Buch
In Wien untersucht Michael Winter, Oberstleutnant bei der Kriminalpolizei, den rätselhaften Selbstmord einer jungen Studentin, als er zu einem hochbrisanten Fall gerufen wird: Der bekannte Sänger Heinz Hawlicek wurde tot in seiner Villa aufgefunden. Einbruchsspuren deuten auf einen Raubmord hin. Presse und Polizeiführung stürzen sich auf den Fall und drängen auf schnelle, lückenlose Aufklärung, schließlich war der Mann ein Idol der Wiener. Verzweifelt versucht Winter mit seiner Kollegin Julia Gartner, in beiden Fällen Licht in den Wust aus Eitelkeiten und Lügen zu bringen. Da stirbt eine weitere Studentin …
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Gerhard Langer
Eitel ist der Tod
Ein Wien-Krimi
Der Abdruck des Zitats aus »Karawane der Sehnsucht« von Yvan Goll auf S. 379 erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Wallstein Verlags, Göttingen.
Yvan Goll. Die Lyrik. Hg. von Barbara Glauert-Hesse. Argon Verlag, Berlin 1996. © Wallstein Verlag, Göttingen.
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Originalausgabe Juli 2019
Copyright © 2019 by Gerhard Langer
Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: GettyImages/Julia Davila-Lampe
KS · Herstellung: kw
Satz: Vornehm Mediengestatung GmbH, München
ISBN: 978-3-641-23268-9
V001
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Prolog
»Hoppe, hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er …«
Der Teddybär auf ihrem Schoß scheint sie anzulächeln, ihrer Stimme zu lauschen, während seine plüschigen Beine im Rhythmus des alten Kinderliedes auf und nieder schwingen.
Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, ein flüchtiger Sonnenstrahl auf blasser Haut. Sie drückt den Teddy fest an sich und atmet tief durch, bevor sie vom Sofa aufsteht und die Fenster öffnet. Der Regen hat aufgehört, die Luft ist klar und frisch.
Sie geht eine Weile im Zimmer auf und ab. Sie mag diese Wohnung nicht, sie ist ihr zu dunkel, zu kalt. Er hat darauf bestanden, dass sie hier einzieht, weil ihn hier niemand kennt und er kommen und gehen kann, wann er will. Schließlich zahlt er die Miete. Fünfhundert Euro für 41 Quadratmeter in einem heruntergekommenen grauen Haus. Er hat die Einrichtung ausgesucht, günstige, zweckbestimmte Möbel, nichts Schnörkeliges, was sie so gern mag. Meist kommt er am späten Nachmittag, aber sie haben keine feste Abmachung. Sie schätzt die Stunden, in denen sie allein sein kann mit ihren Gedanken, ihren Gefühlen und Wünschen. Die übrige Zeit soll sie bereit sein, erreichbar, willig und dankbar. Doch es könnte alles auch viel schlimmer sein. Wie damals zu Hause.
Manchmal macht er ihr sogar Geschenke, wenn sie sich auf seine Spiele einlässt. Wenn sie so tut, als törne der Schmerz sie an, als erregen die Demütigungen sie. Am Anfang war es schön gewesen, als er ihr ständig Komplimente machte, nicht oberflächlich und ausschließlich auf ihr Aussehen bezogen wie die anderen jungen Männer. Es schmeichelte ihr, wie er auf ihre Arbeiten einging und ihren Schreibstil lobte. Damals beflügelte er ihre Kreativität. Er war der erste Mann in ihrem Leben, der ihr das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein, der ihre Talente erkannte, ihre Leidenschaften spürte. Vor allem aber war er der Erste, der ihr von seinen eigenen Ängsten und seiner Traurigkeit erzählte. Der Erste – der Einzige – , in den sie sich je wirklich verliebte.
Es war so selbstverständlich, leicht und unentrinnbar gewesen. Die scheinbar zufälligen Berührungen, der erste verstohlene Kuss nach einem langen Gespräch in seinem Büro. Dann das erste richtige Date. Sie fuhren mit seinem Wagen zum Marchfelderhof, raus aus Wien. Sie erinnert sich, wie sie die dicke Speisekarte studierten, scherzten, lachten, viel zu aufgeregt waren, um das Essen zu genießen, den herrlichen Wein, der sie zu schnell betrunken machte. Auf der Rückfahrt streichelte er im Auto ihre Schenkel. Sie trug dieses wahnsinnig sexy rote Kleid. Ja, sie wollte es, sie war bereit, mit ihm zu schlafen. Sie bogen an einer Seitenstraße ab, blieben am Waldrand stehen. Lange Zeit hat sie sich eingeredet, dass es gut war, das erste Mal, dass es sich nicht falsch anfühlte, als es wehtat, wie er sie an den Wagen drückte und ihr Inneres zu zerreißen schien. Aber an dem Abend fühlte sie sich benutzt, schmutzig, und gab sich selbst die Schuld. Sie war verstört gewesen, aber er beruhigte sie, umwarb sie mehr als vorher, erklärte ihr unermüdlich, wie wichtig sie für ihn sei und dass nur sie ihn verstehen würde. Worum sie sich redlich bemühte. Sie wäre die Einzige, mit der er offen sein, mit der er über sein Trauma reden könne, seine schreckliche Kindheit und seine geheimsten Wünsche. Ohne sie wäre er nichts, könne nicht atmen. Er würde sofort mit ihr zusammenziehen, mit ihr leben, wenn da nicht dieser kleine Haken in Form von einer Frau und einem Kind wäre, die er nicht verlassen könne. Seine Frau würde ihn ruinieren, ihm den Sohn wegnehmen.
