Eugen Drewermann
Der offene Himmel

topos taschenbücher, Band 1069
Eine Produktion des Matthias Grünewald Verlags

Eugen Drewermann

Der offene Himmel

Meditationen zu Advent und Weihnachten

topos taschenbücher

Verlagsgemeinschaft topos plus

Butzon & Bercker, Kevelaer

Don Bosco, München

Echter, Würzburg

Lahn-Verlag, Kevelaer

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der

Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1069-5

Ebook (PDF): 978-3-8367-5066-0

ePub: 978-3-8367-6066-9

2016 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer

Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen beim

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Umschlagabbildung: © iStock.com/Borut Trdina

Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg

Inhalt

Vorwort

Advent

Hoffnung auf ein neues Leben

Liebe wagen gegen die Angst

Der da kommt in Geist und Feuer

Von der Sehnsucht der alten Propheten

Zeitlos und großartig: Nikolaus von Myra

Die Botschaft der Frauen

Eine Religion der Erlösung

Weihnachten

Weihnachten, oder: Das Wunder menschlicher Vergöttlichung

Ein Kind ist keines Menschen Eigentum

„Eine andere Krippe hat Gott sich nicht erwählt als unser Herz“

Wo liegt Betlehem?

Die Kraft der Visionen

Die jungfräuliche Geburt, oder: Das Weihnachten des Lebens

Die Welt wird erlöst im Namen von Kindern

Die Träume Gottes und die mörderische Wirklichkeit der menschlichen Geschichte

Die Zeit nach Weihnachten

Neujahr, oder: Dank für das Vergangene, Hoffnung auf das Kommende

Zeit haben im Bewusstsein der Ewigkeit

Gedanken über die Zeit

Unter dem Namen der Liebe

Dreikönige, oder: Im Kleinen das Große finden

Den Träumen folgen und die Hoffnung retten

Gott wohnt in der Größe des Menschen

Taufe Jesu, oder: Wie der Himmel sich öffnet

Vorwort

Die Tage der Advents- und Weihnachtszeit sind nicht ein Warten auf etwas, das werden wollte oder sollte, auch nicht das Angedenken an etwas, das war; sie bilden vielmehr ein Kaleidoskop von Themen: Hoffnungen, Visionen, Sehnsüchten und Evidenzen, von Wesensbildern, wie sich unser Dasein wandeln könnte, wandeln müsste, um zu seiner Wahrheit hinzufinden.

Vom Untergang der Welt, von Neubeginn und Taufe, von Engelbotschaft und -verkündigung reden bereits die Texte der Vorweihnachtszeit und sind doch nur die Vorbereitung und die Einübung der Frage, wie das Gottesbild der Liebe, das in dem Mann aus Nazaret Gestalt gewann, sich unserer Wirklichkeit einprägen könnte. Woher erwächst in uns ein Wahrnehmungsvermögen, der Hymne der himmlischen Heerscharen über den Fluren Betlehems zu lauschen und inmitten dieser Kaiser-Augustus-Welt von militärischer Gewalt und weltumspannender Gier nach Geld, nach Machtgewinn, nach Herrschaft einen „Frieden“ „der Menschen seiner Gnade“ auch nur für möglich zu halten, ja, als unbedingten Auftrag zu begreifen? Wie lernen wir’s, die Warnung unserer Träume zu verstehen, die tödliche Gefahr signalisieren angesichts dieser wie ganz normal verwalteten Herodes-Welt? Und das Symbol des Kindes, in dem Gott immer aufs Neue die Wege unserer Menschwerdung versucht: dieses Ringen und dieses Reifen um die Heilung und die Heiligung des Daseins im Schoße einer „jungfräulichen“ Menschlichkeit, die unberührt bleibt von den Zwängen und Zumutungen des steten Kreislaufs von erbarmungsloser Konkurrenz und Krieg und Kapital und der sich ausdehnenden Knechtschaft von Millionen Menschen, von Milliarden Tieren?

Das alles muss so sein, war immer schon und kann sich auch nicht ändern? Wer „Weihnachten“ als Wahrheit glaubt, der weiß um die Unwirklichkeit all dessen, was ihm bislang als Inbegriff geschichtlicher Vernunft oder politischer Verantwortung erscheinen musste. Ein Ende von allem, Erlösung von all dem, und das nicht in einem fernen Utopia, sondern hier und heute im Namen aller, die keinen Tag länger leben können in dieser Winterwelt erkalteter Gefühle und mitleidloser Zweckgedanken, – das ist es, was der Mann aus Nazaret verkörpert.

