WEITERE TITEL VON PANINI
ASSASSIN’S CREED: DIE BRUDERSCHAFT
Der offizielle Roman zum Game Assassasin’s Creed: Brotherhood
Oliver Bowden – ISBN 978-3-8332-2236-8
ASSASSIN’S CREED: RENAISSANCE
Der offizielle Roman zum Game Assassasin’s Creed 2
Oliver Bowden – ISBN 978-3-8332-2235-1
ASSASSIN’S CREED: DER GEHEIME KREUZZUG
Oliver Bowden – ISBN 978-3-8332-2436-2
ASSASSIN’S CREED: REVELATIONS – DIE OFFENBARUNG
Der offizielle Roman zum Game Assassasin’s Creed: Revelations
Oliver Bowden – ISBN 978-3-8332-2437-9
ASSASSIN’S CREED: FORSAKEN – VERLASSEN
Oliver Bowden – ISBN 978-3-8332-2610-6
ASSASSIN’S CREED: BLACK FLAG
Der offizielle Roman zum Game
Oliver Bowden – ISBN 978-3-8332-2700-4
ASSASSIN’S CREED: UNITY
Oliver Bowden – ISBN 978-3-8332-2893-3
ASSASSIN’S CREED: UNDERWORLD
Oliver Bowden – ISBN 978-3-8332-3170-4
ASSASSIN’S CREED: HERESY – KETZEREI
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-3351-7
ASSASSIN’S CREED: DER UNTERGANG – COMICBAND 1
100 Seiten, farbig – ISBN 978-3-86201-093-6
ASSASSIN’S CREED: THE CHAIN – COMICBAND 2
100 Seiten, farbig – ISBN 978-3-86201-416-3
ASSASSIN’S CREED: BRAHMAN – COMICBAND 3
100 Seiten, farbig – ISBN 978-3-86201-973-1
Infos zu weiteren Romanen und Comics unter:
www.paninicomics.de
von Christie Golden
Basierend auf dem Drehbuch von
Michael Lesslie, Adam Cooper & Bil Collage
Basierend auf der Videospielreihe
Assassin’s Creed von Ubisoft
Ins Deutsche übertragen
von Andreas Kasprzak
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Englische Originalausgabe:
»ASSASSIN’S CREED The Official Fim Tie-In« by Christie Golden, published by Ubisoft and Penguin Books, England, December 2016.
Copyright © 2016 Ubisoft Entertainment. All Rights Reserved. Assassin’s Creed, Ubisoft and the Ubisoft logo are trademarks of Ubisoft Entertainment in the US and/or other countries.
COVER DESIGN BY FACEOUT STUDIO, DEREK THORNTON.
COVER ART © 2016 TWENTIETH CENTURY FOX FILM CORPORATION AND UBISOFT MOTION PICTURES ASSASSIN’S CREED. ALL RIGHTS RESERVED.
INTERIOR DESIGN BY FACEOUT STUDIO, PAUL NIELSEN.
No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publication may be reproduced, by any means, without the express written permission of the copyright holder(s).
Übersetzung: Andreas Kasprzak
Lektorat: Katja Böhm & Tom Grimm
Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest
Chefredaktion: Jo Löffler
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
YDACFR002E
ISBN 978-3-8332-3478-1
Gedruckte Ausgabe: 1. Auflage, Januar 2017
ISBN 978-3-8332-3352-4
www.paninibooks.de
Dieses Buch ist all jenen gewidmet,
die Assassin’s-Creed-Games spielen und lieben,
besonders jedoch Ryan Puckett, der seit jeher
ein Maß an Güte und Großzügigkeit an den Tag legt,
das über sein Alter weit hinausgeht.
Seit Jahrhunderten sucht der Orden der Tempelritter
nach dem Edenapfel, in der Überzeugung, dass dieses
mystische Artefakt nicht bloß die Saat
für den Ungehorsam des ersten Menschen birgt,
sondern den Schlüssel des freien Willens an sich.
Falls es den Templern gelingt, das Relikt zu finden und
seine Geheimnisse zu enträtseln, besäßen sie die Macht,
alles menschliche Denken zu kontrollieren.
Allein eine geheimnisvolle Gruppe,
die sich die Bruderschaft der Assassinen nennt,
steht ihnen in diesem Bestreben noch im Weg …
Prolog
Andalusien, Spanien
1491
Der Himmel stand in goldenen Flammen, die alles erstrahlen ließen, was sie berührten: die felsigen Gipfel der Berge, die Stadt, die sich zu deren Füßen ausbreitete, und auch das rote Ziegeldach der Maurenfestung, in deren offenem Innenhof eigene Feuer brannten.
Der Adler ließ sich vom peitschenden Wind dahintragen und flog mit trägem Flügelschlag auf seinen abendlichen Ruheplatz zu, bevor das Gold den kühleren Lavendeltönen der nahenden Nacht wich. Jene, die weiter unten am Boden ihrem Tagwerk nachgingen, die Esse betrieben und Klingen schmiedeten, schenkten weder dem Adler noch dem Wind oder dem Himmel die geringste Beachtung.
