Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. TEIL 1
    1. Kapitel 1
    2. Kapitel 2
    3. Kapitel 3
    4. Kapitel 4
    5. Kapitel 5
    6. Kapitel 6
    7. Kapitel 7
  8. TEIL 2
    1. Kapitel 8
    2. Kapitel 9
    3. Kapitel 10
    4. Kapitel 11
    5. Kapitel 12
    6. Kapitel 13
    7. Kapitel 14
  9. TEIL 3
    1. Kapitel 15
    2. Kapitel 16
    3. Kapitel 17
    4. Kapitel 18
    5. Kapitel 19
    6. Kapitel 20
    7. Kapitel 21
  10. TEIL 4
    1. Kapitel 22
    2. Kapitel 23
    3. Kapitel 24
    4. Kapitel 25
    5. Kapitel 26
    6. Kapitel 27
  11. Nachwort
  12. Bergbau- und Ruhrplattglossar

Über dieses Buch

Essen 1951: Nach der Flucht aus der Kriegshölle Berlin hat die junge Katharina Unterschlupf bei der Familie ihres verschollenen Mannes gefunden. Aber das Zusammenleben mit der barschen, zupackenden Schwiegermutter auf engem Raum fällt der lebenshungrigen Frau schwer. Sie will ein besseres Leben für sich und ihre beiden Töchter. Mit trotziger Entschlossenheit versucht sie, ihrem ärmlichen Umfeld zu entfliehen. Doch dann begegnet sie dem traumatisierten Kriegsheimkehrer Johannes …

Über die Autorin

Eva Völler hat sich schon als Kind gern Geschichten ausgedacht. Trotzdem verdiente sie zunächst als Richterin und Rechtsanwältin ihre Brötchen, bevor sie die Juristerei endgültig an den Nagel hängte. »Vom Bücherschreiben kriegt man einfach bessere Laune als von Rechtsstreitigkeiten. Und man kann jedes Mal selbst bestimmen, wie es am Ende ausgeht.«

Die Autorin lebt mit ihren Kindern am Rande der Rhön in Hessen.

E V A V Ö L L E R

Ein
Traum
vom Glück

L Ü B B E

Für meinen Vater und all meine anderen Altvorderen,
die nie wirklich gegangen sind

T E I L 1

Kapitel 1

Katharina zuckte zusammen, als die Türklingel durchs Haus schrillte. Ihre Hand mit der Stecknadel rutschte von dem glatten Stoff ab.

»Verdellich«1, sagte ihre Nachbarin Elfriede, die vor ihr auf dem Schemel stand. »Jetzt hasse mich gestochen.«

»Tut mir leid.«

»Et hat geschellt«, sagte Elfriede überflüssigerweise. »Wahrscheinlich der Kohlenkerl, der wollte heute noch kommen«, erwiderte Katharina, ihr Gewicht auf den Knien verlagernd, während sie die nächste Stecknadel zwischen den Zähnen hervorzog und in den Stoff schob.

»Is euer Deputat schon widder alle? Ihr stocht aber auch auf Deubel komm raus.« Elfriede wies mit dem Kinn auf den bullernden Ofen in der Ecke.

»Ich hab’s gern warm«, sagte Katharina lapidar. »Und die Kinder auch.«

»Wo kann ich mich denn eigentlich im Spiegel bekucken?«, wollte Elfriede wissen.

»Bei mir im Schlafzimmer. Aber damit warten wir noch, bis das Kleid fertig ist.«

Elfriede deutete auf die Constanze, die aufgeschlagen auf dem Tisch neben ihr lag. »Et sieht dann aber wirklich so aus wie auf dem Bild da, oder nich?«

»Hast du ein enges Mieder?«

»Soll dat heißen, ich bin für dat Kleid zu dick umme Mitte?«

»Nicht, wenn ich es nähe«, sagte Katharina.

Sie heftete weiter den Kleidersaum ab, der ihr vor der Nase hing, umweht von Elfriedes strengem Körpergeruch. Viel länger würde sie das nicht aushalten können. Sie wollte endlich fertig werden.

