Ernst Lohoff & Norbert Trenkle
(Gruppe Krisis)

Die große Entwertung

Warum Spekulation und Staatsverschuldung
nicht die Ursache der Krise sind

 

 

 

 

 

 

U N R A S T

Die Autoren mit dem Schreckgespenst der verkürzten Kapitalismuskritik

 

 

 

 

 

Ernst Lohoff (Jahrgang 1960) und Norbert Trenkle (Jahrgang 1959) leben in Nürnberg und sind Mitherausgeber und Autoren der Zeitschrift krisis. Die meisten ihrer Texte finden sich unter:

www.krisis.org

Die Autoren danken ihrem Lektor und Korrektor Hermann Engster, der mit seinem präzisen Sprach- und Stilgefühl diesem Buch den letzten Schliff gegeben hat.

 

 

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

 

Ernst Lohoff & Norbert Trenkle (Gruppe Krisis):

Die große Entwertung

eBook UNRAST Verlag, Mai 2018

ISBN 978-3-95405-047-5

 

2. Auflage, Januar 2013

© UNRAST Verlag, Münster

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Umschlag: kv, Berlin

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Einleitung

TEIL I
Die Schranken der Kapitalverwertung
im Zeitalter der dritten industriellen Revolution

1. Der innere Selbstwiderspruch des Kapitals

1.1 Produktion um der Produktion willen

1.2 Produktivitätswettlauf und Untergrabung der Wertproduktion

2. Das kurze »goldene Zeitalter« des Kapitalismus

2.1 Die Durchkapitalisierung der Welt im fordistischen Nachkriegsboom

2.2 Relativer Mehrwert und absolute Ausdehnung der Wertbasis

2.3 Die Grenzen des fordistischen Booms und das Ende von Bretton Woods

2.4 Der Ölpreisschock und seine Konsequenzen

3. Das Kapital wird arbeitslos: Die Strukturkrise der 70er Jahre

3.1 Überakkumulation und lange Wellen

3.2 Die dritte industrielle Revolution bahnt sich an

3.3 Das große Scheitern des Keynesianismus

3.4 Der neoliberale Krisenaufschub

4. Die Arbeit wird wertlos: Der Produktivkraftschub der dritten industriellen Revolution

4.1 Die Illusion vom Dienstleistungskapitalismus

4.2 Wie die Produktivitätsrevolution unsichtbar gemacht wird

4.3 Der hedonische Preisindex und seine Brüder

4.4 Die wahren Dimensionen der dritten industriellen Revolution

4.5 Massenarbeit ohne Wert

5. Die Grenzen der Wertproduktion

TEIL II
Die Logik des fiktiven Kapitals

1. Die Finanzmärkte – Zentrum und blinder Fleck der Krisenerklärungen

1.1 Die antinomische Sicht der Volkswirtschaftslehre auf die Finanzindustrie

1.2 Die beiden Abteilungen des Warenkosmos

1.3 Mit Marx über Marx hinaus

2. Die Elementarform des finanzindustriellen Reichtums

2.1 Der doppelte Gebrauchswert des Geldes

2.2 Das fiktive Kapital oder die Verdoppelung des Geldkapitals durch die Teilung seines Gebrauchswerts

2.3 Der Fetisch der Waren 2ter Ordnung

2.4 Kapitalfetisch und traditioneller Marxismus

2.5 Das durch die Ausdehnung der Eigentumstitelproduktion induzierte realökonomische Wachstum

2.6 Die Verwandlung des Geldmediums in fiktives Kapital

2.7 Hochgradig elastisch und unzerreißbar – das Band zwischen den beiden Abteilungen des Warenkosmos

Teil III
Die historische Entfaltung des fiktiven Kapitals

1. Anhängsel der Kapitalverwertung:
Das fiktive Kapital in der Industriellen Revolution

1.1 Der Wechsel als wichtigste Form des fiktiven Kapitals – die Frühgeschichte des fiktiven Kapitals

1.2 Das Aufkommen des Finanzkapitals: Der innerprivatwirtschaftliche Vorgriff auf künftige Wertproduktion

2. Schrittmacher des Nachkriegsbooms:
Das fiktive Kapital im Zeitalter des Fordismus

2.1 Die keynesianische Revolution

2.2 Funktionsweise und Grenzen des keynesianischen Wachstumsprogramms

2.3 Die Auflösung der fordistisch-keynesianischen Ordnung in den 1970er Jahren

3. Krisenverschiebung und Krisenpotenzierung:
Das fiktive Kapital in seiner Epoche

3.1 Von der Krise des Fordismus zum finanzindustriellen Boom

3.2 Die Neoliberale Revolution und die Installation des inversen Kapitalismus

3.3 Das große Wunder und sein Preis: die Mirakelökonomie und ihre Spezifika

3.4 Die Epoche des fiktiven Kapitals als prozessierender innerer Gesamtwiderspruch

3.5 Die logische Schranke

Epilog
Diese Gesellschaft ist zu reich für den Kapitalismus!

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

 

 

 

Einleitung

Selten klang Walther Rathenaus fast hundert Jahre altes Diktum »Die Wirtschaft ist unser Schicksal« so bedrohlich wie heute. Die Ökonomie, das Allerheiligste dieser Gesellschaft und zugleich ihr praktischer Dreh- und Angelpunkt, ist außer Rand und Band geraten. Bis vor Kurzem galt sie noch als Hort einer höheren Vernunft, heute fühlt sich der gesunde Menschenverstand bei der Lektüre der Wirtschaftsnachrichten regelmäßig in eine Irrenanstalt versetzt. Seitdem im Herbst 2008 die Subprime-Krise die globalen Finanzmärkte an der Rand des Zusammenbruchs brachte, hat sich die Weltkonjunktur immer nur kurzfristig stabilisiert. Kaum hatten die politischen Macher und ihre Wirtschaftsauguren zweckoptimistisch das »Ende der Krise« verkündet, standen sogleich neue Hiobsbotschaften ins Haus. Sobald ein Brandherd unter neuen Frischgeldmassen begraben wurde, loderte das Feuer schon an zwei, drei anderen Ecken des kapitalistischen Weltsystems wieder auf. Zwar gelang es den Regierungen und Notenbanken, durch die Notverstaatlichung fauler Kredite, eine Politik des billigsten Geldes, und das massive Hochfahren der Staatsverschuldung den drohenden globalen Wirtschaftskollaps zunächst einmal abzuwenden; doch damit haben sie nur den nächsten, noch größeren Krisenschub vorbereitet. Jetzt droht das Platzen der Staatsblasen die Weltwirtschaft in den Abgrund zu ziehen.

