Heinz G. Konsalik
Roman
Die Glocken läuteten, als sie in Moskau einfuhren.
Sie waren das gewöhnt, denn in Moskau läuteten meistens die Glocken. Entweder betete der Zar um die Gnade Gottes, oder er ließ vor dem Kreml Spione, Aufsässige, lästige Adlige, Verräter und Denunzierte hinrichten. Und immer läuteten dabei die Glocken, als bestünde der Moskauer Alltag nur aus Festen.
Und auch das wiederholte sich, wenn sie durch Moskau fuhren: Die Menschen an den Straßenrändern gafften sie ungläubig an, als sähen sie ein Wunder oder als gäbe es so etwas nur in einer anderen Welt zu sehen. Sie zogen die Hüte und Mützen, verbeugten sich und steckten dann die Köpfe zusammen. Hast du das gesehen, Brüderchen? Sie haben ihre Schlitten mit Zobel ausgeschlagen, ihre Pferdchen tragen silbernes Geschirr, die Glöckchen an der Troika sind aus purem Gold, und die hohen Mützen sind mit Edelsteinen besetzt. Welch ein Reichtum! Welch ein Stolz! Aber wie lange wird das gutgehen? Darf man reicher sein als der Zar? Darf man es auch noch zeigen? Gott stehe ihnen bei, den reichen Herrchen aus dem Permer Land …
Die Kremlwache ließ die Schlitten ungehindert passieren. Wer da dick vermummt in den flauschigen Blaufuchspelzen hockte, hatte immer freie Durchfahrt.
Hinter der Kremlmauer scholl ihnen schon der Gesang der Mönche aus der Auferstehungskirche entgegen, aber der Weg von der Kirche zum Palast war mit Soldaten bespickt. Fürst Schuisky trat gerade aus der Tür, als die Schlitten hielten. Diener griffen nach den dampfenden Pferden und schlugen die dicken Fuchsdecken in den Schlitten zurück. Drei Männer in langen, mit Zobel besetzten Gewändern stiegen aus und reckten sich in der eisigen Luft.
Die Gebrüder Stroganow waren angekommen.
»Fürst Schuisky!«, rief Jakob, der Älteste. »Dass wir dich als Ersten sehen, ist ein gutes Omen! Wie geht es dem Zaren?«
»Er betet.« Fürst Schuisky zeigte auf die Kirche. »Wir hatten gestern vierundneunzig Hinrichtungen. Der Zar betet, dass er recht daran getan hat.«
Der Gesang der Mönche schwoll an. Die Stroganows schwiegen und blickten hinüber zu den vergoldeten Zwiebeltürmen. Aber es war kein ehrfürchtiges Schweigen … Während der Chor Gott lobte, rechneten die Brüder still nach, wie hoch der Zar bei ihnen verschuldet war. Wieviel Gold, Silber und Kupfer, wieviel Pelze und Seiden, Brokate und harte Rubel hatten sie als Gegenleistung gezahlt, damit niemand sagen könnte: »Seht euch doch die Stroganows an! Ihr Reichtum wächst von Tag zu Tag, wie ein Hefeteig im Ofen quillt. Eines Tages werden sie vor Überfluss und Macht platzen! Was gehört dem Zaren und was den Stroganows … Man kann es schwer unterscheiden!«
»Wollt ihr in die Kirche gehen?«, fragte Fürst Schuisky. Er kam die Treppenstufen hinunter und schlug den Pelzkragen hoch.
Die Brüder zögerten, dann schüttelten sie die Köpfe. Der Gesang der Priester und Mönche verebbte, die Glocken dröhnten. Zar Iwan IV., den man den Schrecklichen nannte, ließ sich jetzt segnen. Der Metropolit von Moskau tat es selbst, denn auch der oberste Kirchenfürst hat nur einen Kopf auf den Schultern. Seinen Vorgänger hatte man gefoltert, entmannt und geblendet – ein Vorbild, dem nachzueifern mit keinem Bibelwort befohlen wird.
»Eure Boten sind vorgestern eingetroffen«, sagte Fürst Schuisky zu Jakob, Gregor und Semjon Stroganow. Sie tauschten die obligaten Bruderküsse. »Es schien so, als habe sich der Zar gefreut.«
»Er braucht Geld.« Gregor Stroganow lachte unbekümmert. »Wir bringen ihm hunderttausend Rubel in Gold.«
»Er wird euch an seine Brust ziehen.« Fürst Schuisky schob die drei Brüder zur Tür, die vom Palast über einen kurzen Weg zur Kirche führte und die der Zar mindestens dreimal am Tag aufstieß, um dem Gesang seiner Priester und Mönche zu lauschen. Bisher war noch jeder Zar, je älter er wurde, in den Schoß der Kirche zurückgekrochen … Nur war es seltsam, dass auch jeder Zar mit zunehmendem Alter immer grausamer wurde. Sie schlossen sich von der Welt ab und vernichteten die Welt …
»Schnell hinein!«, sagte Schuisky. »Das Gebet ist zu Ende. Wenn euch der Zar draußen sieht und nicht in der Kirche, wird er ungnädig sein.«
Sie durcheilten einige große Zimmer und lange Gänge, gewölbeartige Säle mit gedrehten Säulen und bespannten Wänden, und stellten sich dann im Vorraum des Audienzsaales auf. Eine Gruppe Bojaren wartete bereits und begrüßte die Stroganows höflich, aber mit deutlichem Abstand. Seit der erste große Stroganow – Anika – mit Salzsieden so reich geworden war, dass er sich einen Palast bauen und sich sogar einen deutschen Hausarzt halten konnte, seit Anika Stroganow zum Hauslieferanten des Zaren ernannt worden war, dem deutschen Kaiser Maximilian einen kostbaren Pelz lieferte, der englischen Königin Elisabeth ein riesiges Zobelcape und weiche, fast gewichtslose Daunenfedern für die Betten der Zarinnen, seitdem wusste man nicht so recht, wieviel Macht nun Anikas Söhnen von Iwan IV. zugestanden wurde.
Auch lieferten die Brüder alles, was man verlangte: Lachse, Salme, Hechte und Kaviar, Rentierfelle aus der Tundra, Pelze von Zobeln, Eichhörnchen, Hermelinen, Bibern und Füchsen; sogar Perlen hatten sie im Fluss Iksa gefunden, was rätselhaft war, aber sie zeigten sie vor! Und italienischen Wein führten sie in Russland ein, auf der Handelsmesse in Kola tauschten sie Felle gegen Fässer. Wein war im rauen Russland, im Reich der Moskowiter, eine Rarität, und so zahlte sich der Weinverkauf an den Zaren und die Bojaren aus …
Keine Neider schaffen! Das war von Seiten der Stroganows eine wichtige Regel. Vorsicht – mit Blick auf die Zukunft –, das war die große Sorge aller Fürsten und Bojaren. Und so ging es hin und her mit kleinen Geschenken, mit Wohltaten – Freunde schaffen, Rückendeckung!
