Sinnliche
Intimität
Susanna-Sitari Rescio
Sinnliche Intimität
Projektmanagement: |
Marianne Nentwig |
Lektorat: |
Viviane Korn und Heide Waechter |
Umschlag-Gestaltung: |
Gesine Beran |
Umschlagmotiv: |
© shutterstock | Andrey Myagkov |
Autorenfoto: |
Frank Fleuchhaus |
Innenteil/Satz: |
Wilfried Klei |
© Kamphausen Media GmbH, Bielefeld 2020
info@kamphausen.media | www.kamphausen.media
1. Auflage 2020
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN Printausgabe: 978-3-95883-417-0
ISBN E-Book: 978-3-95883-418-7
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BERÜHREN
UND BERÜHRT WERDEN
Mit einem Vorwort von
Ann-Marlene Henning
Vorwort von Ann-Marlene Henning
Einleitung
Kapitel 1: Die Insel der Lust
Unerfüllte Sehnsucht
Drei Geschichten
Auf eine Reise gehen
Keine Lust nach der Geburt eines Kindes: Ich habe Schmerzen
Ich kann nicht kommen
Er steht nicht. Ich komme zu früh
Die Reise beginnt
Kapitel 2: Die Kunst achtsamer sinnlicher Berührung
Achtsame sinnliche Berührung
Meine Vision
Herkunft der Tantramassage
Tantra und Neo-Tantra
Grundlagen der Tantramassage
Berührung erwünscht: Die CT-Faser
Worauf kommt es an?
Zentrierung: Im eigenen Körper anwesend sein
Entschleunigung: Mal langsam machen
Achtsamkeit: Im Hier und Jetzt sein
Nähe und Berührung
Tanzende Berührungen
Zu wenig Berührung – warum?
Berührung lernen
Auswahlkriterien für eine Tantramassage als Heilmassage
Kapitel 3: Sinnlicher Reiseführer
Warum gehen Menschen auf diese Reise?
Etwas im Leben verändern wollen, heilen und sich selbst spüren
Sinnlichkeit, Erotik und Sex: Alles eins?
Kapitel 4: Körper und Sexualität
Das biologische Geschlecht
Sind Sie noch Hetero oder pendeln Sie schon?
Sexuelle Lernschritte
Sex mit dem Partner oder der Partnerin: Anstrengend oder lustvoll?
Warum Berührung zentral ist
Der Tastsinn: Seine Funktionsweise und Bedeutung
Berührung und Bewegung
Wie Sinnesreize zum Gehirn gelangen
Das erotische Potenzial des Körpers
Sexuelle Probleme …
… und verborgene Schätze
Gewahrsein und Präsenz
Intensität durch Präsenz
Sich ganz fühlen
Verbindung zu sich selbst
Orgasmus: Ja, nein, vielleicht
‚Orgas-Muss‘ vs. ganzheitliche Erotik
Zu früh kommen
Eine neue sexuelle Sprache lernen
Sexuelle Potenz: Was ist das?
Immer noch einfallslos beim Berühren?
Orgasmusfähigkeit der Frau …
… und die weibliche Ejakulation
Entschleunigung und Wahrnehmung
Ergebnisoffene Absicht
Was macht mich an?
Zusammenfassung und weitere Übungen
Kapitel 5: Sexuelle Ideale, Normen und Glaubenssätze
Glaubenssätze & Co.
Sexuelle Mythen
Rollen
Zu viel sein
Zusammenfassung und weitere Übungen
Kapitel 6: Wie wir Sexualität erleben
Warum möchten wir Sex haben?
Sexuelles Begehren und emotionale Nähe
Berühren und berührt werden
Gut gedeiht, wer Nähe spürt: Bindung und Berührung
Die Seele der Haut und das Haut-Ich
Sexuelle Selbstsicherheit
Nix ist fix in der Sexualität
Fantasien und Wünsche
Lustgefühle empfinden und zeigen
Im Kontakt sein, in den Kontakt gehen
Integrität durch Integration
Lebensgefühl
Zusammenfassung und weitere Übungen
Kapitel 7: Du und ich – Sex und Liebe
Wenn Monogamie toxisch wird
Nach der zweiten sexuellen Revolution
Beziehung pur
Nähe, Intimität, Bindung
Wie intim können wir in der Intimität sein?
Sexuelle Praktiken und Intimität
Berührung und Intimität
Erotische Kompetenz
Berührung und emotionale Kommunikation
Berührung in Beziehung
Berührung und Oxytocin: Das Ruhe- und Bindungssystem
Da, wo ich berühre, werde ich auch berührt
Sexuelle Berührung
Erotische Kommunikation
Zusammenfassung und weitere Übungen
Kapitel 8: Was noch?
Lernen vom Modell und durch Selbsterfahrung
Vision, die dieser Erfahrung entspringt
Fazit
Das Ende der Geschichte
Anleitung zur Achtsamkeit in der intimen Berührung
Raumvorbereitung
Dresscode
Persönliche Vorbereitung
Aktives Zuhören
Haltende Berührung
Den ganzen Körper wahrnehmen
Intimberührung
Abschluss
Feedback
An die Hand geben
Anhang
Ursachen und Anregungen
Sarah: Schmerzen beim Sex
Marion: Orgasmusprobleme
Anton: zu früh kommen
Danksagung
Gefühlsliste
Literaturliste
Über die Autorin
Für meine Eltern, Wilma und Aldo,
ohne deren Freigeist im Hintergrund ich dieses Buch
nicht hätte schreiben können,
und für Olivia, meine Tochter.