Ab einem gewissen Zeitpunkt glaubte sie nicht mehr an die Illusion eines gemeinsamen Lebens, und irgendwann war es ihr sogar recht so. Heute kann sie nicht verstehen, was sie gehalten hat. Ob es der Irrglaube daran war, ihn von all seinen dunklen Neigungen heilen zu können, oder diese unerklärliche Anziehung, die er auf sie ausübte durch diese Verletzlichkeit, diesen Schmerz, den sie spüren konnte und den sie so gut aus ihrer eigenen Kindheit kannte?
Sie überlegt, wann sie begonnen hat, ihn widerlich zu finden, seit wann seine Berührungen sie anekeln, sein Atem bei ihr Brechreiz verursacht. Wenn er ihren Körper in Besitz nimmt, versucht sie, an etwas anderes zu denken. An ein fernes Meer, tosende Wellen, unendlich hohe Klippen. Sie will springen, von ganz oben. Aber seine Hände halten sie fest, klammern sich an sie, bis er kommt, immer zu früh, bevor sie in den erlösenden Tod fallen kann. Es erschreckt sie, wie der Gedanke an Selbstmord sich quälend in ihr ausgebreitet und wie ein Ungeheuer Besitz von ihr ergriffen hat. Und dann ist da diese Müdigkeit. Sie ist so unvorstellbar müde.
Seit wenigen Wochen kennt sie den Grund dafür. In ihrem Bauch wächst ein Wesen heran, das ihr die letzte Kraft raubt. Sein Kind. Sie hat die Pille nicht vergessen. Irgendetwas ist schiefgelaufen. Vielleicht, weil sie sich so oft übergeben musste in letzter Zeit.
Seit Tagen denkt sie daran, ein Ende zu machen, und kann es nicht. Zweimal schon stand sie auf der Fensterbank, um in die Tiefe zu springen. Doch jedes Mal verließ sie der Mut. Eine Stimme in ihr rief sie zurück, laut genug, um sie den Tag überstehen zu lassen. Und dann, vorgestern, als er unerwartet vorbeikam, sie ins Schlafzimmer schob und ihr die Kleider vom Leib riss, da hat sie ihm gesagt, dass sie schwanger ist. Sie war überrascht, wie ruhig er blieb, obwohl sie sehen konnte, wie blass er wurde, und spürte, wie sich in seinem Inneren eine Spannung aufbaute, die sich jederzeit entladen konnte. Dann redete er lange auf sie ein. Die Worte zogen an ihr vorbei wie welke Blätter im Wind. Die einzigen Worte, die sie wahrnahm, waren »Abtreibung« und »Neuanfang«. Zwei Worte, die er so mühelos kombinierte, dass sie für einen Augenblick logisch erschienen. In seiner Stimme lag Sanftheit, seine Hände wanderten nicht fordernd über ihren Körper, sondern strichen die Tränen weich aus ihrem Gesicht. Mit einem Mal war die schöne Illusion des Anfangs wieder da. Er blieb lange, hielt ihr Gesicht in seinem Schoß und sprach leise mit ihr. Nachdem er gegangen war, blieb ein Stück Hoffnung zurück, ein kleiner Spalt in ihrem düsteren Himmel, durch den ein schwacher Lichtschein drang.
Aber als sie heute vor der Klinik stand, wo alles »wieder in Ordnung gebracht« werden sollte, da war plötzlich alles anders. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Sie wusste mit einem Mal, dass sie niemals hineingehen würde.
Sie lässt sich auf das Sofa fallen und zieht den Teddybären wieder zu sich. Wie sie so dasitzt, mit dem Teddy aus ihrer Kindheit auf dem Schoß, hat sie keine Zweifel mehr, dass sie dieses Kind will und dass es ihr Kind sein wird, ganz allein ihr Kind.