Der Zar war alt geworden, ein Schatten seiner selbst, ein krummer, gebeugter Mensch, der nie überwand, dass er seinen ältesten Sohn im Jähzorn erschlagen hatte. Der neue Zarewitsch war ein Weichling und Halbidiot. Wer kam nach Iwan, wenn der plötzlich starb? Wer übernahm das große, heilige Russland? Der bullige Boris Godunow? Der kluge Schuisky? Dimitri, der Säugling …?
Was hatte Anika Stroganow seinen Söhnen als Leitbild mit auf den Weg gegeben? Einnahmen messen – Ausgaben vergessen! Das hieß nichts anderes als sich die Macht kaufen, ganz gleich, wer im Kreml herrschte. Geld brauchen sie alle – die Zaren! Und ohne die Stroganows war die Zarenkasse halb leer. Der Glanz Russlands stammte aus dem fernen Permer Land, aus der Zentrale einer Handelsdynastie, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte, gegen die die deutschen Fugger in Augsburg nur kleine Krämer waren!
Durch die Wartenden lief Unruhe. Die Palastwache, riesige Weißrussen in hohen Mützen, die sie noch riesiger machten, besetzte die Eingänge. Der Zar war aus der Kirche zurück. Eine Schar Frauen, verhüllt wie büßende Nonnen, flatterte den Gang entlang wie blaue Nachtvögel: die Zarin mit ihren Hofdamen.
Die Bojaren steckten die Köpfe zusammen, die Brüder sahen sich an. Die Tür zum Audienzsaal sprang auf. Boris Godunow erschien in einem langen, mit Gold bestickten Mantel, aus dem noch der Geruch des Weihrauchs wehte. Er ging den Stroganows entgegen und gab ihnen die Hand. Sie vor den Augen der Bojaren zu umarmen, würde zu weit gehen, sie waren nicht von Adel, sie blieben Kaufleute. Sie waren Aufgestiegene aus der grauen ›Masse Volk‹, geachtet zwar, aber nicht gleichgestellt.
Später erst, in den eigenen Räumen, würde Godunow sie auch umarmen, wie es Schuisky getan hatte. Den Stroganows war es gleichgültig, sie kannten ihren Wert besser als Boris Godunow den seinen.
»Der Zar ist so gnädig, euch anzuhören«, sagte Godunow so laut, dass es alle Herumstehenden hören mussten. »Gott segne den Zaren!«
»Gott segne ihn!«, murmelten im Chor die Brüder Stroganow. Genug der äußerlichen Formalitäten, dachten sie und gingen an Godunow vorbei in den Audienzsaal. Sie senkten die Köpfe. Hinter ihnen fielen die großen Türen zu. Sie waren allein mit Iwan dem Schrecklichen, wie es dieser befohlen hatte. Godunow und Schuisky blieben draußen zurück; ein neuer Beweis, wie hoch der Zar die Brüder Stroganow schätzte! Mit dem Zaren allein zu sein, war wie eine Segnung …
Was man sich im fernen Permer Land, in Orjol am Fluss Kama, der Residenz der Stroganows, erzählte, sahen sie jetzt vor sich: einen Zaren, der mit ausgezehrtem Gesicht, bleich und verkrümmt, auf seinem Sessel saß, der Kopf beherrscht durch eine Hakennase, die wie der scharfe Schnabel eines Adlers zum Zuhacken bereit war. Das eisgraue Haupt bedeckte eine spitz zulaufende Zobelmütze, der pelzgefütterte Überrock war aus französischem Brokat – aus dem Hause Stroganow. Der Bart des Zaren war ausgefranst, als habe man ihn daran quer durch Moskau gezogen. Iwan stützte sich selbst im Sitzen auf seinen Possoch, den langen, geschnitzten, mit Gold und Silber verzierten Stab mit der Eisenspitze, diesen verfluchten Stab, mit dem Iwan geprügelt und getötet hatte, erstochen und aufgespießt. Das Symbol seiner unumschränkten Macht, die sich nur vor einem beugte: vor Gott.
Das war das Fürchterliche an Iwan dem Schrecklichen: Er mordete und betete dabei.
Die Brüder Stroganow hielten die Köpfe gesenkt und schielten von unten auf den Zaren. Sie waren betroffen über sein Aussehen und dachten alle drei das Gleiche: Heute muss gelingen, was nicht nur die Stroganows, nein, was ganz Russland zur führenden Macht der Welt machen wird. Heute ist der Tag, an dem das reichste, herrlichste Volk der Erde geboren wird: Groß-Russland!
»Meine Krämer!«, sagte Iwan laut.
Die Brüder Stroganow hoben die Köpfe. Die Begrüßung deutete auf gute Laune hin. Wenn Iwan sie ›Krämer‹ nannte, war er zu Scherzen aufgelegt. Sonst titulierte er sie »Wölfe, die vor meiner Hütte heulen, die ich füttere und die mir als Dank Kot vor die Tür setzen …« Es war schwer, mit dem Zaren zu sprechen, das hatte schon Vater Anika gemerkt. Der Erfolg allein zählte. Einnahmen messen – Ausgaben vergessen!
»Ihr seid der Atem Russlands, Gossudar«, sagte Jakob, der Älteste der Stroganows. »Gott möge vergessen, dass ein Atem sterblich ist …«
»Was wollt ihr?« Der Zar zeigte auf eine gepolsterte Sitzbank. Die Brüder Stroganow setzten sich artig wie Schulkinder und falteten die Hände. Dann sprach Gregor, denn er hatte das meiste diplomatische Geschick:
»Wir bringen, großer Zar! Hunderttausend in Gold geprägte Rubel, zweitausend Eichhörnchen, neunhundert blausilberne Füchse …«
Iwan musterte die Brüder. Sein von jeher stechender Blick war im letzten Jahr noch unerträglicher geworden. Wen diese Augen trafen, der verstummte, denn ihm war die Gnadenlosigkeit begegnet.
»Das alles holt ihr aus eurem Permer Land?«
»Nein.« Semjon Stroganow, der Stratege in der Familie, versuchte, dem Blick des Zaren standzuhalten. Es gelang ihm, aber das Herz klopfte ihm dabei bis in den Hals hinauf.