Ein kakophonisches Stimmengewirr begleitet diese dramatische Entwicklung. Heerscharen von Rezeptblockzückern erklären dem werten Publikum, an welchem Punkt »unsere Wirtschaft« vom Pfad marktwirtschaftlicher Tugend abgewichen sei und mit welchen Therapien ihr die abhandengekommene ökonomische Vernunft wieder eingetrichtert werden könne. Die Autoren dieses Buchs beteiligen sich nicht an diesem Geschäft. Schon die der laufenden Debatte zugrunde liegende Basisannahme, die derzeitige Krise ließe sich auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise lösen, halten sie für grundverkehrt. Die vermeintliche »Entartung« der glorreichen Marktwirtschaft, die für den verheerenden gegenwärtigen Zustand des kapitalistischen Weltsystems verantwortlich gemacht wird, ist in Wirklichkeit als ein Entpuppungsprozess zu fassen. Es zeigt sich, dass die kapitalistische Produktionsweise eine zutiefst irrationale Form der Reichtumsproduktion darstellt, die auf Selbstzerstörung hin programmiert ist. Die Entfesselung der Finanzmärkte, die Spekulation, die überbordende Staatsverschuldung oder was sonst noch auf dem Markt der Meinungen als Ursache der gegenwärtigen Malaise angeboten wird, sind in Wahrheit nur Symptome eines viel tiefer reichenden Krisenprozesses. Wir haben es nicht mit irgendwelchen »Fehlentwicklungen« zu tun, die sich wieder rückgängig machen ließen, vielmehr sind die Grundlagen des kapitalistischen Weltsystems selbst in Auflösung begriffen.

Dieser Gedanke ist in der öffentlichen Debatte tabu. Und zwar nicht trotz, sondern wegen der marktschreierischen »Kapitalismuskritik«, die uns aus allen Medien entgegenschallt. Denn diese beschränkt sich weitgehend auf plumpe Finanzmarktschelte – mal mehr, mal weniger unterfüttert mit personifizierender Hetze gegen »Banker und Spekulanten« – und verdrängt gerade damit die naheliegende Einsicht, dass das System der kapitalistischen Reichtumsproduktion selbst unhaltbar werden könnte. Die Wirklichkeit drängt zum Gedanken einer fundamentalen Krise, das herrschende Bewusstsein aber drängt mit aller Kraft von dieser Wirklichkeit weg. Freilich liegt die Angst vor einer großen Katastrophe in der Luft. Doch diese bleibt diffus und kanalisiert sich entweder in esoterischen Weltuntergangsphantasien wie einer angeblichen Prophezeiung der Maya, wild-wuchernden, teils antisemitischen Verschwörungsphantasien und individuellen Fluchtversuchen aus dem Alltag, oder sie wird von den notorischen Gesundbetern, die nicht müde werden, die Krise kleinzureden, mittels der von ihnen ausgeteilten Beruhigungspillen gedämpft.

Stummer Hintergrund dieser schizophrenen Stimmungslage ist sicherlich die sozialpsychologische Zurichtung der modernen Individuen nach dreißig Jahren radikaler Durchökonomisierung aller Lebensbereiche, die eine andere Form gesellschaftlichen Verkehrs als den über Ware, abstrakte Arbeitskraftverausgabung und Geld unmöglich erscheinen lässt. Hinzu kommt noch das mit dem Zusammenbruch des sogenannten Realsozialismus zum Common sense aufgestiegene Dogma von der Alternativlosigkeit des Kapitalismus. Zwar war der »Realsozialismus« nie etwas anderes als eine autoritäre Variante kapitalistischer Modernisierung, unterlegt mit einer bizarren Ideologie der »Diktatur des Proletariats«, und stand insofern keinesfalls für eine Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation; doch allein seine Existenz erschien vielen als Beweis dafür, dass es eine Alternative zur Ausrichtung aller gesellschaftlichen Beziehungen nach dem Prinzip der ökonomischen Rationalität geben könne. Daher hat sein Untergang nicht etwa den Horizont emanzipativen Denkens erweitert, sondern hat im Gegenteil die Alternativlosigkeit der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Produktions- und Lebensweise in den Köpfen zementiert. Indem aber schon die bloße Möglichkeit einer emanzipativen Überwindung des Kapitalismus als Hirngespinst weltfremder Träumer und unverbesserlicher Ewiggestriger abgetan wird, steht implizit auch der Gedanke einer grundlegenden Systemkrise unter einem Tabu. Denn sie kann nicht als Krise einer obsolet gewordenen historisch-spezifischen Produktionsweise verstanden werden, sondern erscheint als apokalyptischer Vorgang auf einer Stufe mit einem globalen Atomkrieg oder dem Einschlag eines Riesenmeteoriten - daher das Schwanken zwischen Hysterie und Verdrängung.

Kapitalismus oder Barbarei, so lautet also die implizite Propagandaparole, die auf allen Kanälen verbreitet wird. Entweder die Krise bedeutet den Untergang jeglicher Zivilisation, oder es gelingt, den normalen Gang kapitalistischer Reproduktion wiederherzustellen. Genauso ist auch der apokalyptische Diskurs zu verstehen, der von Teilen der politischen Klasse im Angesicht der Krise geführt wurde, so etwa vom bieder-sozialdemokratischen Sparkommisar Peer Steinbrück, der unter der Schockwirkung des Finanzmarkt-Crashs davon sprach, man habe »in den Abgrund geblickt«. Mag sein, dass sich darin ein spontanes Erschrecken vor den Konsequenzen des eigenen Handelns ausdrückte, letztlich dient dies aber der Legitimierung jener drastischen Sparmaßnahmen und Opfer, die unter der Maßgabe, die ökonomischen Verwerfungen noch einmal unter Kontrolle zu bekommen, der Bevölkerung zugemutet werden. Das apokalyptische Vokabular steht hier also für eine Variante des berüchtigten TINA-Prinzips: There Is No Alternative. Nie wurde dieser Satz so oft und so voller Überzeugung vorgetragen wie nach dem Platzen der Immobilienblase und den durch sie ausgelösten Schockwellen. Wenn der Weltuntergang droht, darf man nicht zimperlich sein.