Schon immer verband ich meine geschätzte Kollegin Susanna-Sitari und ihre Arbeit mit (achtsamer) Berührung, hatte sie doch bereits lange Erfahrung in diesem Bereich, bevor auch ich, nach Jahren der nur sprechenden Therapie mit Klientinnen und Klienten, wörtlich damit in Berührung kam. Mein Interesse dafür, welche positiven Auswirkungen Berühren und Spüren haben können, gerade in der Sexualität, wuchs und besteht bis heute. So las ich besonders gerne dieses Buch von Susanna, in dem die Bedeutung und Wirkung achtsamer intimer Berührung für ein erfülltes Sexualleben das durchgehende Leitmotiv ist.
Die Autorin schreibt hier hautnah und persönlich über intime sinnliche Berührung. Mit ihren direkten Fragen holte sie mich wunderbar ab, führte mich auf sinnliche Reisen durch die komplexe Welt der Sexualität und begleitete mich dabei zu meiner ganz eigenen „Insel“ der Sinnlichkeit zurück. Die Sprache ist klar, präzise und gleichzeitig sinnlich anmutend, ohne je anzüglich zu werden – sehr inspirierend!
Die realen Geschichten berührten mich, weil sie Themen und Sehnsüchte beschreiben, die alle kennen. Ich fühlte mich beim Lesen zugleich gut aufgehoben, „berührt“ und kompetent begleitet.
Die Autorin liefert keine einfachen Lösungen (die es sowieso nicht gibt) und verspricht auch nicht das Blaue vom Himmel, sie bleibt realistisch und gibt Anregungen und Impulse für einen möglichen neuen Umgang mit sexuellen Problemen und/oder einfach für eine sehr erfüllende Sexualität. Übungen machen das Buch interaktiv und verspielt. Die zentrale Bedeutung von Berührung – nicht nur in der Intimität, sondern insgesamt für das körperliche und seelische Wohlbefinden des Menschen – wird fortlaufend mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen über den Tastsinn untermauert. Alles in allem ein sehr gelungenes Buch. Also, nichts wie rein in den Spürspaß!
Ann-Marlene Henning, Sexologin
www.doch-noch.de
(…) Leib bin ich ganz und gar, und Nichts außerdem;
und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. (…)
Sinn und Geist möchten dich überreden,
sie seien aller Dinge Ende: so eitel sind sie. (…)
Hinter deinen Gedanken und Gefühlen,
mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter,
ein unbekannter Weiser – der heißt Selbst.
In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.
Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten
Weisheit. (…)
Friedrich Nietzsche
Ich möchte über Berührung schreiben. Über Berührungen in der Intimität. Über solche, die unter die Haut gehen, mein Innerstes erreichen und sich wohltuend, nährend, sinnlich erregend und aufregend anfühlen. Über Berührungen, die mein ganzes Wesen erreichen: meinen Körper, meine Seele, meinen Geist. Denn Berühren und berührt zu werden ist ein Grundbedürfnis aller Menschen1, ebenso wie Nahrung und Schlaf. Angenehme, sinnliche, intime Berührungen führen uns direkt zu einer „Insel“ des Wohlgefühls, auf der Zuneigung, Bindung und erotische Gefühle aufblühen können. Sinnliche Berührungen, die in einem Zustand der Präsenz und der Achtsamkeit durchgeführt werden, verbinden uns mit uns selbst und vermitteln uns ein tiefes Gefühl von Ganzheit und Integrität.
Warum ist das so? Es gibt in der Haut bestimmte Fasern, die nur Reize ans Gehirn übertragen, wenn Berührungen mit einer bestimmten Qualität erlebt werden. Diese Fasern leiten die Reize zu dem Teil des Gehirns, der für die Wahrnehmung angenehmer und erotischer Gefühle zuständig ist: die Inselrinde. Berührungen mit einer anderen Qualität werden woanders hingeleitet. Und genau das Aktivieren dieses wohligen Gefühls durch das Erreichen dieser „Insel“ scheint von zentraler Bedeutung zu sein: Zärtliche, achtsame, sinnliche Berührungen erzeugen Wohlsein, bilden eine emotionale Brücke zueinander und liefern den erotischen Reiz, der zum lustvollen und erfüllenden Sex in einer Partnerschaft führen kann.
Die Fähigkeit, auf Berührungen zu reagieren, entwickelt sich sehr früh im embryonalen Leben und bleibt ein Leben lang zentral für den Menschen. Der Säugling nimmt über Berührung im Mutterleib Kontakt mit der Mutter auf, noch bevor er die Augen öffnet. Fehlt diese berührende und beruhigende Gegenwart, leidet nicht nur die Psyche, auch sein Immunsystem entwickelt sich weitaus weniger stabil.
Aber warum ist und bleibt Berührung ein Leben lang so zentral? Berührung ist deshalb so bedeutsam, weil durch Berührungsreize Hormone ausgeschüttet werden, die für das Wachstum der Zellen notwendig sind. Auch erwachsene Menschen sind darauf angewiesen, genug Berührung zu bekommen, um den Körper mit den notwendigen Hormonen zu versorgen, die die unterschiedlichsten Prozesse für ein gesundes Leben steuern.
Als ich zum ersten Mal eine professionelle achtsam-sinnliche Massage bekam, war ich von der Intensität der Gefühle und Empfindungen, die diese Art der Berührung in mir auslöste, dermaßen positiv überwältigt, dass ich mich kurzerhand entschloss, diese Massageform selbst zu erlernen. Die Besonderheit der Berührung und die Atmosphäre, die dabei kreiert wurde, ließen mich auf intensivste Art und Weise mich selbst als lebendiges, unglaublich kraftvolles und sinnliches Wesen spüren. Jeder meiner Körperteile wurde wahrgenommen und berührt. Alles in mir pulsierte vor lauter Lebendigkeit und Energie. Ein Raum voller Sinnlichkeit öffnete sich vor mir.