Ein riskantes Leben? Gewiss. Ein drohendes Scheitern? Ja, sicher. Und doch: Der einzige Weg zur Wahrhaftigkeit. Kein Konflikt, der in den 1990 von dem Journalisten Bernd Marz gesammelten Predigten zu den Gottesdienst-Lesungen der Advents- und Weihnachtszeit vor nun schon 25 Jahren geschildert wurde, hat in der Zwischenzeit an Aktualität verloren, im Gegenteil. Alles deutet darauf hin, dass wir uns am Anfang eines Jahrhunderts befinden, das in der Monstrosität seiner Grausamkeit, seiner Ungerechtigkeit und seiner Gewaltbereitschaft sogar das zurückliegende blutbeschmierte 20. Jahrhundert noch bei Weitem übertreffen könnte. Und doch wächst gerade damit das Bewusstsein auch der Sackgasse, in der wir stecken. 2000 Jahre nach der Ankunft des „Messias“ ist sein Aufruf zum „Umdenken“ in allem, zur „Umkehrung“ von allem nur um so dringlicher. Weihnachten lässt sich nicht feiern, es sei, die Frage wäre schon entschieden, was wir für Menschen sind: Wir wollten’s endlich werden.

Eugen Drewermann

Advent

Hoffnung auf ein neues Leben

33 Seht zu! Bleibt wach! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit ist. 34 Wie ein Mann außer Landes, der sein Haus verlassen und seinen Knechten die Vollmacht (darüber) gegeben hat, einem jeden seine Arbeit, und dem Türhüter hat er befohlen, zu wachen – 35 wachet deshalb! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob abends spät, ob um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei, ob am Morgen – 36 nicht dass er plötzlich kommt und findet euch schlafend! 37 Was ich aber euch sage, sage ich allen: Wacht!

Mk 13,33–37

Immer wenn es um letzte Entscheidungen geht, taucht unser Leben in eine Zwischenzone von Rettung und Gefahr, und das Reden von Gott, je nachdem, wie man dazu steht, nimmt den Charakter entweder von Verheißung oder von Drohung an.

Schön ist ein Spaziergang am Ufer des Meeres mit dem Ausblick ins Weite bis zu den Grenzen des unsichtbaren Horizonts. Aber an manchen Tagen, wenn ein schwüles Brüten über der See lagert, türmen sich am Himmel drohende Gewitterwolken auf und entfachen bald schon einen Sturm, dass der Wind heult und das Meer Schaumkronen an den Strand peitscht. Wer möchte dann noch sich dem Tosen der See aussetzen? Hinter den Deichen duckt man sich in den Schutz der Riedgrashütten, und nicht einmal die Sturmvögel und die Möwen wagen sich mehr hinaus in den Wind.

Eine bestimmte Art der schwülen Unlebendigkeit muss Gott wirklich fürchten wie einen Hausherrn, der verreist ist und nun unvermutet, d. h. jederzeit zur „Unzeit“ wiederkommen kann. Nur: wann eigentlich kommt Jesus zu uns Menschen „rechtzeitig“?

Zu den am meisten beängstigenden Worten Jesu zählen wohl die Mahnreden von der Ankunft des Menschensohnes. Ist denn hier wirklich die Rede von einer fernen Zukunft, oder sammeln sich in diesem Bild im Grunde nicht schon all die Erfahrungen Jesu (und des Markus) mit seinen Zeitgenossen? So verborgen auch immer Jesus von sich selber spricht, in manchen Andeutungen lässt er durchblicken, dass in ihm all das lebt, was man an Heil erwartet und was in der Gestalt des kommenden Menschensohnes (nach der Weissagung aus Dan 7,13) personifiziert ist.

