ihrem Karren wie eine Eisenkugel am Bein, und dann, genau in dem Moment, als Mom vorfuhr, spürte ich, wie eine Hand nach meiner Hand griff.

Ich riss mich los, doch ich drehte mich um.

»Sie bringen einen nur um, wenn man sie anzündet«, erklärte er, als Mom vor uns hielt. »Aber ich habe mir noch nie eine angezündet. Es ist eine Metapher, verstehst du: Du steckst dir das tödliche Ding zwischen die Zähne, aber du gibst ihm nicht die Kraft zu töten.«

»Eine Metapher«, sagte ich argwöhnisch. Mom saß geduldig im Wagen.

»Eine Metapher«, wiederholte er.

»Du suchst dir deine schlechten Angewohnheiten wegen ihrer metaphorischen Tiefe aus …«, sagte ich.

»O ja.« Er lächelte. Das große, alberne, echte Lächeln. »Ich bin ein großer Verfechter von Metaphern, Hazel Grace.«

Ich wandte mich zum Auto. Klopfte an die Scheibe. Mom ließ das Fenster herunter. »Ich sehe mir mit Augustus Waters einen Film an«, sagte ich. »Bitte nimm die nächsten paar Folgen von ANTM für mich auf.«