Der Ablauf des militärischen Geschehens entspricht der geschichtlichen Wahrheit. Die Namen der handelnden Personen sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten sind daher rein zufällig.
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2014
©2018 Edition Förg, Rosenheim
www.rosenheimer.com
Lektorat und Satz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten
Titelfoto: © Bundesarchiv, Bild 101I-301-1951-07A / Fotograf: Kurth
eISBN 978-3-933-70876-2 (epub)
Standgericht
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Im Ganzen waren sie vier Mann, darunter ein Feldwebel, und es geschah im September 1944 in einem belgischen Dorf westlich von Aachen.
»Alles Märchen«, sagte der Obergefreite mit dem Kopfverband und zeichnete mit dem Zeigefinger ein großes »S« in den schwarzgrauen Staub, in dem er saß. Er hatte kein Koppel mehr. Sie alle hatten keine Koppel, keine Waffen, keine Gasmasken, und nur drei von ihnen besaßen Kochgeschirre.
»Märchen«, wiederholte der Obergefreite und malte hinter das »S« ein kleines »c«. »Das haben sie sich nur ausgedacht, damit man uns leichter erwischt. Konserven. Schokolade. Weißbrot. Zigaretten. Butter. Whisky. Dass ich nicht lache!« Wütend schrieb er hinter das »c« ein »h«. »Nicht mal Wasser will er uns geben.«
Der Feldwebel sah auf den schmutzigen Zeigefinger des Obergefreiten und wartete auf das »e« nach dem »h«. Er wusste genau, was der Obergefreite schreiben wollte. Nach dem »e« musste ein »i« kommen und so weiter, bis das meistgebrauchte Soldatenwort im Staub geschrieben stand. Aber der Obergefreite wischte mit einer schnellen, ärgerlichen Bewegung das »Sch« aus und sah empor zu dem amerikanichen Posten.
»So’n Kerl!«, sagte er. »Schaut ihn bloß mal an: Wie im Kino!«
»Shut up!«, knurrte der Posten und spuckte durch die Zähne. Er war lang, schlaksig, der Stahlhelm saß ihm tief im Genick, sein Gesicht war hager, verstaubt, sehr dunkel und sehr müde. Mit ausgestreckten Beinen saß er auf einem wackligen Stuhl, den er irgendwo aufgetrieben hatte, balancierte auf dessen Hinterbeinen, die Lehne gegen die brandschwarze Mauer des zerschossenen Hauses gestützt, und aus dem Mundwinkel hing ihm eine Zigarette.
»Schwarz wie die im Kino – er müsste bloß noch nackt sein.«
»Und bemalt«, sagte der Feldwebel.
Er hieß Helmut Klingler, war 24 Jahre alt, man konnte ihn aber auch auf 30 schätzen. Das Alter war in jenen Tagen einem Mann nicht genau anzusehen. Er hatte ein mageres, verhärtetes Gesicht, seine Augen waren enttäuscht und gehetzt, und er konnte immer noch nicht begreifen, wie er hierhergekommen war. Ein Gefangener! Prisoner of War auf Englisch, wie er sich aus seiner Schulzeit dunkel erinnerte.
»He!«, sagte er hinauf zum Posten, aber dieser rührte sich nicht, und der Feldwebel sagte wieder: »He, du!« Und nach einer Weile setzte er auf Englisch hinzu: »Wasser! Brot! Durstig! Hungrig!« Und wieder deutsch: »Verstehst du?«
Als Feldwebel fühlte er sich auch in der Gefangenschaft für die anderen verantwortlich, obwohl er keinen von ihnen kannte. Und dem Obergefreiten mit dem Streifschuss über dem rechten Ohr ging es nicht gut.
Der Schwarze warf die Zigarette weg und zertrat sie mit dem Absatz.
Der Obergefreite sah gierig auf die zertretene Kippe. »Mensch, jetzt ’ne Zigarette!«
»Sag’s ihm doch«, sagte ein Unteroffizier, ein dicker Mann mit einem rosigen Gesicht.
»He, du! «, sagte der Feldwebel zum dritten Mal, jetzt lauter.
Der Posten sah ihn an, seine Augen waren schwarz, abwesend und müde. Sie fielen ihm fast zu, und der Feldwebel zeigte auf den verwundeten Obergefreiten: »Er krank. Kopf kaputt, verstehen? Wasser. Er muss sterben, wenn kein Wasser! Verstehen?«
»Shut up!«, sagte der Posten und schloss die Augen.
»Dem ist das ganz wurscht«, sagte der Obergefreite bitter. »Krepieren oder nicht … aber den Gefallen tu ich ihm nicht!«
»Nix sprecken!«, sagte der Posten mit geschlossenen Augen.
»Deutsch kann er auch noch«, knurrte der Unteroffizier grinsend.
»Gleich schläft er ein!«, stellte der Obergefreite fest.
»Er ist halt müde«, sagte der Unteroffizier gutmütig.
»Und unser Leutnant hat erzählt, zehn Amerikaner hauen ab, wenn einer von uns daherkommt«, sagte ein Gefreiter mit einer runden Nickelbrille spöttisch.
»Shut up, damned … Krauts!«, fluchte der Posten, räkelte sich, gähnte und blinzelte in die untergehende Sonne. Dann sah er die Straße hinab, die durch das belgische Dorf führte. Er wartete auf den Lastwagen, der die Deutschen weiter nach hinten bringen sollte. Aber nur ein paar Zivilisten waren zu sehen, die sich auf der Straße herumdrückten. Manche von ihnen trugen Armbinden, Gewehre oder Maschinenpistolen. Die Taschen ihrer Jacken waren ausgebeult von Handgranaten und Munition. Partisanen!
Der Feldwebel dachte: Wenn er … vielleicht … wenn er einschläft, dann könnte ich …
Dieser Gedanke war so scharf und deutlich, dass er ihm fast weh tat. Er duckte sich zusammen. Wenn er einschläft … wenn er die Augen zumacht …
Die Sonne stand rot wie eine riesengroße Orange über einem Kamm schwarzer Fichten. Warum kam keiner und brachte sie weg? Ein magerer Hund schnüffelte in einer ausgebrannten Ruine. Kalter Brandgeruch mischte sich mit dem Geruch nach Staub und mit dem süßen Kleeduft einer abgemähten Wiese. Auf der Wiese lag eine verendete Kuh, aufgedunsen, die Beine hochgereckt. Ein Zivilist rief auf Französisch etwas zu ihnen herüber, hob drohend die Maschinenpistole und verschwand dann in einem Haus.