Auch die seit dem Herbst 2008 massenhaft auftretenden Krisen-Gurus bedienen dieses Muster. Ihr Erfolg beruht darauf, dass sie mit ihrem Alarmismus eine untergründige gesellschaftliche Stimmung ansprechen und im Gegensatz zur Riege der Gesundbeter und Beschwichtiger Bilder von heftigen Verwerfungen an die Wand malen. Trotz alledem teilen sie aber den gesellschaftlichen Konsens, dass die Krise keinen systemisch-fundamentalen Charakter hat, sondern durch entschlossenes politisches Anpacken und verschärfte Sparanstrengungen gelöst werden könne. Der Gedanke, die kapitalistische Produktionsweise sei dabei, sich ad absurdum zu führen und unhaltbar zu werden, ist ihnen völlig fremd. Auf die Oberfläche des Krisenverlaufs fixiert, polemisieren sie gegen angebliche »Fehlentwicklungen« wie »maßlose Staatsverschuldung«, »überzogenes Anspruchsdenken« oder eine »enthemmte Spekulation«, die endlich gestoppt werden müssten, wenn die Gesellschaft nicht in den Abgrund rauschen wolle. Die Wiederherstellung eines gesunden, prosperierenden Kapitalismus ist den Krisen-Gurus zufolge also nur eine Frage des politischen und gesellschaftlichen Wollens. Insofern machen auch sie beim großen Herunterdimensionieren munter mit.

Der erfolgreichste deutsche Vertreter dieser Zunft, Max Otte etwa, will explizit die »Krise als Chance« (Otte 2006, S. 193) begriffen wissen – natürlich nicht als Chance für die Entwicklung einer Gegenpraxis zum laufenden Irrsinn, sondern als kollektive und individuelle Gelegenheit zu einer erfolgreichen Neupositionierung im kapitalistischen Wettbewerb. Dem Standort Europa biete sich die Gelegenheit, seine Position in der Weltmarktkonkurrenz entscheidend zu verbessern, und dem klugen Investor eröffnen sich angeblich tolle Gelegenheiten, seine Kröten auch auf einem »Bärenmarkt« zu mehren; das letzte Drittel von Ottes Œuvre besteht dementsprechend ausschließlich aus Anlagetipps, wie das zu bewerkstelligen sei. Bei all den wirtschaftlichen Verwerfungen bleibt für Otte eine Erschütterung der Grundlagen der kapitalistischen Ordnung unvorstellbar. Bis zum Ende aller Tage funktioniert der Weltmarkt weiter, und auch die heiligste Bestimmung des menschlichen Daseins wird niemals zur Disposition stehen: Die Optimierung der eigenen Vermögensbildung ist immer möglich und bleibt das Zentrum alles irdischen Strebens.

Im Einzelnen weichen die Prognosen und Diagnosen der diversen Krisen-Gurus natürlich voneinander ab. So interpretiert Otte in seinem bereits vor dem Crash von 2008 geschriebenen Buch die Krise primär als Deflationskrise, bei der die Aktienkurse sinken und Schuldtitel sich in Schrott verwandeln. Andere Autoren warnen vor allem davor, dass es zu einem Zusammenbruch des internationalen Währungssystems und zu einer Hyperinflation kommen könnte. Diese Befürchtung ist für sich genommen keineswegs aus der Luft gegriffen. In seinem Fortgang muss der laufende Krisenprozess in eine Krise des Geldes und der Währungsordnung einmünden – wir werden das im zweiten und dritten Teil dieses Buches noch ausführen. Wie die Verlaufsform im Einzelnen auch aussehen mag, jedenfalls ist die heutige Währungsordnung, mit dem Dollar als Weltgeld und dem Euro als zweiter Leitwährung, auf Dauer nicht zu halten. Diese Entwicklung zeichnete sich schon lange ab (vgl. etwa Lohoff 1995; Lohoff / Trenkle 1996); inzwischen pfeifen es die Spatzen von den Dächern. Hanebüchen wird die Sache indes insofern, als die Krisen-Gurus nicht in den dunklen Tunnel blicken können, ohne am anderen Ende einen güldenen Schimmer zu erkennen. Das Rezept etwa, das Nathan Lewis in seinem Buch Gold. Die Währung der Zukunft (Lewis 2008) präsentiert, erfreut sich auch unter den anderen großen und kleinen neoliberal und anti-etatistisch orientierten Krisen-Gurus größter Beliebtheit. Die Staaten, so Lewis, sollten die Verschuldung sein lassen und zu einem goldgedeckten Währungssystem zurückkehren, dann sei die monetäre Grundlage für eine erneuerte, solide und prosperierende Weltwirtschaft geschaffen.