Ihre Gesichter lagen im Schatten, verborgen unter den Kapuzen, die sie alle trugen, während sie Schwerter schärften, geschmolzenes Metall in Formen gossen, um neue zu schmieden, und rot glühenden Stahl zu grauem Gehorsam hämmerten. Niemand sprach ein Wort. Das Schweigen wurde allein vom Klirren und Schaben ihrer Arbeit unterbrochen.
Draußen vor dem Eingang der mächtigen Festung stand eine einsame Gestalt. Den Mann – groß, wohlproportioniert und auf athletische Weise muskulös – umgab eine Aura der Düsternis und Ungeduld. Und obgleich er genau wie die anderen eine Kapuze trug, war er in Wahrheit keiner von ihnen.
Jedenfalls noch nicht.
Doch es lag ihm im Blut, das war unbestreitbar. Schon seine Eltern hatten der Bruderschaft angehört, die mit seinem Leben zu schützen er in Bälde geloben sollte. Als er noch ein Kind war, hatten seine Eltern ihm beigebracht, wie man kämpfte, wie man sich verbarg, wie man sprang und kletterte, und alles unter dem Deckmantel von Spiel und Abenteuer.
Damals war er zu jung und zu unschuldig gewesen, um die brutale Wirklichkeit zu erkennen, die hinter den Lektionen steckte, die er lernte. Erst später, als er älter war, hatten seine Eltern ihm offenbart, was sie waren und wem sie dienten. Ihm hingegen hatte die Vorstellung missfallen, nicht Herr seines eigenen Schicksals zu sein, weshalb es ihm widerstrebt hatte, in ihre Fußstapfen zu treten.
Sein Zögern hatte sie den höchstmöglichen Preis gekostet.
Der große Feind hatte sie ausspioniert.
Er hatte ihr Verhalten und ihre Angewohnheiten studiert. Einem Raubtier gleich hatte dieser uralte Widersacher seine Eltern von der Herde getrennt, von ihren Brüdern und Schwestern, um in so großer Zahl über sie herzufallen, dass seine Mutter und sein Vater ihnen nichts entgegenzusetzen hatten.
Der jahrhundertealte Feind hatte sie erschlagen.
Jedoch nicht sauber und mit Respekt, nicht in einem fairen Kampf. Oh nein! So etwas war von diesem Feind nicht zu erwarten. Dieser Feind hatte sie mit Ketten an Pfosten gefesselt. Dieser Feind hatte Reisigbündel zu ihren Füßen gelegt und sie – und das Reisig – mit Öl übergossen und in Brand gesteckt, während die versammelte Menge das grässliche Schauspiel lauthals bejubelte.
Er war nicht dabei gewesen, als man sie gefangen nahm. Während er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte, fragte er sich zum millionsten Mal, ob es ihm möglich gewesen wäre, das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden, wenn er ihnen hätte beistehen können? Die Mitglieder der Bruderschaft, die zu spät gekommen waren, um sie zu retten, hatten ihm versichert, dass er nichts am Schicksal seiner Eltern hätte ändern können. Nicht ohne Ausbildung.
Die Mörder hatten sich keine Mühe gemacht, ihre Tat zu verschleiern; stattdessen prahlten sie damit, „Ungläubige“ ihrer gerechten Strafe zugeführt zu haben. Groß gewachsen, mit einer Brust, breiter als ein Fass, kalten Augen und noch kälterem Herzen hatte dieser Mann – Ojeda – den Überfall auf seine Eltern angeführt. Und er stand an der Seite von Vater Tomás de Torquemada, als das Monster Aguilars Familie für schuldig befunden und bei lebendigem Leib verbrannt hatte.
Da war es längst zu spät gewesen, um sie noch zu retten. Doch es war nicht zu spät für ihn, sich selbst zu retten.
Da die Bruderschaft seine Beweggründe infrage stellte, hatten sie ihn zunächst abgewiesen. Maria aber sah mehr in ihm als nur das Verlangen nach Rache. Sie war durch seinen rohen Kummer und seinen instinktiven, impulsiven Zorn zu dem Mann in seinem Innern durchgedrungen, um in ihm jemanden zu erkennen, dem es um mehr ging als darum, Rache an dem Ungetüm zu üben, das seine Familie ermordet hatte.
Sie war zu dem Mann durchgedrungen, der wusste, dass es auf dieser Welt etwas gab, das sogar noch wichtiger war als jene, die er geliebt hatte – das Kredo. Denn das Kredo der Bruderschaft würde sie alle überdauern, um auch künftig von einer Generation an die nächste weitergegeben zu werden.
An die Kinder der Assassinen – so, wie er selbst eines war.
