Am Fluß
The ultimate condition of everything is river
Iain Sinclair, Ghost Milk
In der Zeit vor meiner Abreise aus London begegnete ich dem König. Ich sah ihn abends, im türkisen Dämmer. Er stand am Eingang des Parks und schaute nach Osten, dorthin, wo bereits ein tiefes dunstiges Blau aufstieg, während in seinem Rücken der Himmel leuchtete. Aus dem Schatten der Büsche am Tor kam er mit kleinen lautlosen Schritten an den Rand der Rasenfläche, über der um diese Tageszeit die vielen Raben des Parks aufgeregt kreisten.
Der König streckte die Hände aus, und die Raben sammelten sich um ihn. Manche ließen sich kurz flügelschlagend auf seinen Armen, seinen Schultern und Händen nieder, stiegen wieder auf, entfernten sich ein Stück, kamen zurück. Vielleicht wollte oder mußte jeder einzelne Vogel ihn einmal berühren. So, von den vielen Vögeln umgeben, begann er die ausgestreckten Arme in leichte Schwing- und Kreiselbewegungen zu versetzen, als wohnte in ihnen eine Erinnerung an Flügel.
Der König trug einen prächtigen Kopfputz aus starren brokatenen Tüchern mit einer federgeschmückten Spange, die den Stoff zusammenhielt. Sowohl die Goldfäden in dem Brokattuch als auch die Spange leuchteten noch im abnehmenden Licht. Er war in ein kurzes Gewand gekleidet, golddurchwirkte Borten lagen schimmernd um seinen Hals und seine Handgelenke. Das Gewand, das ihm bis zu den Oberschenkeln reichte, war blaugrün, aus einem starren, schweren, steifen Tuch mit eingewebtem Federmuster. Seine langen schwarzen Beine staken darunter hervor, sie waren nackt, die bloßen Füße, die mit ihrer Runzligkeit in seltsamem Gegensatz zu den jungenhaft dünnen sehnigen Knien und Waden standen und uralt wirkten, steckten in Sandalen mit Keilabsätzen. Der König war sehr groß, und er stand ganz gerade inmitten der Vögel, während nur die Arme schwangen und kreisten, den Hals hielt er so aufrecht und reglos, als trüge er eine ganze Welt in seinem Kopfputz. Gegen den Himmel im Westen hob sich sein Profil ab, von dem ich nur sagen könnte, daß es königlich war, mit Erhabenheit vertraut, aber auch an Verlassenheit gewöhnt. Es war ein an seiner Erhabenheit traurig gewordener König, weit fort von seinem Land, in dem man ihn verstoßen oder verschollen glauben mochte. Nichts an seiner ganzen Gestalt stand im Zusammenhang mit der Landschaft ringsum: den hohen alten Bäumen, den späten Rosen dieses milden Winters, der unerwarteten Leere des Marschlands, das sich hinter dem steil abfallenden Hang des Parks auftat, als wäre die Stadt dort unvermittelt zu Ende. Er trat in großer Einsamkeit am Rand dieses von der großen Stadt etwas vergessenen Parks als König hervor, und nur die Vögel mit ihrem verebbenden Schnarren und schwarzen Flattern waren ihm verbunden.
Der Park war um diese Zeit leer. Die frommen Frauen mit ihren Kindern, die hier nachmittags spazierten, waren längst zu Hause wie auch die Chassidenjungen, die ich mittags gelegentlich hinter einem Busch nervös und kichernd rauchen sah, ihre Schläfenlocken zitterten, wenn sie froren, und sie zogen zu hastig an ihrer reihum gereichten Zigarette, wie ich an dem langen Stück roter Glut sah, das kurz vor jedem Mund stand, während aus den Fenstern ihrer Schule jenseits der Parkhecke Stimmengewirr und Kindersingen drang und vom Wind wie Wellen hierhin und dorthin getrieben wurde. Die Rosenbüsche, mit Ausnahme derer, die in diesem frostlosen milchigweißen Winter noch gelb-rosa Blüten hervorbrachten, trugen dunkelrote Hagebutten. Um die Tageszeit, wenn der König erschien, hingen die Hagebutten schwarz im aufziehenden Dämmer.
Am Fuß des Abhangs, hinter Bäumen, floß der River Lea. Im Winter schimmerte das Wasser hell zwischen den kahlen Zweigen hindurch. Dahinter erstreckte sich das Marsch- und Wiesenland, nach Einbruch des Abends war es ein großer Handteller voll dunkler werdendem Dämmer, durch den sich ab und zu das Lichterschnürchen eines Zuges fädelte, der auf dem hochgelegenen Damm in Richtung Nordosten fuhr.
In den Straßen, durch die ich vom Park zu meiner Wohnung ging, war es gegen Abend still. Ab und zu eilte noch ein Frommer vorüber, machte einen Bogen um mich, seltener auch Kinder, immer hastig auf dem Weg zu einem Gebet, einem Treffen, einer Mahlzeit, einer Pflicht. Die Kinder schwenkten knisternde Plastikbeutel mit kleinen Besorgungen, vor allem Brote, die sich durch die dünne Folie abzeichneten. Samstags und an Feiertagen, wenn die Fenster bei schönem Wetter offenstanden, floß der Singsang von Tischgebeten auf die Straße. Geschirrklappern, Kinderstimmen, kleine Scharen Frommer pendelnd zwischen Bethaus und Zuhause. Abends standen die Männer im Schein der Straßenlaternen und lachten, ihre Gesichter waren gelöst, ein Festtag lag hinter ihnen.
Zurück in meiner Wohnung, stand ich am Erkerfenster im Vorderzimmer und sah zu, wie es Nacht wurde. Die Läden auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren hell erleuchtet, bei Greengrocer Katz wurden bis in den späten Abend Kisten gepackt, die Bestellungen umsichtiger Hausfrauen für ihre Familien: Trauben, Bananen, Kekse, bunte Limonaden. Einmal in der Woche bekam Greengrocer Katz morgens die bunten Limonaden geliefert, palettenweise wurden die orangen, rosa und gelben Plastikflaschen aus einem Lastwagen gehievt und vom Gehilfen geschultert, um in die Hinterkammer des Ladens geräumt zu werden.
Neben Greengrocer Katz lag ein Billardcafé. Es war bis in den frühen Morgen geöffnet, im trüben Licht konnte man Männer erkennen, immer Schwarze, die zwischen Schwaden von Zigarettenrauch vorgebeugt und bedächtig um einen Billardtisch schritten oder sich konzentriert darüberlehnten. Vor dem Café hielten große Limousinen, Männer kamen und gingen, gelegentlich auch in Begleitung schöner und auffällig gekleideter Frauen. Es gab Schlägereien, einmal fiel ein Schuß, die Polizei erschien, dann eine Ambulanz, das Flackern des Blaulichts erfüllte mein Zimmer.