»Gossudar, Ihr wisst, dass fremde Jäger die Felle zu uns bringen. Über die Felsen und durch die Schluchten des großen Uralgebirges, aus dem Land, das sie Mangaseja nennen …«
»Mangaseja!« Iwan beugte sich vor und stützte sich schwerer auf den Possoch. »Immer dieses Mangaseja! Schon euer Vater hat mir davon erzählt.«
»Wir wissen es, Gossudar.« Jakob, der kühle Rechner, sagte es. »Und wir wissen, dass du den Plan hattest, mit Waffengewalt in dieses Land einzudringen, um es für Russland zu erobern. Das ist unmöglich. Ein Heer muss einen Aufmarschweg haben. Es muss Nachschub erhalten, Menschen und Tiere kann man nicht in eine Wildnis schicken, die noch niemand außer ein paar Waldläufern und Pelzjägern kennt. Die unüberwindliche Felsenkette des hohen Ural liegt dazwischen. Kein Weg führt hindurch, nur schmale Pfade durch Schluchten und über schwindelnde Höhen. Und dahinter …«
»Mangaseja«, fuhr Semjon fort, »ist ein Land, das man nicht beschreiben kann, dessen Reichtum unvorstellbar für einen Menschen ist.«
Der Zar stieß den Possoch hart auf den steinernen, mit Fellen bedeckten Boden. »Reden! Reden!«, sagte er hart. »Wo bleiben die Taten?«
Gregor Stroganow, der Diplomat, beugte sich vor. »Wir haben die neuesten Nachrichten aus Mangaseja gesammelt, o Zar. Verschiedene Völkerstämme leben dort, schlitzäugig wie die Chinesen oder Tataren. Im Sommer ist es dort so heiß, dass die Menschen nur in den Flüssen leben, weil ihnen sonst vor Hitze die Haut aufplatzt. Im Winter aber ist es so kalt, dass sie kaum Nahrung finden, und wenn sie kein Rentier erlegen können oder durch das dicke Eis nicht an die Fische in den Flüssen kommen, fressen sie sich gegenseitig auf. Man nennt sie deshalb auch Samojeden, was so viel wie ›Selbstfresser‹ heißt. Andere Völker in diesem Land haben den Mund oben auf dem Kopf und können nicht sprechen. Ein Volk lässt sich im Winter einfrieren, braucht dann keine Nahrung und lässt sich von der Frühlingssonne wieder auftauen.«
»Das sind Märchen«, sagte Iwan zurückhaltend, »so etwas gibt es nicht, Krämer.« Aber die Brüder Stroganow sahen, dass der abgeschossene Pfeil im Herzen des Zaren gelandet war.
»In Mangaseja gibt es noch anderes, o Zar: Völker, die sich riesige Herden schwarzer Zobel halten – als Schlachtvieh! Wertvolle schwarze Zobel, nur um sie zu essen! Blaufüchse melken sie wie Kühe, und sie haben Eisbären abgerichtet, die für sie in den Flüssen die Fische fangen. Das ganze Land quillt über von Pelztieren, Fischen der edelsten Art, Gold und Silber, Salz und Kupfer, Blei und Edelsteinen!«
»Und warum liegt dieses Land vor meiner Tür und keiner erobert es?«, schrie der Zar. Er sprang auf und stieß mit dem Possoch nach Jakob Stroganow, aber der saß so weit von Iwan entfernt, dass ihn der Zar nicht treffen konnte. »Krämer, du bist mit deinen Brüdern doch nicht nach Moskau gekommen, um mir von Menschen zu erzählen, die Blaufüchse melken!«
»Jenseits des Ural gibt es einen Zaren …«, begann Semjon, der Stratege, ungerührt. Es war ein so ungeheuerlicher Satz, dass die beiden anderen Brüder zusammenzuckten. Auch wenn es die Wahrheit war – sie hatten die Absicht gehabt, sie Iwan schonender beizubringen. Aber Semjon schien die Lage anders einzuschätzen.
Iwan der Schreckliche starrte die drei schweigend an. Sein Adlergesicht unter der spitzen Zobelmütze zuckte kaum merklich. »Einen Zaren …«, krächzte er dann heiser. »Einen Zaren außer mir? Er nennt sich wirklich Zar?«
»Er nennt sich ›Herrscher der Erde‹«, entgegnete Gregor, der Diplomat. »Sein wirklicher Name ist Kutschum. Er ist ein Nachfolger des Dschingis-Khan. Kutschum ließ verbreiten: ›Ich bin der erste Zar über ganz Sibirien!‹ Seit Monaten kommen seine Krieger unter der Führung seines Neffen Mametkul ins Permer Land, überfallen unsere Siedlungen, zerstören die Salzpfannen, versenken unsere Boote auf der Kama, und wenn wir unsere eigene Wachttruppe in Marsch setzen, verschwinden sie wieder spurlos in der für uns noch undurchdringlichen Wildnis des Urals. Sie verschleppen unsere Frauen und Kinder, brennen die Siedlungen nieder, hetzen die anderen Völker, die mit uns Handel treiben, gegen uns auf und veranstalten Reiterspiele, bei denen sie die Gefangenen an Pfähle binden und ihnen im Vorbeigaloppieren die Köpfe abschlagen! Wir haben begonnen, überall kleine Festungen zu bauen, wohin wir unsere Siedler in Sicherheit bringen. Kutschum ist dabei, in dein Reich einzudringen, Gossudar …«
Iwan der Schreckliche sah die Stroganows schweigend an. Es waren Sekunden, die sich zu Ewigkeiten dehnten; aber es waren Sekunden, die über Russlands Zukunft – die Eroberung Sibiriens oder Mangasejas, wie das riesige unerforschte Land auch genannt wurde – entschieden.
Sie sind mächtig, diese Krämer, dachte Iwan IV. Sie werden immer mächtiger, von Jahr zu Jahr. Einmal werden sie, diese heimlichen Herrscher Russlands, größer sein als der Zar. Kann man das zulassen? Soll man jetzt wieder – wie so oft in den vergangenen Jahrzehnten – den Stroganows Sonderrechte einräumen, ihnen mit kaiserlicher Huld den Weg nach Osten freigeben, ihnen dieses Sibirien überlassen, das sie zwar für Russland entdecken werden, aber dessen Schätze in ihre Taschen wandern? Ist dieses sagenhafte Mangaseja es wirklich wert, dass ein Krämer – wenn auch heimlich – auf den Zaren herabsehen kann? Sind alle diese Berichte von jenseits des Ural nicht übertrieben?
»Ihr wollt das Recht haben, das in meinem Namen eroberte Neuland auszubeuten …«, sagte Iwan hart.
»Wir bitten um die Gnade, Mangaseja für Russland zu erschließen«, antwortete Jakob Stroganow. »Mehr nicht, erhabener Zar.«
»Das ist genug, wenn man die Stroganows kennt!« Iwan winkte, und die Brüder sprangen von der Polsterbank auf. »Ich lasse euch wieder rufen, wenn mein Ratschluss und Gottes Wille übereinstimmen.«
»Es eilt, o Zar!« Semjon Stroganow verbeugte sich tief. »Jeden Tag brennt eine Siedlung im Permer Land.«
»In Russland brennt jeden Tag irgendwo irgendetwas …«, antwortete der Zar ungerührt. »Ich verspreche euch, an Mangaseja zu denken.«
Die Konferenz war zu Ende. Die Stroganows verließen den Audienzsaal, nicht sehr zufrieden, aber auch nicht enttäuscht. Sie wussten von ihrem Vater Anika, dass Iwan immer zögerte, ehe er Rechte vergab.