Solche Vorschläge kann nur machen, wem jeder Sinn für die logische und historische Entwicklung des Systems der kapitalistischen Reichtumsproduktion fehlt. Dass dieses im Laufe vieler Jahrzehnte aus den Kinderschuhen der Goldwährung herauswuchs, ist kein Zufall und auch nicht das Ergebnis einer Fehlentscheidung irregeleiteter Politiker, die wieder rückgängig gemacht werden könnte, wie Lewis und seine Kollegen im Geiste meinen. Vielmehr war es Resultat und Voraussetzung zugleich für die ungeheure Expansion der kapitalistischen Produktion und ihren Siegeszug über den gesamten Globus. Auf der Grundlage des »barbarischen Metalls« (Keynes), das aufgrund seiner stofflichen Gestalt einer natürlichen Begrenzung unterliegt, wäre der kapitalistische Wachstumsschub der letzten Jahrzehnte niemals möglich gewesen. Der Übergang zum reinen Kreditgeld war unabdingbar. Zwar ist es durchaus denkbar, dass auf einer späteren Stufe des Zerfalls der Weltwirtschaft und der Zerrüttung des Geldes auch Versuche unternommen werden, die nationalen Währungen wieder in irgendeiner Weise an das Gold anzudocken; solche Währungsreformen wären aber wohlgemerkt Ergebnis und Verlaufsform eines verheerenden Schrumpfungsprozesses des Systems kapitalistischer Reichtumsproduktion. Mit einer zukunftsweisenden Neufundierung hätten sie so viel zu tun wie die spontane Herausbildung von Zigarettenwährung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die goldverliebten Hobby-Orthopäden verordnen dem Kapitalismus maßstabsgerechte Nachbauten seiner Lauflernschuhe als Siebenmeilenstiefel für einen weiteren großen Marsch kapitalistischer Akkumulation, in Wahrheit jedoch handelt es sich um eine mögliche Fußbekleidung der Notstandsverwaltung.

Aber nicht nur dubiose Krisen-Gurus á la Otte und Lewis fehlt jedes Verständnis für den fundamentalen Charakter des laufenden Krisenprozesses. Wenn der überwältigende Teil der öffentlichen Debatte zu diesem Thema an der Oberfläche der Ereignisse kleben bleibt und die Symptome der Krise, wie die Verselbstständigung der Finanzmarktbewegung oder die explodierende Staatsverschuldung, zu deren Ursachen mystifiziert werden, dann liegt das sicherlich nicht nur am Zurückschrecken vor der ungeheuren Reichweite der kapitalistischen Systemkrise. Hinzu kommt noch, dass auch die Volkswirtschaftslehre quer durch alle konkurrierenden Schulen hindurch mit ihren theoretischen Grundannahmen und Paradigmen gar nicht dazu in der Lage ist, eine fundamentale Krise zu denken, sondern sich dagegen geradezu immunisiert hat.

Seit den Tagen Adam Smiths und Jean-Baptiste Says stehen die Wirtschaftswissenschaften fast ausnahmslos mit der Vorstellung auf Kriegsfuß, der Kapitalismus würde aus seiner inneren Logik heraus Krisen erzeugen. Obwohl die kapitalistische Dynamik ganz offensichtlich beständig Ungleichgewichte und Missverhältnisse hervorbringt, die in Krisen ihre Entladung und eine immer bloß provisorische Überwindung finden, erkennt die von der Klassik und der Neoklassik geprägte Volkswirtschaftslehre im Markt originellerweise den zuverlässigen Garanten von Gleichgewichtszuständen. Nach ihrem Verständnis können ökonomische Krisen daher prinzipiell gar nicht auf innerökonomische Ursache zurückgehen, sondern sind ex definitione das Ergebnis exogener, also außerökonomischer Faktoren wie Naturkatastrophen, Kriege und politische Fehlleistungen. Auf diese Weise wurden schon all jene Krisen, die den Aufstieg des Kapitalismus begleitet hatten, ideologisch entwirklicht und die inneren kapitalistischen Widersprüche, die unvermeidlich zu wiederkehrenden Verwerfungen führen müssen, wegdefiniert. Mit dem Keynesianismus entstand dann zwar angesichts der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre erstmals eine ökonomische Schule, die dieses Dogma partiell aufweichte, aber bloß um es auf andere Weise fortzuschreiben. Laut Keynes kann die Bevorzugung des Geldes gegenüber anderen Reichtumsformen (»Liquiditätspräferenz«) die Herstellung des wirtschaftlichen Gleichgewichts beeinträchtigen und so eine strukturelle Unterbeschäftigung nachsichziehen; indes lasse sich diese potentielle Störquelle durch entsprechende geld- und fiskalpolitische Maßnahmen beseitigen. Damit kommt der Staat als Akteur ins Spiel, doch besteht seine Aufgabe im Wesentlichen darin, durch seine Eingriffe die harmoniestiftende Macht des Marktes wiederherzustellen, wo diese durch vorübergehende Störungen außer Kraft gesetzt ist.

Sind so bereits alle bisherigen Krisen erfolgreich herunterdimensioniert worden, kann es nicht verwundern, dass eine fundamentale Krise der Volkswirtschaftslehre als so völlig undenkbar erscheint, dass sie nicht einmal in die Verlegenheit gerät, dies extra begründen zu müssen. Die in den letzten beiden Jahrhunderten entwickelten volkswirtschaftlichen Definitionen und Grundbegriffe lassen die Formulierung eines solchen Gedankens erst gar nicht zu. Solange sie als selbstverständlich gesetzt sind, bleibt der Immunschutz gewährleistet, egal welches Bild das kapitalistische Weltsystem empirisch auch abgeben mag. Zwar haben sich in den letzten Jahren, angesichts der Wucht der Krise, auch einige honorige Vertreter der Volkswirtschaftslehre dazu herabgelassen, über das »Ende des Kapitalismus« zu diskutieren; doch – nicht anders als bei den dubiosen Krisen-Gurus – entpuppt sich diese Rede auf den zweiten Blick als bloße Chiffre für eine angebliche »Entgleisung« der »Marktwirtschaft«, die nur auf den rechten Pfad der Tugend zurückgeführt werden müsse. Kapitalismus ist böse, die Marktwirtschaft gut, so das Credo, das mit »Kapitalismus« stets nur die »übertriebene Spekulation« an den Finanzmärkten anprangert. Auf diese Lesart haben sich sogar erzliberale Hardliner wie der Flat-Tax-Propagandist Paul Kirchhof eingeschworen, der in der Zeit-Serie »Kapitalismus – kaputt?« für eine »verantwortete Marktwirtschaft« plädiert und fordert: »Wir dürfen uns vom wild gewordenen Finanzmarkt nicht in die Enge treiben lassen« (Kirchhoff 2011).