»Die möchten uns am liebsten auffressen«, sagte der Obergefreite. »Und der da würde nicht mal den Finger krumm machen zu unserem Schutz!«
Der Feldwebel spann den Gedanken weiter: Wenn er einschläft … er braucht nicht mal richtig einzuschlafen.
Dabei sah er auf die Trommelrevolver des Postens, deren Kolben beiderseits des Stuhles aus dem festen, olivgrünen Gewebe heraussahen. Er brauchte nur … nur eine Waffe, und dann weg, dachte er.
Der Posten zündete sich eine neue Zigarette an. Alle verfolgten mit gieriger Aufmerksamkeit seine Bewegungen – alle, außer dem Gefreiten mit der runden Nickelbrille. Er sah Klingler an, dessen Blick zu den Revolvern er bemerkt und wohl richtig gedeutet hatte.
»Machen Sie bloß keine Dummheiten, Feldwebel!«, murmelte er so, dass nur Klingler ihn hören konnte.
Der Feldwebel fuhr zusammen.
»Endlich ist es uns gelungen«, sprach der Gefreite nach einer Weile leise weiter, »in Gefangenschaft zu kommen, ohne dass wir uns ins Gesicht spucken müssen. Verstehen Sie? Für uns ist der Krieg aus. Machen Sie bloß keinen Unsinn!«
Klingler sah den Gefreiten an – ein bleiches, helles und entschlossenes Gesicht in der Dämmerung vor der rauchschwarzen Mauer.
Er sagte: »Gedankenleser, was? Reif für den Zirkus?«
Es sollte ironisch klingen, aber seine Stimme zitterte.
»Ich spreche für uns alle«, sagte der Gefreite ernst. »Wir sind nicht übergelaufen. Wir wollen nicht mehr.«
»Du sprichst aber nur für dich selbst«, sagte der Obergefreite.
Der Posten drehte sein mageres, von den Strapazen der vergangenen Wochen gezeichnetes Gesicht zu ihnen. »Nix sprechen!«, sagte er schläfrig und ohne Nachdruck.
Schäbiger Hund, dachte der Feldwebel und sah den Gefreiten an. Sicher gehörte er zu denen, die Männern wie ihm, dem Feldwebel, auf dem langen Rückzug durch Frankreich »Kriegsverlängerer« nachgerufen hatten. Kriegverlängerer … als sei der Krieg wirklich verloren. Aber das war er nicht. Feldwebel Klingler wollte es nicht glauben. Und er konnte es nicht. Er hatte zu sehr für den Sieg gelebt. Es war ihm unmöglich, sich selbst einzugestehen, alles sei umsonst gewesen. Dreimal verwundet, einmal schwer. Und die anderen? Würden die mitmachen?
Die Sonne war hinter der gezackten Kulisse der Fichtenwipfel verschwunden. Ein paar rosiggraue Wolken standen darüber. In der Ferne rumorten Panzer. Drei silbern glitzernde »Mustangs« flogen in großer Höhe heimwärts.
Wo standen jetzt wohl die Eigenen, Hauptmann Geis? Vielleicht schon am Westwall.
Und der Feldwebel dachte: Dort werden die Amis nicht durchkommen. Nie!
»Macht ihr mit?«, fragte er mit einer Stimme, die möglichst beiläufig klingen sollte.
»Klar«, sagte der Obergefreite, »aber wie?«
Und der Unteroffizier meinte schwankend: »Na, ich weiß nicht …«
»Nein«, sagte der Gefreite entschlossen.
Also drei gegen einen.
Das Kinn des GI lag auf der Brust. Schlief er?
Jetzt, dachte der Feldwebel, aber er rührte sich nicht. Er konnte es nicht glauben. Wie konnte ein Posten schlafen, der vier Gefangene zu bewachen hatte?
Feldwebel Klingler sah die Straße hinab und bemerkte eine dunkle Gruppe Zivilisten. Bewaffnet. Sie werden hinter uns herschießen, aber die meisten sind schlechte Schützen … Als wäre sie selbstständig geworden, von eigenem Leben erfüllt, unabhängig vom Willen des Feldwebels, tastete seine Hand vor. Sie zitterte nicht. Sein Körper folgte der Hand und schob sich auf den Posten zu. Es kam ihm vor wie Stunden und dauerte doch nur Sekunden.
Langsam! Ich kenne diese Müdigkeit – wenn man so müde ist wie dieser Schwarze, wird einem alles egal. Man möchte nur noch schlafen. Herrgott, lass ihn schlafen! Wie lange hat er nicht mehr geschlafen?
Nur noch einen halben Meter. Nur noch zwanzig Zentimeter.
»Feldwebel!«, zischte die Stimme des bebrillten Gefreiten.
Klingler kümmerte sich nicht um sie. Er streckte den Arm aus. Seine Fingerspitzen berührten den Revolverkolben. Das Holz war glatt, kühl, abgegriffen.
»Feldwebel!« Die Stimme des Gefreiten war lauter.
Klingler rührte sich nicht. Ich werde das Schwein erschießen, dachte er, ich werde ihn erschießen, wenn er mir … der verfluchte Hund, ich werde ihn …
»Weiter, machen Sie weiter!«, sagte die Stimme des Obergefreiten. Sie war dünn und flach vor Anspannung.
Der Posten fuhr zusammen. Sein Kopf hob sich ruckartig, und der Stahlhelm schlug metallisch gegen die Wand. Aber er machte die Augen nicht auf, noch nicht, und der Feldwebel dachte jetzt an nichts mehr, er war nur noch Hoffen, Bangen und Wünschen: Herrgott, lass ihn nicht auf wachen!