»Hoppe, hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er.« Sie lässt den Teddy auf ihren Knien auf und nieder hüpfen. »Fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben.« Sie bricht in schallendes Gelächter aus. »Fällt er in den Sumpf, macht der Reiter plumps.«
Plötzlich weiß sie, was sie tun muss. Wenn jemand fällt, dann nicht sie, wenn jemand schreit, dann nicht sie.
»Hoppe, hoppe, g’scheiter, wenn ER fällt, dann schreit ER. Schrei!«, brüllt sie den Teddy an, dann dreht sie seinen Kopf um und schleudert ihn in die Ecke.
Montag, 6. Mai
Tag 1
1
»Vom Balkon gestürzt, Chef. Achter Stock. Kein schöner Anblick.«
Ich nehme mein Smartphone vom Ohr und werfe einen Blick auf das Foto, das meine Kollegin Julia Gartner mir eben geschickt hat. Ich sehe in die toten Augen einer jungen Frau und fühle für einen Moment diese Aussichtslosigkeit. Sie war Anfang zwanzig, eine hübsche, zierliche Person, deren Körper jetzt unnatürlich verrenkt auf dem Asphalt liegt. Ihr dichtes schwarzes Haar ist von Blut durchtränkt.
Mit einer Hand greife ich nach meiner Lederjacke, während ich mir mit der anderen wieder das Handy ans Ohr halte. »Julia, gibt es Hinweise auf Fremdeinwirkung?«
»Sieht nicht danach aus. Keine Kampfspuren. Wir mussten übrigens die Tür aufbrechen, ist ein selbstverriegelndes Schloss, und innen steckte der Schlüssel.«
»Unfall oder Selbstmord?«, frage ich doch etwas skeptisch nach.
Mir ist klar, dass statistisch gesehen bei dieser Fallhöhe eher von einem Selbstmord auszugehen ist. Bei über achtzig Prozent aller Stürze ab dem vierten Stock handelt es sich um Suizid.
»Ich weiß nicht, Chef. Zuerst dachte ich Selbstmord, aber irgendwas stimmt nicht.«
»Was meinst du?«
Julia ist eine verdammt gute Polizistin. Ich vertraue ihrem Instinkt und Wissen.
»Sie liegt nur einen Meter von der Senkrechten zur Absturzstelle, du weißt schon, Chef, die Statistik …«
»Ja, Julia, ich ahne, was du meinst. Selbstmörder springen weg vom Haus, landen in einem größeren Abstand zur Senkrechten zur Absturzstelle. Gute Beobachtung.«
Ich bemühe mich, die Mitglieder unserer Mordgruppen nicht mit Lob zu überschütten, aber bei Julia mache ich gern eine Ausnahme. Sie hat einen messerscharfen Verstand und vor allem das Herz am rechten Fleck.
»Wir sind mit der Befragung der Nachbarschaft noch nicht durch, aber bislang gibt es keine Zeugen, Chef.«
Eigenartig, denke ich, wo es doch in Wien von lebendigen Überwachungskameras nur so wimmelt. Hat da nicht irgendjemand zufällig am Fenster oder auf einem der gegenüberliegenden Balkone gestanden und etwas beobachtet?
»Kein Abschiedsbrief?«, frage ich.
»Wir suchen, aber die Wohnung ist nicht gerade im besten Zustand, also eher Chaos, Chef. Warte mal.«
Während ich zum Auto gehe, höre ich, wie Julia im Hintergrund mit den Kollegen redet und Anweisungen gibt. Es dauert nicht lange, dann meldet sie sich wieder.
»Chef? Wir haben was.« Sie schweigt kurz. »Ein Blatt Papier …« Dann gibt sie mir die Adresse durch.
Ich brauche knapp eine Viertelstunde mit dem Auto. Die Leiche liegt im Innenhof einer großen Wohnhausanlage im 5. Bezirk, Margareten. Ich grüße die Kollegen, die ein paar Schaulustige zurückhalten, und nehme den Fahrstuhl in den achten Stock. Im Flur riecht es nach Kohl und Zwiebeln, Kreuzkümmel und Schimmel.
Julia erwartet mich an der Wohnungstür. Ich ziehe die Schutzkleidung an, ehe wir durch die Wohnung gehen. Ich folge Julia, die direkt auf den Schreibtisch zusteuert.
Auf dem Laptop liegt ein Blatt Papier. Darauf prangt in fetten roten Großbuchstaben STIRB DAFÜR.
Im Moment sieht es danach aus, als hätten wir hier einen Tatort.