Mit den Salzrechten war das so gewesen, mit der Erschließung des Permer Landes und der Kama, mit der Gründung von Siedlungen, die aus dem Hause Stroganow einen Staat im Staate werden ließen. Letzten Endes hatte Iwan dann immer nachgegeben; Russland würde ewig bestehen, die Stroganows nicht, das war wichtig. Und Russland konnte durch die Stroganows nur größer werden …
»Wir bleiben in Moskau und warten«, sagten die Brüder zum Fürsten Schuisky, als sie im Gästeflügel des Kremls bei gebratenem Huhn und italienischem Wein saßen. »Der Zar, der einmal nach Iwan kommen wird, kann sich Herrscher der halben Welt nennen!«
Fürst Schuisky behielt diesen Satz im Ohr. Wie Boris Godunow glaubte er an die Stunde, in der man ihn zum Zaren krönen würde. Die Erben aus Iwans Sippe hatten kein langes Leben auf dem Thron – das war ganz sicher nach Iwans Tod …
Die Brüder Stroganow blieben bis zum Frühjahr in Moskau, knüpften dabei neue Geschäftsverbindungen, beschenkten die ihnen wohlgesinnten Bojaren und Fürsten oder kauften sich diejenigen, die noch nicht auf ihrer Seite standen. Sie erfuhren von Boris Godunow, dass Iwan einen Gesandten zu dem sibirischen Zaren Kutschum geschickt habe, um diesen aufzufordern, an ihn, den einzigen wahren Zaren, Tribut zu zahlen. Sie feierten die Antwort Kutschums, der frech zurückschrieb, er, der sibirische Zar, der freie Herrscher Kutschum, lasse dem Großfürsten sagen: Wer Frieden will, könne mit ihm Frieden schließen. Aber wer Krieg wolle, könne ihn haben! Außerdem wurde der Gesandte, der die Botschaft zurückbrachte, von Mametkul, dem Neffen Kutschums, an der russischen Grenze aus dem Land geprügelt.
»Es wird gelingen –«, sagte Jakob Stroganow zufrieden. »Ein Iwan beugt sich nicht vor einem Halbwilden …«
Am 30. Mai des Jahres 1574 empfing Iwan IV. noch einmal die Brüder Stroganow. In feierlicher Kleidung schritten Jakob und Gregor durch den Kreml; Semjon war nach Orjol zurückgefahren, um dort die Geschäfte nicht völlig zu vernachlässigen. Jetzt, im Frühjahr, kamen die Pelztierjäger mit ihrer ganzen Winterbeute zu den Handelsstationen …
»Ich habe lange nachgedacht«, sagte der Zar milde. Nur das Glühen seiner Vogelaugen bewies, dass er innerlich um Beherrschung rang. »Ich erteile euch die Erlaubnis, das Land bis zum Tobolfluss zu erobern, dort nach eigenen Plänen Befestigungen anzulegen und die von diesem sogenannten sibirischen Zaren Kutschum unterdrückten Völker zu befreien! Als Lohn für eure großen Dienste überschreibe ich euch für ewige Zeiten das Recht, Eisen-, Blei- und Kupferminen anzulegen, freien Handel mit den Kirgisen und Bucharen zu treiben und das Land durch Siedlungen zu festigen.«
Die Stroganows verbeugten sich tief, fast bis auf die Erde. Das Wichtigste hat er vergessen, dachten sie. Wie ist es mit einer militärischen Unterstützung durch die zaristische Armee? Sollen wir allein Sibirien erobern, wir Stroganows?
Der Zar winkte. Boris Godunow führte die Brüder hinaus und wartete, bis sich die Tür wieder schloss. Dann sagte er leise:
»Vergesst nicht, welchen Anteil ich an dieser Stunde habe.« Für die Stroganows stand damit fest, wer einmal der neue Zar sein würde …
Fünf Jahre gingen dahin. Die Stroganows unternahmen trotz der einmaligen Schenkungsurkunde nichts. Zaristische Truppen bekamen sie nicht, und allein gegen die Streitmacht Kutschums zu ziehen, war Wahnsinn. Außerdem hatte Mametkul seine Raubzüge eingestellt, der Handel lief reibungslos. Wozu also erobern, wenn es auch friedlich ging?
Es starben in diesen fünf Jahren Jakob und Gregor Stroganow und ließen ihren Bruder Semjon und ihre Söhne Nikita und Maxim zurück. Und mit dieser neuen Generation kam auch neues Leben in den Plan, Mangaseja zu erobern. Iwan der Schreckliche lebte noch immer – blutiger als vorher. Die Stroganows schickten brav ihre Abgaben nach Moskau, aber über Sibirien sprach man von keiner Seite mehr. Den Zaren beschäftigten die litauischen und polnischen Probleme stärker – die waren greifbar! Mangaseja war … Fantasie!
Nicht so für die jungen Stroganows, die Vettern Nikita und Maxim. Sie horchten herum, und sie hörten – wer in Russland konnte das überhören? – von einem seltsamen Völkchen, das da unten am Don lebte und dessen Männer sich Kosaken nannten. Aus ihnen wurde niemand klug. Einmal kämpften sie auf Seiten des Zaren, als die tapfersten aller Krieger, das andere Mal zogen sie als Räuber übers Land, brannten und plünderten, schändeten und schlugen sich mit ihren ehemaligen zaristischen Kampfkameraden herum. Das Volk liebte sie, weil sie freie Männer waren. In den Akten des Kremls nannte man sie Diebe, Räuber, Mörder, Banditen und Deserteure. Sie kämpften am Asowschen Meer gegen die Türken – das gefiel dem Zaren –, aber sie plünderten auch die Schiffe auf der Wolga und verschwanden dann auf ihren kleinen, blitzschnellen Pferdchen in den Weiten der Steppe …
»Die Kosaken sind die Einzigen, die es mit Kutschums Reitern aufnehmen können«, sagte Nikita Stroganow, nachdem er genug Material über die Leute vom Don und den Steppen am Kaspischen Meer gesammelt hatte. »Erschlagen, gehenkt oder gejagt zu werden, das ist ihr Leben! Wenn wir Mangaseja erobern wollen, dann nur mit diesen Leuten. Wir sollten mit ihnen reden …«
Semjon, der letzte Überlebende der drei Brüder, bewunderte den Scharfblick seiner Neffen und war stolz auf sie. Seit fünf Jahren lag Iwans Urkunde, die die Stroganows zu den reichsten Männern der Erde machen konnte, ungenutzt im Schrank. Es war ein Zustand des Dahinstaubens, der Semjon körperlich wehtat. Aber bis zu dieser Stunde hatte er nicht einen Ausweg gesehen, ohne die Truppen des Zaren in Sibirien einzufallen.