Es klingelte erneut. Unten machte niemand auf, vermutlich war ihre Schwiegermutter Mine noch in der Waschküche oder im Hühnerstall beschäftigt. Und Inge war noch nicht aus der Bücherei zurück. Über die Schulter rief sie: »Bärbel, geh mal eben runter und mach die Tür auf! Sag dem Kohlenkerl, ich komme gleich! Und wehe, er kippt die Kohle wieder so nah bei der Haustür ab!«

»Aber ich hab doch Stubenarrest!«, ertönte die helle Stimme ihrer neunjährigen Tochter aus dem Nebenzimmer.

»Der ist für zwei Minuten unterbrochen.«

Nebenan fiel ein Stuhl um, und Katharinas Tochter kam aus dem benachbarten Raum geschossen. In einem Wirbel fliegender blonder Zöpfe, schief sitzender Kleidungsstücke und dünner Beine umrundete sie mit waghalsigem Schwung den Schemel, auf dem die Nachbarin zur Anprobe stand, bevor sie in großen Sätzen die Treppe hinuntersprang. Deutlich war zu hören, dass sie immer zwei Stufen auf einmal nahm und den Rest auf dem Geländer hinabrutschte.

»Dat Bärbel bricht sich noch den Hals«, kommentierte Elfriede.

»Das ist noch gar nichts«, sagte Katharina. »Du solltest mal sehen, wie sie auf Bäume klettert.«

»Dat Blach gehört öfters verschwatt, dann würd et dat schon sein lassen. Kricht dat überhaupt ma Senge?«

»Nein«, sagte Katharina.

»Ein Fehler«, erklärte Elfriede bestimmt. »Willsse wissen, wie ich dat bei meine Blagen mach?«

»Hm«, gab Katharina unbestimmt zurück. Elfriede Rabes Erziehungsmethoden waren kein Geheimnis. Nebenan verging kein einziger Tag ohne elterliche Züchtigung, unschwer zu erkennen am durchdringenden Geheul der drei Rabe-Sprösslinge.

»Dreh dich mal ein Stück im Uhrzeigersinn, Elfriede. Nein, nicht zum Ofen hin. Andersrum.«

»Aber die Uhr hängt überm Ofen.« Ein Hauch von Ärger klang aus Elfriedes Stimme. »Dauert et noch lange? Ich muss noch wat für dem Fritz sein Henkelmann morgen kochen.«

»Ich hab’s gleich. Wenn wir fertig sind, gibt es ein Gläschen Persiko, was hältst du davon?«

»Da sach ich nich Nein, dat weiße doch.«

»Mama, es ist überhaupt nicht der Kohlenkerl!«, rief Bärbel von unten.

»Wer denn dann?«

»Ein ganz armer Mann! Ich glaube, er ist ein Bettler! Er sieht schrecklich hungrig aus!«

»Wir geben nichts! Sag ihm das! Und mach die Haustür wieder zu!«

»Er sagt, er heißt Johannes und will zu Oma.«

»Noch en Mieter?«, erkundigte sich Elfriede mit scheinheiligem Mitleid. »Habt ihr dat wirklich so nötig? Aber da hasse wohl leider nix mitzureden, oder? Is ja der Ollen ihr Haus. Da kannsse wahrscheinlich froh sein, wenne die Kerle nich noch hier oben bei dir reingesetzt kriss.« Elfriede hielt inne und blickte sich suchend in der beengten Stube um. »Wo hasse denn den Persiko? Ich könnte getz schon en Schlücksken vertragen.«

Katharina widerstand dem Drang, die Nachbarin vom Schemel zu schubsen. Sie bekam Geld für das Kleid und konnte es sich nicht leisten, darauf zu verzichten. Elfriede war die schlimmste Klatschbase der ganzen Nachbarschaft, aber sie kannte Gott und die Welt und empfahl Katharina regelmäßig weiter. Sie war das, was Karl immer als wichtigen Multiplikator bezeichnet hatte – eine zufriedene Kundin.

»Sag dem Mann, er soll in einer halben Stunde noch mal vorbeischauen!«, rief Katharina in Richtung Treppe. Bis dahin war Mine sicher fertig mit dem, was sie gerade tat. Es wurde schon dunkel.