»Die Spurensicherung muss den Laptop mitnehmen, klar. Ich will morgen wissen, was drauf ist. Außerdem muss das Handy der Toten ausgewertet werden. Wo ist es?«
»Wir haben keines gefunden, Chef.«
»Sucht weiter.«
Ich gehe auf den Balkon hinaus und sehe einen Stuhl und drei Terrakottatöpfe mit Kräutern. Basilikum, Rosmarin und Petersilie. Ein paar welkende Blätter kämpfen mit letzter Kraft gegen den Tod an. Ich glaube nicht, dass die Frau, die unten auf dem Asphalt liegt, vergessen hat, die Kräuter zu gießen. Vor meinem inneren Auge sehe ich sie auf dem Balkon sitzen und ihnen beim Sterben zusehen.
Ich gehe zurück in die Wohnung. Julia hat recht, hier drinnen herrscht Chaos. Der Schreibtisch ist übersät mit Zeitschriften, überall auf dem Boden liegen Kleidungsstücke verstreut, auch auf dem Sofa, wo sich zudem noch Bücher stapeln. Auch vor den Regalen liegen Bücher, anscheinend achtlos herausgezogen und auf den Boden geworfen.
Hinter einer Plastikschiebetür befindet sich eine kleine Küche. Hier stehen leere und halbvolle Gläser, aber ich sehe keine Essensreste, keinen stinkenden Müllsack. Keine angeschimmelten Pizzareste, keine offene, verdorbene Milch. Der Kühlschrank ist bis auf eine Flasche Orangensaft leer. Die Frau, die hier lebte, war kein Messie, hat sich nicht über längere Zeit gehen lassen. Ja, sie hat ein paar Tage nicht mehr staubgesaugt, nicht gekocht und ihre Kleider verstreut. Irgendetwas ist passiert, vor Kurzem. Irgendein Erlebnis hat sie aus der Spur gebracht, hat ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Wären da nicht diese bedrohlichen Worte auf dem Blatt Papier, ich würde Suizid vermuten.
Ich gehe zurück ins Wohnzimmer. Ich unterdrücke mein Verlangen, die herumliegenden Bücher aufzuheben. In diesem Zustand kann ich mir nur ein verschwommenes Bild machen. Ebenso würde ich gern die Zeitungen auf dem Schreibtisch näher begutachten, aber ich darf nichts berühren, muss auf die Tatortgruppe warten.
Julia steht vor der Balkontür und beobachtet mich. Die Sonne lässt ihre kurzen, stacheligen, roten Haare leuchten.
»Was siehst du Julia?«, frage ich.
»Was ich sehe, Chef? Eine Frau, die es nicht mit dem Aufräumen hat.«
»Ehrlich, Julia. Was für eine Frau hat hier gewohnt?«
Sie denkt nach, weiß, dass ich die Frage ernst meine und nicht auf launige Antworten stehe.
»Sie hatte Geschmack, was ihre Klamotten betrifft.«
Ich nicke. »Was noch?«
»Sie hat studiert. Sehr viele Fachbücher.«
»Was hat sie studiert?«
»Irgendwas mit Literatur und Sprachen, Germanistik vielleicht und etwas mit Übersetzen.«
»Translationswissenschaften«, antworte ich.
»So heißt das? Wusste ich nicht. Jedenfalls hatte sie einen Migrationshintergrund.«
Ich wundere mich, woher Julia das weiß.
»Hm, Chef, ich weiß sogar, woher sie stammt. War gar nicht schwer zu erraten.«
Sie schweigt, will mich auf die Probe stellen.
»Bosnien«, sage ich und deute auf die aufgeschlagene Anthologie bosnischer Gedichte auf dem Schreibtisch. »Sie ist Muslima, aber wahrscheinlich nicht besonders religiös.«
Julia zieht ein Gesicht, als sei sie enttäuscht.
»Du hast ihren Pass gesehen, stimmt’s, Chef?«
Ich schüttle energisch den Kopf. »Nein, aber du.«
Sie lächelt. »Erwischt, Chef. Die Tote heißt Jelena Cavarusic. vierundzwanzig Jahre alt, geboren in Sarajevo. Woher wusstest du …?«
»An der Wand da drüben hängt ein gerahmter Koranvers, vielleicht ein Familiengeschenk. Sie trug kein Kopftuch, ihre Kleidung ist westlich.« Ich ziehe mein Smartphone hervor und fotografiere ein anderes Bild an der Wand. »Das dürfte ihre Familie sein, Julia. Jelena und ihre Geschwister, ein Bruder, eine Schwester, und ihre Mutter. Sie sind keineswegs konservativ religiös, kein Kopftuch, kein Bart. Das Foto ist in Wien aufgenommen worden, siehst du den Hintergrund?«
»Ja, das Belvedere.«
»Was ist hier passiert, Julia? Kannst du etwas spüren?«
Sie schweigt eine Weile, sieht sich noch einmal um.