Er riss den Revolver aus dem Halfter. Er tat es im gleichen Augenblick, als das Unterbewusstsein des Postens Gefahr signalisierte. Der Schwarze sprang blitzschnell auf, er war hellwach, und seine Bewegungen waren geschmeidig, katzengleich, als er zu den Hüften griff. Der Stahlhelm polterte zu Boden. Er zog den zweiten Revolver, hob ihn.
Aber Feldwebel Klingler schaffte es, in einer blitzschnellen, verzweifelt schnellen Bewegung aufzuspringen, zugleich mit dem Posten, wie von einer Stahlfeder geschleudert. Er schlug mit der erbeuteten Waffe zu, Augenblicke bevor der andere abdrücken konnte.
Der Schlag traf den Amerikaner über dem Haaransatz. Seine Knie gaben nach, bewusstlos sackte er zusammen, und noch während er fiel, beugte sich Klingler über ihn und riss ihm den zweiten Revolver aus der kraftlosen Hand. Dabei sah er auf die Wunde, aus der das Blut lief, und es berührte ihn seltsam, dass das Blut so rot war, so schrecklich rot auf der dunklen Haut. Das hatte er noch nie gesehen: so leuchtend rotes Blut auf schwarzer Haut … Er riss sich von diesem Anblick mit Gewalt los, fuhr herum, warf dem Obergefreiten einen Revolver zu und zischte: »Los jetzt!«
Der Obergefreite und der Unteroffizier begannen zu laufen, aber der Gefreite mit der Brille blieb sitzen, und aus dem hellen Oval seines Gesichts in der Dämmerung sprach nichts als Feindseligkeit. »Schwein!«, sagte er. Weiter nichts.
»Sie werden dich umbringen!«, flüsterte der Feldwebel heiser. »Steh auf! Los!«
Der Gefreite gehorchte.
»Weiter! Los, weiter! «, zischte der Feldwebel, und sie liefen, der Gefreite zögernd zuerst, nur der Gewohnheit des Gehorchens folgend, und bald freier, schneller, zielbewusster. Die beiden anderen waren schon weit vorne auf der Wiese.
Der Gartenzaun! Mit einem Satz sprangen sie auf die andere Seite. Der Feldwebel stolperte, fing sich. Die Wiese. Weiter! Sie mussten bis zum Wald, in den Wald! Der Wald war hoch und dunkel, weit vor ihnen. Dort waren sie sicher. Sie liefen an der toten Kuh vorbei, der Gefreite immer zwei Schritte voran, und weiter vorne, doch nicht mehr so weit wie vorhin, der weiße, auf- und abwippende Kopfverband des Obergefreiten. Der Feldwebel stolperte, fiel, sprang auf. Hinter ihnen ertönten laute, wütende Stimmen und dann Schüsse.
Klingler sagte sich, dass die Stimmen und die Schüsse ihnen galten, aber es ließ ihn irgendwie kalt, es berührte ihn kaum. Er sagte sich, dass er jeden Augenblick von einer Kugel getroffen werden konnte – denn hinter ihm erscholl das abgehackte Rattern einer Maschinenpistole – doch zugleich wusste er, dass sie gegen den dunklen Hintergrund des Waldes ein schlechtes Ziel abgaben. Sie konnten nur wie huschende schwarze Schatten vor der Dunkelheit erscheinen, in der Dunkelheit, im Zwielicht …
Die Schüsse und die Stimmen blieben in gleichmäßiger Entfernung hinter ihnen.
Der Feldwebel sprang über einen dunklen Haufen und erkannte erst nach Sekunden, dass er über einen Gefallenen gesprungen war, der neben einem schwärzlichen, flachen Trichter lag. Und er rief zu den anderen: »Schneller! Schneller!«
Sie liefen um ihr Leben, hinter ihnen die anderen. Schreie, Schüsse – kamen sie näher?
Keuchend brachen sie in das Unterholz ein. Der Feldwebel schlug mit der Stirn gegen einen Baumstamm, in seinem Gehirn platzte eine glühende Kugel, und er fand sich auf dem Boden sitzend wieder. Wie lange habe ich hier gesessen? Es ist nichts, sagte er sich, nur ein Baum, ich muss weiter. Ich – muss – weiter!
Und dann sah er, dass er allein war. Die anderen waren verschwunden. Hinter ihm hörte er das Brechen dürrer Zweige, Stimmen. Er stand taumelnd auf und wurde sich plötzlich der tröstlichen Glätte des Revolverkolbens bewusst, den er in den Händen hielt. Sie werden mich nicht erwischen. Nie. Nicht lebend. Er begann wieder zu laufen.
Der Oberscharführer des SD war Mitte dreißig und sah recht alltäglich aus. Sein rundes, gesundes Gesicht hätte fast gutmütig gewirkt – wenn seine Augen nicht gewesen wären. Sie waren hell, kalt und wirkten sonderbar leblos, selbst dann, wenn er wütend war oder wenn er lachte.
Er hieß Werner Wenzel und war zuletzt in Mons eingesetzt gewesen. Die »rote Stadt« im belgischen Kohlenrevier hatte ihm genügend Gelegenheit gegeben, sich zu bewähren.
Oberscharführer Wenzel hatte sich mit seinen Leuten nicht zu Fuß von Mons nach Osten abgesetzt, als die Reste der geschlagenen deutschen 7. Armee unentwirrbar verstrickt mit denen der 5. Panzerarmee über die Seine und Somme in Richtung Deutschland fluteten. Zu Fuß tippelten nur die einfachen Landser. Wenzel war mit einem fast neuen Peugeot gefahren, und sein Wagen war vollbepackt mit Benzinkanistern und persönlichem Gepäck.
Gefolgt war ihm ein Autobus mit belgischen Zivilisten, Männer und Frauen, die er nach Bergen-Belsen bringen sollte, ins Konzentrationslager. Doch sein Vorgesetzter – der Teufel allein wusste, wo er jetzt war – hatte offensichtlich nicht mit dem Chaos gerechnet, das sich den deutschen Grenzen näherte und sie bereits überflutete.