Ich hatte mich nach Jahren aus dem Leben, das ich in der Stadt geführt hatte, herausgeschnitten wie einen Schnipsel aus einem Landschafts- oder Gruppenfoto. Betreten über den angerichteten Schaden an dem Bild, das ich hinterlassen hatte, und ungewiss, wohin es diesen herausgeschnittenen Teil verschlagen sollte, lebte ich provisorisch. An einem Ort, wo ich niemanden in der Nachbarschaft kannte, wo mir die Straßennamen, die Ausblicke, die Gerüche und Gesichter unbekannt waren, in einer billig zurechtgezimmerten Wohnung, in der ich mein Leben vorübergehend abstellen wollte. Die Möbel und Kisten standen ungeordnet und wie vergessen in den kalten Räumen herum, unentschlossen wie ich, ungewiß, ob sich jemals wieder eine nützliche Ordnung der Wohnlichkeit einstellen würde. Wir, die Dinge, und ich, hatten das alte Haus an einem frühen blauen Morgen verlassen, als der Augustmond noch am helldunstigen Spätsommerhimmel stand, und lungerten nun hier im Osten Londons, mit Ausblick auf den Winter. Unermüdlich spielten wir versäumte Abschiedsszenen. Mit einer sich ins Endlose dehnenden Langsamkeit streiften in der Vorstellung Hände und Wangen aneinander, rundeten sich Tränen im Augenwinkel. Nicht endenwollendes Zittern der Unterlippe jedes beteiligten Buches, Bilds und Möbelstücks, zugeschnürte Kehlen stockten in jedem Winkel an ihrem Laut, ein verschleppter Abschied, der schon Narbe war, bevor er zu Ende gebracht wurde, jede Sekunde ein Tag, jede Bewegung wie in tiefem Frost nur knirschend und in unsäglicher Schwerfälligkeit ausführbar.
Wenn ich schlief, träumte ich von Toten, meinem Vater, meinen Großeltern, Bekannten. In einer kleinen, mehrere Stufen über der Wohnungsebene gelegenen Kammer, die gerade so lang war, daß ich mich gelegentlich zum Schlafen auf dem Boden ausstrecken konnte, verbrachte ich Stunden mit dem Versuch, mir jede Einzelheit, die ich in Hof, Garten und dem kleinen Ausschnitt Straße zwischen zwei Häusern sehen konnte, einzuprägen, und ich lernte das Licht. Von August bis April las ich, was der große Ahorn auf die nur von einem einzigen Fenster unterbrochene Ziegelwand des nächsten Hauses am Ende des Gartens schrieb. Es war Spätsommer, es war Herbst, es war Winter, es wurde Frühling. Westwind, die Schatten der Blätter kritzelten etwas in Richtung Bahnstation, wo ein paar Meter hinter dem Garten auf den tiefgelegenen Gleisen alle Viertelstunde ein Zug hielt. Nordwind, selten, letztes Laub war ein unruhiges Flackern über der ganzen Wand im scharfen Licht, am Mittag lag der Schatten der Baumkrone klar gezeichnet wie die Landkarte einer fremden Stadt auf der Wand. Der Winter nach einem stürmischen Herbst war ungewöhnlich windstill, der kahle Baum stand in dem milchigen ebenmäßigen Licht als nur zu erahnendes Schattenbild auf der Wand und schrieb mir schwer zu entschlüsselnde Nachrichten wie aus großer Ferne, die aber wegen der stillen Gerechtigkeit dieses Lichts gegenüber all den schattenlos stehenden Dingen nicht traurig waren.
In den Nächten lag ich wach und lauschte auf die neuen Geräusche der Gegend. An der Bahnstation hinter dem Garten hielten die Züge mit einem langen schleifenden Stöhnen und Seufzen. Mit der Zeit lernte ich, daß das Stöhnen zu den aus der Innenstadt kommenden Zügen gehörte, die kurz vor dem Bahnhof aus einem Tunnel stießen und wie von der Nähe des Bahnsteigs überrumpelt zum Halten kamen, während die stadtwärts fahrenden Züge aus den Vororten seufzten und leise quietschten. Auf dem schmalen Pfad zwischen dem Garten und der zu den Gleisen und Bahnsteigen abfallenden Böschung trieb sich jemand mit Krücken herum, die ächzten wie alte Sprungfedern. Der Krückenmann sang manchmal, leise und dunkel, im Licht der Straßenlaterne zeichnete sich der Umriß seines Kopfes über dem Zaun ab. Er machte Geschäfte, Kundschaft kam und ging, der Wind trug Fetzen von Wortwechseln herbei. Manchmal mußte er flüchten, dann entfernten sich die gefederten Krücken mit metallischem Gehechel inmitten einer Wolke aus dumpfem Fußtrappeln derer, die mit ihm die Flucht ergriffen.
Auf dem kiesbestreuten Flachdach eines Anbaus paarten sich Füchse. Sie stießen verbissene Laute aus, unter ihren zuckenden scharrenden Pfoten flogen die Kieselsteine in alle Richtungen und schlugen gegen das Fenster der Kammer. Einmal trat ich ans Fenster, im Schein der Straßenlampe starrten die Füchse mich unbeweglich an, von da an stellte ich mir auch den Krückenmann fuchsgesichtig vor.
Ich verbrachte die Tage damit, in der Gegend zu spazieren, freundete mich mit dem Anblick der blassen Chassidenkinder an, die ich in den behüteten Inseln der Frommen auf dem Schulweg oder bei Besorgungen sah, erinnerte mich an das kleine Mädchen, dem ich vor Jahren oft nachmittags auf der West End Lane begegnet war, mit seinem schiefsitzenden wadenlangen dunkelblauen Rock, den dicken Brillengläsern, dem feinen Haar, es war immer allein und trug seine kleine Entschlossenheit vor den ängstlich kurzsichtigen Augen her wie einen Keil, vor dem die Passanten auf dem Gehsteig zur Seite wichen. Hier gingen die Kinder in Gruppen, weißhäutig und fremdenscheu, ihrer Welt beflissen zugetan, sie mochten es gut haben, so abgeschieden von dem, was sich außerhalb ihrer Straßenzüge tat. Bald nach meinem Umzug in die Gegend stieß ich auf Springfield Park. Es war ein bedeckter Tag, wenige Spaziergänger waren unterwegs, zwischen den gestutzten Heckennischen für die Ausblicksbänke bewegte sich eine kleine Gruppe bunt gekleideter Afrikanerinnen wie suchend umher, sie riefen einander laut etwas zu, schauten hierhin und dorthin, richteten den Blick auf den Boden, als wollten sie einem Weg auf die Schliche kommen, der sie in diesen Park geführt hatte und ihnen dann abhanden gekommen war. Krähen stiegen auf, ihr Flügelschlagen versetzte die Luft in Bewegung, nach einem Halbkreis über die Rasenfläche ließen sie sich an einer anderen Stelle nieder und schauten: auf die Rosenbüsche, die Afrikanerinnen, auf mich.
An diesem kaum erkennbaren Kamm, wo die gepflegte Rasenfläche mit Blumenbeeten und Teich hinter dem Eingang des Parks verwildernd zum Tal hin abfiel, stieß die Stadt an ein Ende. Am Fuß des Abhangs Bäume, der schmale Fluß, dahinter Schilf, Marschland, Gras, Weidenbäume. Die Strommasten, filigrane Riesen, breitbeinig und kopfarm, wie im Anmarsch auf die Stadt erstarrt. Nach Norden himmelfarbene Wasserspiegel der Sammelbecken.