Und so hatten sie ihn schließlich unterwiesen. Vieles, was man ihn lehrte, fiel ihm leicht, und im Nachhinein dankte er seinen Eltern dafür, dass sie ihm spielerisch bereits so viel von dem nahegebracht hatten, was er jetzt in aller Ernsthaftigkeit lernte. Anderes war schwieriger, und Narben kündeten von den Malen, die er zu langsam oder zu unaufmerksam oder schlichtweg zu müde gewesen war.
Er studierte die Geschichte seiner Blutlinie, und die Entschlossenheit, die ihn antrieb, musste für Außenstehende – für die, deren Puls sich nicht im selben Maße beschleunigte, wie es bei den Mitgliedern der Bruderschaft der Fall war – wie wahnwitzige Rücksichtslosigkeit wirken.
Und Maria stand stets hinter ihm.
So schnell man sie zum Lachen bringen konnte, so flink war sie mit ihren Klingen und schien bei jedem einzelnen Atemzug nur so vor Intensität zu vibrieren. Wenn seine Kräfte schwanden, trieb sie ihn gnadenlos an, lobte ihn, wenn er Erfolg hatte, und jetzt war sie drinnen und half bei den Vorbereitungen der Zeremonie, die ihn dorthin führen würde, wo die Seelen seiner ermordeten Familie ihn sehen wollen würden.
Er schreckte aus seinen Grübeleien auf, als mehrere der Kapuzengestalten an der Tür auftauchten und ihm mit einem Wink bedeuteten, ihnen zu folgen. Er kam der Aufforderung schweigend nach, doch obwohl sein Herz vor Anspannung raste, strahlte er nach außen hin unerschütterliche Ruhe aus, als er die Treppe in den offenen Bereich hinabstieg. Der Singsang der Versammelten drang an sein Ohr: „Laa shay’a waqi’un moutlaq bale kouloun moumkine.“
Die übrigen Kapuzengestalten hatten in einem losen Kreis um einen rechteckigen Tisch in ihrer Mitte herum Aufstellung bezogen. Am einen Ende des Tisches wartete jemand, der dem Initianden nahestand: Benedicto, der Mentor, mit dem er trainiert und gekämpft hatte. Benedicto war ein freundlicher Mann, freigiebig mit Lachen und Lob, doch das Licht der Kerzen auf dem Tisch und der Schein der in ihren Halterungen flackernden Fackeln offenbarten ein Antlitz, das in diesem Moment frei von jedweder Unbeschwertheit war. Benedicto und Maria waren es gewesen, die an den niedergeschlagenen jungen Mann herantraten, um seinem Leben einen neuen Sinn zu geben. Zwar hatte Benedicto nicht vorgegeben, den Vater ersetzen zu können, den man ihm geraubt hatte, doch nichtsdestotrotz hatte er für Aguilar getan, was in seiner Macht stand. Nicht zuletzt damit hatte er sich den Respekt aller Anwesenden verdient, einschließlich den des Initianden.
Als er nun sprach und sich an die Versammelten wandte, war seine Stimme laut und kräftig.
„Unsere schlimmsten Befürchtungen haben sich bewahrheitet: Zu guter Letzt hat die Inquisition Spanien nun doch den Templern überlassen. Zwar harren Sultan Mohammed und seine Männer noch immer in Granada aus, doch falls Mohammeds Sohn, der Prinz, gefangen genommen würde, würde er die Stadt und den Edenapfel ohne Frage aufgeben, um seine Freilassung zu erwirken.“
Die von Tätowierungen gezierten Gesichter ringsum, von denen viele überdies von Narben gezeichnet waren, blieben größtenteils ausdruckslos, doch Aguilar konnte die Anspannung spüren, die sich angesichts dieser Neuigkeit im Raum ausbreitete. Benedicto schaute sie an und schien mit den Reaktionen, die er sah, zufrieden zu sein.
Schließlich kam sein Blick auf dem Initianden zu liegen. Die Zeit war gekommen.
„Schwörst du, Aguilar de Nehra, unserer Bruderschaft in unserem Kampf für die Freiheit Ehre zu erweisen? Schwörst du, die Menschheit gegen die Tyrannei der Templer zu verteidigen und das Geschenk des freien Willens zu schützen?“
„Ich schwöre es“, erklärte Aguilar ohne jedes Zögern.
Benedicto fuhr mit eindringlicher Stimme fort: „Wenn der Apfel in ihre Hände fällt, werden die Templer alles und jeden vernichten, der ihnen im Weg steht. Widerspruch, eine andere Meinung als die ihre, das Recht, für uns selbst zu entscheiden … Das alles werden sie den Menschen nehmen. Schwöre mir, dass du bereit bist, dein eigenes Leben und die Leben aller, die hier versammelt sind, zu opfern, um zu verhindern, dass es dazu kommt.“
Aguilar spürte, dass dies kein Bestandteil der üblichen Zeremonie war; offenbar wollte Benedicto ihm über den Schatten jedes Zweifels hinaus deutlich machen, dass der Initiand genau verstand, dass die Bruderschaft in diesen hochgefährlichen Zeiten womöglich alles von ihm verlangen würde. Den allerhöchsten Preis.