Der Omnibus stand mit Netzen und Zweigen getarnt unter den Bäumen, als Wenzel von seiner Informationsfahrt nach Aachen zurückkehrte. Dort hatte er ein wüstes Durcheinander vorgefunden. Die Kreisleitung war im Aufbruch, der Abschnittsleiter des SD unerreichbar. Es gab keinen Zugverkehr mehr, und die Straßen zwischen Ruinen und Schutt waren mit ratlosen Flüchtlingen verstopft.
Am 10. September 1944 hatte Himmler die alte Kaiserstadt besucht. In einem der zehn großen Bunker, die Aachen zu einer Festung machen sollten, hatte er zu den Volksgenossen gesprochen. Sie könnten beruhigt in Aachen bleiben, hatte er versichert, an der Maas werde eine neue Front aufgebaut, es bestünde überhaupt kein Anlass zur Besorgnis. Inzwischen aber hatten bei Rötgen amerikanische Panzerspähwagen schon bis an den Westwall vorgefühlt – und von einer Stunde zur anderen war der Evakuierungsbefehl für die Aachener gekommen. Und dazu andauernd diese Flieger!
»Na, denn prost«, murmelte Wenzel, als er die paar Schritte vom Pkw zum Omnibus zurücklegte.
»Wie steht’s?«, fragte er seinen Stellvertreter, Scharführer Glebsch.
»Mies. Haben Sie Verpflegung auftreiben können, Oberscharführer?«
»Für die?« Wenzel wies mit dem Kinn auf den Autobus. »Nee. Geht alles drunter und drüber. Kein Mensch weiß, wer trinkt und wer zahlt. Wir sollten schanzen.«
»Schanzen?«
Wenzel nickte.
»Mit diesen Halbleichen?«
»Halbleichen oder nicht …«
»Zwei sind wieder gestorben. Seit drei Tagen haben die Leute nichts zu fressen bekommen … Und dieser verfluchte Gestank!«
»Schnauze!«, herrschte Wenzel den anderen an. »Wenn es heißt, es wird geschanzt, dann wird geschanzt. Und wegen des Gestanks – du brauchst ja nicht rein! Los, wir fahren ab. Es sind doch bloß fünf Minuten.«
Im Autobus für 30 Fahrgäste waren über 50 Menschen zusammengepfercht worden. Man hätte noch mehr Häftlinge hineingestopft, aber dann hätte der altersschwache Motor es nicht mehr geschafft. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt worden, vor den Brettern hatte man Eisengitter angebracht. Von den 52 Menschen im Autobus waren über die Hälfte Frauen. Das heißt, jetzt waren es noch fünfzig Häftlinge. Die zwei, die während Wenzels Abwesenheit gestorben waren, hatte man bereits verscharrt.
50 Männer und Frauen, von 18 bis 65 Jahren, die während der dreitägigen Fahrt nicht ein einziges Mal aus dem Wagen gekommen waren. Fünfzig hungernde, weinende, unter Atemnot leidende, mit Fäusten gegen die Bretter polternde, resignierende, vor sich hinstarrende, im Unrat liegende, langsam dahinsterbende Menschen – und ein sechs Monate altes Kind.
In der ersten Abenddämmerung blieb der Autobus vor dem Dorf stehen, wo geschanzt werden sollte. Als Scharführer Glebsch die Tür aufschloss, öffnete und vor dem Gestank zurückprallend hineinschrie, alle sollten aussteigen, antwortete ihm tiefes Schweigen.
Und dann brach es aus: Das Geheul. Ein schluchzendes Atemholen zuerst, ein ungläubiges Wispern, als Bestätigung des nicht Fassbaren suchendes Gemurmel, eine laut fragende, schrille Stimme, zwei Stimmen, zehn und 50 Stimmen, schnell anschwellend. Schreie nach Platz, Luft, Nahrung, nach dem freien Himmel, Stimmen, die zu einem Geheul wurden, als die Menschen begannen, sich ins Freie zu kämpfen.
Die dunkle Öffnung der Tür spie sie aus. Die vier Leute des Oberscharführers Wenzel, die den Wagen mit schussbereiten Maschinenpistolen im Halbkreis umstellt hatten, wichen erschrocken zurück. Menschen fielen aus der Tür, immer neue, 50 Menschen – nein, 49.
»Ruhe!«, schrie Wenzel mit überschnappender Stimme. »Ruhe! Da soll doch … Ruhe! Ruhe!«
Aber sie kümmerten sich nicht um ihn. Er riss die Pistole aus der Tasche und schoss wütend in die Luft, einmal, zweimal, dreimal, aber auch darum kümmerten sie sich nicht. Luft!«
Irgendwann waren sie draußen. Und dann kam die Mutter. Sehr blass, mit großen, dunkelbrennenden Augen und halb geöffneten, blutleeren Lippen, durch die sie gierig die frische Luft einsog, stand sie oben an der Tür und sah hinab. Das Kind, ein formloses Bündel Windeln, hielt sie an sich gepresst, und einen Augenblick schien es, als bräche sie zusammen. Sie schloss die Augen, wankte ein wenig, ihre freie Hand suchte nach Halt, doch dann presste sie das Kind an sich, als könnte sie allein dort Halt finden. Dann machte sie die Augen auf und ging vorsichtig hinunter, Schritt für Schritt, bis sie auf der Erde stand.
Niemand außer Wenzel hatte diese Szene beobachtet. Er starrte die junge Frau mit dem Kind an. Donnerwetter, dachte er, du lieber Himmel, wo kommt die bloß her? Doch dann sah er, dass ihre Kleider schmutzig waren, ihr Haar glanzlos und ihre Wangen eingefallen.
Er drehte sich rasch zu Glebsch um und schnarrte: »Eine gottverdammte Schweinerei! Die Leute sollen sich sauber machen und den Wagen ausmisten. In zwei Stunden mache ich einen Appell, der sich gewaschen hat. Ich will diese Schweinerei nicht mehr sehen, verstanden?«
»Jawohl, Oberscharführer«, sagte Glebsch verwundert, der diesen schneidenden Ton von Wenzel nicht gewohnt war. Schließlich arbeiteten sie ja schon gute zwei Jahre zusammen.