In der Ferne, hinter dem Marschland, auch wieder Häuser, doch das schien schon ein anderes Land. Die Rosenbeete, die seltenen, aus fremden Ländern eingeführten Bäume, der Glasbau des müden Cafés, die gestutzten Hecken um die Bänke, das alles erklärte seine Städtischkeit gegenüber dem am Fuße des Abhangs ausgebreiteten Land, Flachland auf dünnem Boden über dem Wasser, das schon zur Mündungsgegend der Themse gehört.
Der River Lea, der hier die Stadt vom Leeren trennt, hat keinen weiten Weg. Er kommt aus den niedrigen Hügeln nordwestlich von London, fließt durch eine Landschaft zahmer Lieblichkeit, bis er die ausgefransten Randzonen der Stadt erreicht, dann durch den endlosen Vorortgürtel zieht, sich wie ein Arm um die Grenzen des geschäftigen, unzahm durchtriebenen alten London legt und schließlich, acht Meilen südöstlich von Springfield Park, in die sich zur Mündung ins Meer anschickende Themse fließt, einer von mehreren beflissenen Zubringern aus Norden und Westen, die ihre Kiesel und ihren Sand unter der Stadt ablagern. Auf dem Weg zur Themse streift der River Lea immer wieder die Stadt und ihre abseits liegenden Geschichten, teilt sich, bildet neue winzige Arme, die nach Wiesen und sumpfigem Dickicht fassen, er versteckt sich jeweils ein, zwei Meilen hinter anderen Namen und muß dann doch, nach Windungen der Unentschlossenheit zu einem schlammigen Delta zerfasert, zwischen Fabriken und Autobahnen durchs Leamouth in die Themse, kurz oberhalb der wie Tiere aus dem Wasser ragenden Flutsperren und der großen Zuckerfabrik, die Flußschiffern die Einfahrt in die Stadt markiert.
Der River Lea ist ein kleiner Fluß, von Schwänen bevölkert. Sie segelten stillweiß und unbeteiligt durch das abnehmende Licht, mit einer kaum merklichen Feindseligkeit gegenüber jedem Betrachter. Doch in diesem Herbst sah ich auch, wie sich etliche von ihnen damit abmühten zu verwildern. Sie jagten einander über das Wasser, stießen hilflos verdrossene Laute aus, wenn sie ein paar Meter in die Luft stiegen, reckten die Hälse vor, das Gefieder unter den gespreizten Flügeln war schmutzig und struppig, die Köpfe starr von Abenteuerlust. Kurz darauf trieben sie wieder auf dem Wasser, sie alle Besitz des Königshauses und belüstert von zugewanderten Zigeunern, die, wie es heißt, gerne Schwäne essen, ihres schweren und etwas bitteren Fleisches wegen.
Nachdem ich den Park und das Marschland entdeckt hatte, führte mich der Weg fast jeden Tag dorthin. Ich ging immer flußabwärts, jedes Mal ein Stück weiter, hielt mich an dem Fluß fest wie an einem Seil beim Balancieren über einen schmalen Steg. Der Fluß trug den Himmel, die Bäume am Ufer, die vertrockneten kolbenartigen Blüten der Wasserpflanzen, die schwarzen Vogelschnörkel auf den Wolken. Zwischen dem leeren Land auf der Ostseite des Flusses und den Siedlungen und Fabriken auf der anderen Seite fand ich Stücke meiner Kindheit wieder, andere aus Landschafts- und Gruppenfotos herausgeschnipselte Teile, die sich zu meiner Überraschung hier niedergelassen hatten. Ich fand sie zwischen den Weidenbäumen unter dem hohen Himmel, in den ärmlichen Siedlungen, die sich auf der Stadtseite im Wasser spiegelten, neben der schütteren Kuhherde auf einer Wiese, in den Umrissen alter Backsteingebäude – Fabriken, Kontore, ehemalige Lagerhäuser – gegen den selten rotorangen Sonnenuntergangshimmel, entlang dem hochaufgeschütteten Bahndamm, auf dem die Züge wie verloren und unter altmodischem Klackern in die Ferne verschwanden, und beim Anblick von schweifenden Kinderbanden, die Feuer anzündeten, Gefundenes in die Flammen warfen, sich dicht an den Flammen balgten und nicht folgten, wenn ihre Mütter, die zwischen Leinen mit flatternder Wäsche standen und unter vorgelegter Hand Ausschau hielten, nach ihnen riefen.
Den König sah ich auf dem Rückweg von meinen Gängen. Nachdem ich den Fluß hinter mir gelassen hatte und den Hang hinaufgestiegen war, erschien mir der König dort oben, auf dem Rasenplateau oder noch auf dem Weg aus dem Schatten beim Eingang, wie ein Torhüter. Ohne es zu wollen oder zu wissen und sicher auch ohne mich überhaupt wahrzunehmen, bezeichnete er für mich bei der Rückkehr vom Fluß diesen Übergang aus einer allen möglichen Wildnissen überlassenen Landschaft in die Stadt.
Ich begegnete dem König an keinem anderen Ort und hatte Mühe, ihn mir in einer Wohnung in dem dunklen Ziegelblock gegenüber dem Parkeingang vorzustellen, oder in einem der provisorisch wirkenden neueren Reihenhäuschen auf dem kurzen Weg vom Park zu der lauten Straße, die ich überqueren mußte. Ich war erleichtert, daß ich ihn nie aus einem der dunklen Gänge zwischen den alten Wohnblocks treten und nie in den bleichen Lichtkegel der Lampe über einer der Türen zu den Hausschachteln zurückkehren sah.
Am Fuß von Springfield Park lag ein kleines Dorf aus Hausbooten auf dem River Lea. Von Schwänen umzingelt, waren die Boote wahrscheinlich schon seit Jahrzehnten mit dem Schlamm und Schilf verwachsen, die Lust am Gondeln auf dem Fluß war ihnen vergangen, die Anker verheddert in den Wurzeln der Uferbüsche. Solange es nicht zu kalt war, saßen die Bewohner abends an Deck, klapperten mit Besteck und Geschirr, zwischen den Geranientöpfen buckelten Katzen. Eine aller Beweglichkeit abhanden gekommene Bühne der Seßhaftigkeit als vorläufiges Abschiedswort der Stadt. Hinter dem Fluß lag ein Erlenhain, ein halbwilder Ort, wo sich an kalten Tagen der Nebel ballte, der ganze Hain wollte Anwärter auf Erlkönigtum und Verwunschenheit sein, doch in Wildnis ungeschulte Parkarbeiter hatten hier Abholzübungen durchgeführt. Zwischen Marschland und Erlenbruch hatte man versucht, die Landschaft zu überrumpeln, man hatte mit der Anlage eines Picknickplatzes begonnen, sich dann aber offenbar eines Besseren besonnen. Bank und Tisch standen jetzt quer zur Wildnis auf einem geebneten Grasdreieck, gesäumt von Erdwällen, die mit Unkraut bewachsen waren. Die gefällten Bäume im Erlenbruch waren liegengeblieben, die Lichtung ein grundloser Kahlschlag, der inzwischen wieder mit Schößlingen übersät war. Trotz Schöllkraut, wildem Grün von Anemonen und Veilchen um die zurückgelassenen Stämme und die verwaisten Stümpfe war es noch ein Schauplatz der Versehrung, der in mir im ersten Augenblick eine ähnliche Beklommenheit weckte, wie die kleinen Schneisen im Wald meiner Kindheit, wo die Stümpfe abgeholzter Bäume rötlich aus niedrigwucherndem Gestrüpp ragten, glattgeschnittene Sitze, auf denen die Abwesenheit von Zusammenkünften geschrieben stand, und mein Großvater sagte dann gern im Ton einer Warnung: Still, da sitzen die Unsichtbaren!