»Er sagt, du sollst mal bitte runterkommen, Mama«, rief Bärbel.

Katharina steckte die letzte Nadel in den Saum und richtete sich auf. »Warte kurz, Elfriede. Ich bin gleich zurück.«

Sie eilte nach unten. Die ausgetretenen Stufen knarrten unter ihren Füßen. Der Durchzug wehte eiskalte Luft herein. Bärbel stand unten im Flur und beäugte neugierig den Fremden, der draußen vor der Tür stand. Katharina schob die Kleine zur Seite und zog die Haustür bis auf einen handbreiten Spalt zu.

»Was wollen Sie?«, fragte sie den Mann durch die schmale Öffnung hindurch.

Der Fremde, ein hoch aufgeschossener, magerer Mensch in schlichter Kleidung, blies sich in die vor Kälte rot angelaufenen Hände, ehe er die Mütze vom Kopf zog und einen knochigen, bis auf kurze Stoppeln kahl geschorenen Schädel entblößte. Er verneigte sich vor ihr. »Guten Tag. Mein Name ist Johannes Schlüter. Ich bin aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt und möchte zu Frau Wilhelmine Wagner.« Atemwolken verschleierten sein hohlwangiges Gesicht, während er zu weiteren Erklärungen ansetzte.

»Auch dat noch, ein Spätheimkehrer«, unterbrach ihn Elfriede, die soeben von Neugier getrieben die Treppe herunterkam. »Da musse aufpassen, Käthe. Die klauen, watse inne Finger kriegen.« Missbilligend schüttelte sie den Kopf. »Die sind schlimmer wie die Polacken.« Argwöhnisch betrachtete sie den Mann. Dann trat sie entschlossen einen Schritt vor und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. »So wat will dat Mine ganz bestimmt nich im Haus«, verkündete sie. »Et gibt genuch andere anständige Kumpels, die gerne inne Nähe vonne Zeche wohnen wollen.«

Hinter ihr ging die Tür zur Kellertreppe auf, und Mine trat in den Flur. Ihre dürre kleine Gestalt verschwand fast unter der verblichenen Kittelschürze und der Strickjacke, die sie darüber trug. Unter dem Arm hatte sie einen Korb mit Eiern.

»Da war ein Mann, der wollte zu dir, Oma«, erklärte Bärbel. »Ein Spätheimkehrer aus Russland. Mama, wieso sind die schlimmer wie die Polacken?«

»Als die Polacken«, korrigierte Katharina ihre Tochter. »Außerdem will ich nicht, dass du das Wort benutzt, das hab ich dir schon oft genug gesagt.« Elfriedes Schnauben ignorierte sie kurzerhand. »Sein Name ist Johannes Schlüter«, teilte sie ihrer Schwiegermutter mit. »Kennst du jemanden, der so heißt?«

Ihre Worte hatten eine unerwartete Wirkung auf Mine. Deren gerade noch rosig durchblutetes Gesicht wurde von einem Moment auf den anderen so fahl wie ihr strohiges Haar. Sie taumelte einen Schritt rückwärts, und bei dem Versuch, sich an der Wand abzustützen, ließ sie den Korb mit den Eiern fallen.

»Watt denn!«, sagte Elfriede mit ungläubig gedehnter Stimme. »Hasse gerade Johannes Schlüter gesacht, Käthe? Dat is doch der Jung vonne Mathilde!« Zusammenhanglos schloss sie: »Von die kaputten Eier kannsse noch Suppenstich machen, Mine.«

Mine verschwand kurz in der Küche und kam mit einem tiefen Teller zurück. Sie klaubte die zerbrochenen Eier vom Boden auf, indem sie alles mit den bloßen Händen in den Teller schaufelte. In ihrem Gesicht arbeitete es.

Mathilde … Es dauerte ein paar Augenblicke, bis bei Katharina der Groschen gefallen war. Mathilde war ihre Schwägerin gewesen, die ältere Schwester von ihrem Mann Karl. Mines einzige Tochter. Sie hatte einen Lehrer geheiratet und war von Essen weggezogen, ins Niedersächsische. Irgendwann war sie krank geworden und gestorben. Wie lange mochte das her sein? Zwanzig Jahre? Oder noch länger? Katharina konnte sich nicht erinnern. Sie hatte ihre Schwägerin Mathilde nie kennengelernt, nur ein paar Fotos gesehen. Als sie mit Karl zusammenkam und ihn schließlich heiratete, hatte seine Schwester schon nicht mehr gelebt. Aber Katharina entsann sich, dass Karl ihren Sohn erwähnt hatte – seinen Neffen Johannes.