Obwohl ich davor der Meinung war, ich würde mich schon ganz gut mit Berührung auskennen, musste ich mir nun eingestehen, dass selbst ich noch einiges in diesem Bereich zu lernen hatte. Und so machte ich mich auf den Weg und traf verschiedene Lehrende. Das war vor sehr vielen Jahren. Damals hätte ich nicht gedacht, dass ich heute die vielfältigen positiven Wirkungen intimer Berührungen in Achtsamkeit in einer wissenschaftlichen qualitativen Forschung untersuchen und darüber ein Buch schreiben würde. Damals wie heute ist jedoch immer noch mein größter Wunsch, diesen besonderen Schatz mit vielen Menschen zu teilen.
Wenn Sie sich von diesen ersten Zeilen angesprochen und vielleicht berührt fühlen, lade ich Sie ein, weiterzulesen und in das Geheimnis achtsamer sinnlicher Berührung einzutauchen. Der Weg zur eigenen „Insel“ ist vielleicht versteckt und es fühlt sich an, als sei er abhandengekommen, er lässt sich aber bestimmt wieder frei machen und wiederentdecken. In diesem Buch finden Sie außerdem weitere spannende und sinnliche Gründe, weshalb es sich lohnen könnte, diese Form sinnlicher Kommunikation zu erlernen.
Gleich zu Anfang werde ich Ihnen Sarah, Marion und Anton vorstellen und von der Sehnsucht dieser drei Menschen nach ihrer persönlichen „Insel“ sinnlichen Wohlseins erzählen. Sie werden ihre Beweggründe, sich der Erfahrung achtsamer sinnlicher Berührung zu nähern, erfahren und von ihrem Lösungsweg lesen. Auf diese Art werde ich die achtsame sinnliche Berührung beschreiben und erläutern, wie sie einen positiven Einfluss auf das komplexe Phänomen menschlicher Sexualität haben kann. Gemeinsam tauchen wir in die Physiologie der Berührung ein, um die tiefe Bedeutung des Tastsinnes für das menschliche Leben im Allgemeinen sowie für unser Bindungserleben und -verhalten im Besonderen verstehen zu können. Dabei laden praktische Anleitungen und Fragen zum sinnlichen Mitmachen und zur Selbstreflexion ein.
Viel Spaß beim Lesen, beim Erkennen, beim Nachdenken und – warum nicht – vielleicht auch beim Probieren und Verändern!
1In diesem Buch möchte ich alle Menschen unabhängig von ihrem sogenannten biologischen Geschlecht, ihrer sexuellen Orientierung und Identität ansprechen: jene, die sich in einem binären System zurechtfinden, und jene, die sich in einem heteronormativen System unwohl fühlen. Aus verschiedenen Gründen wurde die Ansprache im Text unterschiedlich gehandhabt: Mal wird nur die männliche, mal die weibliche und die männliche oder eine neutrale Form gewählt. Zwischendurch wird die Formulierung mit dem * verwendet, um alle Menschen anzusprechen, die sich anders als binär definieren. Hier und da werden die Lesenden womöglich wegen der ungewohnten Formulierung im Text stolpern, dennoch möchte ich dies in Kauf nehmen, um allen Leser*innen gerecht zu werden.
Auf der Insel der Lust
Sinnlich sein … duftend, köstlich, samtig.
Riechend, schmeckend, fühlend, Körper sein.
Den Kopf loslassen.
Der Weisheit des Körpers vertrauen. Im Fluss sein, hier, jetzt.
Zarte Lust und wilde Leidenschaft. Ohne Ziel, ohne Ende.
Die Welle reitend.
Bei sich sein, den anderen wahrnehmend,
die Grenzen überwinden, verschmelzen.
Sich eins fühlen,
mit sich, mit dem anderen, mit dem Leben.
Susanna-Sitari Rescio
Die Insel der Lust ist ein geheimnisvoller Ort voller Verheißungen und Versprechen. Ein Ort der Erfüllung unserer intimsten Sehnsüchte. Ein erblühender Raum voller duftender Blüten und köstlicher Früchte. Sie ist nicht immer sichtbar und fühlbar, doch wir wissen, dass es sie gibt. Tief in uns ahnen wir, dass diese Insel auf uns wartet, dass das der Ort ist, an dem wir uns zu Hause fühlen werden. Manchmal fühlt es sich wie eine Schatzsuche ohne Schatzkarte an. Dann verlieren wir die Hoffnung, unsere Insel zu finden, und zweifeln an ihrer Existenz.
Diese sinnliche Insel ist jedoch nicht weit weg. Sie ist immer da, tief verankert in unserem Körper. Diese Insel sind wir jedes Mal, wenn wir uns erlauben, lebendig zu sein, in vollen Zügen zu atmen, zu fühlen, zu lachen. Wenn wir unserem Körper Raum geben, sich zu bewegen, zu tanzen, Liebe zu machen. Wenn wir Vertrauen in uns haben, wenn wir Nähe zulassen können, wenn wir unseren Körper zeigen und stolz darauf sind, eine solch prächtige, sinnliche und lustvolle Insel zu sein.