»Zuerst Wut. Sie reißt die Bücher aus dem Regal, wirft ihre Kleider auf den Boden. Und dann … Ich weiß nicht, vielleicht schreit sie, kriegt einen Heulkrampf, der in endloser Erschöpfung endet, schläft ein, wacht auf und …«
»Wartet?«
»Wartet.«
»Worauf wartet sie?«
»Auf den Tod? Auf den Zeitpunkt, an dem sie genug Mut hat, es zu tun.«
»Oder auf ihren Mörder.«
2
Während die Tatortgruppe ihre Arbeit macht und die Leiche sich auf dem Weg in die Gerichtsmedizin befindet, treffe ich im Café um die Ecke die Verwalterin des Wohnhauses, eine nervöse, solariumgebräunte Mittvierzigerin mit rot gefärbten Haaren.
Sie streckt mir eine Schmuck behangene Hand entgegen. »Herr Oberstleutnant Winter, nicht wahr? Hafner, Sieglinde Hafner. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. So etwas ist in den letzten zwanzig Jahren, seit wir die Häuser hier betreuen, nie passiert. Glauben Sie mir. Hier gibt es auch keine Einbrüche, ab und zu mal ein paar Nachbarschaftsstreitigkeiten, aber nichts, was der Rede wert wäre. Wir sind eine überaus seriöse Hausverwaltung und haben die besten Referenzen.« Sie überreicht mir ihre Visitenkarte.
Wir setzen uns an einen freien Tisch und bestellen einen kleinen Braunen.
»Frau Hafner, können Sie mir etwas über Jelena Cavarusic sagen? Ich meine …«
Sie nickt betont verständnisvoll. »Natürlich. Sie brauchen die Unterlagen. Mietvertrag und so. Alles völlig korrekt. Frau Cavarusic hat regelmäßig gezahlt. Bei uns wohnen nur anständige Mieter und, ich brauche es eigentlich nicht zu erwähnen, nur anständige Ausländer. Wir haben da ein Auge drauf. Wir nehmen nicht jeden. Diese Anlagen …«
Ich verdränge den unangenehmen Gedanken an Frau Hafner beim Auswählen der zukünftigen Mieter und ermahne sie, wieder zum Thema zu kommen.
»Natürlich, verzeihen Sie, die Aufregung. Also, Frau Cavarusic ist hier seit November 2016 gemeldet. Damals hat sie wohl ihr Studium begonnen. Ich erinnere mich noch gut an sie. Eine sehr freundliche Person, etwas schüchtern, aber ein wunderbares Deutsch. Na ja, zweite Generation, Bosnienflüchtlinge. Wie gesagt, sie hat immer pünktlich ihre Miete bezahlt. Keinerlei Beanstandungen. Aber wie sie so war, kann ich natürlich nicht sagen, da müssen Sie die anderen Mieter im Haus fragen.«
Die Befragung hat Julia bereits in die Wege geleitet, und ich möchte dieses Gespräch schnellstmöglich beenden.
Frau Hafner übergibt mir eine Kopie von Jelenas Mietvertrag, und ich nutze die Gelegenheit, um mich zu verabschieden. Wir bezahlen die Rechnung, dann kramt Frau Hafner umständlich in ihrer Handtasche nach ihrem Autoschlüssel. Das bringt mich auf einen Gedanken.
»Frau Hafner, sagen Sie, kann man die Wohnungstür auch öffnen, wenn innen ein Schlüssel steckt?«
»Ja, kann man. Seit vorigem Jahr. Nachdem sich immer wieder Mieter ausgesperrt hatten, haben wir die Schlösser getauscht. Die neuen lassen sich auch öffnen, wenn ein Schlüssel innen steckt.«
»Und natürlich auch schließen.«
»Ja, natürlich.«
»Wie viele Schlüssel werden den Mietern ausgehändigt?«
»Normalerweise drei. Aber Frau Cavarusic wollte ausdrücklich nur zwei.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht. Ich habe es mir damals nur so notiert.«
Ich drücke Frau Hafner herzlicher die Hand, als ich es beabsichtigt habe. »Sie haben mir sehr geholfen«, sage ich und setze mein falschestes Lächeln auf, zu dem ich fähig bin. Sie erwidert es schamlos.
Ich muss aus dem stickigen Café raus und atme draußen die nicht weniger schlechte Luft an der stark befahrenen Reinprechtsdorferstraße ein.
Es gibt sicher einen Grund dafür, warum Jelena Cavarusic nur zwei Schlüssel haben wollte. Wahrscheinlich sollte ihre Wohnung ein Rückzugspunkt sein, reserviert für sie und vielleicht noch eine andere Person. Mir geht das Familienfoto in der Wohnung nicht aus dem Kopf. Ich betrachte das Bild auf meinem Smartphone. Im Hintergrund ist das Schloss Belvedere zu erkennen, das für Prinz Eugen von Savoyen als barocker Sommersitz errichtet wurde. Es ist eines der Wahrzeichen Wiens, berühmt für seine Kunstsammlungen, seine großartigen Gartenanlagen und ein geschichtliches Ereignis. Denn hier wurde 1955 der Österreichische Staatsvertrag unterzeichnet, durch den Österreich nach der Besatzung wieder zu einem souveränen demokratischen Staat wurde. Die Cavarusics haben vor einiger Zeit diesen Platz für ein Familienfoto gewählt, auf dem alle lächeln, sogar die Mutter, deren Gesicht das harte Schicksal ganzer Generationen zu spiegeln scheint.