»Und dann muss man sehen, dass man Verpflegung auftreibt«, sagte Wenzel. Mit einer hungrigen Frau war nichts anzufangen. »Nein – das mache ich lieber selbst. Überwachen Sie das Reinemachen. Morgen früh fangen wir mit Schanzen an.«
»Jawohl«, sagte Glebsch.
Beim Herausstürzen aus dem Wagen waren weitere drei Häftlinge zu Tode gekommen. Andere verloren das Bewusstsein, als sie von der frischen Luft wie von einem Keulenschlag getroffen wurden. Viele blieben kraftlos auf der Erde liegen, von ihrer Schwäche übermannt, unfähig, sich zu rühren. Und alle, die sprechen oder flüstern konnten, baten um Wasser.
Das war zu der gleichen Zeit geschehen, als Feldwebel Klingler den amerikanischen Posten niederschlug und um sein Leben zu laufen begann.
Ein großer, unförmiger Schatten stand auf der leicht abschüssigen Landstraße. Durch die Nacht dröhnten im Westen starke Motoren: Panzer. Und oben unter den Sternen, unsichtbar und hoch, tönte das dunkel vibrierende, singende Gedröhn der Flugzeugmotoren von überallher aus dem schwarzen Himmel.
Sie fliegen wieder, jede Nacht. Immer wenn es ihnen gerade passt, dachte Feldwebel Klingler, während er regungslos am Waldrand stand und, an den dicken Stamm einer Fichte gelehnt, horchte. Eine Nacht voller Geräusche, Stimmen, Wispern, Gefahr.
Wo waren die anderen geblieben? Hatten die Partisanen sie erwischt?
Was war wohl dieses Ding vor ihm auf der Straße? Ein abgeschossener Panzer? Oder vielleicht … er wollte es sehen. Vielleicht fand er etwas Brauchbares.
Vorsichtig glitt sein Schatten über den schmalen Wiesenstreifen, der den Wald von der Landstraße trennte. Die Handfläche, mit der er den Revolverkolben umklammert hielt, war feucht.
Und dann erkannte er, was da vor ihm stand: ein deutscher Lastwagen mit geschlossener Plane, mit Tarnzweigen bedeckt. Eine irre Hoffnung raubte ihm schier den Atem. Aber dann sagte er sich, dass es kindisch war zu glauben, der Wagen sei fahrbereit. Warum hätten sie ihn dann stehengelassen? Jabos? Panik? Wahrscheinlich hatte die Kiste nicht mehr gewollt.
Neben dem Fahrerhaus blieb er einige Augenblicke stehen. Das mahlende Geräusch der Panzermotoren näherte sich. Die Tür stand weit offen. Er stieg ein. Die Scheiben waren zersplittert, die Windschutzscheibe war von winzigen Rissen geädert. Genau vor seinem Gesicht befand sich ein kopfgroßes, rundes Loch. Aber im Führerhaus lag kein Toter.
Es war ein Dreitonner Opel. Der Zündschlüssel steckte. Natürlich, dachte Klingler, man lässt ihn immer stecken, wenn man plötzlich abhauen muss, wer kümmert sich um so eine Kiste, die einem nicht gehört? Und mehr, um seine Überzeugung bestätigt zu sehen, dass der Wagen unbrauchbar sei, als auf Erfolg hoffend, trat er auf den Anlasser und drehte den Zündschlüssel.
Rrrrr – rrrr. Das hässliche Geräusch musste kilometerweit zu hören sein.
Klingler probierte es noch einmal. Nichts.
Lauschend beugte er sich durch den leeren Fensterrahmen. Die Panzer waren nicht mehr weit. Wenn sie ihn hier erwischten … wenn ihn die Amerikaner überhaupt erwischten … Noch hatte er ein wenig Zeit.
Sprit?
Der Benzinanzeiger schlug aus, als er den Schlüssel nochmals drehte. Viel war es nicht mehr, vielleicht 15 oder 20 Liter. Himmel, wie weit konnte er damit kommen?
Der Gedanke, dass es vielleicht doch klappen könnte, trieb ihm Schweiß auf das Gesicht. Behende kletterte er aus der Kabine, sah sich um, stemmte sich gegen das Fahrzeug. Es musste doch gehen, die Straße fiel ab, nicht viel, aber immerhin genug … wenn er den Wagen nur in Bewegung bringen könnte! Verzweifelt schob er, dass er glaubte, seine Muskeln müssten zerreißen.
Wenn jetzt nur die anderen da wären! Würde er jemals erfahren, was aus ihnen geworden war?
Lange rührte der Wagen sich nicht. Drei Tonnen, dachte er, drei Tonnen, wie soll ich Idiot allein drei Tonnen anschieben?
Er lief um den Wagen und glättete mit der Handfläche fieberhaft die rauhe Oberfläche der Straße. Lag’s an diesem Stein? Er schob ihn weg, lief wieder vor, stemmte sich mit aller Kraft gegen den Kotflügel.
Der Wagen begann zu rollen. Es ging immer schneller. Klingler sprang auf, packte das Lenkrad, trat die Kupplung, zweiter Gang, noch war der Wagen nicht schnell genug, er wartete – jetzt!
Langsam ließ er die Kupplung nach. Der Lastwagen ruckte, wurde langsam – da die erste Zündung … noch eine … und auf einmal war der Motor da. Klingler gab mehr Gas. Dritter Gang.
Was er vorhatte, war – mit Vernunft betrachtet – heller Wahnsinn, und er sagte sich dies auch. Aber was blieb ihm anderes übrig? In diesem dichtbesiedelten Land hatte er zu Fuß keine Chance, die eigenen Linien zu erreichen. Mit dem Wagen konnte er vielleicht durchbrechen.
Vielleicht? Nein, es war unmöglich. Aber er hatte einen Amerikaner erschlagen, der sein Soldbuch in der Tasche hatte. Er musste einfach nach Osten, zurück zu den eigenen Leuten. Hinter jeder Straßenbiegung, hinter jedem Waldstück, in jedem Dorf konnten amerikanische Posten stehen. Durchbrach er die erste Kette, wurde die zweite alarmiert und – aus. Oder Panzer konnten die Straße blockieren. Und doch musste er es einfach wagen.