Um zu verstehen, was hier gesagt werden soll, darf man sich daher keine ferne Zukunft vorstellen; man darf nicht in See stechen wollen zu einem fernen Land Utopia; in uns selber und in jedem Menschen an unserer Seite lebt vielmehr alles, wozu wir eigentlich bestimmt sind. Im Herzen eines jeden Menschen lässt sich die Unendlichkeit des Himmels, die grenzenlose Schönheit der eigenen Seele, der Lockruf zur Weite einer unbegrenzten Freiheit entdecken und vernehmen, und eben dazu wollte Jesus einen jeden Menschen auffordern. Er wollte ihm Mut machen, an den Traum seines Lebens wirklich zu glauben; er sollte nicht denken, das Heil komme irgendwie von weit außerhalb seines eigenen Lebens; vielmehr sollte er sein Vertrauen darauf setzen, dass gerade in den kühnsten Visionen seiner selbst die wahre Gestalt seines Wesens sichtbar werde. Niemals also sollte er seine Kindheitsträume verlügen oder ihnen in Resignation abschwören. Wie sehr hat Jesus einen jeden förmlich angefleht, an sein Königtum zu glauben, den Wert seiner eigenen Person zu fühlen und die Augen aufzuschlagen für die Schönheit und die Größe, die in ihm liegt und die einen jeden Menschen, den wir näher kennenlernen, auszeichnet!

In vielen Gleichnissen hat Jesus so gesprochen. Seine Hände haben die Augen von Menschen berührt, die blind geworden waren in Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit und die sich unter seinen Worten wieder öffneten zum Licht. Sie haben die Haut von Menschen berührt, die wie verätzt war von dem Gefühl der Scham, der Unreinheit und der Verwundung durch andere und die sich selbst zurückgegeben wurden, heil und ansehnlich unter den Augen anderer. Wie sehr hat Jesus glauben wollen an die Schönheit und die Würde eines jeden Menschen! Aber bis zur Bitterkeit musste er erleben, dass man sich die Ohren zuhielt und nicht hören wollte, dass man sich die Augen zuhielt und nicht sehen wollte, dass man sich den Mund zuhielt und nicht sprechen wollte. Denn immer findet und erfindet unser KZ-ähnlich umzäuntes Leben im Getto der Angst Gründe, sich selber zu schützen, sich weiter zu verbarrikadieren und sich geradezu pflichtweise vom Heil abzuschnüren.

Was ist zu tun, wenn Menschen schließlich so sehr mit ihrem Un-Leben identifiziert sind, dass sie die Möglichkeit ihrer wirklichen Existenz voller Schrecken zu fürchten beginnen, dass sie den Ruf ins Weite wie einen Taumel erfahren und das Reden von Gott wie eine Zumutung erleben? Es gibt tief in uns allen jene furchtbare Form der Verzweiflung, die schon gar nicht mehr weiß, noch wissen will, dass es jemals so etwas wie Hoffnung gab; es gibt jene abgründige Resignation, die durchaus keine Erinnerung mehr daran besitzt, was Träumen heißt; es gibt jene schreckliche Umnachtung, in der kein Gut und Böse, kein Laster und keine Tugend, keine Größe und keine Niedrigkeit mehr existiert, nur noch das Einerlei und Allerlei, das alltägliche Nichts, aufgeblasen zur Existenzform. Am Ende gibt es nur noch die Bestimmungen des Äußeren. „Man“ lebt nicht mehr, man wird gelebt und will schon gar nicht mehr wissen, wie sehr man selber dazu beiträgt, das Leben als einen bloßen Tummelplatz von „Zufällen“ zu arrangieren. Aus Schwäche und Feigheit existieren am Ende wirklich nur noch die Umstände, abgesegnet von den „Sprichwörtern“ der Unverantwortlichkeit: man hat nie etwas gewusst, man hat nie etwas gehört, man hat nie etwas gesehen, man hat nie etwas getan; Schuld, Grund und Ursache für alles sind die Umstände, waren die Umstände und werden die Umstände sein; weitab, dass man jemals zu einer eigenen Existenz hätte berufen sein wollen oder aus der Masse der anderen als eine eigene Person sich erheben möchte! Ist es so weit gekommen, so wird es in der Tat schrecklich, auch nur davon zu sprechen, dass ein Mensch überhaupt erst zu leben beginnt, wenn er als Individuum zu existieren anfängt und sich in seinem Dasein von den anderen als Person unterscheidet.