Irgendetwas stört mich, doch ich kann es nicht benennen.
Ich rufe Julia an, aber sie meldet sich nicht. Bestimmt klappert sie Jelenas Nachbarn ab. Aber sie beantwortet meine SMS, ob in der Wohnung noch ein Schlüssel gefunden wurde, mit einem klaren Nein und schickt mir außerdem die Telefonnummer und Adresse von Jelenas Mutter Ismeta Cavarusic. Frau Cavarusic wohnt in Wiens Donaustadt. Ich spüre ein Ziehen in der Magengegend, fühle eine Mischung aus Wut und Ohnmacht. Ich werde zum Todesboten, muss einem Menschen die Nachricht vom Tod seines Kindes überbringen. Ich habe eine Tochter. Ich will nicht einmal darüber nachdenken, was wäre, wenn …
Die Fahrt auf den verstopften Straßen dauert eine trostlose Ewigkeit. Obwohl ich Zeit zum Nachdenken habe, fällt mir kein einziger Satz ein, der Frau Cavarusic trösten könnte.
Schließlich parke ich vor dem grauen Neubau, in dem Ismeta Cavarusic wohnt. Alles hier wirkt grau. Ich gehe den grau gepflasterten Weg zum Haus entlang und drücke den grauen Klingelknopf neben dem Namensschild. Die graue Eingangstür öffnet sich, ohne dass ich etwas durch die Sprechanlage höre. Ich nehme den grauen Lift in den grau gestrichenen fünften Stock und klopfe an Frau Cavarusics graue Wohnungstür.
Ismeta Cavarusic, eine grauhaarige Frau mit tiefen Augenringen und Sorgenfalten, trägt eine altmodische bunte Kleiderschürze und wischt sich die Hände mit einem Geschirrtuch ab, als sie mir öffnet.
»Sind Sie der neue Hausmeister? Ich habe Sie mir anders vorgestellt.« Sie sieht mir forschend in die Augen. »Nein, Sie sind nicht der Hausmeister. Sie sind von der Polizei, nicht wahr?«
Ich nicke. Offensichtlich hat sie Erfahrung mit Polizisten, woher auch immer. Sie geht ein paar Schritte zurück und lässt mich eintreten. In der angrenzenden Küche setzt sie sich auf einen der Stühle, bevor sie das Geschirrtuch weglegt.
»Es ist wegen Mesud, oder?«
Ich setze mich ebenfalls auf einen Stuhl und stelle mich vor. »Mein Name ist Winter, Michael Winter. Ich arbeite bei der Kriminalpolizei. Mesud ist Ihr Sohn?«
»Mein Sohn, ja. Mein Sorgenkind. Was hat er angestellt? Hat er wieder jemanden verprügelt?«
Ich schüttele den Kopf. Ich muss es rasch hinter mich bringen, sonst schaffe ich es nicht mehr.
»Frau Cavarusic, Sie haben eine Tochter, die Jelena heißt und im 5. Bezirk wohnt?«
Sie nickt. Ihre trüben Augen klaren auf. Mit einer Hand umklammert sie die Tischkante. »Was ist mit ihr, mit Jelena?«
»Sie ist tot. Es tut …«
Sie steht auf, taumelt. Ich fange sie auf und sinke mit ihr zu Boden. Ihr Kopf liegt auf meinem Schoß, nur für ein paar Augenblicke. Dann kommt sie wieder zu sich, will sich aufrappeln, doch sie bleibt nur kraftlos auf dem Küchenboden sitzen.
Ich gehe zur Spüle und fülle ein Glas mit Wasser. Sie hebt abwehrend eine Hand, nimmt das Glas dann aber doch und trinkt. Dann beginnt sie zu zittern und zu weinen.
Nachdem ich Frau Cavarusic zu dem Sofa im Wohnzimmer geleitet, den Notarzt verständigt, das Glas Wasser nachgefüllt und dazwischen ihre Hand gehalten habe, setzt sie sich auf. Sie lässt meine Hand los, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und fragt: »Warum?«
Sie sieht mich dabei nicht an. Mir scheint, sie erwartet keine Antwort. Vielmehr scheint sich in der Frage ihr eigenes Leben zu spiegeln, das von Schicksalsschlägen geprägt ist, deren Ausmaß ich nicht einmal erahnen kann.