»Ich schreibe den Kosaken einen Brief«, sagte er zu Nikita und Maxim. »Wer ist ihr Anführer?«
»Der berühmteste ist Jermak Timofejewitsch, vom Gouverneur der Provinz zum Tode verurteilt, aber nie gefangen …« Maxim Stroganow blickte in seine Papiere. »Für die Völker an der Wolga eine wahre Gottesplage, aber die Menschen am Don nennen ihn ›Das mutige Brüderchen‹. Was willst du ihm schreiben, Onkel?«
»Dass Gott sie braucht!«, sagte Semjon Stroganow milde.
»Das liest sich immer gut.« Nikita lehnte sich auf seinem Fellstuhl zurück und lachte. Er war von Natur aus ein fröhlicher Mensch. »Für Gott haben sie noch nie geraubt und geplündert.«
»Aber wir müssen sie bezahlen.« Semjon klingelte. Ein Sekretär kam mit einem aus Silber getriebenen Tintenfass und einigen Federkielen herein. »Wenn euer Großvater Anika das erlebt hätte …«, sagte Semjon leise und gerührt. »Sibirien war der große Traum seines Lebens – wir werden ihn erfüllen!«
Das Dorf Blagodornje liegt irgendwo am Don, umgeben von Steppen und Birkenhainen, Kirschgärten und wilden Rosen. Ein paar Häuser aus roh behauenem Holz stehen da; eine festgestampfte Straße, mit Zäunen eingefasste Beete und sogar eine winzige Kirche gibt es.
Vor sich die trägen Wasser des Don, hinter sich die unendliche Steppe, über sich den weiten blauen Himmel … Es hätten hier Menschen leben müssen, denen der Begriff »Ewigkeit« bewusst geworden war.
Aber das Gegenteil war der Fall: Blagodornje hatte schon alles erlebt, was Vergänglichkeit bedeutete, war dreimal von zaristischen Truppen verbrannt und zum vierten Mal wieder aufgebaut worden, hatte die Strafexpeditionen des Zaren überstanden, hatte Hinrichtungen seiner Männer, die man fassen konnte, überlebt, und Racheschwüre der Zurückgekommenen gehört, wenn die Gefahr vorbei war.
Zur Zeit herrschte Frieden. Die Männer, die sich stolz Kosaken nannten, hatten ihre Raubzüge nach dem Süden verlegt und plünderten die Nomaden aus, die vom Asowschen Meer aus nach neuen Weidegründen suchten. Das störte den Zaren in Moskau wenig, brachte aber auch wenig ein. Erneut mit Moskau Streit anzufangen, war Jermak noch zu gefährlich; der Nachwuchs war noch nicht so weit gediehen, um die stark gelichteten Reihen der Reiterhorden aufzufüllen. Was aus den vergangenen Kriegen übrig war, sehnte sich nach etwas Ruhe und Entspannung. Ab und zu ein Überfall, das war gewissermaßen eine Art Übung, um nicht völlig zu verbauern. Denn das war das Schrecklichste, was einem echten Kosaken geschehen konnte.
Es war an einem Apriltag des Jahres 1579, als drei staubbedeckte Reiter in Blagodornje erschienen und nach dem Haus Jermak Timofejewitschs fragten. Da solche Fragen von Fremden immer Unheil bedeuteten, riss man die drei zunächst von den Pferden, leerte ihnen die Taschen, was ein guter Kosak nie vergisst, und verhörte sie auf dem Festplatz zwischen Don und Kirche.
Die Aussage, dass sie von den Kaufleuten Stroganow kämen und eine Botschaft an Jermak hätten, sagte den Kosaken zunächst nichts. Am Don war das Haus Stroganow unbekannt.
Aber das sollte sich an diesem Apriltag ändern.
Man schleifte die drei Männer in Jermaks Haus, warf sie in eine Ecke und schickte Reiter aus, um Jermak zu suchen. Er saß friedlich am Don, angelte und unterhielt sich mit seinem Freund Iwan Matwejewitsch Muschkow, der auf dem Rücken lag, an einem Stück Holz schnitzte und an die vergangenen großen Tage dachte.
»Ein Brief?«, fragte Jermak, als die Reiter ihn gefunden hatten. »An mich? Von einem Stroganow? Es gibt noch jemanden, der mir einen Brief schreibt? Die Zeiten ändern sich wirklich, Iwan Matwejewitsch. Früher schickte man mir den Henker ins Haus!«
»Die Welt verödet, Jermak Timofejewitsch«, antwortete Muschkow trübsinnig und warf sein geschnitztes Holz in den Fluss. »Man verkehrt schon mit uns, als seien wir die gleichen Idioten wie die Stadtmenschen!«
In Jermaks Hütte hatte sich unterdessen der Pope über den Brief hergemacht. Er war der Einzige, der lesen konnte; man hatte es ihn im Kloster gelehrt, aus dem er aber vor siebzehn Jahren ausgebrochen war, um als Kosak an einigen der berühmtberüchtigten Raubzüge Jermaks am Schwarzen Meer teilzunehmen. Trotzdem blieb er, sehr zur Verblüffung Jermaks, ein Pope, baute diese kleine Kirche in Blagodornje und schloss sich neuen Raubzügen an, aber nur, um sich aus anderen Kirchen die fehlenden Ikonen und Heiligenfiguren zu beschaffen, die Segnungskreuze und die Messgefäße. So kam es, dass das Kirchlein von Blagodornje eine der schönsten Ikonostasen besaß, mit Edelsteinen besetzte Gefäße und reiche Priestergewänder von Patriarchen.
»Tatsächlich, ein Brief!«, rief Jermak, als der Pope das Schreiben hochhielt und mit ihm über die Köpfe der anderen wedelte. Was an Männern im Dorf war, drängte sich in Jermaks Haus, um diese Sensation mitzuerleben: Jemand, irgendwo dort oben im Norden, schreibt nach Blagodornje! Es war ein Jahrhunderttag, und er wurde es, für Russlands Geschichte und für die Weltgeschichte, wirklich!
»Ruhe, ihr Eisentöpfe!«, brüllte Oleg Wassiljewitsch Kulakow, der Pope, mit seinem dröhnenden Bass. »Ich lese vor! Jermak Timofejewitsch, der Brief kommt von einem Semjon Stroganow aus Orjol an der Kama …«
»Er kann vom Mond kommen, der ist genauso unbekannt!«, sagte Jermak und setzte sich. Er musterte die drei Boten, die noch immer in der Ecke des Zimmers lagen, verschüchtert, Angst in den Augen, bleich wie ein Leintuch. »Was will dieser Semjon an der Kama?«
»Er schreibt: ›An den Kosaken-Hetman Jermak Timofejewitsch, gegeben am 6. April 1579 zu Orjol. Lieber, in Christus vereinter Bruder Jermak …‹«
»Ein Idiot!«, sagte Jermak laut.