Elfriede hatte gerade eben Mines Enkel ausgesperrt!

In diesem Moment klingelte es erneut an der Haustür, und eilig machte Katharina sie auf. Doch diesmal hatte wirklich der Kohlenlieferant geklingelt. Johannes Schlüter stand ebenfalls noch draußen, aber er hatte sich auf die Straße zurückgezogen, ein langer, dunkler Schatten in der verschneiten Umgebung. Katharina gab ihm durch ein kurzes Winken zu verstehen, dass er zurückkommen solle.

Der Pritschenwagen mit der Kohle stand tuckernd vorm Haus, und die Ladefläche hob sich bereits ächzend zur Schräge. Die Eierkohlen kollerten mit ohrenbetäubendem Gepolter bis vors Kellerloch. Katharina entwich ein zorniger Aufschrei, als einige versprengte Stücke in den Hausflur flogen. Erst am Morgen hatte sie das Linoleum ausgiebig gewischt und auf Hochglanz gebohnert. Nicht etwa, weil sie es gern tat (sie hasste es wie die Pest!), aber ein reinliches Ambiente war gut fürs Geschäft. Sie hatte im Laufe des Nachmittags zwei neue Kundinnen empfangen und bei beiden für Frühjahrskleider Maß genommen. Allein für diese Aufträge hatte sich das Wienern und Polieren gelohnt.

Doch meist war das Putzen ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Wenn der Wind ungünstig stand, wurde der Kohlenstaub hereingeblasen, sobald die Fenster zum Lüften offen standen. Er verteilte sich überall im Haus, wenn die beiden Grubenarbeiter am Wochenende ihr schmutzstarrendes Zeug zum Waschen mitbrachten oder sich auf der Fußmatte die Schuhe abtraten. An besonders schlimmen Tagen überzog der Staub sogar das Gemüse in den Beeten und die Wäsche auf der Leine mit dunklen Schlieren.

Katharina hatte sich in stummem Grimm gebückt, um die Kohlestücke aufzuheben und wieder nach draußen zu werfen. Statt mitzuhelfen, rannte Bärbel in Hausschuhen hinaus und beobachtete unter begeisterten Kommentaren die Entladung der Kohle.

Katharina schrak zusammen, als neben ihr Karls Neffe auftauchte. Kurz sah sie seine rettungslos verdreckten Stiefel, dann ging er neben ihr in die Hocke und half ihr beim Aufklauben der restlichen Kohle. Nur der Staub blieb am Boden haften, durchfeuchtet von dem Schnee, den der Wind hereingetrieben hatte.

»Danke«, sagte sie, während sie sich unvermittelt Auge in Auge mit ihm wiederfand. Sie richteten sich beide gleichzeitig auf. Er nahm abermals die Mütze ab und verneigte sich, als hätte das eine Mal vorhin nicht gereicht. Katharina musste gegen den Impuls ankämpfen, sich von ihm abzuwenden, denn er sah schrecklich aus. Das kurz geschorene Haar betonte seine totenkopfähnlichen Züge. Die Nase stand scharf in dem ausgemergelten Gesicht, die Augen lagen in tief eingesunkenen Höhlen.

»Tach, Jung«, sagte Mine. Sie stand immer noch an derselben Stelle. Ihre Stimme klang brüchig und ungewohnt zittrig.

»Guten Abend, Großmutter«, antwortete Johannes. Katharina registrierte seinen ausgesucht höflichen Ton und sein geschliffenes Hochdeutsch. Kein Hauch von Ruhrpottplatt. Angestrengt versuchte sie sich zu erinnern, was Karl ihr sonst noch über ihn erzählt hatte, aber es war zu lange her.