Es war die Erfahrung Jesu, dass reif für das Heil eigentlich nur diejenigen sind, die das Leiden noch nicht ganz verlernt haben, die die Hoffnung und die Sehnsucht nach einem anderen Leben noch nicht gänzlich aufgegeben haben, die m. a. W. noch fähig sind zu weinen. Diese Menschen sprach er selig, weil sie allein noch verletzbar genug sind, um das übliche Dahinvegetieren unerträglich zu finden und an ein anderes Leben mit aller Leidenschaft zu glauben (Mt 5,3–12). Solche Menschen sind es, die, ob sie es wollen oder nicht, den Einbruch des Heils mit aller Leidenschaft herbeisehnen müssen. Was Jesus hier als „Wachsamkeit“ bezeichnet, gehört, je nachdem, zum Wunderbarsten oder Furchtbarsten, was es im Menschenherzen geben kann: furchtbar, wenn es hereinbricht wie eine Sturmflut über den Deichen, wunderbar, wenn es erfahren wird als die einzige Hoffnung, die uns noch bleibt. Man erlebt das Wunder einer solchen „Wachsamkeit“ bezüglich der letzten Chance, bezüglich der „Ankunft des Menschensohnes“, unter Menschen immer wieder: dass nach langen Jahren des seelischen Vertrocknens, der inneren Wüstenei, plötzlich, bei Anbruch der Regenzeit, in wenigen Tagen aus Pflanzen, die sich ihr Leben lang zu stacheligen Gebilden zusammengerollt haben, die herrlichsten Blüten hervorbrechen. In ähnlicher Weise können Menschen in wenigen Augenblicken ungeahnte Kräfte freisetzen, wenn sie nur erst wissen und spüren, dass es jetzt ein für alle Mal darauf ankommt; dann streifen sie alle Angst ab, brechen die Enge auf und halten sich an ihr stärkeres, an ihr eigentliches Leben und Wesen.

Diese Wachsamkeit für den Moment, in dem unser Leben sich wesentlich entscheidet, diese Sensibilität gegenüber unserer eigenen Menschlichkeit wollte Jesus uns nahebringen. Wir sollten nie vergessen, wozu wir von Gott her bestimmt sind. – Eben deshalb sollten wir die Verzweiflung nicht unser Glück nennen und die Traurigkeit inmitten einer Welt des Un-Lebens nicht durch das laute Getöse der Schein-Frohheit betäuben.

In Anspielung auf diese Worte des Markus-Evangeliums hat SÖREN KIERKEGAARD einmal von der Ankunft des Menschensohnes ein Gleichnis gebraucht: In einem Theater tritt der Bajazzo auf die Bühne. Er sagt dem Publikum, dass das Theater brennt. Man applaudiert und lacht. Der Bajazzo verschwindet hinter dem Vorhang und tritt noch einmal auf. Sehr ernst sagt er: „Das Theater brennt.“ Man applaudiert noch mehr. Und die Balken stürzen nieder unter dem johlenden Gelächter all derer, die da dachten, er mache nur einen Witz. „Wachet, denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt.“ (Mk 13,35)

Liebe wagen gegen die Angst

25 Und es werden Zeichen sein an Sonne und Mond und Sternen und auf Erden Völkerbangnis, ausweglos vor dem Tosen des Meers und dem Wogen, 26 wenn die Menschen seelenlos werden vor Furcht und Erwartung dessen, was kommt über die ganze bewohnte Welt; denn die Mächte der Himmel werden erschüttert werden. 27 Doch dann werden sie schauen den Menschensohn, kommend in einer Wolke mit Macht und Herrlichkeit – groß. 28 Beginnt aber das zu geschehen, bückt euch auf, hebt eure Häupter, denn es naht eure Erlösung … 34 Haltet auf euch, dass nicht beschwert werden eure Herzen mit Völlerei und Trinkerei und den Lebenssorgen, dass herantritt an euch plötzlich jener Tag. 35 Denn wie ein Fangnetz wird er drüberhingehen, über alle, die das Antlitz der ganzen Erde bewohnen. 36 Bleibt also wach zu aller Zeit, betend, dass ihr’s vermögt, zu entfliehen all dem, was da geschehen wird, und hin zu treten ins Antlitz des Menschensohns.