Es war ein kleines Gelände, für winzige Streifzüge geeignet, keine längeren Gänge. Tiefer im Hain war der Boden morastig, nach Regentagen stand dort ein Tümpel. Niemand verirrte sich hierher, und trotz der hineingedroschenen Kerben hatte das Wäldchen etwas Widerborstiges, ja, die Versuche, ihm zu Leibe zu rücken, hatten ihm die Unwegsamkeit für jedermann weithin sichtbar eingeschrieben, und Spaziergänger mieden den Hain, sie hielten sich an die Stümpfe vorgegebener Wege, die ins Marschland vorstießen und dann abbrachen. Junge Frommenpaare absolvierten auf diesen Wegen ihren Samstagnachmittagspaziergang, träge Hundespaziergänger trotteten mit kurzatmigen Terriern auf den planierten Pfaden und machten kehrt, wenn die Schotterspur im Gras endete.
Unter dem Namen Horse Shoe Point fand ich das Wäldchen auf einer Landkarte. Fast eine Halbinsel, ein Vorsprung des Marschlands, das den Fluß zur Krümmung brachte, zur sanften Schleife, in die sich dieser Flecken Geheimnisland lehnte. Jeden Tag suchte ich den Erlenhain auf. Der Spätsommer glitt in den Herbst, ich saß auf den Baumstümpfen, strich über die Rinde, die krustigen Furchen zwischen wäßriger Glattheit. Ich hörte die Brachvögel, Dommeln und Kiebitze, Schwermutslaute aus untraurigen Kehlen, ich sah meine Großmutter wieder am Fenster stehen und diese Vogelrufe ausstoßen, sich einbildend, die Vögel wären zu täuschen, sie könnte es mittels ihrer Herzenstraurigkeit den Lauten aus den an sich ganz gleichmütigen Vogelkehlen gleichtun, die doch vom Herzerreißenden ihres Klangs nicht das Geringste wußten. So geht jedem die Natur ans Leben – mit ihrem ungerührten Herzschlag, der an die herzbenannte Unruh aller Trauer rührt. In der blassen Sonne und dem weißlich schattenlosen Licht dieses Landstrichs und dieser Jahreszeiten verlegte ich mich auf eine Spurensuche, die ich immer wieder durch den Erlenhain betrat. Das teilverstümmelte Sumpfwäldchen mit seinen Kindheitsblumen und den versteckt um die Erinnerung rufenden und schlagenden Wildvögeln wurde die Pforte zum Flußabwärtsweg, auf dem ich mich in den Abschiedsmonaten daran gewöhnte, der Stadt, die ich in Jahren mühsam zu buchstabieren gelernt hatte, meine eigenen Namen zu geben, Namen, die ich überhaupt erst im Gehen und Sehen aus dem Netz der Erinnerungsrinnsale, dem Geröll der abgelagerten Bilder und Klänge und dem Gewebe ineinander verstrickter Wörter fischen und lesen mußte.
Eines Tages erinnerte ich mich auf einem Erlenstumpf sitzend einer alten Kamera. Zum ersten Mal öffnete ich an diesem Tag Umzugskisten in der Zwischenwohnung, ein gutes Dutzend, bis ich die Kamera fand. Ich probierte die alten einfachen Handgriffe aus, das Einlegen der Sofortbildfilme, das Verschließen des Rückens, den gezielten geraden Ruck, mit der die Schutzfolie und die Bilder herausgezogen werden mußten. Das Abzählen der Sekunden während der Entwicklung der Fotografie, das Abschälen der Folie.
Im Erlenhain begann ich, die mit meinen Jahren in London so unvereinbaren Dinge zu fotografieren, die ich im Tal des River Lea antraf. Ansichten, die ich behalten wollte, Zufälliges, das sich auftat oder unversehens in den Blick schob. War es Wunder oder Zufall, was ich auf den Fotografien fand? Das schwarze Gehäuse der Kamera war so leicht, daß sich darin kaum eine Optik vermuten ließ, die Mechanik so primitiv, daß der ganze Apparat wie eine plumpe Attrappe wirkte, eine Jahrmarktsschummelei oder ein Spielzeug für ungeduldige Kinder, die sich mit einem Als-ob abfinden, das sie eine Weile in der Hand halten können, um erwachsene Gebärden zu proben. Das Betätigen des Auslösers selbst kam mir jedesmal wie ein mißglückter Trick vor, trotzdem zog ich die belichtete, noch verschlossene Fotografie aus dem Apparat, hielt sie die der Witterung entsprechende Sekundenlänge in der Hand oder steckte sie bei kälterem Wetter in die Innentasche meiner Jacke. Und jedesmal überkam mich das gleiche Staunen, wenn ich sah, was sich zwischen meinem Auge, der Linse, dem Lichteinfall und den an Luft und Licht wirkenden Chemikalien ereignet hatte. Jedesmal der gleiche Gedanke, daß das Geheimnis dieser nicht besonders ansehnlichen Kunststoffschachtel womöglich darin bestand, daß ihre Bilder mehr mit dem Sehenden als mit dem Gesehenen zu tun hatten. Unter der abgezogenen Entwicklungsfolie kam auf dem Schwarzweißfoto mit seinen unzähligen Grauabstufungen eine Erinnerung zum Vorschein, von der ich noch gar nicht gewußt hatte, daß ich sie besaß. Es waren Bilder von etwas, das hinter den Dingen lag, auf die das Objektiv gerichtet gewesen war und die der Auslöser einen unmerklichen Augenblick lang beiseite gestreift haben mußte. Die Bilder gehörten in eine Vergangenheit, von der ich allerdings nicht sicher war, ob es meine war, sie rührten an etwas, für das mir der Name abhanden gekommen sein mochte, vielleicht hatte ich ihn auch nie gekannt. Etwas selbstverständlich Vertrautes lag in den Landschaftsszenen, die bis auf den gelegentlichen Zufallspassanten leer waren und mir aus dieser weiß umrandeten Ferne der Fotografie zuwinkten und weißt du noch flüsterten, du weißt doch noch. Und gleich daneben diese Welt im Negativ, nächtlich, fremdtuend, wieder in Frage stellend, was zu welcher Seite gehörte, hier oder dort, rechts oder links.