»Der Anfang klingt aber gut!« Der Pope sah Jermak strafend an. »Ich lese weiter: ›Wir haben von Dir und Deinen Taten gehört, von Heldentum, von Verfolgung und Strafe, und wir haben im Vertrauen auf Gott die Hoffnung, Dich davon überzeugen zu können, dass es besser ist, das eines christlichen Kriegers unwürdige Handwerk aufzugeben, kein Räuber mehr, sondern Krieger des Weißen Zaren zu sein, keine unrühmlichen Gefahren mehr zu suchen, sondern sich mit Gott und Russland auszusöhnen.‹«
»Doch ein Idiot!«, sagte Jermak noch lauter. Er sah die drei Boten an und beugte sich vor, »Wer ist dieser Semjon Stroganow, he?«
»Der reichste Mann Russlands«, antwortete einer der Boten zögernd.
»Das klingt wieder gut. Lies weiter, Pope!«
»›Wir haben Festungen und Ländereien, aber wenig Mannschaft. Kommt und helft uns, Groß-Perm und die östliche Grenze der Christenheit zu schützen …‹«
»Festungen und Ländereien …«, wiederholte Jermak nachdenklich. »Und hinter der Grenze liegt ein unbekanntes Land. Man sollte sich dieses Angebot überlegen. Was wir da oben auch tun, wir tun’s für den Zaren. Und für die Christenheit!« Er streckte die etwas krummen Reiterbeine aus und blickte hinüber zu seinem Freund Muschkow.
Dessen Augen strahlten. Ob Kama oder Schwarzes Meer, ob Ural oder Wolga – die Stille war vorbei, das Herumsitzen, das Bravsein, die Langeweile, die einen durchbohrte wie ein Wurm. Man konnte wieder auf dem Rücken der Pferde sitzen und mit Schreien, die das Blut erstarren ließen, in die Dörfer und Siedlungen stürmen … Unbekanntes, reiches Land … Denn es musste reich sein, weil noch keine Kosaken dagewesen waren.
»Wir stimmen ab!«, sagte Jermak laut, nachdem er Muschkows leuchtenden Blick verstanden hatte. »Keiner soll gezwungen werden, Blagodornje zu verlassen. Aber wer mit mir ziehen will, kommt am Abend auf den Festplatz!« Er sprang auf, ging durch eine Gasse begeistert klatschender Hände und drehte sich an der Tür noch einmal um. »Schickt Werber den Don hinauf und hinab. Trommelt die Leute an der Wolga zusammen. Ich nehme jeden mit, der Mut hat!«
Das war ein perfider Satz. Welcher Kosak hat keinen Mut? Wer würde es wagen, nach diesem Satz in seinem Dorf zu bleiben und Kohl anzubauen?
»Brüder, auf zur Kama!«, schrie Muschkow aus dem Hintergrund.
»Und die Garantie?«, rief der Pope dazwischen und schwenkte den Brief.
»Welche Garantie?«
»Dass man uns braucht! Dass wir für die Christenheit kämpfen können!«
Dass wir uns die Taschen füllen können, dachten sie alle im Stillen. Ja, wer garantiert das? Ein kluger Kopf, der Pope! Ist so ein dummer Brief eine Garantie?
»Wir reiten zu Semjon Stroganow. Und seine drei Boten sind unsere Führer.« Jermak lachte und zeigte auf die drei immer noch ängstlichen Gestalten in der Ecke. »Hat er uns betrogen, ziehen wir ihnen die Haut vom Leib und seinem Semjon Stroganow dazu! Man ruft keinen Jermak Timofejewitsch zum Spaß!«
»Es lebe die Freiheit!«, schrie Muschkow. »Brüder, auf die Pferde! Die Kosaken kommen wieder …«
Mitte Mai stand Jermaks Streitmacht fest. Aus allen Winden waren die Kosaken herbeigeritten, hatten Haus und Frauen, Kinder und Eltern verlassen, um Jermaks Ruf zu folgen. Zu neuen Abenteuern in die unbekannten Zauberländer!
540 Reiter versammelten sich auf dem Festplatz von Blagodornje, Pferdekopf neben Pferdekopf. Bis hinunter zum Ufer des Don standen sie, weil der Platz an der Kirche zu klein war. Der Pope Oleg Wassiljewitsch Kulakow, über Stiefel und Kosakenhose das schwarze Priestergewand, ritt durch die schmalen Gassen, die man gelassen hatte, und segnete Mann und Ross, bespritzte sie mit Weihwasser und sang dabei das Kyrie eleison. Es war ein feierlicher Akt, vielen standen die Tränen in den Augen, und sie beteten mit wirklicher Inbrunst. Erst danach schwang sich Jermak in den Sattel und hob den Arm.
»Kosaken!«, schrie er. »Nach Norden!«
Dann galoppierte er los, vorbei an den drei Boten der Stroganows und an Muschkow, der die erste Abteilung befehligte.
»Nach Norden!«, brüllte es aus 540 Kehlen zurück. Dann versank Blagodornje in einer riesigen Staubwolke.
Als Letzter ritt der Pope aus dem Dorf. Er hatte seine Kirche abgeschlossen und ein Schild an die Tür gehängt: »Geschlossen nach Gottes Willen!« Aber das konnte keiner lesen im Dorf.
Ein Kosakenzug, der mehrere Wochen dauert, ist etwas anderes als ein normaler Transport von Männern und Pferden in andere Gegenden. Der Weg vom Don zur Kama war weit, und kein echter Kosak legte so eine Strecke zurück, ohne unterwegs zu rauben und zu plündern. ›Sich aus dem Land ernähren …‹, nannte es Jermak.
Die Dörfer, die sie durchzogen, stöhnten denn auch hinterher in bitterer Qual, leergefressen und voller geschwängerter Frauen und Mädchen. Es war sinnlos, sich zu wehren, tödlich, etwas zu verstecken, vergebens, wegzulaufen. 540 Kosaken auf einen Schlag – das war ein Naturereignis, das man ertragen musste wie eine Heuschreckenplage oder den Kartoffelkäfer. Man konnte nur warnen.
Und so ritten Jermaks kleiner Armee immer ein paar Bauern voraus, im großen Bogen, die Kosaken umgehend, und alarmierten die am Wege liegenden Dörfer.
Bis zu dem Ort Nowo Orpotschkow. Er lag am Oberlauf der Wolga und besaß einen Dorfältesten, der Alexander Grigorjewitsch Lupin hieß.