Wir sind auf dieser Insel, wenn wir uns unseren Sinnen hingeben, immer wieder, jeden Tag, in jeder erdenklichen und unscheinbaren Situation. Ob wir eine Blume riechen, das warme Wasser auf dem Körper genießen, eine köstliche Frucht schmecken oder in den blauen Himmel schauen und dabei die sanfte Luft auf der Haut spüren, tief atmen und das zarte rauschhafte Schaudern in uns wahrnehmen. Ein stiller, intimer Rausch weitet sich dann aus, als würden alle Körperzellen aufgehen und sich mit dem ganzen Universum tanzend vereinigen. Plötzlich ist der Raum um uns herum kein leerer Raum mehr, sondern ein lebendiges Wesen und wir sind ein Teil davon. Ein leichter, schwungvoller Tanz, ganz fein und subtil, ergreift uns. Unser Kopf ist machtlos und kann nur zuschauen, was in unserem Körper passiert. Und auf einmal tritt ein Grundlustgefühl, eine ganz tiefe Stille und Zu-Frieden-Sein ein. Wir haben unsere Insel gefunden, wir sind diese Insel.
Wenn Sie gerade angefangen haben, dieses Buch zu lesen, sind Sie vielleicht auch auf der Suche nach Ihrer Insel der Lust. Vielleicht haben Sie sich verirrt und Ihre Schatzkarte verlegt, haben den Kontakt zu Ihrem Körper verloren und denken, dass das doch nicht schon alles gewesen sein kann! Dann folgen Sie mir. Ich begleite Sie gerne ein Stück des Weges zurück zu Ihrem Körper, zurück zu Ihrer Insel.
Immer wieder wird mir ich die Frage gestellt: „Was für Menschen kommen zu dir in die Praxis, welche Themen haben sie?“ Darauf antworte ich meist etwas erstaunt, aber auch amüsiert, weil für mich das Sprechen über Sexualität und die Suche nach mehr Sinnlichkeit und Erfüllung inzwischen so normal wie Zahnpflege geworden ist. Ich sage dann, es kommen Menschen wie du und ich, die irgendwann in ihrem Leben eine unerfüllte Sehnsucht verspüren, Fragen in Bezug auf ihre Sexualität haben. Fragen, die sie nicht allein beantworten können, Themen, worüber sie in einem geschützten Raum sprechen möchten, Probleme, wozu sie durch Reflexion und Anregungen womöglich auch eine Lösung finden können. Es sind Menschen, die bei der Suche nach ihrer Insel der Lust den Weg verloren haben.
Eins der häufigsten Themen ist sicherlich die schwindende Lust auf Sex in einer langjährigen Beziehung. Diese Tatsache beruht oft auf weiteren, darunterliegenden, ungeklärten Problemen und sexuellen Schwierigkeiten, wie die sogenannten Störungen der sexuellen Funktionalität. Das sind meist Probleme mit dem Erreichen des Orgasmus und Schmerzen beim Sex für die Frau oder mit der Erektion für den Mann, die entweder wegbleibt oder zu schnell verschwindet. Neben diesen klar umschriebenen Problemen finden sich oft weitere, die zunächst etwas diffuser und weniger greifbar sind, zum Beispiel das Problem, dass beim Sex wenig Erfüllung erlebt wird, dass man sich dabei zu sehr anstrengt, kaum Lustgefühle empfindet oder in der sexuellen Intimität wenig Kontakt verspürt. Andere erzählen von ihrem Wunsch, trotz Beziehung sexuelle Erfahrungen mit anderen Menschen zu machen oder bestimmte sexuelle Praktiken und Vorlieben auszuleben.
Sehr oft höre ich aber auch, dass die Art und Weise, wie man sich in der sexuellen Intimität berührt fühlt, nicht wirklich erotisch und sinnlich, nicht sexy genug ist, um Nähe und Intimität entstehen zu lassen und Lust auf mehr auszulösen.
All diese Themen lassen die eigene Insel der Lust im Nebel verblassen, den Glauben an ihre Existenz zunehmend schwinden.
Ist es Ihnen, liebe Lesende, auch schon mal passiert, dass Sie in einer intimen Situation nicht „richtig“ funktioniert oder sich nicht wohl gefühlt haben, weil die Art, wie Sie berührt wurden, nicht angenehm, nicht erotisch und sinnlich genug war? Dass Sie vielleicht lieber auf das Vorspiel verzichtet haben, weil es, statt Sie anzuregen, eher das Gegenteil bewirkt hat und Sie irgendwann gar keine Lust mehr hatten? Darüber beschweren sich tatsächlich einige meiner Klienten, Männer wie Frauen. Und oft sind sie, wenn sie zu mir kommen, auch am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt. Sie sagen dann, sie hätten zwar versucht, ihrem Partner oder ihrer Partnerin zu erklären, wie sie es sich wünschen, das hätte aber nicht wirklich geholfen. Bleibt das Unwohlsein bei den intimen Berührungen aber unausgesprochen oder ungeklärt, gehen viele Möglichkeiten, das eigene sinnliche, erotische und sexuelle Potenzial zu genießen, verloren.
Sarah, Marion und Anton sind drei reale Menschen, die genau aus diesen Gründen zu mir kamen. Sie hatten Fragen, ungeklärte Themen und vor allem eine tiefe Sehnsucht nach ihrer Insel der Lust. Sie spürten, dass ihr intimes Leben für sie nicht oder nicht mehr befriedigend und erfüllend war. Sie fragten sich, ob dass, was sie lebten, alles war, was sie aus ihrem Potenzial herausholen konnten. Mit dieser Frage bzw. diesem Wunsch, dieser Sehnsucht kommen die meisten Menschen zu einer Sexualberatung. Und oft spüren sie bereits beim Erzählen Erleichterung und Entlastung. Manchmal reicht eine Erklärung, eine Ermutigung oder sogar einfach nur die Erlaubnis, so sein zu dürfen, wie man ist.