»Zieh dir was Warmes an!«, befahl sie ihrer Tochter. »Und dann wird geholfen!«

Bärbel rannte die Treppe hoch. Kohlenstaub wehte von ihren Pantoffeln, und Katharina seufzte ergeben.

»Da kommsse gerade richtig zum Scheppen«, sagte Mine zu Johannes. Ihre Stimme klang jetzt wieder so gleichmütig und beherrscht wie immer. »Die Schippe is unten im Kohlenkeller. Da hängt auch en Kittel, den kannsse drüberziehn.«

»Guten Abend«, sagte Katharina bemüht freundlich zu Johannes, während sie ihm die Hand reichte. »Es tut mir leid, dass der Empfang vorhin so unhöflich ausgefallen ist. Ich bin Katharina, die Frau von deinem Onkel Karl. Die Kleine von eben ist meine Tochter Bärbel. Wir sind aus Berlin und wohnen seit Kriegsende hier.«

Johannes räusperte sich. Er erwiderte ihren Händedruck und machte abermals einen Diener. »Angenehm.«

»Ich bin die Nachbarin«, sagte Elfriede. »Elfriede Rabe. Kennsse mich noch?«

»Nein«, erwiderte Johannes höflich. »Ich war nur ein einziges Mal hier.«

»Nä, dat is nich wahr«, widersprach Elfriede, während sie den Neuankömmling mit unverhohlener Neugier musterte. »Alsse noch klein wars, kam dat Mathilde öfters mit dich vorbei. Ohne dein Vatter, dem gefiel dat hier nich. Als dat Mathilde dann tot war, warsse nur noch einmal hier bei deine Omma, dann nich mehr.«

»Ich kann mich leider nur an meinen letzten Besuch hier erinnern«, sagte Johannes.

Elfriede zuckte mit den Schultern. »Wat is denn getz mit dem Persiko?«, fragte sie Katharina.

Katharina reagierte nicht darauf, sie war schon halb auf dem Weg nach oben, um sich fürs Kohleschippen umzuziehen. Je mehr Leute mithalfen, desto schneller war die Arbeit erledigt. Eine unerklärliche innere Abwehr hielt sie davon ab, sich länger mit Karls Neffen zu unterhalten. Etwas an ihm verstörte sie, und es dauerte eine Weile, bis sie dahinterkam, was es war: Er glich ihrem Mann. Karl wies ganz ähnliche Gesichtszüge auf – die klare Stirn, das kantige Kinn, die kühn vorspringende Nase, die dichten Brauen. Auch ihr Schwiegervater Jupp hatte so ausgesehen, jedenfalls auf den alten Fotos. Wäre Johannes nicht derart abgemagert gewesen, hätte Katharina die Familienähnlichkeit auf den ersten Blick erkannt.

Karl. Sie hatte sein Gesicht vor Augen, während sie sich oben in ihrer Schlafkammer einen Pullover überstreifte und die Schürze umband, die sie immer zur Gartenarbeit trug, bevor sie, angetan mit uralten Stiefeln und Fäustlingen, wieder nach unten ging.

Johannes hatte sich bereits Jupps alten Bergmannskittel angezogen und schwang die Schaufel, um die Kohlen über die Rutsche durchs Kellerloch abwärts zu befördern. Er arbeitete schweigend und schnell. Mine war in den Keller gegangen, um den neuen Kohlevorrat dort gleichmäßig zu verteilen und aufzuschichten.

Bärbel sprang um Johannes herum und sammelte weggerollte Stücke auf, die sie zurück auf den großen Haufen warf. Katharina holte sich ebenfalls eine Schaufel aus dem Keller und schippte fleißig mit.

Unterdessen kam ihre fünfzehnjährige Tochter Inge von der Bücherei nach Hause.

»Du musst auch mithelfen, Inge!«, rief Bärbel ihrer großen Schwester schadenfroh entgegen.

Inge verdrehte die Augen, doch sie fügte sich in ihr Schicksal. Wenn die Kohle vor dem Haus lag, mussten alle anpacken, ganz egal, wie spät es war. Es kam nicht infrage, den Vorrat über Nacht draußen zu lassen – bis zum nächsten Morgen hätten Langfinger alles geklaut.