Lupin, der Starost, war kein starker, aber er war ein mutiger Mann. Als die Reiter des zuletzt von Jermak durchzogenen Dorfes bei ihm eintrafen, ließ er mit eisernen Kesseln Alarm geben, besetzte die Straße mit seinen Männern und bewaffnete sogar die Frauen mit Knüppeln, Eisenstangen, Mistgabeln und allem, was sich zum Schlagen und Stoßen eignete. Außerdem baute er eine Falle: Die Hälfte seiner Leute versteckte er am Wolgaufer. Sie sollten von hinten kommen, wenn vorn der Kampflärm begann. Auch ein Kosak kann so schnell kein Pferd wenden, wenn er eingekeilt ist.
Nowo Orpotschkow.
Wenn man später Iwan Matwejewitsch Muschkow reden hörte, war das der Name eines Ortes, den der Teufel geschaffen, dem aber Gott ein Mäntelchen umgehängt haben musste. »Wir hätten einen Bogen darum machen sollen«, sagte er später immer wieder. »Schon als ich den Bauernklumpen auf der Straße sah, ahnte ich nichts Gutes.«
Und so war es. Jermak und Muschkow, die an der Spitze ritten, blickten mehr belustigt als betroffen auf die Menschen, die sich ihnen in den Weg stellten.
»Auch das gibt es!«, rief Muschkow fröhlich und hielt sein Pferd an. Die Kosaken blieben stehen und lachten. Aus 540 Kehlen flog diese brüllende Wolke über das stille Land und senkte sich auf die mutigen Bauern nieder.
»Macht euch nicht in die Hosen!«, knirschte Lupin. »Jetzt lachen sie noch, Brüder, aber in ein paar Minuten werden sie stöhnen …«
»So viel Dummheit sollte man schonen«, meinte Muschkow und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Was hältst du davon, Jermak?«
»Nichts!« Jermak schob das Kinn vor. Dann zog er seinen Säbel aus der Sattelschlaufe und hob ihn hoch empor.
»Jetzt!«, sagte der Dorfälteste Lupin auf der anderen Seite dumpf zu seinen Bauern. »Brüder, wir gehen nicht wehrlos unter!«
Die Kosaken setzten zum Sturm an. Ein gewaltiger Aufschrei erfüllte die Luft. Was 540 Pferde und Männer mit geschwungenen Säbeln nicht vollbrachten, das bewirkte dieser Schrei. Die Männer von Nowo Orpotschkow warfen ihre Waffen weg und rannten nach allen Seiten auseinander.
Nur Lupin blieb stehen, allein auf der Straße, und Jermak, der an ihm vorbeipreschte, gab ihm nur einen Stoß. Der Starost rollte über die Erde, fiel in einen Graben und überlebte nur dadurch die zweitausend Pferdebeine, die über ihn hinwegrasten.
Eine halbe Stunde später brannte das Dorf. Die Kosaken schleppten Felle und Getreidesäcke, billigen Schmuck und Räucherfleisch, Gurkenfässer und gesalzenen Kohl aus den Häusern, ehe sie brennende Büschel aus trockenem Gras hineinwarfen. Wer Lust dazu hatte, machte Jagd auf die Frauen. Die Kosaken warfen sie auf die nackte Erde vor den brennenden Häusern oder in den Gärten und schändeten sie.
Auch Muschkow streunte durch das Dorf und suchte ein Mädchen nach seinem Geschmack. Vor einem Haus mit geschnitzter Tür fand er es endlich … ein noch etwas mageres, blondhaariges Geschöpf, das ihm mit einem dicken Knüppel entgegenkam und ihm, ohne etwas zu sagen, einen kräftigen Hieb auf den Kopf versetzte. Muschkow war so verblüfft, dass er selbst dem zweiten Schlag nicht auswich; dem dritten aber entging er. Er packte die kleine wilde Katze am Hals, schleifte sie in einen Garten und schüttelte sie. Das Mädchen kratzte und biss, es trat gegen seinen Unterleib und stieß mit dem Kopf gegen seine Brust. Es riss sich tatsächlich los und flüchtete, aber mit drei Sätzen holte Muschkow es ein und warf sich darüber, wie man in seinem Dorf ein wegrennendes Huhn einfängt.
Sie rollten aneinandergeklammert über den Boden, stießen gegen einen Gartenzaun und blieben dort liegen. Muschkow lag oben, er drückte sie mit beiden Händen nieder und spürte unter seinen Fingern ihre junge, noch nicht ausgereifte Brust. Die großen blauen Augen des Mädchens starrten ihn an. Es war keine Angst in ihnen, nur eine wilde Entschlossenheit.
»Töte mich!«, sagte sie leise. »Töte mich vorher. Wenn du’s nicht tust, mache ich es hinterher selbst …«
»Ich heiße Iwan Matwejewitsch Muschkow …«, sagte er. Bis an das Ende seiner Tage konnte er nicht erklären, warum er das damals gesagt hatte. Er musste es einfach tun, als er in ihre Augen sah.
Und sie antwortete: »Ich bin Marina Alexandrowna Lupin …«
»Marina …« Muschkow lockerte den Griff. Um sie herum tobten die Brände, gellten die Schreie der Frauen und das siegesbewusste Lachen der Kosaken. Dazwischen wieherten die kaum noch zu haltenden Pferde. »Ich nehme dich mit!«, sagte er plötzlich.
»Das wird dir nie gelingen!«, schrie sie.
»Du bist meine Beute!«
»Dann halt sie fest, du Satan!«
Wieder rangen sie miteinander und rollten über die Erde. Marina biss in Iwans Schulter und gab erst auf, als sich ihr langes Haar in einem Busch verfing und sie fesselte. Sich loszureißen war unmöglich. Durch ihr Haar wehrlos geworden, lag sie vor ihm. Sie hatte die Augen geschlossen.
»Worauf wartest du noch?«, fragte sie mit dünner Stimme. »Nimm es dir …«
Und Muschkow antwortete mit einer ihm selbst fremden Stimme: »Hab’ keine Angst, Marina.« Er löste ihr Haar, langsam und beinahe zärtlich. »Wie alt bist du?«, fragte er.
»Vierzehn«, antwortete sie.
»Deine Heimat verbrennt«, sagte er. »Ich nehme dich mit, Marina.«
»Nein!«, schrie sie. Aber sie blieb liegen und rührte sich nicht.
Nowo Orpotschkow brannte völlig aus.