Doch Aguilar zauderte nicht. „Ja, Mentor.“
Die braunen Augen seines Lehrmeisters suchten die seinen, ehe er schließlich nickte und sich in Bewegung setzte, um neben Aguilar zu treten. Er griff nach der rechten Hand des jüngeren Mannes, die in Erwartung des erforderlichen Opfers mit Verbänden umwickelt war, und legte sie nicht unsanft auf einen Block aus geschnitztem Holz, in dem Metallintarsien glommen.
Auf dem Holz waren noch andere grimmigere Male – Flecken von der Farbe alten Rosts.
Benedicto legte Aguilars Hand zurecht, bevor er die Schenkel eines Instruments, das am ehesten einer Schere glich, an den Ringfinger des jüngeren Mannes setzte. Aguilar wusste, dass sein Mentor in diesem Moment spürte, wie er sich anspannte, doch er konnte nichts dagegen tun.
„Unser eigenes Leben ist bedeutungslos“, erinnerte Benedicto ihn, während sich sein Blick in Aguilars bohrte. „Der Apfel hingegen ist alles. Der Geist des Adlers wird über die Zukunft wachen.“
Seine Mutter und sein Vater hatten ihm ein Vermächtnis aus unbändiger Liebe hinterlassen, ebenso wie eine Historie, die fortzusetzen Aguilar kaum erwarten konnte. Denn ihn hatten sie ebenfalls zurückgelassen. Bislang hatte er geglaubt, ganz allein auf der Welt zu sein, aber das würde sich gleich ändern. Gleich würde er zu einer großen, weitverzweigten Familie gehören – zu einer Bruderschaft.
Benedicto ließ die Schere zuschnappen und trennte den Finger ab. Der Schmerz war gewaltig, doch Aguilar wappnete sich dagegen und schrie weder auf, noch riss er instinktiv seine Hand zurück. Blut strömte hervor, um rasch die Verbände zu durchtränken, die es begierig aufsogen, während Aguilar tief durchatmete und sein Überlebensinstinkt mit der Selbstbeherrschung wetteiferte, die man ihm bei seiner Ausbildung eingetrichtert hatte. Die Klinge wurde so scharf geschliffen, wie es nur geht, sagte er sich. Der Schnitt ist sauber. Er wird heilen.
Und auch ich kann nun endlich heilen.
Maria kam auf ihn zu und hielt ihm eine reich verzierte, aus Metall und Leder gefertigte Armschiene hin. Aguilar schob behutsam seinen Arm hinein und biss die Zähne zusammen, um nicht zusammenzuzucken, als seine frische Wunde über den Rand der Schiene strich, aber hinsehen tat er nicht; stattdessen schaute er bloß Maria an, blickte in die Tiefen ihrer warmen blaugrünen, von dunklem Kajal umrandeten Augen und bewunderte ihre betörende Schönheit, die durch die Tätowierungen, die ihre Stirn, ihr Kinn und die zarte Haut unter ihren Augen zierten, nur noch zusätzlich betont wurde.
Maria, die ihm erst wie eine gütige Schwester erschienen war, um im Laufe der Zeit so viel mehr für ihn zu werden. Er wusste alles über sie, kannte sie in- und auswendig: ihr Lachen, ihren Geruch, das sanfte Geräusch ihres Atems auf seiner Haut, wenn sie in seinen Armen schlief. Er kannte die Wölbung ihres Schenkels und die Kraft ihrer Arme, wenn sie ihn spielerisch auf dem Bett niederdrückte, ehe sie ihn mit der süßen Wärme ihres Mundes belohnte.
In diesem Moment jedoch hatte sie nichts Verspieltes an sich. Ganz gleich, wie viel Maria ihm auch bedeuten mochte, Aguilar wusste nur zu gut, dass ihre Klinge die erste sein würde, die seine Kehle fand, wenn er auf dem Pfad, der auf ihn wartete, ins Straucheln geriet.
Denn vor allem anderen war sie eine Assassine und vor allem anderen war sie dem Kredo verpflichtet.
Genau wie er selbst es gleich sein würde.
Ihre Stimme, süß und stark, sprach die zeremoniellen Worte: „Wo andere blind der Wahrheit folgen, bedenke …“
„… nichts ist wahr“, sagten die übrigen Versammelten im Chor.
„Wo andere eingeschränkt sind durch Moral oder Gesetz, bedenke …“
„… alles ist erlaubt.“
Aguilar hielt ihren Blick noch einen Moment länger, ehe er sein Handgelenk fast unmerklich nach oben kippte, so, wie man es ihn gelehrt hatte. Mit einem hellen, metallischen Laut – wie aus Freude darüber, endlich befreit worden zu sein – schoss die verborgene Klinge an der Unterseite seines Arms nach vorn, um die Lücke zu füllen, die sein abgetrennter Ringfinger hinterlassen hatte.