Über das Lenkrad gebeugt, durch das Loch in der Scheibe starrend, durch das der Fahrtwind pfiff, fuhr er dem grauen Band der Landstraße nach, das durch die Dunkelheit zu dem Wetterleuchten der Front führte, den langsam aufsteigenden Leuchtkugeln und dem heftigen Rumoren des Artilleriefeuers entgegen.
Die Häftlinge schanzten in der Gegend östlich Verviers, eine waldreiche Gegend, die Nordausläufer des Hohen Venn. Pioniere hatten das Schanzzeug geliefert. Schützenlöcher und Deckungsgräben sollten ausgehoben werden. Für die Nachtruppen, wie das Militär die Verbände von der Nachhut nannte.
Die Maaslinie war trotz der Versicherung des Reichsführers SS Heinrich Himmler geplatzt wie eine Seifenblase. Die Amerikaner hatten Lüttich genommen, vielleicht auch schon Verviers. Die Front war recht nahegerückt, wie gelegentliches, deutlich hörbares MG-Geschnarr oder Artilleriefeuer verrieten.
Oberscharführer Wenzel beaufsichtigte die Arbeiten, hörte das Scharren der Spaten und das Klirren der Pickel. In der Morgendämmerung hatte er Verstärkung bekommen: etwa 100 Ostarbeiter, die aus dem belgischen Kohlenpott hierhergetrieben wurden, angeführt von einigen ratlosen Männern der Organisation Todt. Ein Oberleutnant des Heeres hatte die Gruppe aufgegriffen, hierher verwiesen und unter Wenzels Kommando gestellt: Schanzen.
Wenzel war mit dieser Entwicklung nicht einverstanden. Er war für Ordnung. Hier aber ging alles drunter und drüber. Nun, es würde nicht ewig dauern. In Aachen hatte er alles getan, was möglich war, um so schnell wie möglich neue Befehle zu bekommen. Immerhin hatte das Ganze wenigstens etwas Gutes mit sich gebracht: Der Oberleutnant vom Stab hatte für Verpflegung gesorgt.
»Diese ausgehungerten Vogelscheuchen können ja nicht mal den Spaten heben, wie sollen sie dann schanzen?«, hatte er gesagt.
Jetzt streifte Wenzel durch die Gruppe der Arbeitenden und wusste doch, dass dieses »Beaufsichtigen« nur ein Vorwand war. Er suchte die junge Belgierin mit dem Kind.
Zuerst fand er das Kind. In jetzt halbwegs saubere Windeln gewickelt lag es im Gras, einen Regenmantel untergeschoben. Als Wenzel sich vorbeugte, um einen Blick auf das Gesichtchen zu werfen, schüttelte er überrascht den Kopf. Er hatte etwas Ähnliches erwartet wie im Warschauer Ghetto, wo er einmal auf einer Instruktionsreise gewesen war: einen kleinen, hautüberzogenen Totenkopf mit tiefliegenden Augen, den Tod auf die Stirn geschrieben. Aber dieses Kind hier sah gar nicht übel aus, es schlief, die halbgeschlossenen Fäuste neben dem kleinen Gesicht.
»Monsieur?«
Wenzel fuhr herum. Die Mutter – Jacqueline Doignon, 24 Jahre alt, wie Wenzel noch in der Nacht in ihren Papieren festgestellt hatte – stand hinter ihm und sah ihn an. Sie war kaum wiederzuerkennen. Schlank, zierlich, kastanienbraunes Haar, große, fragende und erschrockene Augen, die das tiefe Grau eines wolkenverhangenen Himmels hatten. Ihr Rock und der Pullover waren, man sah es, gewaschen, ihre Füße steckten in derben Schuhen. Langsam, ohne den Blick von Wenzels Gesicht zu lösen, ging sie um ihn herum und kniete neben dem Kind nieder.
»Monsieur?«, fragte sie wieder, und Wenzel entgegnete beruhigend: »Na, na, ich tu’ ihm schon nichts. Oder ist’s ein Mädchen?«
»Ein Junge«, antwortete die Frau.
»Wie alt?« Wenzel wusste es, er hatte es in den Papieren gelesen. Und er schalt sich selbst einen Narren, weil er verlegen war, weil er nicht wusste, was er sagen sollte, und weil er nicht imstande war, die unsichtbare Mauer der Unnahbarkeit und der Angst zu durchbrechen, die diese Frau umgab, .
»Sechs Monate«, antwortete die Frau.
»Hat es was zu essen bekommen?«
»Oui.«
»Was?«
»Oh – wie wir alle.« Sie sprach überraschend gut deutsch, wenn auch mit einem rollend-weichen französischen Akzent.
»Aber so’n Baby braucht doch Milch, oder?«
Sie nickte, und er wartete, dass sie ihn jetzt, da er ihr das Wort in den Mund gelegt hatte, um Milch für das Kind bitten würde – und er ärgerte sich, dass sie es nicht tat. Zugleich und ungewollt stieg seine Achtung vor ihr. Abrupt drehte er sich um, ging ein paar Schritte weiter, zögerte und sagte wie beiläufig über die Schulter:
»Kommen Sie nachher zu meinem Wagen. Ich gebe Ihnen Milch, Büchsenmilch. Kann sie der Kleine auch trinken?«
Sie nickte. Und als er weiterging, hörte er hinter sich ihr leises, überraschtes und dankbares: »Merci, Monsieur.«
Etwas später holte sich Jacqueline Doignon eine Dose Milch für ihr Kind. Als sie auf dem Rückweg war, übersprangen zwei amerikanische Jagdbomber den bewaldeten Höhenrücken im Südwesten und griffen die Baustelle an. Die Arbeitenden warfen die Schanzgeräte von sich und pressten sich auf die Erde. Jacqueline begann zu laufen. Die Milchdose hielt sie umklammert, als müsste sie sie mit dem eigenen Leib schützen, lief, sprang über die seichten Gräben, lief, stolperte, fiel hin, stand auf, lief. Sie war die Einzige, die sich nicht hingeworfen hatte, das Gesicht und die Hände nicht in die Erde wühlte, um Rettung betend und voller Todesangst das Ende erwartend.