Haben Sie sich zum Beispiel auch schon mal gefragt, ob Sie sexuell gesehen „normal“ sind? Oder haben Sie diese Frage vielleicht schon einmal in Bezug auf Ihren Partner oder Ihre Partnerin gehabt? Diese Frage ist tatsächlich nicht selten. In meiner Praxis höre ich sie immer wieder: „Bin ich normal, wenn ich dieses oder jenes fühle, tue, fantasiere?“ – „Ja“, sage ich, und ich bin fest davon überzeugt, weil es in der Sexualität keine wirkliche Norm gibt und das Spektrum der Variationen extrem breit ist.2 Jeder Mensch ist eine eigene sinnliche Insel voller seltsamer prachtvoller Blüten. Je mehr ich mich selbst mit diesem Thema beschäftige, desto größer wird mein Staunen über die Vielfalt an erotischen, sinnlichen und sexuellen Möglichkeiten, Nuancen und Facetten, die Menschen für sich entdecken und ausleben. Problematisch ist nicht das Thema der Normalität an sich, denn wir alle sind auf unsere Art normal. Es wird nur schwierig, wenn sich die Wünsche, Vorstellungen und Sehnsüchte der Beteiligten nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen.
Spannend und erstrebenswert ist es zunächst, wenn die Einzelnen ihren persönlichen Weg in die Welt der Sexualität finden, für sich das Beste aus den eigenen Möglichkeiten machen und die eigene „sexuelle Insel“ zum Erblühen bringen. Ich freue mich, wenn ich meine Klient*innen darin unterstützen kann, das eigene sexuelle Potenzial zu entdecken, die individuellen Ausprägungen und Vorlieben beim Sex zu ergründen und schließlich auch deren Bedeutung und Stellenwert auszumachen und dazu stehen zu können. All diese Aspekte sind die Blüten und Früchte der eigenen sexuellen Insel, die unsere Persönlichkeit widerspiegelt und die man selbst zum Wachsen und Gedeihen anregen kann.
Mit dieser inneren Haltung begegne ich den Menschen, die zu mir in die Praxis kommen, und lasse mich von jedem individuellen Weg in die komplexe Welt menschlicher Sexualität immer wieder aufs Neue überraschen.
Haben wir unsere eigene Insel entdeckt, auf der es so vieles zu bewundern gibt, können wir unser Gegenüber einladen. Wir können auch von dort aus eine Brücke zu der Insel der Partnerin oder des Partners schlagen. Manchmal – um bei der Metapher zu bleiben – lässt sich auch eine neue, gemeinsame Insel entdecken, auf der aus den unterschiedlichen Vorstellungen und Wünschen etwas Neues entstehen kann. Auf dieser gemeinsamen Insel kann womöglich nicht alles wachsen, was man gerne hätte. Nicht alle Bedürfnisse können hier erfüllt, nicht alle Fantasien und Vorlieben ausgelebt werden. Auch die Liebe vermag nicht alle sexuellen Wünsche zu ermöglichen und Bedürfnisse zu erfüllen, weil Liebe und Sex nach verschiedenen Spielregeln funktionieren, und die Tatsache, dass man sich liebt, reicht leider manchmal nicht aus, um sexuelle Probleme zu lösen. Hier und da lässt man vielleicht dem oder der anderen den Vorrang und spielt einfach als sinnliche Liebesdienerin oder sinnlicher Liebesdiener, wie ich das gerne nenne, mit, um kein Spielverderber zu sein. Später ist man dann selbst wieder an der Reihe und lebt die eigene erotische Vorstellung und Vorliebe aus. Und manchmal geht es doch zusammen und der Fluss der Lust fließt, mal zart, mal wild, auf der gemeinsamen Insel.
Die Feststellung, dass auf der neu wachsenden gemeinsamen Insel nicht alles möglich ist, kann zunächst entmutigend und enttäuschend wirken. Dennoch können viele Menschen oft erst dann, wenn sie diese Tatsache angenommen haben, die gemeinsame Sexualität entspannter und lustvoller leben, die Blüten und Früchte wertschätzen und genießen, die sie gemeinsam ausgesucht haben. Sie können dann das ausleben, was gerade zwischen ihnen möglich ist, und damit zufriedener sein. Sex muss nicht perfekt sein. Ausreichend gut ist oft gut genug!
Trotz der großen Individualität und Besonderheit der jeweiligen Probleme lässt sich manchmal ein gemeinsamer Nenner finden, lassen sich wiederkehrende Muster entdecken. Darum werde ich hier drei Geschichten erzählen, die paradigmatisch sind und die Sie als Lesende durch dieses Buch begleiten werden.
Sarah, Marion und Anton hatten ganz unterschiedliche Beweggründe, die sie zu mir geführt haben. Sie hatten auch zunächst kein genaues Ziel, wohin die Reise gehen soll. Sie hatten einfach festgestellt, dass etwas in ihrem intimen Leben nicht so gut war, dass sie unzufrieden waren, dass etwas fehlte. Deshalb haben sie sich auf die Suche gemacht und auf diesem Weg ihre Antworten gefunden.
Diese Antworten sind oft nicht linear, das heißt, sie beantworten nicht unbedingt eine davor gestellte Frage. Es sind manchmal einfach Erkenntnisse, persönliche Errungenschaften, Aha-Erlebnisse. Die Beschreibung dieser Momente erfolgte im Laufe verschiedener Interviews, die für eine qualitative Forschung durchgeführt wurden. Aufgrund des Datenschutzes wurden die persönlichen Daten stark anonymisiert, ohne den wesentlichen Inhalt der Interviews zu verändern. Ich habe speziell diese drei Geschichten ausgewählt, weil sie Erfahrungen, Wahrnehmungen und Erkenntnisse enthalten, die meines Erachtens auf viele Menschen zutreffen und deshalb für sie interessant und motivierend sein könnten. Diese Geschichten gewähren einen Einblick in das Leben dreier Personen und ihre individuelle Suche nach sexueller Befriedigung und Erfüllung. Sie schildern ihre sexuelle Entwicklung durch eine besondere Erfahrung, nämlich durch das Selbsterfahren, Lernen und Praktizieren achtsamer sinnlicher Berührung. Diese Berührungsform ist einer der Hauptwege, der zur Entdeckung der eigenen Insel der Lust mit ihren sinnlichen Verheißungen führen kann.