Lk 21,25–28.34–36

Worauf dürfen wir hoffen, und was haben wir zu erwarten? Es gibt die Optimisten vom Dienst; für sie bedeutet Hoffnung und Zuversicht, dass die Welt immer nur besser werden kann; undenkbar ist für sie der Gedanke möglichen Scheiterns, möglicher Tragik, möglichen Untergangs. Wer ihnen so spricht, den nennen sie einen Schwarzmaler, einen Pessimisten, einen Hoffnungsmörder oder überhaupt einen hoffnungslosen Charakter. Die Christen zählen in den Augen der Optimisten unverbesserlich zu solchen endzeitlichen Apokalyptikern, zu solchen hoffnungslosen Kreaturen. Man kann nicht Christ sein, ohne von Grund auf über den Gang der menschlichen Geschichte und den Lauf der Welt buchstäblich bis ins Letzte desillusioniert zu sein. Seit den Tagen von Golgota steht dies fest: Wenn es die Logik der menschlichen Geschichte ist, nicht irgendein Malheur, keine Nebensache, sondern ihr Hauptthema, die Liebe, kaum dass sie sich regt, an den Pranger zu stellen, zu verleumden und so rasch wie möglich zu liquidieren; wenn es im Interesse aller Logik von Herrschaft und Gewalt liegt, die Freiheit zu schänden und mit Füßen zu treten, dann kann man nur von Herzen hoffen, dass diese Art von Geschichte so rasch wie möglich ihr Ende findet.

Was nennen wir Geschichte außer eben die Verwaltung der Egoismen im Kleinen und im Großen? Man schlägt die Zeitung auf und liest, dies sei die gute Nachricht: zu Weihnachten dürfen wir im Einzelhandel wieder einmal mit einem großen Umsatz rechnen, denn das Konsumverhalten steigt, und es ist ein guter Mensch, dessen Konsumverhalten steigt, er sorgt für die Erweiterung der Absatzmärkte, die Erweiterung der Investitionen, der Fortschritt greift, die Arbeitslosen werden weniger, eine gute Nachricht. Man kann nicht leugnen, dass das seine wirtschaftliche Vernunft und Logik hat. Wieder: ein Saboteur am Volksvermögen, der sagen würde, diese Art von Engstirnigkeit, von Kleinkariertheit bei 50 Millionen Verhungernden im Jahr könne man nur von Herzen zu Ende wünschen und ihr möglichst baldiges Verschwinden ersehnen. Das ganze Christentum besteht darin, die Engstirnigkeit dessen, was wir geschichtliche Vernunft nennen, als einen einzigen Alptraum der Inhumanität zu begreifen.

Man sagt uns, dass überhaupt eine Fortentwicklung der menschlichen Geschichte nur möglich ist, wenn sich der Fortschritt lohnt, materiell, versteht sich. Es müssen die Tüchtigen bezahlt werden, ausgezahlt werden, in Lohnsklaven verwandelt werden, sagen wir’s gradaus. Wie aber, wenn das Christentum recht hätte: es sei, weiß Gott, möglich, sich noch für etwas anderes zu engagieren als den verdammten Geldbeutel, es gebe Hoffnungen und Visionen der Menschlichkeit, die über den verwalteten Egoismus hinausgingen, und es sei ganz sicher, dass wir uns den Ruin schaufeln, wenn wir nur so weitermachen wie bisher in Sicherheit, Herzensträgheit, Gedankenfaulheit und Sattheit?

Dies einfach, dass es so weitergeht, ist ja schon der Ruin, es braucht sich gar nichts zu ändern, kein Spektakel, Zeichen an Sonne, Mond und Sternen durchaus überflüssig, denn es gibt kein Licht über uns zu sehen, weder am Tage noch in der Nacht, es gibt keine Sterne, denen wir folgen mit bloßen Füßen als Sehnsüchtige im Dunkel, als Hoffnungsbesessene in der Finsternis, wohl aber gibt es das andere, dass die Erde und ihre Völker voll sind von Angst und das Meer, der brausende Abgrund dicht an die Peripherie drängt, und schon hört man das Rauschen.

Wer so spricht, macht allen Angst, und er wird dazu nötigen, sich die Ohren zuzuhalten. „So war es doch immer, vermutlich wird es so weitergehen …“ Aber dies weiß das Christentum: Es lohnt sich nicht, vor Katastrophen Angst zu haben, schon gar nicht vor solchen, die nur reinigen können. Es lohnt sich nicht, Untergänge zu fürchten, die nur überleiten zu einer wahreren Form des Menschseins. Wie viel eigentlich an Tödlichem, an ganz Alltäglichem muss in uns sterben, ehe wir anfangen können, wirklich zu leben? Wie viel Freiheit von den Scheinsicherungen, den künstlichen Verführungen, den Wortverfälschungen aller Werte und Begriffe brauchen wir noch, ehe wir uns trauen, ein Leben zu führen, das den Namen verdient?