Dieses Auseinander-Dividieren von »Marktwirtschaft« und »Kapitalismus« hat Tradition. Schon in der Ära des Kalten Krieges war es Kernstück der Legitimationsideologie des Westens, der seine »soziale Marktwirtschaft« als dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus verkaufte. In der Ära des Krisenkapitalismus gewinnt es neue Bedeutung in der Abwehr des bedrohlichen Gedankens, das ganze System könne zur Disposition stehen. Die Wurzeln dieser basalen Immunisierung aber reichen noch viel tiefer. Sie entspringen dem Selbstverständnis der Volkswirtschaftslehre, die zwar selbst ein Kind der kapitalistischen Produktionsweise ist, von dieser historisch-spezifischen Form der Vergesellschaftung aber nicht sprechen kann, ohne sie zur allgemein-menschlichen Lebensweise zu mystifizieren. Wo in der kapitalistischen Wirklichkeit kaum übersehbar die Verwertung von Kapital – also der abstrakte Selbstzweck, aus Geld mehr Geld zu machen – den Dreh- und Angelpunkt des Wirtschaftsprozesses darstellt und die Produktion von Waren bloß das untergeordnete Mittel zur Erfüllung eben dieses Zwecks ist, will die Volkswirtschaftlehre nichts als harmlose »Güterproduktion« sehen, wie es sie immer gegeben habe, seit die Vorfahren des Homo sapiens von den Bäumen herabgestiegen sind. Jedes beliebige volkswirtschaftliche Lehrbuch beginnt mit dem unhinterfragten Axiom, Zweck des Wirtschaftens sei die Versorgung der Menschen mit nützlichen Dingen, wobei die Warenproduktion, das Geld und der Markt nur besonders raffinierte Mittel zur Erreichung eben dieses Zwecks, zur Organisation der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und zur »optimalen Allokation der Ressourcen« darstellten. Damit wird nicht nur die grundlegende Verkehrung von Mittel und Zweck, die zum Wesen des historisch-spezifischen Charakters der kapitalistischen Produktionsweise gehört, unsichtbar gemacht, zugleich sind auch die daraus resultierenden inneren Widersprüche ausgelöscht und die Vorstellung einer aus ihnen resultierenden Krise ist gegenstandslos geworden.

Wenn daher die Krisenanalysen der Fachökonomen so oberflächlich und ratlos ausfallen, wie sie eben ausfallen, dann ist dafür nicht etwa eine besondere Inkompetenz der derzeitigen Generation von Wirtschaftswissenschaftlern verantwortlich zu machen. Nicht die mangelnde Beherrschung des volkswirtschaftlichen Instrumentariums ist das Problem, sondern dessen Grundstruktur. Es gibt keine Zeichenschule, die den Radiergummi als einziges Instrument für das Porträtieren vorschreibt. Die Volkswirtschaftslehre aber macht richtungsübergreifend genau diese verrückte Vorgabe, wenn es um die Hintergründe des laufenden Krisenprozesses geht. Wer daher diesen in seinen Tiefendimensionen darstellen will, muss in ein anderes theoretisches Bezugssystem wechseln, eines, das mit den harmonistischen Basisannahmen der VWL bricht und die historisch-spezifischen Merkmale der kapitalistischen Produktionsweise fassen kann.

Die Grundlagen für ein solches theoretisches Bezugssystem hat bereits vor gut 150 Jahren ein gewisser Karl Marx gelegt. Ausgehend von einer Kritik der Warenproduktion und ihren inneren Widersprüchen dechiffrierte er die kapitalistische Produktionsweise als ein höchst irrationales Fetischsystem, das einer unkontrollierbaren historischen Dynamik unterliegt, die letztlich die eigene Selbstzerstörung herbeiführen muss, wenn die Menschheit es nicht schafft, sie aufzuheben. Doch erstaunlicherweise spielen diese Einsichten in der Krisendebatte bisher praktisch keine Rolle. Zwar hat es in den letzten Jahren eine gewisse »Marx-Renaissance« gegeben; zumindest taucht die Buchstabenkombination M-A-R-X als eine Art Diskursspielmarke neuerdings immer mal wieder in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf, wohl deshalb, weil die aberwitzigen Kapriolen des Krisenkapitalismus und die immer neuen sozialen Zumutungen, die er mit sich bringt, eine gewisse Sehnsucht nach grundsätzlicher Gesellschaftskritik wecken, für die der Name Marx als eine Art Chiffre steht. Die eigentliche Brisanz und Aktualität der Marx’schen Kritik der Politischen Ökonomie wird durch solche Reminiszenzen freilich eher zugeschüttet als aufgedeckt.

Die einen beschwören eine Wiederkehr des Klassenkampfes und reaktivieren damit ausgerechnet jenen Teil der Marx’schen Theorie, der zwar ideologisch und politisch in der Vergangenheit eine ungeheure Wirkungsmacht entfaltet hatte, aber dies gerade weil er ganz der Immanenz der kapitalistischen Modernisierungsbewegung verhaftet geblieben war und schon deshalb heute hoffnungslos überholt ist (vgl. zur Kritik etwa Kurz / Lohoff 1989; Trenkle 2005; Lohoff 2006a; Schandl 1997). Dann wieder wird Marx als angeblicher Kronzeuge für eine verkürzte Kritik des entfesselten Finanzkapitals bemüht, das angeblich die »Realwirtschaft« überwuchere und daher gebändigt werden müsse, ganz so als habe Marx sich nicht schon seinerzeit über diese spießbürgerlichen Phantasien einer heilen kapitalistischen Welt mokiert. Und schließlich gibt es noch jene, vor allem Akademiker, die das Marx’sche Denken mit aller Gewalt auf das theoretische Bezugssystem der VWL herunterbrechen und so seiner kritischen Substanz berauben, sei es, dass sie Marx zu einer Art Vorgänger von Keynes erklären oder dass sie ihm die subjektive Wertlehre der Neoklassik überstülpen. Jener Teil der Marx’schen Theorie hingegen, der gerade heute erst seine volle Brisanz gewinnt, die fundamentale Kritik von Ware, Arbeit, Wert und Geld und die darauf gründende Krisentheorie, bleibt fast völlig ausgeblendet.