Manchmal vergaß ich das Bild, das ich bei kaltem Wetter zur Entwicklung in die Jackentasche gesteckt hatte, und erst auf dem Rückweg fiel es mir wieder ein. Die Folie löste sich dann schwer von der Fotografie, nahm Teile der Beschichtung mit und die Landschaft auf dem Bild war wie versehrt, inmitten der grautonigen nicht ganz scharf umrissenen Szenerie einer nun zum Bruchstück verkommenen Reminiszenz klaffte eine Öffnung, durch die eine gestaltlose Welt aus matten Farbschichten eindrang und die Schwarzweiß-Oberfläche als die dünne Tarnung einer wirren und mit keinerlei Erinnerung verbundenen Vielfarbigkeit entlarvte. Diese Bruchstücke von Bildern erschreckten mich gelegentlich, als seien sie Zeugnis einer Gewalteinwirkung. Sie hatten nichts mit meinen Gängen am Niemandsufer des River Lea zu tun, trotzdem betrachtete ich sie immer wieder, als berge diese Entlarvung des auf Zersetzung beruhenden Vorgangs der Bildwerdung einen Hinweis, der etwas vom Geheimnis der Beziehung zwischen Bildaufnahme und Erinnerung aufdekken könnte. Doch nur die unversehrten Bilder stellte ich auf den Umzugskisten und Möbelstücken auf und betrachtete sie so oft und lange, bis sie zu einer Geschichte wurden.
Die Tage folgten immer der gleichen Richtung: Flußabwärts und zurück. Ich brachte Bilder mit und kleine Fundstücke in Gestalt von Federn, Steinen, Samenhülsen verwelkter Blumen. Die Wohnung füllte sich nach und nach mit der Flußlandschaft, was Greengrocer Katz oder die schwarzen Billardspieler bei einem gelegentlichen Zufallsblick durch mein Fenster nie vermutet hätten. Der Fluß selbst wäre womöglich erstaunt gewesen.
Was wußte ich noch von Flüssen, auf einer Insel lebend, die meerwärts dachte, wo die Flüsse seicht und hübsch schienen, sich erst in flachen Ausfransungen oder tiefen Einschnitten als Mündung ins Meer bemerkbar machten? Ich träumte gelegentlich von Flüssen, die ich erlebt hatte, Flüsse, die Kerben in Ebenen und in Städte schnitten, die ausgesperrt hinter Befestigungen lagen oder sich in hellen Landschaften kräuselten. Ich erinnerte mich an Fähren und Brücken und endlose Suchen in unvertrautem Gelände nach Möglichkeiten, einen fremden Fluß zu überqueren. Meine Kindheit lag an einem Fluß, der mir im Traum erschien, wenn ich Fieber hatte.
Der Fluß meiner Kindheit war der Rhein. Das Tuckern der Kähne hallte von den niedrigen Wald- und Weinhängen am nördlichen Rand des Siebengebirges zurück. Bei Westwind klangen die Züge vom anderen Ufer so nah, als führten die Schienen durch unseren Garten, und die Luft roch salzig und fischig, als wäre das Meer nicht weit. Aus dem Dachfenster sah man nach Westen: Hinter einem Feld fuhr, im Sommer durch das blasse Korn kaum sichtbar, die Straßenbahn, dann kamen die Fabriken, dahinter die Pappeln am Flußufer. Und in jenseitlichem Blau zeichnete sich vor dem Horizont ein niedriger Hügelzug ab, der schon am anderen Ufer war. Dort ging im Winter die Sonne unter.
Nachts ordnete der Fluß die Landschaft neu, die Dunkelheit war ein großer Hohlkörper, der die Welt anders klingen ließ als am Tag. Die Kähne tönten von den Hügeln hinter der Ortschaft, die Kiesschütte mit ihrem seufzenden trockenen Rauschen, tagsüber kaum wahrnehmbar, hing im Himmel. Ich lag wach und spürte den Fluß näher und größer als am Tag, er stellte alle Regeln in Frage, die im Hellen galten, unter der Glocke der Nacht wuchs immer aufs neue die Ungewißheit, welche Welt ich am nächsten Tag vorfinden würde.
Als Kinder gingen wir oft an den Fluß. Wir standen auf den Kribben und warteten, bis die Bugwellen der Kähne bis fast an unsere Füße schwappten. Wir winkten den Kähnen zu, die mit flatternder Wäsche, Fahrrädern und kläffenden Hunden an Deck vorüberglitten, und manchmal winkte jemand zurück aus diesem unruhigen Zwischenland der Durchreise zwischen den zwei Ufern. Wir lernten, flache Kiesel so zu werfen, daß sie mehrmals auf der Wasseroberfläche hüpften. In unseren Fingerkuppen blieb die Erinnerung an die verschiedenartigen Beschaffenheiten der Steine, der bunten, an den Kanten rundgewaschenen Glasscherben, der glänzenden Scheingoldklümpchen, die wir, immer wieder auf eine Kostbarkeit hoffend, nach Hause trugen. Wir standen neben dem Großvater auf dem Kieselstrand und lernten am Zifferblatt der Kirche auf der gegenüberliegenden Seite die Uhr zu lesen. An den Boots- und Fährenstegen lernten wir die zwei Arten der möwenartigen Inlandsvögel zu unterscheiden, die dort lungerten und kreischten wie am Meer. Am Geruch des Flusses konnte mein Großvater das Wetter voraussagen.
Der Fluß war Bewegung, Unordnung und Unberechenbarkeit in einer Welt, die nach Ordnung strebte. Auf seinem Rücken trug er ein fahrendes unvorstellbares Leben in Gestalt der Frachtkähne, die wir nie vor Anker gehen sahen, die pendelten zwischen weither und weithin. Kähne mit schwarzer Kohle, dumpfrotem Basalt, hellgrauem Schotter, bewegliche Hügel, die vorüberzogen. Die jährlichen Hochwasser unterspülten jede Ordnung. Die Flut stieg langsam, schwappte über die Kribben, die im Sand wurzelnden Weidenbäume, die Uferwege, stieg an der Eisenbahnböschung hoch. Sie griff nach Dingen, die fest verankert und unantastbar schienen: nach Bänken, Bäumen, kleinen Ausflugspavillons, wo die Uferwege geebnet, gepflegt und umgrünt waren. Für das, was er wegholte, brachte der Fluß anderes, das er flußaufwärts abgerissen hatte und hier ablegte, Schmutz, Fremdes, allerhand Dunkles, das sich nicht benennen ließ. Wenn das Wasser fiel, blieb ein Streifen der Verheerung zurück, die sich, je nach Höhe des Hochwassers, die Böschung hinauf bis an den Bahnkörper zog, und darüber hing Gestank.