Der erste Jagdbomber warf seine Bomben. Dann der zweite. Jacqueline kümmerte sich nicht um das heulende Rauschen. Sie lief zu ihrem Kind, tauchte ein in den dichten Staubvorhang, den die Bomben emporgewirbelt hatten, und wusste nicht um ihr eigenes Schluchzen, um ihre Tränen, und sie hörte sich selbst rufen: »Ich komme, mon petit, ich komme – gleich!«
Doch dann drehten die Flugzeuge ab und verschwanden hinter dem Höhenrücken. Die Menschen hoben die Köpfe und sahen ihnen ungläubig nach: Es war wie ein Wunder. Sie lebten noch.
Als Jacqueline sich halb ohnmächtig, mit wild schlagendem Herzen neben ihr Kind warf und mit zitternden Fingern über das kleine Gesichtchen strich, betete sie, dass ihm nichts geschehen sein möge. Das Kind schlief, als wäre nichts geschehen.
In der Scheune war es kalt und zugig. Durch die dünnen Bretterwände drang das Poltern des Artilleriefeuers – und war nicht das MG-Geknatter merklich näher gekommen?
»Sie sind bald hier«, sagte Marie Duhamel. »Hörst du, Jacqueline?«
»Ja«, sagte Jacqueline. »Morgen … vielleicht übermorgen.«
»Aber wenn sie kommen, sind wir nicht mehr hier«, sagte eine bittere, heisere Männerstimme aus der tiefen Dunkelheit. Jacqueline kannte sie. Es war Alfred Bonvier, der alte Mann mit den langen grauen Haaren und dem verkniffenen Gesicht.
»Schläft Georges?«, fragte Marie.
»Er schläft«, antwortete Jacqueline.
»Der hat’s gut«, sagte Bonviers Stimme. »Er weiß nichts. Er weiß nicht mal … ah – diese Verbrecher!«
»Hör endlich auf!«, sagte eine tiefe Männerstimme – war’s nicht Pelegrin? –, aber Bonvier sprach unbeirrbar, in sich und seine Qual und seine Hoffnungslosigkeit versunken, weiter: »Wie können diese Verbrecher fast die ganze Welt … wenn ich’s nur überleben würde!«
»Was dann?«, fragte die tiefe Stimme.
»Das fragst du noch?«
»Nicht alle sind schlecht«, warf Marie ein.
»Nein, nicht alle sind schlecht.« Jacqueline drückte das kleine, warme, ruhig atmende Bündel an sich. Aber sie dachte dabei nicht an Wenzel und an die Milch, die er ihr für den Kleinen gegeben hatte. Vor ihren Augen erschien das Bild einer sonnenbeschienenen Straße, eine lange Kolonne, sie selbst mitten drin, Durst, Hunger, schmerzende Arme und Füße, tanzende, flimmernde, bunte Kreise und Punkte, die ihr die Schwäche vor die Augen zauberte, Rast am Straßenrand, schreiende SD-Posten, das Wimmern des Kindes, der Wunsch nach Ruhe, Tod … wann endlich wird dieses Kreuz von uns genommen? Und dann das Bild eines hageren, jungen Männergesichts, das sich über sie gebeugt und gefragt hatte: »Ist Ihnen schlecht? Haben Sie Hunger?«
»Nein … das Kind«, hatte sie gesagt.
»Himmel – das Kind! Wie kommen Sie hierher?«
Erst jetzt hatte sie gesehen, dass dieses Gesicht einem deutschen Feldwebel gehörte. Dann war sein Gesicht plötzlich verschwunden gewesen. Ihr hatte es leid getan, es war ein hartes und doch wiederum gutes Gesicht gewesen, sie hatte sich noch verlassener gefühlt und zu weinen begonnen, aber plötzlich war der Feldwebel wieder da gewesen und hatte mit einer scheuen Geste einen prall gefüllten Brotbeutel auf ihre Knie gelegt und zu dem fluchenden Posten gesagt:
»Wenn du ihr das wegnimmst, dann setzt’s was!« Und zu ihr: »Brot, ein paar Konserven. Milch. Für das Kind, ja?« Sie hatte keine Antwort geben können.
»Wie heißt das Kind?«, hatte er gefragt.
»Georges.«
Und eine fremde Stimme hatte gesagt: »Komm jetzt, Klingler! Wir müssen weiter!«
»Ja, ja.« Und dann: »Es tut mir leid …«
Klingler hat er geheißen, Klingler, ein einfacher deutscher Name.
»Nein, nicht alle sind schlecht!«, wiederholte Jacqueline leise.
»Du denkst an diesen Feldwebel, was?« Bonviers Stimme klang böse. »Du solltest lieber an deinen Mann denken!«
»Halt den Mund!«, zischte Marie. »Lass sie endlich in Frieden!«
»Und Milch hat sie auch bekommen«, brummte Bonvier. »Haben wir Milch bekommen? Oh, es ist kalt, mein Gott, wie kalt es ist!«
»Armer alter Mann«, murmelte Marie. Sie war die Frau eines Arztes und kümmerte sich um alle und besonders um Jacqueline und den Kleinen.
Schritte kamen näher, dann ging die Tür auf, und die Stimme des Rottenführers Uscher rief in die Finsternis: »Doignon! Jacqueline Doignon!«
Stille.
»Verflucht … Jacqueline Doignon!«
»Aha – schon wieder!«, sagte Bonvier.
»Pass auf Georges auf, Marie!«
Jacqueline küsste das kleine, warme Gesichtchen und legte den Kleinen in die suchenden ausgestreckten Arme der anderen. Dann stand sie auf und ging hinaus, hinter sich die verbissene, heisere Stimme Bonviers: »Natürlich … Hure! Milch …!«
»Wie geht’s dem Kind?«, fragte Wenzel.
»Merci, gut«, sagte Jacqueline. Ihr Gesicht schimmerte weiß in der tiefen Dämmerung.
»Hat ihm die Milch geschmeckt?«
Jacqueline nickte.
»Hier hast du noch eine Dose.«
Jacqueline rührte sich nicht.