Ich will gerade etwas sagen, als die Wohnungstür geöffnet wird. Ich streiche mein Sakko zurecht. Für alle Fälle halte ich meine Dienstmarke bereit. Eine hübsche Frau in Jeans, einem bunten T-Shirt und Sneakern kommt ins Wohnzimmer. Ihre Ähnlichkeit mit Jelena ist frappierend.
»Wer sind Sie? Was wollen Sie …?«
Ich zeige ihr meine Dienstmarke und will mich vorstellen, aber Frau Cavarusic kommt mir zuvor.
»Semina! Semina, es ist …«
Wieder bricht sie in Tränen aus, wird blass im Gesicht und droht zu kollabieren. Ich hoffe, dass der Notarzt bald da ist, und fühle mich hilflos, wie ein morscher Baum an einem abschüssigen Hang. Ich lehne mich an den Türrahmen. Semina ist zu ihrer Mutter geeilt. Die beiden sprechen in ihrer Muttersprache, weinen und halten sich in den Armen. Ich verlasse den Raum und schenke mir in der Küche ein Glas Wasser ein.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreicht mich der erlösende Anruf des Notarztes, der vor der Tür steht. Ich lasse ihn herein, erkläre ihm in wenigen Worten die Sachlage und hoffe, dass Frau Cavarusic die Hilfe akzeptiert.
Einige Zeit später kommen Semina und der Arzt in die Küche. Er verabschiedet sich von mir mit einem Nicken und einem schlaffen Händedruck. Semina schenkt eine klare Flüssigkeit aus einer Flasche in zwei große Schnapsgläser. »Šljivovica«, sagt sie.
Wir trinken schweigend.
Ich muss ihr einige Fragen stellen, aber ich schaffe es nicht. Seminas Augen sehen ins Leere. Sie zittert, schenkt sich einen zweiten Schnaps ein. Ich bin froh, dass sie mich nicht fragt, ob ich auch noch einen trinken will. Ich habe längst aufgehört, die Verzweiflung mit Alkohol zu vertreiben. Ich weiß, dass er alles zerstört, nur nicht die Vorwürfe, den Selbsthass und die Trauer.
Ich breche das Schweigen und beginne so behutsam wie möglich den Sachverhalt zu schildern, verschweige jedoch das Blatt Papier, das wir auf Jelenas Laptop gefunden haben. Ich will wissen, ob Jelena selbstmordgefährdet war.
Semina weicht meinem Blick aus. »Sie hat sich nicht umgebracht. Das hätte sie unserer Mutter nie angetan. Mutter leidet an Depressionen.«
Ich nicke. »Ich habe mir so etwas gedacht.«
Ich sehe das Foto in Jelenas Wohnung vor mir, die traurigen Augen der Mutter, die sich ein Lächeln abringt.
»Hat Jelena sich in letzter Zeit verändert? Gab es irgendein Anzeichen, dass etwas passiert sein könnte?«
Wieder kommt lange keine Antwort. Ich merke, wie sehr Semina sich bemüht, ihre Emotionen zu kontrollieren.
»Ich weiß nicht«, sagt sie dann. »Wir haben telefoniert, ab und zu. Sie hat ihr eigenes Leben gelebt.«
Sie fixiert den Schnaps vor sich, driftet augenscheinlich in Gedanken ab. Ich hole sie zurück.
»Semina, darf ich Semina sagen?«
Sie nickt.
»Ich weiß, wie schwer das ist, aber bitte konzentrieren Sie sich. Wann hatten Sie in den letzten Tagen Kontakt?«
Diesmal kommt die Antwort schneller.
»Ich bin beruflich sehr eingespannt. Ich arbeite für eine internationale Spedition. Die letzte Woche war sehr stressig. Am Abend, wenn ich nach Hause komme, muss ich mir Zeit für Mutter nehmen. Es ist nicht immer leicht mit ihr. Am Freitag habe ich Jelena angerufen, wir haben nur kurz gesprochen. Sie war irgendwie anders als sonst, nervös. Wir haben uns verabredet, für heute, aber …«
Sie versucht, die Tränen zurückzuhalten.
»Wir haben kein Handy in Jelenas Wohnung gefunden«, sage ich, nachdem sie die Fassung zurückerlangt hat.
»Jelena besaß eines, ein Prepaidhandy. Sie hatte immer Angst, dass jemand mithört. In dieser Sache war sie eigen, ein wenig paranoid.«
Semina fängt an zu weinen. Ich spüre mehr als nur Trauer um ihre Schwester. Es ist ein schicksalhaftes Band, das zerrissen wurde und das nicht nur aus guten Erlebnissen geflochten war.