Auf unserer Seite des Rheins fuhren vor allem Güterzüge. Die Gleise führten auf hohen Dämmen neben dem Fußweg am Ufer entlang und trennten die Welt der Ortschaft von der Flußwelt. In den Ortschaften ging das Leben im Kreis und begradigte, glättete, tilgte mit jeder Runde mehr von einer Zeit, die vor unserer Kindheit lag: Ödland, ausgeblichene Geschäftsnamen auf Hausfassaden, Trümmer und Leeren, die schiefe Schuppenwelt der Hinterhöfe, die zu Rasenflächen mit Thujahecken wurden. Das letzte Territorium der Unordnung blieb das unübersichtliche Fabrikgelände mit seinen brandigen Gerüchen, dem Staub von Kalk und Stein und den dunklen Fremdarbeiterbaracken auf einem feuchten Wiesenstück zwischen Fabrik und Eisenbahndamm. Das Hinterland war mit der Flußwelt durch Unterführungen verbunden, die muffig und feucht rochen, immer sammelte sich Wasser in der Mitte des Wegs, wir schrieen um die Wette, wer das lauteste Echo hatte, und hielten uns die Ohren zu, wenn ein Zug über unseren Köpfen donnerte. Auf der Flußseite wuchsen Brennnesseln am Bahndamm und strömten in den regnerischen Sommern einen bitter-sauren Geruch aus, die Böschung des Bahndamms war verbotenes Gelände, und der Geruch der Brennnesseln in Regensommern blieb für mich immer mit Verbotenem verbunden. Zwischen den Steinen und Weidenbäumen am Ufer lag Müll, manchmal wurden tagelang tote Fische angeschwemmt, die wir nicht mal mit der Schuhspitze berühren durften. Die Kribben schoben sich aus dem unbefestigten Ufer in den Fluß, Weidengebüsche, kleine Sandbuchten, Kieselbänke lagen unterhalb des Fußwegs. Sperriges Schwemmgut, das sich bei Hochwasser in den Weidenästen verfing, blieb dort hängen, bis es zerbrach, rostige Gestelle, denen nichts von ihrem einstigen Zweck mehr anzusehen war, ragten aus dem seichten Wasser in der Nähe des Ufers. Doch es war nicht nur diese Unordnung, das Unvorhersehbare der Fundstücke, das Ungebürstete dieses Landschaftsstreifens, das sich von den Ortschaften so unterschied, es war auch die Bewegung, der Sog dieser einen Richtung, in die das Wasser strömte, einer stets heller wirkenden Gegend nach Norden zu, wo sich die Ebene breit machte, kein Berg mehr zu sehen war, nur die Umrisse größerer Gebäude sich gegen den weißen Hintergrund des Himmels abzeichneten. Die flußabwärts fahrenden Kähne hatten es leicht, wie sie diesem helleren Stück Himmel entgegenglitten, während die sich flußaufwärts mühenden schwerer und schwärzer wirkten, unsicher, unterwegs in eine dunklere Gegend. Dort, flußaufwärts, wo das Tal plötzlich eng wurde und der Fluß noch nichts vom Meer zu ahnen schien, standen schwarzbraune Stümpfe, eine Farbe wie verkohlter Fels, die Reste einer Brücke, die es an diesem brückenlosen Abschnitt des Flusses, wo nur Fähren verkehrten, einmal gegeben hatte, und eine Erinnerung an Krieg, ein Wort, das unserer Kindheit im Nacken saß. Ich wollte nichts davon sehen, legte die Hände vor die Augen, wenn ich die Stümpfe ahnte, und nahm sie erst wieder herunter, wenn mein Vater »jetzt« rief.
Mein Vater hing am Fluß, er benutzte bei jeder Gelegenheit die Fähre, kannte alle Fährleute und stand mit ihnen im Wind, während wir Kinder uns an die Reling drückten, er hatte wie sie die Hände in den Taschen vergraben und redete über das Wetter. Einer der Fährleute hatte Handprothesen aus dunkelbraunem Leder, weil ihm im Krieg eine Granate die Hände abgerissen hatte. Wir starrten die Lederhände an, wohlwissend, daß es ungehörig war, und bekamen eine Gänsehaut, der unheimlichen Hände wegen, aber auch, weil wir starrten, obwohl wir es nicht durften. Wenn die Fähre ablegte, setzte der zweite Fährmann, der für das Zurren und Losmachen des Schiffstaus zuständig war, mit der dicken Tauschlaufe in der Hand in einem großen Sprung über den breiter werdenden Spalt dunklen Wassers zwischen Fähre und Rampe, die Eisenklappe rastete dröhnend ein, wir hielten uns an der Reling fest, schwindlig vom Blick in das strudelnde Wasser und auf die Boote, die vorüberzogen, von der in schaukelnde Bewegung versetzten Landschaft. Mitten auf dem Fluß drehte sich die Fähre, ein Quertreiber zwischen den auf- und abfahrenden Kähnen, wir sahen das Siebengebirge im Süden, das eine Ufer, dann das andere, den Himmel im hellen Norden, verloren die Orientierung, vergaßen, wohin wir unterwegs waren, fanden uns überrascht beim lauten Hinunterpoltern der Rampe auf der anderen Seite wie in der Fremde.
Im Herbst gab es Nebelmorgen, die alles Tagtägliche in Frage stellten. Die Regeln der Richtungen waren aufgehoben, es gab kein Flußauf und Flußab mehr, kein Diesseits gegenüber dem Drüben. Das andere Ufer war verschwunden, keine Fähren überquerten den Fluß, die Nebelhörner der Kähne klangen dumpf, während die Boote kaum als Schatten wahrnehmbar vorüberglitten oder gar nichts sichtbar war, sich nichts in diesem dichten Weißgrau regte, nur die Wellen klein und wie scheu auf die Kiesel am Ufer rollten und klangen wie in einem umschlossenen Raum, einer Nebelkammer, in der, für die am Ufer Stehenden unsichtbar, ein Experiment vorbereitet werden mochte – die Enthüllung einer neuen Welt. Würde sich der Nebel über einer anderen Landschaft lichten, würden hinter diesem Vorhang die Kulissen verschoben und das Meer im dünnen klärenden Licht dort zu sehen sein, wo vor dem Fall des Nebelvorhangs sonst die ersten städtischen Hochhäuser gestanden hatten.
Zuhause saß meine Großmutter an der Nähmaschine und sang uns das Lied von den zwei Königskindern vor, die nicht zusammenkommen konnten, weil das Wasser viel zu tief war. Die Liebe, die darin besungen wird, nimmt kein gutes Ende. Dabei kam meine Großmutter nicht vom Rhein, sie war an einem anderen Fluß aufgewachsen, einem Flüßlein, das ihren Erzählungen zufolge zwar von eisigen Strudeln durchsetzt, doch in einer das Rheinland in den Schatten stellender Lieblichkeit durch eine Landschaft sanfter Auen und heimeliger Städtchen floss. Nur bei Schneeschmelze und brechendem Eis wurde das Flüßlein rasend, und zum Beweis dafür blätterte sie manchmal mit uns ein in rotes Leinen gebundenes Album durch, das nur Fotografien einer reißenden Flut, des sogenannten Jahrhunderthochwassers enthielt. Auf den Bildern mit ausgestanzten Spitzenrändern konnten wir über Seiten den schrittweisen Zusammenbruch der Brücke unter dem Druck von Wasser und Eis verfolgen. Zuerst die Schneewälle seitens der Fahrbahn, das Eis auf dem Fluß, die tief verschneite Landschaft, dann die Eisschollen, auf dem Glanzpapier schon gilblich gealtert, die sich an den Brückenpfeilern stauten, schäumendes Wasser, mit jedem Bild höher und wilder, bis an das Brückengeländer und die Gärten am Uferhang schlagend, kleine Gestalten zwischen Schneeresten und schlammdunkler Erde, die Heuballen und Säcke auf dem Kopf balancierten, dann das Einknicken der Pfeiler, die sich nach unten zusammenfaltende Brücke, Stümpfe, die aus dem Wasser ragten, ein Stück der Brüstung quer zu einem Uferbaum. Dieses Bild einer zunichte gemachten Verbindung zwischen den beiden Ufern, dieser klaffenden Wildnis des Flusses, über den meine Großmutter in einer der Welt der Balladen und Märchen zugehörenden Mädchenhaftigkeit vorher täglich spaziert und gefahren war, blieb ein Requisit schlechter Träume.