Nachdem man die Frauen und Kinder, die Greise und Kranken mit Peitschenhieben weggetrieben hatte, nisteten sich Jermaks Kosaken rund um das Dorf ein. Sie sangen und grölten und wärmten sich an den Flammen der brennenden Häuser, ihrem besten Lagerfeuer. Ihre Pferde hatten sie zusammengebunden, über einigen glühenden Balken brieten Schweine und Kälber, Holzbecher mit Birkenwein machten die Runde. Es war das Leben, für das ein Kosak auch bereit ist, zu sterben: Die Freiheit, wie er sie versteht! Die Welt gehört uns, wenn wir sie erobert haben! Und vor ihnen lag eine neue Welt, die auf sie wartete. Den ungeheuren Reichtum der Stroganows hatte man ihnen versprochen, das Land Mangaseja, von dem die drei Boten erzählten. Die drei Boten, die diesen Zug nach Norden zur Kama nur voll maßlosen Entsetzens miterlebten …
»Ein Gebirge«, hatte Jermak gesagt, als man über das beriet, was vielleicht in einigen Wochen auf sie zukommen würde, »schlitzäugige fremde Völker – was ist das schon? Gelbe kennen wir zur Genüge und haben sie aufs Haupt geschlagen. Und ein Stein bleibt ein Stein, auch wenn er tausend Werst hoch ist. Haben wir Angst vor Steinen, Brüder?«
Der Untergang von Nowo Orpotschkow hatte keine Folgen. Die Bauern der umliegenden Dörfer nannten die Leute des Starosten Lupin einen Haufen von Idioten. Wer stellt sich schon 540 Kosaken entgegen? Sie ungehindert durchziehen lassen, ihre Pferde tränken, ihnen die Vorräte schenken, mit Bitterkeit im Herzen hinnehmen, dass diese oder jene Frau geschwängert wurde … Das konnte man alles überleben, und Überleben allein war wichtig. Mit den Kosaken kämpfen? Beim heiligen Stephanus, was hatte diesen Alexander Grigorjewitsch Lupin bloß geritten, einen solchen wahnsinnigen Gedanken zu haben?
Die Männer von Nowo Orpotschkow saßen am Wolgaufer und starrten auf ihr brennendes Dorf. Die Frauen kamen einzeln zurück, stützten die Kranken und Alten, oder schleppten die weinenden Kinder auf dem Rücken. Die meisten der Weiber waren blutig geschlagen, ihre Kleider waren zerrissen. Wie bei ihren Reiterspielen von Pferd zu Pferd, so waren die Kosaken von Frau zu Frau gesprungen – eine höllische Orgie. Begleitet vom Prasseln des Feuers und dem Krachen der zusammenstürzenden Hütten.
Nur die kleine Kirche von Nowo Orpotschkow war verschont geblieben. Hier erschien der Pope von Blagodornje, Oleg Wassiljewitsch Kulakow, und stellte sich seinem Amtskollegen vor. »Gott hat den Menschen geschaffen, also auch die Kosaken«, sagte er mit seltsamer Logik und bekreuzigte sich. Sein Priesterrock stank nach Rauch, seine Kosakenstiefel waren dreckig bis zu den Knien, in seinem Bart hing Ruß. »Bruder im Herrn, lass uns beten, dass die sündigen Seelen auch einen liebenden Blick im Himmel erhaschen.«
Und so knieten die beiden Popen vor der Ikonostase und beteten, während draußen das Dorf abbrannte und die gejagten Weiber kreischten.
»Siehst du, Brüderchen«, sagte der Kosaken-Pope später, als Jermaks Leute singend um das untergehende Dorf saßen und alles friedlich wurde, »deine Kirche haben wir dir erhalten. Lobe Gott! Und gib mir für den langen Weg ins Unbekannte dein Osterkreuz mit …«
Der Pope von Nowo Orpotschkow stöhnte, holte das mit billigen Perlen besetzte Kreuz – es war eine schöne Bauernhandarbeit – und warf es seinem Kollegen vor die Füße.
»Der Satan sei bei jedem deiner Segen mit dir!«, schrie er.
»Amen!«, antwortete Oleg Wassiljewitsch Kulakow fromm und demütig.
Am Wolgaufer rannte der gerettete Lupin von Frau zu Frau und rang die Hände. »Habt ihr Marina gesehen?«, schrie er voller Qual. »Was ist aus meinem Töchterchen geworden? Mein Sonnenschein! Meine goldene Wolke! Habt ihr sie gesehen? Warum kommt sie nicht zurück? Warum bringt sie keiner von euch mit? Ist sie tot? Sagt es mir doch, haltet nicht zurück mit der Wahrheit, ich bin ein starker Mann, ich kann’s ertragen! Wer hat Marina gesehen? Wer …?«
Er fragte herum, aber keine der zurückkehrenden Frauen wusste etwas von Marina Alexandrowna. Man wusste nur, dass auch das Haus des Starosten brannte. Man fand das übrigens gerecht, denn Lupin hatte ja schließlich die verrückte Idee gehabt, Widerstand zu leisten. Die Männer sprachen nicht mehr mit ihm, und eigentlich konnte Lupin froh sein, dass er nicht von seinen Freunden in der Wolga ertränkt wurde. Mitleid hatte niemand mit ihm. Der eine verlor Marina, der andere Olga oder Jelisaweta. Und es war abzusehen, dass in neun Monaten eine Menge Bastarde geboren wurde – auch das würde man überleben und ertragen. Ein Leben in Russland war schon immer schwer, man hatte Übung im Ertragen.
So ließ man Lupin wie einen angestochenen Eber herumlaufen und brüllen und hoffte nur, dass endlich jemand auftauchte, der sagte: »Ja, sie ist tot, deine Marinuschka! Die Kosaken haben dein Blondchen zu Tode geritten …«
Aber niemand kam, der das sagte. Man hatte Marina nicht mehr gesehen, aber so, wie man von weitem Nowo Orpotschkow sah, ein Flammenmeer mit einer unversehrten Kirche darin, glaubte niemand mehr, dass Lupin noch etwas von seinem Töchterchen hören würde …
»Ich gehe und suche sie«, sagte Lupin plötzlich, als es Nacht geworden war. »Haltet mich nicht zurück!«
Keiner dachte daran, das zu tun. Es gibt zwei Dinge, die einen Mann zum Narren machen können: Heldentum und Vaterliebe. Das Erste hatte Lupin schon hinter sich … Warum soll man ihn aufhalten, wenn er das Zweite auch noch probieren will? Die Männer glotzten ihn an, vorerst zufrieden, dass sie lebten und ihre Frauen wiederhatten. Man würde ein neues Orpotschkow bauen und es wieder »Nowo« nennen – das neunte Mal, wie man aus der Chronik wusste, die in der kleinen Kirche aufbewahrt wurde. So betrachtet, war die Kosakenplage nur eine Abwechslung im Einerlei des Lebens an der Wolga. Ein Sturm, der vorüberbrauste. Und die Kirche stand noch … War das etwa kein Fingerzeig Gottes?
In der Nacht, als das Dorf nur noch ein großer, glühender Aschenhaufen mit gespenstisch hochragenden Balken war, schlich Alexander Grigorjewitsch Lupin tatsächlich zurück, um sein Töchterchen Marina zu suchen.
Die Kosaken schliefen, nur die Wachen bei den Pferden saßen herum und vergnügten sich mit einigen Weibern, die sie zurückgehalten hatten. Lupin, der lautlos herangekrochen kam, erkannte sie im Widerschein der Lagerfeuer … Marina war nicht darunter, ihr Blondhaar hätte schon aus der Ferne geleuchtet.