Mir ist bewusst, dass diese Geschichten nicht immer zum eigenen Leben passen und dass Sie sich als Lesende vielleicht doch nicht immer wiederfinden werden, und dennoch bin ich überzeugt, dass der Entwicklungsprozess, die Erlebnisse und die Erkenntnisse dieser Menschen für viele ermutigend und inspirierend sein können.
Kurze Erklärungen ergänzen die Geschichten. Sie beziehen sich auf die jeweiligen Grundthemen. Es handelt sich immer um knapp gefasste Hypothesen, die aus der Praxiserfahrung stammen und mögliche Ursachen für die beschriebenen Probleme darstellen.
Ein sexuelles Problem hat tatsächlich selten eine einzige Ursache und darum ist es sinnvoll zu schauen, welche die möglichen Faktoren sein könnten, die dieses Problem mitverursacht haben. Dabei stoßen wir auf Themen und Tatsachen, die sich nicht einfach wegreden lassen. Mit diesen müssen wir lernen umzugehen, wir müssen lernen, sie entweder weitgehend zu akzeptieren oder entsprechende Entscheidungen zu treffen. Andere lassen sich wiederum durch spezifische Anregungen und mit etwas Einsatz so weit klären, dass sie ihre negative Wirkung zunehmend verlieren.
In diesem Buch finden Sie Themen und Fragen, die Sarah, Marion und Anton durch die Praxis der Achtsamkeit in der sinnlichen Berührung für sich klären konnten, während sie dabei neue bis dahin unbekannte intime Räume entdeckten. Alle drei werden uns durch die weiteren Kapitel begleiten und uns mit ihren Worten hautnah spüren lassen, wie sich Veränderung im sexuellen Erleben anfühlen kann.
Am Schluss finden Sie noch einige allgemeine Anregungen, die Sie als Leser*in – sollte das Thema auf Sie zutreffen – als Angebot für die eigene Reflexion annehmen können.3
Ich lade Sie nun herzlich ein, mitzukommen auf eine sinnliche Reise, bei der Sie Ihre eigene Insel der Lust (wieder-)entdecken und bewundern können. Vielleicht werden Sie dabei inspiriert, hier und da eine neue Blüte zu betrachten oder eine für Sie noch fremde Frucht zu kosten. Kommen Sie mit?
Sarah ist eine junge Frau Ende zwanzig, Mutter einer 2-jährigen Tochter. Sie hat Anthropologie studiert und schreibt gerade an ihrer Doktorarbeit. Sie wirkt offen, quirlig und neugierig, aber auch ein wenig bedrückt. Sarah beschreibt ihre sexuelle Orientierung als bisexuell. Sie lebt in einer polyamourösen Beziehung mit dem Vater ihres Kindes. Mit einer Studienkollegin trifft sie sich ab und zu. Sie hat bis zur Geburt ihrer Tochter ein bewegtes Beziehungsleben geführt und hat bereits verschiedene sexuelle Erfahrungen gemacht. Insgesamt ist sie bis vor Kurzem mit ihrem Sexleben recht zufrieden gewesen.
Sarah kommt zu mir, weil sie sich nach der Geburt des Kindes in ihrer Sexualität nicht mehr zurechtfindet und wohlfühlt. „Ich wollte wieder mehr in meinen Körper kommen“, erzählt sie mir in der ersten Stunde. Sie hatte den Weg zu ihrer sinnlichen Insel verloren.
Marion ist Anfang fünfzig. Sie arbeitet als Angestellte in einem kleinen Unternehmen und hat bis vor Kurzem mit ihrem Partner auf dem Land gelebt. Nach fünfzehn Jahren Ehe haben sich die beiden getrennt. Ihr Mann hat eine jüngere Frau kennengelernt und da er sich schon immer Kinder gewünscht hat, will er sich mir ihr diesen Wunsch erfüllen. Marion hätte auch Kinder gewollt, als sie aber für die Familienplanung so weit gewesen wären, hat es nicht mehr geklappt.
Sie leidet sehr unter der Trennung. Gemeinsam reflektieren wir über die Gründe, die dazu geführt haben könnten. Das Thema Sexualität scheint eine wesentliche Rolle dabei gespielt zu haben. Noch bevor ihr Mann seine neue Partnerin kennenlernte, sei es deswegen häufig zu Konflikten gekommen, erzählt Marion. Der Grund war, dass sie nicht mehr so viel Lust hatte und dass sie sich immer weniger dazu motivieren konnte, sexuell aktiv zu sein, auch wenn ihr Partner die Initiative ergriff. Sie hatte auch immer schon Schwierigkeiten gehabt, beim Geschlechtsverkehr zum Höhepunkt zu kommen. Das hat auf Dauer beide frustriert. Darum entscheidet sie sich, etwas zu verändern. Sie will endlich versuchen, zu entdecken, wovon sie oft gehört und gelesen hat, die Sehnsucht danach lässt sie ihre Scheu überwinden. Sie möchte neue Wege auf ihrer Insel ausprobieren.