Ohne auf Johannes zu achten, eilte Inge ins Haus, um sich ebenfalls für die Arbeit umzuziehen.

Katharina konnte nicht umhin, Johannes’ effiziente Arbeitsweise zu bewundern. Seine geschwächte Konstitution war ihm kaum anzumerken. Er schaufelte die Kohle, als hätte er jahrelang nichts anderes gemacht.

Vielleicht hat er das ja tatsächlich nicht, schoss es ihr durch den Kopf. Es war bekannt, dass die russischen Kriegsgefangenen wie die Sklaven schuften und die niedersten Arbeiten verrichten mussten. Seit dem Ende des Krieges waren nach und nach Hunderttausende ehemalige Wehrmachtssoldaten aus Russland heimgekehrt, und wie man hörte, hatten die meisten grauenhafte Geschichten zu erzählen. Auch über die vielen Namenlosen, die in Wahrheit nicht vermisst, sondern längst tot waren. Erfroren, verhungert, umgebracht, an Krankheiten gestorben, während ihre Familien immer noch auf ein Lebenszeichen warteten.

Die meisten Heimkehrer hatten vor dem Rücktransport mit ihren Angehörigen in Briefkontakt gestanden. Das war für die Menschen zu Hause ein Grund gewesen, auf ein Wiedersehen zu hoffen. Doch auch die anderen Familien, die nie eine Antwort auf ihre Suchmeldung erhalten hatten, hegten diese Hoffnung. Denn es gab wohl auch Lager, aus denen keine Nachrichten verschickt werden durften, nicht einmal die armseligen Rotkreuz-Karten, die konfisziert wurden, wenn sie mehr als ein Dutzend Wörter enthielten. Diese besonderen Lager mussten Orte sein, die schlimmer waren als die Hölle. Das, was Katharina bisher darüber gehört hatte, war zu entsetzlich, um genauer darüber nachzudenken.

Deshalb konnte und wollte sie nicht mehr daran glauben, dass Karl noch lebte. Sie hatte sich schon vor Jahren mit seinem Tod abgefunden und sich damit zu trösten versucht, dass er nun wenigstens alles überstanden hatte.

Ganz im Gegensatz zu Mine, die die Hoffnung niemals aufgeben würde, dass ihr einziger Sohn doch noch zurückkam. Auch nach all den Jahren zündete sie jeden Sonntag in der Kirche eine Kerze für seine Rückkehr an.

Seit Johannes’ Ankunft hatte ihre Schwiegermutter nicht viel von ihren Gefühlen offenbart, doch Katharina ahnte, was Mine beim Anblick ihres Enkels umtrieb: Wenn es möglich war, dass der Junge nach dieser langen Zeit noch nach Hause kommen konnte, dann konnte Karl es auch. Ganz bestimmt, eines Tages. Mine konnte nichts anderes glauben, denn Karl war ihr Sohn.

Katharina kam ein Spruch in den Sinn, den sie vor vielen Jahren einmal gehört hatte, über den Unterschied, einen Mann oder ein Kind zu verlieren. Ein Mann geht von der Seite, ein Kind vom Herzen. Seit sie selbst Mutter war und ihren Mann verloren hatte, wusste Katharina, dass es stimmte.

Es war schwer gewesen, Karl loszulassen, aber sie hatte es geschafft. Wäre es um eins ihrer Kinder gegangen – niemals hätte sie die Hoffnung aufgegeben, nicht bis ans Ende ihrer Tage.

*

Inge kam wieder nach draußen, ohne Schaufel, denn im Haus gab es nur zwei. Sie hatte stattdessen die Kohlenschütte aus dem Keller geholt und sammelte herumliegende Brocken ein, um dann mit Schwung eine größere Ladung aus der Schütte in den Schacht zu kippen.