Als Aguilar das Wort ergriff, zitterte seine Stimme vor Eindringlichkeit. „Wir wirken im Dunkel, um dem Licht zu dienen.“
Er atmete tief durch.
„Wir sind … Assassinen.“
Und hoch über ihnen ertönte der Ruf des Adlers, wie um die Zufriedenheit der Geister kundzutun.
1.
Baja California, Mexiko
1986
Als er den Ruf des Adlers vernahm, schaute Cal Lynch auf und kniff die Augen in der blendenden Helligkeit des Sonnenlichts zu Schlitzen zusammen. Zwar konnte er den Vogel, der sich als Silhouette vor dem Himmel abhob, nicht genau erkennen, doch das hinderte ihn nicht daran, zu grinsen, als er die Kapuze seines grauen Sweatshirts über sein dunkelblondes Haar streifte und sich für das Unvermeidliche wappnete.
Denn auch er würde gleich fliegen.
Er wollte das hier schon machen, seit … na ja, seit einer Ewigkeit. Seit seine Eltern vor einigen Monaten hierhergezogen waren. Sie zogen viel um; das war etwas, das Cal bei seiner Familie einfach als gegeben hinnahm. Mom und Dad nahmen die Jobs an, die sie kriegen konnten, wie obskur auch immer, dann blieben sie für eine Weile an einem Ort und zogen schließlich weiter. Nicht zuletzt deshalb hatte Cal nie wirklich die Chance gehabt, Freunde zu finden. So kam es, dass er auch heute, an dem Tag, an dem er es endlich tun würde, kein Publikum hatte. Allerdings machte ihm das nicht allzu viel aus, ja, um ehrlich zu sein, es war ihm sogar lieber so, da er das, was er vorhatte, eigentlich überhaupt nicht tun dürfte.
Er schleppte sein Fahrrad ganz hoch bis aufs Dach von einem der leer stehenden, baufälligen alten Häuser. Unterwegs war sein Fuß geradewegs durch eine vollkommen verrostete Stufe gebrochen, sodass ihm die scharfen Kanten des Metalls durch die Jeans ins Bein geschnitten hatten. Aber das war schon in Ordnung; vor einem Jahr hatte er in einer Klinik, die nicht viel kostete, eine Tetanusspritze bekommen. Abgesehen davon kannte er sich mit Dächern aus. Nachts, wenn seine Eltern glaubten, er sei in seinem Zimmer, kletterte er regelmäßig aus dem Fenster und hinauf auf die Dächer, um in die Kühle und Geheimniskrämerei der Nacht einzutauchen – und in jede Menge Missgeschicke, von denen seine Eltern dankenswerterweise nicht die geringste Ahnung hatten.
Cals heutiges Ziel war ein großer Frachtcontainer, der etwas niedriger war als das Dach, auf dem er mit seinem Rad kauerte. Die Lücke dazwischen betrug ungefähr sechs Meter – keine große Sache. Trotzdem flatterte sein Herz in seiner Brust, als er sich aufs Fahrrad setzte, einen Fuß auf einem der Pedale, den anderen auf dem Dach des Gebäudes.
Er schloss die Augen und sog durch die Nasenlöcher langsam die Luft ein, um sein wie wild rasendes Herz und seine Atmung zu beruhigen.
Du hast es schon so gut wie geschafft, sagte er sich. Der Drops ist bereits so gut wie gelutscht. Genieß jetzt einfach die Reise. Stell dir vor, dass die Räder perfekt aufsetzen, und dann musst du das Fahrrad bloß noch rechtzeitig herumziehen, damit du nicht über die andere Seite hinausschießt.
Oh, das war kein sonderlich angenehmer Gedanke, und Cal versuchte sofort, ihn aus seinem Hirn zu verbannen. Dummerweise war das gar nicht so einfach, sondern eher wie bei diesem alten Witz von wegen: „Denk nicht an einen rosa Elefanten.“ Und: Bumm! Mit einem Mal hatte man nichts anderes mehr im Sinn als diesen verfluchten rosa Elefanten.
Cal zwang sich, sich zu konzentrieren, malte sich aus, wie er in die Pedale trat, durch die Luft flog und eine grandiose Landung hinlegte. Zehn Punkte!
Vor seinem geistigen Auge sah er sich fliegen. Genau wie den Adler.
Er konnte es schaffen.
Langsam und bedächtig öffnete Cal die Augen und packte den Lenker fester.
Jetzt.
Er warf sich nach vorn und trat wie wild in die Pedale, während sein Blick zwischen dem rasch näher kommenden Ende des Dachs und dem Müllberg hin und her schweifte, der sich zwischen dem Gebäude und dem Frachtcontainer befand, doch er ließ sein Ziel keine Sekunde aus den Augen. Schneller, immer schneller wurde er, und dann war da nichts mehr unter ihm, als er das Vorderrad seines Rads mit einem Ruck nach oben riss.