»Na, nimm schon!«, sagte Wenzel. »Zum Teufel, ich tu dir nichts!«
»Was wollen Sie von mir?«, fragte Jacqueline.
»Du kannst Stroh bekommen«, sagte Wenzel. »In der Scheune ist es sicher kalt – zu kalt für das Baby, oder?«
»Was wollen Sie von mir?«
Wenzel trat näher, beugte sich vor, und seine Stimme klang heiser: »Dumme Frage! Du kannst soviel Milch haben, wie du willst. Nicht nur Milch. Anderes … ich kann dir geben, was du brauchst, verstehst du? Verstehst du mich? Milch! Haferflocken! Zehn Dosen, zwanzig …« Er griff nach ihren Armen, näherte sein Gesicht dem ihren. »Du kannst haben, was du willst … alles … Komm!«
Jacqueline wehrte sich verbissen, verzweifelt, sie begann zu schreien, aber er hielt ihr den Mund zu, sie bekam keine Luft mehr, verstummte, und dann hörte sie eine Stimme, die wie aus weiter Ferne rief: »Oberscharführer Wenzel! Oberscharführer Wenzel!«
Wenzel ließ sie fluchend los. Sie sank zu Boden, lehnte sich an den Baumstamm neben Wenzels Wagen und hörte durch wie durch einen Nebel zwei leise Stimmen.
»Ein Leutnant«, meldete Glebsch.
»Was will er von mir?«, fragte Wenzel.
»Wir müssen weg. Er will die Gräben besetzen. Die Amerikaner … Er hat’s eilig.«
»Ja, ja, ich komm’ ja schon!«
Jacqueline fühlte sich emporgerissen, und Wenzel sagte: »Geh jetzt! Wir sprechen uns noch. Hier hast du die Milch. Los, geh!«
Kaum eine Stunde später fuhr der Autobus mit seiner zusammengepferchten Menschenfracht ratternd und schlingernd über die Feldwege auf den roten Widerschein am Himmel zu, hinter dem die deutsche Stadt Aachen lag.
Die Kuppel des Befehlsbunkers, sorgsam bedeckt mit tarnenden Rasenstücken, erhob sich inmitten einer von hohen Fichten und immer noch sommergrünen Buchen umsäumten Lichtung. Auf der steil in die Tiefe führenden Bunkertreppe begegnete Feldwebel Klingler einem Melder.
»Wo ist Hauptmann Geis?« Klingler bemühte sich mit Erfolg um einen gleichgültigen Ton.
»Sie, Herr Feldwebel?« Der Melder vergaß, den Mund zuzumachen.
»Wie du siehst!« Klingler hätte den anderen am liebsten umarmt.
»Aber wie …?«
»Später«, sagte Klingler. »Also, wo finde ich den Hauptmann?«
»Ganz hinten – sechste Tür. Er schreibt wieder an seinem Tagebuch, aber von Ihnen lässt er sich bestimmt dabei stören!«
Am Ende des Stollenganges klopfte Klingler an eine Tür aus Stahlblech.
Eine bekannte Stimme rief: »Herein!«
Klingler öffnete die Tür, trat über die Schwelle, grüßte und meldete: »Feldwebel Klingler aus amerikanischer Gefangenschaft zurück.«
Und es passierte genauso, wie Klingler sich das ausgemalt hatte: Der Hauptmann fuhr überrascht zusammen, öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schloss ihn wieder, fuhr sich mit der Hand über die Wangen, als wollte er seine Überraschung und Freude verbergen, aber es gelang ihm nicht ganz, und er sagte: »Ach, du liebes bisschen! Klingler, Sie?«
»Jawohl, Herr Hauptmann.«
Hauptmann Geis kam langsam auf den Feldwebel zu und betrachtete ihn unverwandt, wie um sich zu vergewissern, dass er es auch wirklich war.
Sie waren etwa gleich groß. Der Hauptmann war nur wenige Jahre älter als der Feldwebel. An der linken Wange hatte er eine Narbe, die sich rötete, wenn er zornig war – ein Streifschuss. Sein EK I, das er fast zur gleichen Zeit wie Klingler in Russland erhalten hatte, besaß Seltenheitswert: Ein Querschläger hatte das Hakenkreuz in der Mitte zum großen Teil weggeschliffen.
»Mensch, Klingler, wie haben Sie denn das nur geschafft?«
»Schwein gehabt, Herr Hauptmann.« Das war alles. Schwein gehabt. Das Gleiche sagte sich Klingler die ganze Zeit über, seit er im Niemandsland von einem deutschen motorisierten Spähtrupp angehalten worden war. Mehr Glück als Verstand! Auf seiner wilden Fahrt war er dreimal beschossen worden. Eine amerikanische MG-Garbe hatte die Vorderscheibe zertrümmert – und er hatte nicht mal einen Kratzer abbekommen. Der Wagen sah wie ein Sieb aus, aber der Motor war unbeschädigt geblieben. Seine Rechnung war aufgegangen.
Die Amerikaner, so hatte er sich gesagt, waren viel zu schnell vorgestoßen, um alle Straßen kontrollieren zu können. Darin hatte seine Chance gelegen. Dass aber er, der auf gut Glück nach Osten gefahren war, ausgerechnet die unbewachten Straßen finden würde, das war eben jenes »Schwein« gewesen, das man zu jener Zeit zum Überleben brauchte.
»Sie müssen mir mal die ganze Geschichte genau erzählen … Verflucht – schon wieder!« Das galt dem schrillen Läuten des Telefons. Der Hauptmann hob ab. »Geis. Ja? Haben Sie Verbindung? Nein? Gut. Ende.«
Er legte auf und kurbelte ärgerlich ab.
»Nichts klappt in diesem verdammten Westwall. Alles verrottet und vergammelt. Kann das Korps einfach nicht an die Strippe kriegen.«
Jetzt war er wieder ganz dort, wo er vor Klinglers Ankunft gewesen war: bedrückt von Sorgen, müde, unausgeschlafen und bedrängt von Fragen, für die es keine Lösung gab.
»Sind Sie sehr müde, Klingler?«