Wie Katharina hatte sie alte Schuhe und einen verschlissenen Pulli angezogen und zusätzlich eine Schürze vorgebunden. Ein verdrossener Ausdruck stand auf ihrem hübschen jungen Gesicht, und Katharina fühlte sich bei dem Anblick unwillkürlich an Leo erinnert, Inges leiblichen Vater. Sie dachte kaum noch an ihn, aber manchmal, wenn Inge auf bestimmte Weise das Gesicht verzog, stellten sich Erinnerungen ein. Auch Leo hatte, wenn seine Laune sank, häufig diese Miene aufgesetzt – eine Mischung aus Langeweile, Widerwillen und Ärger. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft hatte Katharina selten diesen frustrierten Gesichtsausdruck bei ihm gesehen, dafür gegen Ende umso häufiger. Ihre Beziehung mit Leo war der größte Fehler ihres Lebens gewesen, so viel stand fest. Abgesehen natürlich davon, dass daraus ihre Tochter entstanden war, weshalb Katharina auch selten um Leos willen mit dem Schicksal haderte. Zudem hatte Inge von Anfang an einen Vater gehabt, der diesen Namen verdiente: Karl hatte all das, was Leo versäumt und verweigert hatte, mehr als wettgemacht.

Katharina fiel auf, dass Inge scheue Seitenblicke in Johannes’ Richtung sandte. Inzwischen hatte sie ihn bemerkt und fragte sich sicher, wer dieser fremde Mann war und warum er ihnen beim Kohleschippen half.

»Das ist übrigens Johannes Schlüter«, erklärte Katharina, ein wenig betreten wegen ihrer wiederholten Nachlässigkeit. Johannes war ein Mitglied der Familie, und es gehörte sich, ihn allen ordentlich vorzustellen. »Er ist Papas Neffe. Johannes ist heute Abend aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt und besucht Oma Mine. Johannes, das ist meine Tochter Ingrid, genannt Inge.«

Johannes streckte Inge die Hand hin. »Sehr erfreut.«

Inge ließ die Kohlenschütte sinken und nahm die dargebotene Hand. »Entschuldigung«, sagte sie mit verlegener Stimme. »Ich dachte, Sie … ähm, du gehörst zum Kohlenkerl. Äh, zum Kohlenlieferanten

»Als hätt der faule Sack schomma beim Scheppen geholfen«, meldete sich Elfriede abfällig aus dem Hintergrund. Mittlerweile hatten sich weitere Nachbarn vor dem Haus eingefunden, offenbar hatte Johannes’ Ankunft sich herumgesprochen. Katharinas Freundin Hanna und deren Bruder Stan schauten ebenfalls vorbei und begrüßten den Neuankömmling.

»Stan Kowalski«, stellte sich Stan vor. Er lächelte Johannes freundlich an. »Eigentlich Stanislaus, aber darauf höre ich schon lange nicht mehr. Seit fast fünfundzwanzig Jahren im Lande und damals gleich mit vierzehn auf der Zeche Pörtingsiepen angelegt.« Ein mitfühlender Ausdruck trat auf sein Gesicht. »War bestimmt nicht leicht in Russland, oder?«

Johannes hob nur stumm die Schultern, ohne mit dem Kohleschippen aufzuhören.

»Stan ist Steiger auf der Zeche«, erklärte Katharina. Wie immer spürte sie Stans Blicke auf sich – nicht ansatzweise aufdringlich oder lästig, aber dennoch wünschte sie sich, er hätte sie auf andere Weise ansehen können. Wie ein Freund, ohne Hintergedanken. Sie mochte und schätzte Stan aufrichtig, doch sie wusste auch, dass er sich immer noch Hoffnungen machte, die zu nichts führten. Nicht nur, weil sie eine verheiratete Frau war, sondern weil sie das, was er fühlte, nicht teilen konnte.

An ihm lag es bestimmt nicht. Er war ein ansehnlicher, großherziger, liebenswerter Bursche Ende dreißig, er verdiente weit besser als die meisten anderen Männer, die sie kannte, und vor allen Dingen war er ledig. Die Frauen liefen ihm in Scharen hinterher, er hätte zehn an jedem Finger haben können. Junggesellen, die all das von sich sagen konnten, waren in diesen Zeiten dünn gesät. Doch sein Interesse galt allein Katharina, die wiederum nicht recht wusste, wie sie ihm ein für alle Mal beibringen sollte, dass aus ihnen beiden nichts werden konnte.