Er segelte über den Müll unter sich hinweg und auf seinem Gesicht breitete sich ein Grinsen vollkommener, reiner Freude aus. Ja! Er würde es tatsächlich schaffen –
Das erste Rad setzte sauber auf.
Das zweite nicht.
So abrupt, dass ihm nicht einmal Zeit blieb, Angst zu haben, landete Cal mitsamt seinem Fahrrad auf einem Haufen alter Matratzen, Abfall und anderem Zeug, das er die letzten paar Wochen über mühsam hierher geschleppt hatte. Er bewegte probeweise seine Glieder, doch es schien nichts gebrochen zu sein. Zwar blutete er aus einer Schürfwunde an der Stirn, und sein ganzer Körper schmerzte, doch abgesehen davon war er in Ordnung.
Das Fahrrad hingegen hatte bei der unsanften Landung einiges eingesteckt, und die Schäden an seinem Rad zu sehen, machte ihm unmissverständlich klar, dass er versagt hatte.
„Scheiße“, fluchte er, ehe er sich aufrappelte und sein Rad aus dem Müllhaufen zog. Er freute sich nicht im Mindesten darauf, seinen Eltern zu erklären, woher seine Verletzungen stammten.
Er nahm sich einen Moment Zeit, um zu sehen, wie schlimm es ihn erwischt hatte. Er hatte ein paar Kratzer und Abschürfungen im Gesicht und am Körper, aber nichts allzu Dramatisches; sogar die Schnittwunde an seinem Bein hatte mittlerweile aufgehört zu bluten. Und auch das Fahrrad war trotz der kleineren Macken, die es abbekommen hatte, noch immer fahrtauglich. Gut. Cal schaute mit halb zusammengekniffenen Augen auf und lächelte, als er den kleinen Punkt des Adlers am Himmel entdeckte. Soweit es ihn betraf, mussten Mom und Dad ja nicht sofort alles erfahren.
Cal schwang sich auf sein Rad, um einfach eine Weile dem Adler zu folgen.
Als Cal schließlich in die heruntergekommene Mietshaussiedlung zurückkehrte, die er sein Zuhause nannte, wurden die Schatten bereits länger.
Sein Rad wirbelte auf der Schotterpiste gelben Staub auf. Alles hier war mit diesem blassen, wabernden Gold bedeckt und die einzigen Farbtupfer längs der Straße stammten von ein paar dekorativen bunten Wimpeln. Cals übliche gute Laune war wieder da. Er war bereits dabei, zu analysieren, was er falsch gemacht hatte, und sich zu überlegen, wie er den Sprung beim nächsten Mal sauber hinbekommen würde. Schließlich war das bloß der erste Versuch gewesen, und Callum Lynch war niemand, der einfach so aufgab. Morgen würde er es noch mal versuchen – oder, berichtigte er sich, Realist, der er war, sobald seine Eltern ihm sein Fahrrad wieder zurückgaben, nachdem er ihnen gebeichtet hatte, was passiert war.
Erst als er schon mitten in der Stadt war, fiel Cal auf, dass irgendetwas nicht stimmte. Viele Leute hatten ihre Häuser verlassen, einige saßen in Stühlen auf ihrer Veranda und nahmen einen Drink, doch die meisten standen einfach in ihrem Garten und … starrten vor sich hin.
Nein, das stimmte nicht: Sie starrten ihn an.
Ihre Mienen waren sorgsam um Neutralität bemüht, doch gerade das sorgte dafür, dass sich Cals Magen schmerzhaft zusammenkrampfte.
Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Er beschleunigte sein Tempo, ließ das Rad im Vorgarten einfach fallen und warf erneut einen Blick hinter sich auf seine stummen, ernsten Nachbarn.
Cals Herzschlag wurde schneller, auch wenn er nicht recht verstand, warum. Er langte nach dem Knauf der Verandatür und seine Hand erstarrte.
Die Tür stand sperrangelweit offen.
Seine Eltern machten sie immer zu.
Cal schluckte schwer, ehe er in den kleinen, umschlossenen Windfang trat, stehen blieb, lauschte und dann langsam, wie ein Fremder, in das ach so vertraute Gebäude ging. Die Tür zum übrigen Teil des Hauses stand ebenfalls auf. Er streckte eine kleine Hand aus und teilte die langen Stränge des bernsteinfarbenen Perlenvorhangs, der als symbolischer Trenner zwischen den meisten Räumen des Hauses diente. Von drinnen drangen weder Gesprächsfetzen noch Gelächter heraus und auch nicht der Duft vom Abendessen auf dem Herd oder das Klappern und Klirren von Geschirr. Das einzig vertraute Geräusch, das er vernahm, war die Stimme von Patsy Cline, dünn und leise, die aus dem alten beigefarbenen Radio kam, und das Dröhnen des Fernsehers im Hintergrund, in dem irgendeine Nachrichtensendung lief.