Anton ist Ende dreißig. Er ist Art Director in einer Werbeagentur und ist es gewohnt, alles immer schnell zu erledigen. Er sieht gepflegt und sportlich aus und wirkt sympathisch und zuvorkommend. Er ist seit fast zwanzig Jahren mit seiner Jugendliebe verheiratet. Sie ist auch seine erste Sexualpartnerin gewesen. Davor gab es für ihn nur sporadische Begegnungen, bei denen er sich nicht getraut hat, sexuell aktiv zu werden. Sie haben eine Tochter, die gerade ausgezogen ist. Seine Frau hatte vor der Ehe einige sexuelle Begegnungen mit anderen Männern und wirft ihrem Mann vor, unerfahren zu sein. Sie behauptet, er sei kein guter Liebhaber. Sie begründet dies mit ihren Erfahrungen vor der Ehe und vergleicht ihren Partner mit ihren Ehemaligen.
Er kommt zu mir, weil er in Bezug auf seine Beziehung ziemlich verzweifelt ist. Seine Partnerin verweigert sich ihm inzwischen komplett und die beiden haben schon länger keinen Sex mehr miteinander. Anton erzählt mir etwas verschämt und verunsichert, dass er schon immer das Problem hatte, zu früh zu kommen. Auch er scheint seine sinnliche Insel nicht wirklich zu bewohnen. Die Lust ist zwar da, aber es ist nur ein kurzes Aufflackern und dann verschwindet sie wieder im Nebel von Schamgefühlen und Frustration.
Sarah, Marion und Anton haben ihre Insel aus der Sicht verloren. Vielleicht haben sie sie auch erst nur zum Teil kennengelernt und bewohnt. Sie sind immer die gewohnten Pfade gegangen und haben sich damit begnügt, die ihnen bekannten Blumen zu bewundern. Andere Wege waren für sie nicht sichtbar oder erschienen ihnen zu gefährlich und fremd. Vielleicht ist es aber auch mal zu stürmisch auf der Insel gewesen und dabei sind Wunden entstanden, die sie nun vorsichtiger machen und den Weg zur vollen Lust versperren.
Wenn Menschen zu mir kommen, höre ich mir zunächst die Geschichte an, die sie zu mir bringt. Alle wünschen sich, den Weg zu ihrer Insel zu entdecken oder wiederzufinden. Darum lade ich sie ein, mit mir auf eine Reise zu gehen. Weil diese Reise durch unbekannte Gewässer führen kann, nehme ich sie gerne bildlich an die Hand und führe sie hindurch. Sobald die Insel in Sicht ist, drehen wir eine Runde und schauen uns aus der Ferne die wunderschöne Vegetation an, die auf der Insel wächst und die nährend und zutiefst erfüllend sein kann. Einige Früchte werden bereits reif sein. Andere werden etwas Zuwendung und Pflege benötigen. Für das, was sie uns versprechen, wird sich jedoch die Mühe lohnen, sich ihnen zu widmen.
Einmal angekommen werden sie lernen, sich auf der eigenen Insel der Lust wohl, aufgehoben und vor allem sicher zu fühlen. Sie werden die eigene Lust in all ihren Facetten kennenlernen, diese wachsen lassen und sie zeigen können, und Bilder und Gedanken, die sie daran hindern, hinter sich lassen. Den Gästen, die sie auf ihrer Insel besuchen werden, werden sie großzügig ihre Kostbarkeiten anbieten und die Kommunikation mit ihnen wird im Fluss der Sinne stattfinden.
Als Sarah zu mir in die Praxis kommt, erklärt sie mir, dass sie durch die Geburt der Tochter Probleme bekommen habe. Sie habe einen Dammriss gehabt und dieser sei nicht gut verheilt. Seitdem verkrampfe sie jedes Mal, wenn sie versuche, mit ihrem Partner Geschlechtsverkehr zu haben. „Damals ging es los, ich habe mich auf einmal quasi durchtrennt gefühlt. Ich habe zwischen meinem Genital, Herz und Kopf, keine Verbindung mehr gespürt. Für mich war die Geburt damals wie ein traumatisches Erlebnis, mit dem ich zu kämpfen hatte. Ich bin auch depressiv geworden dadurch.“ Sarah erzählt mir weiter, dass sie nach einem Weg gesucht habe, aus ihrer Depression und sexuellen Unlust herauszukommen. Bei der Lösungssuche im Internet stieß sie auf den Begriff Yoni-Heilmassage. Sie wusste nicht genau, was dahintersteckt, aber irgendwie war ihre Neugierde geweckt. Sie fing an, im Internet zu recherchieren und alles zu lesen, was sie über dieses Thema finden konnte.
Frauen wie Sarah kommen oft in die sexologische Praxis. Sexuelle Unlust nach der Geburt eines Kindes ist keine Seltenheit. Dafür gibt es sicherlich verschiedene Gründe. Die neuen Aufgaben und die damit verbundene Überforderung, der Wechsel von der Zweisamkeit in die Dreisamkeit, die neue Rolle als Mutter bei oft gleichzeitiger Fortführung des beruflichen Alltags mit den dazugehörenden Widersprüchen dieser doppelten Belastung gehören sicherlich zu den häufigsten Gründen für sexuelle Unlust nach der Geburt eines Kindes.
Die individuelle Bedeutung von Sexualität spielt dabei eine wesentliche Rolle: Was verbinden wir mit Sex? Welche Bedürfnisse wollen wir dadurch befriedigen? Schlicht und ergreifend: Warum möchten wir Sex haben? Diese Frage scheint zunächst banal zu sein. Jedoch liefert ihre Beantwortung aufschlussreiche Elemente, um die tieferen Gründe zu verstehen, weshalb „plötzlich“ keine Lust mehr da ist.