In der Grundschule lernten wir Sprüche vom Vater Rhein, die nichts mit dem Fluß zu tun hatten, an dem ich in den Jahren vor der Schulzeit spazierengegangen war. Die Sprüche hinterließen einen unangenehmen Geschmack, der bitter wurde, als eines Tages die Bugwelle eines großen Kahns ein Kind aus der Klasse von der Spitze einer Kribbe riß. Der Rhein zeigte sich als unheimlicher Kerl. Tagelang war es, als hätte der Fluß uns die Stimme verschlagen und hinge so schwer in unseren Kleidern, daß wir uns kaum bewegen konnten. Es wurde geflüstert, getuschelt, gerüchtelt, von aufgedunsenen Körpern und weißen Särglein, bis die Leiche des Kindes nach Tagen weit flußabwärts im Ufergestrüpp gefunden wurde.
Der Rhein war die erste und stets gegenwärtige Grenze, die ich erlebte. Er lehrte das Hier und das Dort. »Unsere« Seite mit ihrer sich unaufhaltsam zersetzenden Dörflichkeit, mit Fabriken, Baracken und Güterzügen gegenüber dem Drüben, wo die Sonne unterging. Diese andere Seite, unscharf zu erkennen, vages Gelände verschwimmender Formen und zerfließender Farben, ist der Hintergrund etlicher Familienfotografien. Mein Vater wurde es nicht müde, uns Kinder am Fluß und auf der Fähre zu fotografieren, mal fährt der Wind uns in die Haare, mal stehen wir im schütteren Schnee vor einem Uferbaum, hinter uns ein schwarzer Bootssteg und Möwen in der Luft. Vor unserer Zeit wurden Feierlichkeiten mit einer Fotografie am Fluß besiegelt und belegt: hinter steifen Brautpaaren mit und ohne Eltern, Jungfern, Trauzeugen, schieben sich schwarze Kähne durchs Bild oder die weißen Ausflugsdampfer. Auf einer brauntonigen Aufnahme legen dunkelgekleidete Brüder mit steifen Hüten und Spazierstöcken zum Gruppenfoto versöhnlich die Arme einander um die Schultern, sie stehen auf dem unebenen Rheinkies, direkt am Fluß, wer hatte sie dorthin gebeten, im Anschluß an Beerdigung oder Hochzeit? Wahrscheinlich war es der Wanderfotograf, von dem mein Großvater bewundernd erzählte, ein Mann, der in seinen Erzählungen im Unterschied zu dem übrigen unsteten Personal seiner Geschichten – fliegende Händler aus anderen Ländern, Jahrmarktshelfer, Katzelmacher und Scherenschleifer – keinen Namen hatte. Er war bloß der Fotograf, der von Ort zu Ort zog, immer am Fluß entlang, mit Kamera und Stativ auf einem Wägelchen. Man schickte nach ihm, wenn Hochzeiten anstanden und hoffte auf ihn, wenn es Beerdigungen gab. Wenn das Glück es wollte, daß er zur rechten Zeit kam, fotografierte er den Toten auch gleich, aufgebahrt und im weißen Hemd, bevor er in den Sarg gelegt wurde. Das Bild eines solchen Ahnen, der so offensichtlich unlebendig in schräg einfallendem Licht ruht, während sich die Angehörigen – betend? weinend? starrend? auf eine Fotografie ihrer selbst zu Lebzeiten hoffend? – als schwarze kopflose Gestalten im Hintergrund drängen – lag lose zwischen den Seiten eines Albums, es war nicht eingeklebt, wechselte merkwürdigerweise oft den Platz. Nie wußte man, wann es erscheinen, plötzlich zwischen den Seiten, halb ein anderes Bild verdeckend, auftauchen würde, und immer bewirkte es ein kurzes kaltes Erschauern, als sei es etwas Verbotenes. Ich stellte mir den Fotografen in der Landschaft meiner Kindheit vor, den seltsamen, bestaunten Anblick, den er abgegeben haben mußte, wenn er halb unter dem schwarzen Tuch verschwand, das über seinen Apparat gebreitet war, und dann seine Wunder wirkte, die die Abgebildeten überdauerten. Wie er ungerührt seinen Apparat auf Tote und Lebende, Trauernde und feiernde Hochzeiter richtete und Fremden ihre Erinnerungsstücke besorgte, während er selbst mit wachsender Mühe versuchte, das Eindringen dieser stets gleichförmigen Ausschnitte aus fremden Leben nicht mit seinen Erinnerungen zu vermischen, die womöglich nur vom Fluß handelten.
Gegen die unstete Eigenständigkeit des Flusses gab es die dünne Landschaft von Regelmäßigkeit und scheinbarer Lesbarkeit, an der ich mich als Kind übte, ohne sie zu verstehen. Da waren die königlich durchnumerierten Namen der schaukelnden Boote und ruhenden Fähren an den unsicheren Stegen, Roswitha, Monika, Michael I, II, III, Fahrpläne und Streckendiagramme, die neben der Fahrrinne in den Flußboden gerammten Schilder mit Symbolen, denen sich beliebiger Sinn zuschreiben ließ, die Wimpel und Fahnen am Heck der Kähne und Schiffe, die Zahlen- und Buchstabenkombinationen auf den Bootswänden, die gar nichts oder alles heißen konnten, die riesigen Stromkilometer, schwarz auf weißgestrichener Fläche, oder weiß auf schwarzem Gestein, die so taten, als könnte man fließendes Wasser der Länge nach messen und eine Ordnung der Dinge festlegen, der sich in Wirklichkeit doch alles entzog. Das Üben und Lernen an diesen Zahlen und Zeichen war ein Spiel, das vorüber war, als ich anfing, den Zusammenhang zwischen den Worten und Zeichen zu suchen. Als ich keine Geschichte zwischen ihnen fand, wurde ich ihrer müde und drehte dem Rhein den Rücken zu.
Wenige Jahre später lungerte ich halbe Schultage allein am Fluß. Ich fuhr mit dem Fahrrad am Ufer auf und ab, saß stundenlang auf der mit teerverklebten großen schwarzen Steinbrocken befestigten Uferböschung und suchte nach diesen Schriften: Schiffsnamen, Stromkilometer, die Zulassungsnummern der Kähne. Mich interessierte nur noch, was flußabwärts ging, auf diese lichtere Weite zu, in der man irgendwann ans Meer stoßen würde. Eine Zeitlang führte ich ein kleines Heft, in das ich alles eintrug, was ich an den flußabwärts fahrenden Kähnen entziffern konnte, als ließe sich darin mit der Zeit etwas ablesen. Im Gedächtnis blieben mir Zeichenkolonnen, in wochenweisen Blöcken, die auf dem karierten Papier standen wie Strophen eines Gedichts, Chiffren der Bewegung, des Andernorts.