„Unser heutiger Gast ist Dr. Alan Rikkin, der Geschäftsführer von Abstergo Industries“, sagte der Moderator gerade. „Alan, wie es scheint, steht die Welt am Abgrund.“
„Ja, so kommt es einem vor, nicht wahr?“ Dr. Rikkin hatte einen schrecklich vornehmen englischen Akzent. Cal erhaschte einen flüchtigen Blick auf einen Mann Ende dreißig, gut gekleidet, elegant, mit dunklen Augen und scharf geschnittenen Gesichtszügen. „Man hat den Eindruck, als würde die Menschheit es darauf anlegen, sich mit dieser andauernden, weitverbreiteten Gewalt selbst zu zerstören. Ich glaube, solange wir nicht versuchen, die Wurzeln unserer eigenen aggressiven Natur zu ergründen, ist die Zivilisation, so wie wir sie kennen, verloren. Darum arbeiten wir bei Abstergo Industries daran, die Schlüsselelemente unserer Aggression zu isolieren –“
Dr. Rikkin schwadronierte weiter, doch Cal schenkte ihm keine Aufmerksamkeit mehr, als er sich weiter ins Haus vorwagte. Drinnen war es dunkel, aber das war nicht ungewöhnlich; die Sommer in diesen Gefilden waren heiß, und die Dunkelheit sorgte dafür, dass alles hübsch kühl blieb. Indes, dies war keine freundliche Dunkelheit, und Cal wurde bewusst, dass seine Hände schweißnass waren.
Als er das Wohnzimmer betrat, konnte er seine Mutter in der Küche sitzen sehen, als Umriss, der sich vor dem Fenster abhob. Ohne jeden wirklichen Grund erleichtert, dass sie da war, schickte er sich gerade an, sie anzusprechen, als die Worte in seiner Kehle erstarben. Erst jetzt realisierte er, dass sie in einem sonderbaren Winkel dasaß, mit dem Rücken gegen die Stuhllehne gelehnt, während ihre Arme schlaff zu beiden Seiten herabhingen.
Und sie war still. So grauenvoll still.
Cal erstarrte und starrte sie an, derweil sein Gehirn dahinterzukommen versuchte, was hier falsch war. Da fiel ihm eine Bewegung ins Auge – etwas troff von ihren Fingern langsam, fast zähflüssig zu Boden. Die Tropfen landeten in einer stetig größer werdenden roten Pfütze, in der sich das harsche Sonnenlicht fing, das hinter ihm durch die offenen Türen hereinfiel.
Cals Augen waren wie gebannt von der Pfütze. Dann glitt sein Blick zögerlich höher, um dem Weg des roten Zeugs zu folgen.
Die purpurnen Tropfen fielen träge von einem Silberanhänger, den Cal jeden Tag, solange er sich erinnern konnte, um den langen, schlanken Hals seiner Mutter gesehen hatte. Es war ein achtstrahliger Stern mit einer Rautenform in der Mitte. Darauf eingraviert war ein schwarzes Symbol, das fast wie der Buchstabe A gewirkt hätte – jedenfalls wenn die Linien der Letter aus stilisierten, leicht geschwungenen Klingen bestanden hätten.
Jetzt baumelte die Kette aus ihrer Hand und die silbernen Kettenglieder badeten in Scharlachrot.
Jeder seiner Instinkte schrie ihn an, die Augen abzuwenden, von hier zu fliehen und keinen Blick hinter sich zu werfen. Stattdessen stand Cal reglos und wie angewurzelt da.
Ihre Hand war mit Blut besudelt. Der linke Ärmel ihrer weißen Bauernbluse war komplett davon durchtränkt.
Und ihre Kehle …
„Mom?“, murmelte er, auch wenn das Loch in ihrem Hals ihm sagte, dass sie tot war.
„Laa shay’a waqi’un moutlaq bale kouloun moumkine.“
Das Flüstern erregte Cals Aufmerksamkeit, und erschrocken wurde ihm klar, dass er und seine Mutter nicht allein im Zimmer waren.
Ihr Mörder war ebenfalls hier.
Er stand neben dem Fernseher, ein großer Mann von über einem Meter achtzig, der Cal den Rücken zugewandt hatte und aus dem Fenster sah. Sein Kopf war von einer Kapuze verhüllt.
Doch einmal mehr wurde Cals Blick von einer Bewegung angezogen, von derselben grausigen roten Flüssigkeit, die auf den billigen Linoleumboden tropfte – das Blut seiner Mutter, das von der Spitze einer Klinge rann, die unter dem Handgelenk ihres Killers hervorragte.
„Dad“, raunte er. Seine Welt brach in sich zusammen, während sein Körper nachzugeben drohte und ihn Übelkeit überkam; am liebsten hätte er sich wie ein Säugling zusammengerollt, um sich nie wieder zu rühren. Das konnte nicht wahr sein. Das durfte nicht wahr sein.