Knüpfen wir an diesem theoretischen Strang an und entwickeln ihn weiter, erscheint der Kapitalismus und seine Krisenhaftigkeit in einem ganz anderen Licht als in den axiomatischen und unhistorischen Harmoniemodellen der VWL. Die innerhalb dieser Modelle nicht erklärbaren historischen Krisen verweisen nicht nur auf den irrationalen und selbstwidersprüchlichen Charakter der herrschenden Produktionsweise, sondern bilden auch die Trittsteine auf jenem langen Weg, der diese an ihre innere Schranke heranführt. Es zeigt sich, dass der bornierte Selbstzweck der Kapitalverwertung auf Dauer nicht kompatibel ist mit den ungeheuren Potentialen der stofflichen Reichtumsproduktion, die er selbst hervorbringt, weil dieser Prozess mit einer unaufhaltsamen Reduktion der notwendigen Arbeitszeit in der Warenproduktion einhergeht. Unter anderen gesellschaftlichen Verhältnissen könnten diese Potentiale dazu genutzt werden, allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen, ohne die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören; unter kapitalistischen Bedingungen aber untergräbt die ständige Produktivitätssteigerung die Wertproduktion und damit das Fundament der Kapitalverwertung. Früher oder später muss daher ein Punkt erreicht sein, an dem das erreichte Niveau der Produktivkraft mit der kapitalistischen Reichtumsform unvereinbar wird.

So betrachtet, erweist sich die aktuelle Weltwirtschaftskrise keinesfalls als Resultat von übersteigerter Spekulation und Verschuldung, für die nun die Rechnung bezahlt werden müsse. Genau umgekehrt ist die gigantische Aufblähung der Finanzmärkte selber Ausdruck davon, dass seit dem Einsetzen der dritten industriellen Revolution, welche eine grundlegende Umstrukturierung der Produktionsstrukturen eingeleitet und massenhaft Arbeitskraft in den Kernsektoren der Kapitalverwertung »überflüssig« gemacht hat, die Wertproduktion absolut rückläufig ist. Die dadurch ausgelöste Strukturkrise, die sich bereits seit den 1970er Jahren als »Krise der Arbeit« deutlich bemerkbar machte, konnte nur durch die ungeheure Auftürmung von »fiktivem Kapital« an den Finanzmärkten überspielt und verschoben werden. Der Preis dafür aber war die Anhäufung riesiger Berge ungedeckter Wechsel auf die Zukunft, die niemals eingelöst werden können und deren Entwertung nun als Damoklesschwert über der gesamten Welt schwebt. Daher sind die oberflächlichen Krisenentwarnungen genauso so verkehrt wie die Kassandrarufe der Krisen-Gurus, die zur Umkehr in die »gesunde Marktwirtschaft« mahnen, und ebenso verkehrt wie die allfälligen Forderungen nach einer »Bändigung der Finanzmärkte«. Die fundamentale Strukturkrise mag durch eine weitere Aufblähung des fiktiven Kapitals und verschiedene Maßnahmen der Notverwaltung noch einmal aufgeschoben werden, lösbar ist sie innerhalb der kapitalistischen Logik jedoch nicht. Wenn diese Logik gewaltsam aufrechterhalten wird, droht in der Tat eine große Katastrophe in dem Maße, wie sich die Krise weiter zuspitzt. Abwenden lässt sie sich nur, wenn es gelingt, eine gesellschaftliche Alternative jenseits der Warenproduktion zu entwickeln und global durchzusetzen.

* * *

Der Aufbau dieses Buches folgt der hier in wenigen Sätzen skizzierten Argumentationsstruktur. Im ersten Teil – verfasst von Norbert Trenkle – werden zunächst einige grundlegende Begriffe erläutert, die für das Verständnis der historischen Dynamik des Kapitalismus und des ihr zugrunde liegenden, inneren Selbstwiderspruchs unentbehrlich sind. Im Anschluss daran wird untersucht, wie dieser Widerspruch im Nachkriegsboom zunächst zu einem kraftvollen Motor der kapitalistischen Durchsetzung wurde, dann jedoch sich im Zuge der dritten industriellen Revolution in die innere Antriebskraft einer grundlegenden Strukturkrise verwandelte. Dabei wird deutlich gemacht, warum auf dem erreichten Niveau der gesellschaftlichen Produktivität ein selbsttragender Schub kapitalistischer Verwertung nicht mehr möglich ist und wie, vermittelt über die Aufblähung des Finanzüberbaus, die fundamentale Strukturkrise aufgeschoben werden konnte.

Zweiter und dritter Teil des Buches – verfasst von Ernst Lohoff – sind einer genaueren Untersuchung des fiktiven Kapitals gewidmet. Teil 2 entwickelt zunächst die theoretischen Grundlagen für das Verständnis dieser Kapitalsorte und ihrer Stellung im kapitalistischen Akkumulationsprozess. Er zeigt, dass die Eigentumstitel, aus denen sich das fiktive Kapital zusammensetzt, eine besondere Kategorie von Waren darstellen, Waren 2ter Ordnung, die den spezifischen Gebrauchswert aufweisen, zukünftigen Wert zu repräsentieren. Untersucht wird, ob und unter welchen Umständen dieser Vorgriff auf die Zukunft eingelöst werden kann und wo die logischen Grenzen dafür liegen. Teil 3 analysiert den Stellenwert und die Funktion, die das fiktive Kapital im historischen Entwicklungsverlauf der kapitalistischen Produktionsweise innehatte. War es im Zeitalter der Industriellen Revolution nur von untergeordneter Bedeutung, so spielte es in der Epoche des Fordismus bereits eine wichtige Rolle als Impulsgeber und Anschubmotor der Akkumulation, weil nur durch den Vorgriff auf die Zukunft die gewaltigen Investitionen vorfinanziert werden konnten, die für die Installation der industriellen Massenproduktion erforderlich geworden waren. Während aber dieser Vorgriff noch durch tatsächliche Wertproduktion eingelöst werden konnte, ist dies in der Ära der dritten industriellen Revolution nicht mehr möglich. Das fiktive Kapital verwandelt sich selbst in den Motor der Akkumulation, die aber nur durch einen immer weiteren Vorgriff auf die Zukunft aufrechterhalten werden kann. Wo aber die Grenzen dieses Vorgriffs erreicht sind, muss eine gigantische Entwertung des fiktiven Kapitals erfolgen, die nicht nur die zugrunde liegende Strukturkrise offenbar werden lässt, sondern sich auch in einer Entwertung des Geldmediums ausdrücken muss.