Wahrscheinlich ist für viele Frauen der Sinn von Sexualität hauptsächlich mit ihrer Fortpflanzung gekoppelt, sodass Sexualität, wenn die Familienplanung beendet ist, die Priorität in ihrem Leben verliert und andere Aspekte wichtiger werden. Oder aber der Sex diente hauptsächlich als Befriedigung emotionaler Bedürfnisse von Nähe und Bindung, die nach der Schwangerschaft nun vom eigenen Kind durch die intensive Nähe mehr als genug erfüllt werden. Vielleicht war der Sex vor der Schwangerschaft auf der körperlichen Ebene auch nicht wirklich befriedigend und insgesamt nicht besonders erfüllend, wurde aber damals so in Kauf genommen, weil er eine Funktion erfüllte, und zwar jene, schwanger zu werden. Nach der Geburt des Kindes und den damit verbundenen Veränderungen sind aber sowohl das Interesse als auch die Ressourcen dafür nicht mehr vorhanden. Wenn dann auch noch ungelöste Beziehungskonflikte hinzukommen, wird die Geburt des Kindes der letzte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Was jedoch mit dem Körper einer Frau bei der Geburt genau passiert, wird häufig einfach ignoriert und als selbstverständliches Opfer hingenommen, worüber es sich eben nicht zu reden gebührt. Diese Tabuisierung führt zum Schweigen und das Schweigen führt zu keiner Lösung. Wie Sarah sind immer wieder Frauen zu mir gekommen, die ähnliche Geschichten erzählten, zwar nicht sofort, aber irgendwann, wenn sie ein wenig Mut und das Vertrauen gefasst hatten, dass ich sie deswegen nicht verurteile, dass sie nicht mehr stillschweigend versuchen, damit klarzukommen, was mit ihrem Körper passiert ist oder ihm angetan wurde. Dazu gehören auch andere chirurgische Eingriffe, die mit dem Urogenitalapparat zu tun haben. Eine meiner ersten Klientinnen hatte eine Laserbehandlung an der Vulva bekommen. Seitdem hatte sie keine Verbindung mehr zu ihrem Genital und litt an sexueller Unlust und zunehmend unter den Konflikten in ihrer Beziehung, weil sie sich sexuell immer mehr zurückgezogen hatte. Die Unversehrtheit der eigenen Vulva und Vagina kann durch die Geburt eines Kindes, durch die dabei notwendigen Eingriffe oder durch eine urogenitale Erkrankung wie eine wiederkehrende Blasenentzündung oder andere Infektionen abhandenkommen. Damit geht auch ein Stück Selbstverständlichkeit verloren, die den Zugang zum Sex leicht und unkompliziert machen würde.
Es entsteht eine Schmerzspirale: Bei jedem neuen Versuch einzudringen, schützt sich der Körper durch Verkrampfung davor, was zu noch mehr Schmerz führt. Diese Spirale zu durchbrechen und das eigene Genital als einen Ort lustvoller Momente zu erleben, ist die wichtigste Aufgabe in der Sexualtherapie. Zu diesem Zweck kann die heilende Wirkung achtsamer sinnlicher Massagen eingesetzt werden. Dadurch konnte bspw. Sarah – wie andere Frauen auch – einen neuen Bezug zu ihrem Körper und vor allem zu ihrem Genital herstellen und die traumatische Erfahrung heilen. Der Weg zur Lustinsel ist für Sarah wieder frei (vgl. auch Anhang).
Im Laufe der Gespräche mit Marion kommen verschiedene Themen auf, die mit ihren Schwierigkeiten, einen Orgasmus zu bekommen, verbunden sind und ihre Unlust verursacht haben konnten. Auch in ihrem Fall spielen verschiedene Ursachen eine Rolle. Neben der Tatsache, dass es in langjährigen Beziehungen nichts Ungewöhnliches ist, dass das Begehren nachlässt und ungelöste Konflikte in der Partnerschaft oft im Schlafzimmer in Form von Lustlosigkeit oder anderen sexuellen Symptomen ausgetragen werden, wird relativ bald deutlich, dass Marions Unlust wesentlich von der Tatsache beeinflusst wird, dass sie noch nie einen vaginalen Orgasmus erlebt hat und eigentlich nur mit einem Vibrator in der Selbstbefriedigung zum Höhepunkt kommen kann. Diese Tatsachen führen irgendwann auf beiden Seiten zur Frustration: Ihr Partner fühlt sich in seiner Männlichkeit und Genitalität nicht wirklich angenommen, während Marion sich auf Dauer nicht mehr so motivieren und auch keine Lust auf Geschlechtsverkehr entwickeln kann, weil er ihr noch nie wirklich Spaß gemacht hat und mit der Zeit zu einer Art „Pflichtveranstaltung“ geworden ist.
Marion hatte sich vor unserem Termin bereits ausführlich erkundigt, sie hatte über diese Thematik viel gelesen und nickt mir zu, als ich ihr davon erzähle, dass sie womöglich einen Erregungsmodus hat, der ihr nicht ermöglicht, beim Geschlechtsverkehr zum Höhepunkt zu kommen. Das hatte sie tatsächlich bereits für sich festgestellt und sie hatte auch allein versucht, etwas zu verändern, indem sie angefangen hatte, sich anders zu berühren. Das Ergebnis war jedoch eher frustrierend gewesen und darum griff sie dann doch immer wieder zum Vibrator, weil das schon immer gut funktioniert hatte (vgl. auch Anhang).
Die Idee mit der Massage kommt ihr im Laufe der Zeit, nachdem ich ihr von den Gruppen erzählt habe, in denen Körperarbeit angeboten wird und achtsame sinnliche Berührung erfahren, erlernt und praktiziert werden kann. Nachdem sie einige Einzelsessions erlebt und davon profitiert hat, entschließt sie sich, an den Selbsterfahrungsgruppen teilzunehmen, die regelmäßig stattfinden und das Erlernen und Praktizieren achtsamer sinnlicher Berührung als Schwerpunkt haben.