»Semina, hatte Jelena einen Freund?«
Sie wird plötzlich nachdenklich. Erneut schenkt sie sich einen Schnaps ein, aber sie trinkt ihn nicht hastig, sondern nimmt nur einen kleinen Schluck und schiebt dann das Glas von sich. Eine gute Entscheidung.
»Da war mal was«, sagt sie leise, »aber das ist schon einige Zeit her.« Dann schweigt sie.
Nach einem Moment frage ich nach. »Sie haben keine Ahnung, um wen es sich gehandelt haben könnte?«
Sie schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung. Sie hat ein großes Geheimnis um ihn gemacht. Jedenfalls waren wir froh, als es vorbei war.«
»Verzeihen Sie, aber es fällt mir schwer zu glauben, dass eine junge Frau, die so hübsch … also dass jemand wie Jelena …«
Ich finde nicht die richtigen Worte und entdecke den Anflug eines Lächelns bei Semina, aber es weicht schnell wieder der Trauer.
»Ja, hübsch war sie, meine Schwester, sehr hübsch. Während der Schulzeit war ein Junge schrecklich in sie verliebt.«
»Was war mit ihm?«
»Er war nicht der Richtige.«
»Nicht der Richtige? Was meinen Sie?«
»Er hat nicht zu ihr gepasst, ganz einfach.«
Sie verschweigt mir etwas. Ich muss an Zwangsehe und fesselnde Familienbande denken, aber Semina holt mich auf den Boden der Tatsachen zurück.
»Jelena war gläubig. Genau wie unser Bruder. Aber sie war sehr wählerisch. Sie wollte keinen Macho, keinen, der seiner Frau ein Kopftuch aufzwingt oder sie ans Haus fesselt.«
Ich versuche zu verstehen. Ich habe Jelena für nicht besonders gläubig gehalten, weil sie sich westlich kleidete, und nun erklärt mir ihre Schwester, dass ich genau mit dieser Annahme in eine Vorurteilsfalle getappt bin. Semina scheint meine Gedanken zu ahnen.
»Siebzig Prozent aller muslimischen Frauen tragen kein Kopftuch, das heißt aber nicht, dass sie nicht gläubig wären. Jelena hat Arabisch gelernt, den Koran und die Hadithe gelesen.«
Ich frage mich, warum Semina so weit ausholt, um meine Frage nach einem Mann zu beantworten, der in Jelenas Leben eine Rolle gespielt haben mag. Aber ich unterbreche sie nicht, sondern lasse ihr Zeit, zumal das Reden sie zu beruhigen scheint.
»Sagen wir, dass Jelena bestimmte Vorstellungen hatte, die zumindest die Wiener muslimische Community nicht erfüllen konnte.«
Es klingt fast trotzig aus Seminas Mund. Ich spüre, dass etwas nicht stimmt. Ich würde gern in tieferes Wasser waten, aber Semina lenkt ab und verharmlost, will mir die sumpfige Grube voller Krokodile als einfachen Teich verkaufen. Weil ich nicht weiterkomme und mein Unbehagen zunimmt, wechsele ich das Thema.
»Semina, haben Sie einen Schlüssel für die Wohnung von Jelena?«
Für einen Augenblick habe ich den Eindruck, als habe sie mich nicht gehört. Ihr Blick wirkt abwesend, dann antwortet sie: »Einen Schlüssel für ihre Wohnung? Nein, wieso?«
Ich nehme zur Kenntnis, dass Jelena und ihre Schwester definitiv nicht alles miteinander geteilt haben.
»Und Mesud hatte wohl auch keinen Schlüssel?«, frage ich ins Blaue.
Ihr Gesicht versteinert, und ich sehe, wie sie die rechte Hand zu einer Faust ballt. Ich warte die Antwort nicht ab.
»Ich würde gern mit Ihrem Bruder Mesud sprechen, Semina. Ihre Mutter hat da so Andeutungen gemacht …«
Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen.
»Ich weiß nicht, welche Andeutungen Sie meinen, aber meine Mutter hat gerade erfahren, dass ihre Tochter tot ist. Da sollten Sie nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Und im Übrigen weiß ich nicht, wo Mesud sich gerade aufhält. Wir haben nicht das beste Verhältnis. Vielleicht weiß es meine Mutter, aber da werden Sie sich gedulden müssen.«
Ich merke, dass es keinen Sinn hat, jetzt auf Antworten zu bestehen, aber ich lasse mich auch ungern zum Narren halten.
»Semina, ich will mit Ihrem Bruder reden. Und ich werde ihn finden, mit oder ohne Ihre Hilfe.«
Ich notiere ihre Handynummer, die sie mir zögerlich gibt, und lege meine Visitenkarte auf den Tisch, bevor ich mich verabschiede. Noch bevor die Tür hinter mir ins Schloss fällt, höre ich, wie Semina bitterlich zu weinen beginnt.