Den Abschluss des Buches bilden schließlich einige Thesen zur Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation im Angesicht der Krise. Gezeigt wird, dass der sogenannte »Sparzwang«, wie er mit dem Bild der »schwäbischen Hausfrau« beschworen wird, ein völliger Aberwitz ist, der nur aus der verrückten Logik resultiert, den gesellschaftlichen Reichtum stets bloß als Abfallprodukt der Kapitalverwertung und damit unter Maßgabe der »Rentabilität« und der »Finanzierbarkeit« zu produzieren. Lösen wir uns von dieser Vorgabe, stellt sich heraus, dass »wir« keinesfalls »über unsere Verhältnisse« gelebt haben, sondern dass die Gesellschaft längst zu reich ist für die enge und bornierte Form kapitalistischer Reichtumsproduktion. Nur wenn es gelingt, diese Form abzustreifen, können die vorhandenen Potentiale der Produktivität sinnvoll und vernünftig genutzt werden, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen und die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft zu erhalten.

 

 

 

Teil I

Die Schranken der Kapitalverwertung
im Zeitalter der dritten industriellen Revolution

1. Der innere Selbstwiderspruch des Kapitals

Kaum eine Floskel erfreut sich im öffentlichen Diskurs über die Wirtschafts- und Finanzkrise einer größeren Beliebtheit als die, »das Geld soll wieder der Gesellschaft dienen«. Eigentlich, so die Hintergrundannahme, sei das Geld nur ein praktisches Mittel zur Steuerung der Güterproduktion und zur Erleichterung des gesellschaftlichen Austauschs. Doch die Spekulation an den Finanzmärkten habe dieses nützliche Werkzeug verbogen und die Vermehrung des Geldes zum reinen Selbstzweck verkommen lassen. Das Gebot der Stunde sei daher die Abkehr von diesem »Irrweg« und die Wiederherstellung einer »soliden Wirtschaft« zum Wohle der Menschen.

Es ist verblüffend, welche Überzeugungskraft diese einfach gestrickte Weltsicht besitzt, denn im Grunde blamiert sie sich schon an der einfachsten Alltagserfahrung. Es bedarf eigentlich keines besonderen Sachverstandes, um zu erkennen, dass die Vermehrung des Geldes als Selbstzweck keineswegs nur die Dynamik der Finanzmärkte bestimmt, sondern den Motor der gesamten kapitalistischen Produktionsweise darstellt. Jedem Kind und sogar fast jedem Verfasser volkswirtschaftlicher Lehrbücher dürfte schon einmal aufgefallen sein, dass ein Unternehmen nicht deshalb produziert, weil es die Gesellschaft mit »Gütern« versorgen will, sondern um Gewinn zu machen, mithin, um sein Kapital zu vermehren.[1] Nicht die Herstellung nützlicher Dinge ist also der Zweck der Produktion und das Geld bloß das Mittel für den Austausch. Gerade umgekehrt gilt: Die Produktion von Waren und Dienstleistungen ist nur das Mittel für einen immer schon vorausgesetzten Zweck, sie stellt eine Art notwendiges Übel dar, um die Verwertungsbewegung von Kapital in Gang zu halten, also um aus Geld mehr Geld zu machen.

1.1 Produktion um der Produktion willen

Unter dem Diktat dieses Selbstzwecks werden auch lebensnotwendige Dinge wie Nahrungsmittel oder Wohnungen immer bloß unter der Maßgabe hergestellt, dass es einen »Markt« dafür gibt und ihre Produktion Gewinn abwirft. Dagegen gelten Bedürfnisse, die sich nicht in Kaufkraft ausdrücken, prinzipiell als nicht vorhanden, selbst wenn sie existentiellen Charakter haben. Deshalb ist es unter kapitalistischen Bedingungen der strukturell bedingte Normalfall, dass Abermillionen von Menschen verhungern, nicht weil ein Mangel an Möglichkeiten vorläge, die nötigen Existenz- und Lebensmittel zu produzieren, sondern weil jene Menschen kein Geld besitzen, um sich diese zu kaufen. Ihre Bedürfnisse sind ungültig, weil sie sich nicht als Nachfrage nach Waren ausdrücken, während auf der anderen Seite jedes Jahr massenhaft Produkte vernichtet werden, weil sie keinen Absatz auf dem Markt finden. Da sie nicht verkauft werden können, sind sie null und nichtig; denn sie lassen sich nicht in Geld verwandeln und können daher ihrer Bestimmung nicht nachkommen. Die Produktion stofflichen Reichtums in der Gestalt nützlicher Dinge ist unter diesen Bedingungen also immer nur notwendige Begleiterscheinung der Produktion abstrakten Reichtums, wie er sich im Geld ausdrückt. Sie ist das Abfallprodukt gelingender Kapitalverwertung. Wo diese misslingt, kommt auch jene ins Stocken, und die produzierten Dinge stellen bloß nutzloses Material dar, das seinen Zweck nicht erfüllt hat und entsorgt werden muss.

Nicht der stoffliche Inhalt und die Befriedigung konkret-sinnlicher Bedürfnisse sind entscheidend, sondern die Erfüllung des abstrakten, inhaltsleeren Selbstzwecks der Geldvermehrung. Genau daraus resultiert die entfesselte Dynamik des Kapitalismus, die sich in ihrer Grundtendenz jeder bewussten Kontrolle entzieht. Marx hat dafür den Begriff des Fetischcharakters der Warenproduktion geprägt, um deutlich zu machen, dass die Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft beileibe nicht so frei und autonom sind, wie sie sich das einbilden. Vielmehr unterliegen sie rigorosen, verdinglichten Strukturzwängen, die daraus resultieren, dass sie ihre gesellschaftlichen Beziehungen über den Umweg von Ware, Geld und abstrakter Arbeit herstellen, statt sich als frei assoziierte Individuen darüber zu verständigen.