»Eigentlich müssen wir diese Heimkehr feiern«, meinte Stans Schwester Hanna. »Noch einer, der überlebt hat.« Ihre melodiöse Stimme hob sich überdeutlich von dem hier allseits gebräuchlichen Platt ab, und wie üblich wurde sie von den anderen Anwohnern mit Missfallen beäugt. Hanna Morgenstern war jemand, der eigentlich gar nicht hätte da sein dürfen, eine von den wenigen Entkommenen, die im deutschen Alltag noch präsent waren. Sie war Polin, Witwe eines Juden, früheres Mitglied der französischen Résistance. Sie hatte nicht nur überlebt, sondern anschließend auch die Stirn besessen, herzukommen und den Leuten durch ihre bloße Anwesenheit zu demonstrieren, dass sie nicht in jenem dunklen Abgrund verschwunden war, in den so viele Deutsche sie nur zu gern hätten fallen sehen.

Über die Jahre hinweg war es Katharina nicht verborgen geblieben, wie die Nachbarschaft über Hanna dachte.

Den meisten gefiel es nicht, auf diese Weise mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden, nachdem doch in den letzten Jahren alles, was sich nicht vergessen ließ, erfolgreich geglättet, bagatellisiert und entnazifiziert worden war. Und so schlecht konnte es den Juden und Polacken ja wohl nicht gegangen sein, wenn eine von denen hier durch die Straße spazierte, angezogen und geschminkt wie Marlene Dietrich, auf hohen Hacken und mit einer Zigarette in einer silbernen Spitze.

Hannas Bruder Stan hatte im Gegensatz zu seiner jüngeren Schwester dauerhaft Wurzeln im Pütt geschlagen. Bereits zu Zeiten der Weimarer Republik war er im Ruhrgebiet ansässig geworden, gemeinsam mit seinem Onkel, ebenfalls ein Bergmann, der damals eine Deutsche geheiratet hatte. Die beiden hatten keine Kinder gehabt und daher Stan nach Kräften gefördert. Mit viel Fleiß und Ehrgeiz hatte er sich weitergebildet und es zum Steiger gebracht. Er war ein angesehener Kumpel und wurde von allen respektiert. Für die Leute war er zwar weiterhin der Polacke, aber das war inzwischen nur noch ein launiger Spitzname, von der Art, wie fast jeder hier einen hatte.

Ganz anders das höhnische Madame, das die Leute sich für Hanna ausgedacht hatten. Katharina hätte ausspeien können, als sie auf den Gesichtern der reihum versammelten Anwohner dieselbe dumpfe Ablehnung wahrnahm, die ihr damals bei ihrer eigenen Ankunft vor fast sechs Jahren zuteilgeworden war. Seinerzeit hatte sie ebenfalls ihren Spitznamen verpasst bekommen – die Schickse. Ursprünglich ein jiddisches Schimpfwort für nichtjüdische Frauen, hatte sich der Ausdruck im Ruhrgebiet als Bezeichnung für leichtlebige, verruchte Frauen etabliert. In den Augen der Leute war sie anscheinend eine wandelnde Versuchung für alle Männer, darauf aus, sich jeden zu angeln, der nicht schnell genug weglaufen konnte.

Rückblickend ließ sich nicht ergründen, wer von den Nachbarn damit angefangen hatte, sie so zu nennen. Es hätte theoretisch jeder sein können. Die Nachbarin Elfriede oder deren Mann Fritz. Witwe Krause drei Häuser weiter. Die Czervinskis aus dem Haus an der Ecke. Die Möllers von schräg gegenüber mit ihrem verfetteten Mops. Herr Brüggemann mit der Augenklappe, seines Zeichens ehemaliger Blockwart.

Katharina erinnerte sich an die scheelen Blicke und das Getuschel, dessen Inhalt kein Geheimnis war, denn oft wurden solche Unterhaltungen in Hörweite geführt. Lippenstift und Dauerwelle und Nylonstrümpfe, ja, dat kann die Schickse aus Berlin! Und sich dann mit zwei Blagen bei de arme alte Omma einnisten.

»Wir feiern lieber ein andermal«, sagte sie entschuldigend zu Hanna. Und dann schaufelte sie weiter die Kohlen ins Kellerloch, ohne noch einmal aufzublicken.