Die frühen Christen konnten das nicht anders sehen. Es war möglich, Jesus umzubringen, aber nicht das Leben, das er bringen wollte. Wenn irgendetwas wahr ist auf dieser Welt, dann die Worte der Bergpredigt: Selig die Armen. Selig die Weinenden. Selig, die noch trauern können, über diese – oft möchte man sagen: gottverdammte – Erde trauern können. Sie werden Hoffnung haben. Sie sind nicht lebendig tot. Sie sind noch nicht begraben. Nehmt euch in Acht, sagt Jesus in dieser seiner letzten großen Vision im Lukasevangelium, hütet euch vor dem Rausch, der Besoffenheit und den Sorgen des Alltags. So kann man’s machen, so werden wir uns anpassen, wenn wir wollen, dass wir mit dabei sind und mitmachen, wie man es vormacht, das Leben als Party und als Fete oder als ein bewusstloses Verdösen oder als ein Vor-sich-hin-Wühlen nach der Art der Maulwürfe im Dunkeln.

Wir Menschen vertragen es nicht und es gehört sich nicht für uns, nach dieser Art zu verkommen. Vor uns liegt die Weite der Unendlichkeit, und dieses irdische Dasein, die paar Jahrzehnte, die wir hier zubringen, brauchen nicht zu sein und sollen nicht sein eine lebendige Falle, stets unter dem Schlagbügel des Todes, der Vergänglichkeit und der von vornherein feststehenden Nichtigkeit von allem. Wir können hoffen über den Untergang hinaus. Vieles muss vergehen, ehe wir auferstehen, und nicht einmal der Tod ist fürchterlich. Danach wartet auf uns eine ganze Ewigkeit.

Es ist und war die Hoffnung dieser Visionen, dass das, was im Kleinen gilt, sich ausdehnen lässt auf die gesamte Welt. Selbst physisch werden weder dieser Planet noch unser Sonnensystem noch unser Milchstraßensystem mit hundert Milliarden Fixsternensonnen noch die hundert Milliarden von Milchstraßen bestehen bleiben. Man ist grad dabei, zu prüfen, ob dies alles einen Kälte- oder Hitzetod sterben wird, aber vergehen wird es sicher, die Sonne in fünf Milliarden Jahren, der Kosmos in fünfzig Milliarden Jahren, all das lässt sich berechnen, irgendwann einigermaßen sicher.

Aber was ist mit unserem Leben, was ist mit Gott? Was ist mit dem Schicksal der Menschheit? Diese Fragen müssen wir beantworten, und es wird immer nur dieselbe Antwort geben: Wir haben ein Recht, die Liebe zu wagen gegen die Angst. Wir haben die Möglichkeit, unser Herz zu weiten gegen die Erstickung. Wir haben Grund zur Hoffnung, jenseits der Gräber, jenseits des Todes, jenseits des Zusammenbruchs. Wenn der Vorhang zerreißt, sehen unsere Augen das Licht.

Der da kommt in Geist und Feuer

1 In jenen Tagen aber findet sich Johannes der Täufer ein, als Verkünder in der Wüste von Judäa, 2 sprechend: Kehrt um! Denn genaht hat sich das Königtum der Himmel.

3 Dieser ist es ja, der angesagt ward durch Jesaja, den Propheten, sprechend:

Stimme eines Rufers in der Wüste:

Bereitet den Weg des Herrn.

Gerade macht seine Pfade.

4 Er selbst aber, Johannes, hatte sein Gewand aus Kamelhaar und einen Ledergürtel um seine Hüfte; seine Speise aber war: Heuschrecken und wilder Honig. 5 Damals zog hinaus zu ihm Jerusalem und ganz Judäa und das ganze Umland des Jordan, 6 und sie ließen sich taufen im Jordanfluss – von ihm, im Bekenntnis ihrer Sünden.

7 Er sah aber viele von den „Pharisäern“ und Sadduzäern zur Taufe kommen; da sprach er zu ihnen: Schlangenbrut! Wer unterwies euch zu fliehen vor dem anbrechenden Zorn (Gottes)? 8 Bringt jetzt Frucht, würdig der Umkehr! 9 Und meint nicht, euch sagen zu können: Zum Vater haben wir Abraham. Denn ich sage euch: Es kann Gott aus diesen Steinen (hier) Abraham Kinder erwecken. 10 Schon aber ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum jetzt, der nicht gute Frucht bringt, wird ausgehauen und ins Feuer geworfen.