Marx verwendet sehr bewusst eine religiöse Analogie, denn so wie in religiösen Systemen die Menschen von ihren eigenen Vorstellungen und Projektionen beherrscht werden, die sie Götter oder göttliche Gesetze nennen, um sich ihnen dann so zu unterwerfen, als handle es sich tatsächlich um überirdische Mächte und Instanzen, genau so werden die Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft von ihren eigenen gesellschaftlichen Beziehungen beherrscht. Nur sind es hier nicht die Produkte ihrer Köpfe, sondern die ihrer Arbeit: die Waren im Dienste der Selbstzweckbewegung des Geldes, die ihnen als scheinbar äußere, metaphysische Macht entgegentreten: »Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist« (MEW 23, S. 86f.).

Dieser Fetischismus der Warenproduktion liegt all jenen objektivierten kapitalistischen Systemzwängen zugrunde, die als »natürlich« oder »allgemein-menschlich« erscheinen und daher nicht infrage gestellt werden. Dazu gehört ganz wesentlich die historische Dynamik, die sich in dem Drang nach permanentem »Wachstum« ausdrückt und ideologisch als »Fortschritt« erscheint (Postone 2003, S. 404 f.). Denn als abstrakt-quantitative Bewegung kennt die Kapitalverwertung keine Grenzen. Wo sollten diese auch liegen? Bei 6 Billionen Euro oder bei 60 oder bei 6 000? Jede Endsumme eines Verwertungskreislaufs ist zugleich auch das Anfangskapital für die nächste Runde. Jede gelungene Kapitalverwertung zieht sofort den Zwang nach sich, das vermehrte Kapital neu anzulegen. Ein logisches Ende gibt es hier nicht.

Schon dieser Zwang zur endlosen Expansion verweist darauf, dass der Kapitalismus nicht das rationale System ist, für das er sich immer gerne ausgibt. Denn obwohl längst allgemein bekannt ist, dass es ein fortwährendes quantitatives Wachstum in einer stofflich begrenzten Welt nicht geben kann und unzählige Texte über die Grenzen des Wachstums verfasst worden sind, ist die zugrunde liegende Dynamik keinesfalls gestoppt worden. Und zwar nicht aufgrund irgendeiner »ewig-menschlichen« »Dummheit« oder »Gier«, über die der Alltagsverstand so gerne räsoniert, sondern weil die kapitalistische Systemlogik dies erzwingt. Zwar hat es auch in früheren Gesellschaftsformationen bestimmte Formen von Wachstum gegeben. Es wurde materieller Reichtum vermehrt und angehäuft, es wurden Großreiche geschaffen und ausgedehnt und in bestimmten Fällen resultierten daraus sogar lokale oder regionale Umweltkatastrophen. Doch keine einzige Gesellschaft vor der kapitalistischen unterlag einem inneren, strukturellen Zwang zur permanenten quantitativen Expansion, dem selbst dann noch gehorcht werden muss, wenn er erkennbar zur Vernichtung der menschlichen Lebensgrundlagen führt.

Die unersättliche kapitalistische Wachstumsdynamik kollidiert aber nicht nur mit der Begrenztheit der natürlichen Lebensgrundlagen. Sie stößt auch zunehmend an eine innere Grenze, die aus einem dem Kapitalverhältnis innewohnenden und unauflöslichen Selbstwiderspruch resultiert. Da dieser Widerspruch den Schlüssel zum Verständnis des fundamentalen Krisenprozesses darstellt, der keinesfalls erst mit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007 / 2008 begonnen hat, müssen wir ihn zunächst etwas näher betrachten, bevor wir mit der konkreten Untersuchung der Krise beginnen können.

Oben hatten wir noch vorläufig davon gesprochen, dass die Kapitalverwertung als Selbstzweckbewegung der Vermehrung des Geldes beschrieben werden kann. Das Geld aber ist lediglich der empirisch fassbare Ausdruck einer bestimmten, historisch-spezifischen Form von Reichtum: des abstrakten Reichtums; es ist das dingliche Resultat des Abstraktionsvorgangs, der in der Warenproduktion vollzogen wird, indem von den konkreten Eigenschaften und dem jeweiligen Nutzen der Produkte, also von ihrem Gebrauchswert (als Fortbewegungsmittel, Knäckebrot, Mähdrescher etc.) abstrahiert wird; damit werden die Produkte darauf reduziert, Repräsentanten einer bestimmten, abstrakt-quantitativen Portion von Wert zu sein.

Diese Abstraktion »Wert« ist nicht bloß eine Vorstellung in den Köpfen der Menschen, vielmehr handelt es sich um eine spezifische Form gesellschaftlicher Beziehung: die Beziehung isolierter Privatproduzenten. Dabei handelt es sich um eine höchst paradoxe gesellschaftliche Beziehung, die sich darüber herstellt, dass zwar jeder für jeden arbeitet, aber genau davon abstrahiert, weil er sich letztlich nur seinem Privatinteresse verpflichtet fühlt. Denn für den vereinzelten Einzelnen ist der Zweck seiner Arbeit zunächst rein partikular; dieser Zweck besteht nur darin, Geld zu verdienen, um auf diese Weise Zugang zum Universum des Warenreichtums zu erlangen. Die Arbeit ist für den Einzelnen also Mittel zum Erwerb seines Lebensunterhalts, aber es handelt sich um ein abstraktes Mittel insofern, als ihr Inhalt nichts mit dem zu tun hat, was er später konsumiert. Ein Mensch mag den ganzen Tag Kühlschränke montieren oder in einer Klinik kranke Menschen pflegen; für ihn stellt sich diese Arbeit als eine bestimmte Menge Lebensmittel, Urlaubsreisen, Möbelstücke oder Kinobesuche dar. Sie dient ihm also, wie Moishe Postone in seinem Buch »Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft« schreibt, »als Instrument, um Produkte zu erwerben, die keine innere Beziehung zum substantiellen Charakter der produktiven Tätigkeit unterhalten, mittels derer sie erworben werden« (Postone 2003, S. 279). Die Arbeit ist Mittel für den Zugang zum abstrakten Reichtum und genau darin aktives Moment der Produktion dieser Reichtumsform.[2]