Langsam drehte sich die Kapuzengestalt um, und Cals Herz zog sich vor Kummer und Entsetzen zusammen, als er erkannte, dass er recht hatte.
Die Gestalt war sein Vater.
Joseph Lynchs Augen wirkten gequält, als würde auch er trauern, aber warum hätte er das tun sollen? Schließlich war er derjenige, der –
„Dein Blut ist nicht das deine, Cal“, sagte sein Vater; seine Stimme mit den Überbleibseln seines ursprünglichen irischen Akzents, die auch Jahre in den Vereinigten Staaten nicht zur Gänze ausradieren konnten, klang schwermütig und kummervoll. „Sie haben uns gefunden.“
Cal starrte ihn nur an, außerstande, irgendetwas von alldem zu begreifen, was hier vorging. Und dann wandte sich sein Vater ihm vollends zu und setzte sich in Bewegung, um auf ihn zuzugehen. Seine Schritte hallten in diesem Schreckenskabinett überlaut von den Wänden wider, ein Geräusch, das früher einmal vollkommen normal gewesen war, jedoch kaum genügte, um das Geplapper im Fernsehen und Patsy Cline zu übertönen, die davon sang, dass sie verrückt war.
Verrückt … Ich bin verrückt. Ich verliere den Verstand. Genau das passiert hier.
Und dennoch taten Cals Beine zu seiner Überraschung und wie aus eigenem Willen etwas, das ganz und gar nicht verrückt war: Sie ließen ihn vor seinem Vater zurückweichen, vor seinem Dad, der seiner eigenen Frau gerade ein Messer in den Hals gerammt hatte.
Der Kapuzenmann trat weiter vor, langsam, unerbittlich, so unausweichlich wie der Tod selbst. Da blieben Cals Füße mit einem Mal stehen. Er wollte nicht in einer Welt leben, in der sein Vater seine Mutter umgebracht hatte. Er wollte bei ihr sein.
Auch Joseph Lynch hielt inne; seine Arme hingen schlaff, ja fast hilflos an seinen Seiten herab. Noch immer tropfte Blut von der Klinge, die er seiner Frau in die zarte Kehle gestoßen hatte.
„Sie wollen das, was in dir ist, Cal. Halte dich in den Schatten“, sagte sein Vater, und es klang, als würde ihm bei diesen Worten das Herz brechen.
Cal starrte ihn an; sein eigenes Herz hämmerte ungestüm in seiner Brust. Er konnte sich nicht rühren, konnte keinen klaren Gedanken fassen –
Das Kreischen von Autoreifen und die Schatten von Wagen, die draußen mit Vollgas vorfuhren, durchbrachen den tödlichen Bann. Der Mörder schaute auf, über den Kopf seines Sohnes hinweg zu den Wagen, die jetzt einer nach dem anderen vor dem Haus zum Stehen kamen.
„Verschwinde!“, rief er seinem Sohn zu. „Verschwinde! Sofort!“
Cal riss sich aus seiner Starre und rannte zur Treppe hinüber. Seine eben noch wie gefrorenen Gliedmaßen trugen ihn – immer zwei Stufen auf einmal nehmend – die Stiege hinauf, und dann hechtete er aus dem Fenster raus aufs Dach, um den geheimen Pfad in die Freiheit, von dem seine Eltern nie etwas erfahren hatten, in einen akrobatischen Fluchtweg zu verwandeln.
Er lief so schnell, wie er noch nie zuvor in seinem Leben gelaufen war, sprang, ohne zu zögern, auf Dächer, die eine Etage höher oder niedriger waren als das, auf dem er sich gerade befand, rollte sich bei der Landung geschickt über die Schulter ab, sprang auf die Füße und hastete weiter. Aus den Augenwinkeln heraus sah Cal ein gutes Dutzend schwarzer Geländewagen, die einer Flut gleich durch die staubigen Straßen wogten.
Irgendwann duckte Cal sich einen Moment lang außer Sicht, um wieder zu Atem zu kommen und einen Blick nach unten zu riskieren.
Auf dem Beifahrersitz eines der Wagen sah er einen Mann mit blassem Gesicht, kantigen Zügen, dunklem Haar, dunkler Kleidung und einer dunklen Sonnenbrille sitzen. Der Typ sah fast genauso aus wie dieser Doktor Irgendwas, den er gerade im Fernsehen gesehen hatte, aber das konnte nicht sein. Oder doch? Aus Gründen, die er sich nicht erklären konnte, überlief den Jungen ein eisiger Schauder.
In dem Moment, in dem der SUV wendete, lief Cal weiter, sprang von dem Dach auf einen Haufen Schrott und eilte die Straße entlang, die von der Ansammlung der Wohnsilos wegführte, weg von seiner toten Mutter und seinem Mörder von Vater, weg von allem, was Callum Lynch zu dem machte, der er war.