11 Ich freilich taufe euch (nur) mit Wasser auf Umkehr hin; der aber nach mir kommt – stärker als ich ist er, bei dem ich nicht wert bin, (auch nur) seine Sandalen auszuziehen. Er wird euch taufen in heiligem Geist und Feuer, 12 er, bei dem die Worfschaufel (schon) in der Hand ist. Ja, aufräumen wird er seinen Dreschplatz: sammeln wird er sein Korn in der Scheune, aber die Spreu wird er verbrennen in unauslöschbarem Feuer.

Mt 3,1–12

Hinterher wissen wir’s alle. Wenn der Sturm der Geschichte sich gelegt hat, ducken sich die Gräser im Schatten der stehengebliebenen Bäume und anerkennen sie als ihre gültigen Herren. Wie aber ist es zeitgleich, mitten im Sturm?

Träte Johannes der Täufer in unseren Tagen auf, würde seine Stimme einen Orkan von Worten entfachen, die uns schwer in die Ohren und mühsam über die Lippen wollten. Schon der Ort der Wüste, den er sich für sein Wirken wählt, ist eine einzige symbolische Verneinung. Da hat man nach der Rückkehr aus dem Exil geglaubt, man könnte Israel wieder auferbauen, indem man sich klammerte an die geschriebenen Gesetzesworte und sie so getreu auslegen ließe, wie es rabbinischer Sachverstand nur irgend fertigbekommt, und man könnte das Leben vor Gott und zwischen den Menschen ordnen unter der Weisheit der Priester; man hat die letzten Habseligkeiten für die Errichtung des Tempels ausgegeben, man hat sich eingeordnet in Kult und Opfer, und wirklich schien es eine Zeitlang, wie wenn der Segen Gottes auf seinem Volke ruhen wollte. Aber genau diesen Glauben will nicht und teilt nicht Johannes der Täufer. Ihm dauert die Ruhe längst schon über 300 Jahre zu lange; ihm ist es fast egal, dass von außen her das Volk der Erwählung umgetrieben wird von dem Treibstecken aller möglichen Besatzer, Eroberer und Zwingherren. Was ihn quält bis zum Aufschrei, ist die Behäbigkeit einer Religion, von der kein neuer Funke mehr ausgeht, kein wirklicher Gedanke. Ein Volk, berufen, der gesamten Welt ein Leuchtzeichen im Dunkeln zu sein, und da: Es verwaltet voller Angst nichts weiter als seine eigene Tradition, es kuscht voller Verzagtheit zusammen, es duckt sich und ist froh, wenn es nur überlebt – das ist nicht die Religion, die ein Mann wie Johannes der Täufer sich vorstellt. Tatsächlich wagt in Israel in seinen Tagen niemand mehr, einen eigenen Gedanken, ein eigenes Wort zu äußern, alles ist von den Theologen zu Ende erklärt, vorwegkommentiert, gesetzlich reguliert, ehe es aus eigenem Erleben sich zurückmelden kann, und genau diesen Zustand will nicht Johannes der Täufer.

Religionsgeschichtlich kann man sagen, er gehöre einer fast schon fanatischen Gruppe am äußersten rechten Rand Israels an, doch eine solche Einordnung erklärt nicht sein Geheimnis. Die Stärke seiner Person liegt auch nicht allein in dem Widerspruch seines ganzen Auftretens gegenüber dem Kulturland, sie ist nicht schon gegenwärtig in der Wüsteneinsamkeit und stacheligen Dorngestalt seiner ganzen Figur – nicht um Ledergürtel und Kamelhaargewänder im Typus des dramatisch zurückgekehrten Propheten Elija geht es primär; wohl aber geht es Johannes als Erstes um die Absage an die gesamte offizielle Religion. Was da geschieht in Jerusalem, was da ausgeht von der heiligen Stadt und herüberkommt von den Autoritäten, die sich, wie üblich, berufen auf Tempel, Thron und Altar, all das erstickt in den Augen des Johannes die Menschen, all das hindert sie am Leben, all das lässt sie nicht wirklich zu Gott kommen. Das offensichtlich ist der Punkt, weswegen er zurückwill zur Wüste des Moses und zur Botschaft des Elija, zur alten Prophetie: Man soll endlich aufhören, sich mit faulen Ausreden zu beruhigen, indem man das Leben auf schizophrene Weise zweiteilt: Hier hat man sein bürgerliches Dasein, und da