Meine Spaziergänge am River Lea waren langsam und planlos. Ich schaute und horchte und suchte Erinnerungen. Ich machte Bilder und blätterte Schicht um Schicht von Erinnerung auf. Zuoberst lagen die ältesten Erinnerungen. Ich sah mich selbst durch London gehen, in den ersten Monaten meiner Zeit hier, als ich auf das neue Land lauschte. Es summte und dröhnte ringsum, über den spitzen Schornsteinhüten zogen morgens und abends bläuliche Vögel einen einzigen immer gleichen Kreis und verschwanden wieder. Die Nacht kratzte an den dünnen sirrenden Fensterscheiben, Stimmen fielen durch den schmalen Schlot in den Aschenkorb des Kamins, und zwischen zwei dunklen Mauerklötzen fuhren am Abend erleuchtete Züge quer über den Himmel.
Um die Ruhe des Ansässigen zu finden, verlegte ich mich aufs Spazieren. Im Gehen erlernte ich die Gerüche der Stadt, die so riesig war, daß man mehr als ein Leben brauchte, um sie ganz zu durchstreifen. Ich lernte den Geruch von Ziegel, Fluß und struppigem Gras auf Ödlandstreifen auswendig, den Geruch von Regen und Staub, Taubenfedern, aufgequollenem Holz und Rotdornbüschen, und die Gerüche der unzähligen Speisen Fremder, die ich bald nach dem Grad der Süße, Bitterkeit und Schärfe, die mir in die Nase stieg, unterscheiden konnte. Ich besuchte Märkte, sah rosa, graue, und bräunliche Fische im Morgenlicht zucken, obwohl sie längst hätten tot sein sollen. Am Abend lagen Köpfe, Flossen, Schuppen und Schwänze der Fische in den Gossen, durch die schmutziges Spritzwasser rann. Die Händler waren müde und zertraten achtlos die Fischreste. Das Fleisch der unzerteilten Ziegen und Schafe, die langgestreckt an schweren Haken vor den roten Planen der Schlachterstände hingen, hatte sich im Laufe des Tages dunkel verfärbt. In großen Plastikwannen lagen verschmähte Stücke zerhackter Tiere, über die sich dicke Fettschwarten zogen. Auch die Hühner waren blass und grau geworden, sie hingen an zierlicheren Haken, baumelten im frischen Wind von der nahen Küste, und die Gesichtsfarbe der Geflügelhändler schien sich im beginnenden Abenddämmer der fahlen, faltigen Rupfhaut der toten Vögel anzugleichen. Die bunten Fähnchen, die Karren mit billigen Eiern oder heimlich verfaulendem Obst schmückten, verloren ihren Glanz. Die Reste der weichgetasteten Früchte wurden an die Ärmsten verkauft, die letzte Kundschaft des Tages, die jetzt scheu aus ihren Winkeln kam. Sie boten kleine Münzen auf den ausgestreckten Handflächen, die Händler klaubten sie aus dem sauren Schweiß der lang zusammengepressten Faust, bevor sie die Ware in die aufgehaltenen Plastikbeutel kippten.
Mit einer kleinen, billigen Kamera nahm ich Fotos auf, die mich später beschämten. Wenn ich sie betrachtete, kam es mir fast unanständig vor, diese Bruchteile fremder Leben, diese Abbildungen flüchtiger Gesten, zielloser Blicke, lauernder Körperhaltungen in meinem Zimmer aufzubewahren, Lebensschnipsel völlig unbekannter Menschen, die nichts von dieser vorläufigen Unvergänglichkeit eines Ausschnitts ihrer Zeit in meiner Hand ahnten. Zwei schwarze Frauen in hellen Sportschuhen und gestreiften Jacken tauchen mehrmals auf. Sie stehen prüfend vor Fischen, die unter der rotleuchtenden Markise golden aussehen, sich in ihrer Küche jedoch als matt und gelblich erweisen würden. Sie streifen über eine Auslage heller Spitzenborten, hinter denen die Verkäuferin in einem braunen Anorak gähnt. Auf einem Bild greift eine Hand unschlüssig nach einer blassen Bananenstaude; wie zaghafte Hälse recken sich die kälterunzligen Finger, an dem unscharfen Streifenmuster des Ärmels erkennt man eine der beiden Frauen. Einmal trat mir ein junger schwarzlockiger Mann heftig entgegen und legte die eine Hand vor das Objektiv der Kamera, während er mit der anderen in der Luft fuchtelte. No no, sagte er laut, no no. Ich ging weiter und begriff erst später, daß er Angst hatte. Nach diesem Erlebnis zog ich es vor, Unbelebtes zu fotografieren. Meistens machte ich meine Aufnahmen am Kanal, einem schmutzigen und ungenutzten Gewässer, das sich von Westen nach Osten durch die Stadt zieht. Wochenends saßen Angler auf dem schmalen Betonweg, der nur wenig oberhalb der Wasseroberfläche entlangführte. Neben ihnen Thermosflaschen, Picknicktaschen und Plastikdosen mit viereckigen Fächern für Gewürm in unterschiedlichen Farben. Die kleinen Würmer wimmelten, suchten untereinander und aneinander Schutz, alle wollten in die Mitte des lauwarmen Haufens von gleichartigem Leben, das sie bildeten. Die Angler hockten reglos auf ihren Klappschemeln und warteten, bis ein Fisch anbiß. Sie zogen den Fang aus dem Wasser, immer waren es weißbäuchige Fische mit silbrigen Rücken, die an der Luft schnell stumpf wurden, unglücklich zappelten sie an der schwankenden Leine und würgten an dem Würmchen, das sie in solches Elend gestürzt hatte, doch die Angler erfreuten sich nur einen Augenblick an der Beute, dann packten sie zu, zogen den Fisch vom Angelhaken und warfen ihn ins Wasser zurück. Die verwundeten oder zu Tode erschrockenen Fische trieben bald leblos an die Oberfläche, Augen und Maul rötlich geöffnet, sie schaukelten auf den leichten, leisen Wellen, die der Wind gelegentlich aufwarf, und rings um sie bildete sich ein schaumiges Kränzchen.
Auf der anderen Seite des Kanals standen leere Fabriken, Lagerhallen und andere dunkle Gebäude mit geborstenen oder schmutzblinden Fenstern. Hinter dem trüben Glas ließen sich Stapel von Kisten, die Umrisse erstarrter Maschinen und erloschener Lampen erkennen, bis fast an die unteren Fensterreihen reichten die Flecken der aufsteigenden Nässe, mit der die Ziegelmauern vollgesogen waren. Durch Schneisen zwischen den Bauten sah man in weiter Ferne die zierlichen Türmchen prachtvoller alter Bahnhöfe und den flimmernden Glanz der von Betriebsamkeit erfüllten Geld- und Handelsinstitute.