Im Jahre 1908 geht in Sibirien ein Riesenmeteor nieder und vernichtet weite Gebiete der Taiga. Mehrere Expeditionen werden ausgesandt, um nach seinen Überresten zu forschen. Sie kehren ohne Erfolg zurück. Hundert Jahre später wird bei Bauarbeiten in der Taiga ein Fund gemacht, der beweist, daß der »Meteor« eine Weltraumrakete gewesen ist, die zu Erkundungszwecken von der Venus kam und einer Katastrophe zum Opfer fiel. Ein geheimnisvoller ›Rapport‹ läßt eine Bedrohung der Erde vermuten. Das erste Raumschiff der Erde sollte ursprünglich nach dem Mars starten. Nun aber wird dieser Plan geändert; das Ziel heißt Venus.
Stanisław Lem wurde am 12. September 1921 im polnischen Lwów (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. März 2006 starb. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Übersetzer und freier Schriftsteller. Er wandte sich früh dem Genre Science-fiction zu, verfaßte aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zur Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanisław Lem zählt zu den bekanntesten und meistübersetzten Autoren Polens. Viele seiner Werke wurden verfilmt.
Die Astronauten
Phantastische Bibliothek
Suhrkamp
Titel der polnischen Originalausgabe:
Astronauci, Spoldzielnia Wydawnicza ›Czytelnik‹, Warschau 1951
Titel der deutschen Ausgabe bei Volk und Welt, Berlin, DDR:
Der Planet des Todes
Aus dem Polnischen von Rudolf Pabel
Umschlagfoto: Roger Ressmeyer / Corbis
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© Stanisław Lem 1951
Nutzung der deutschen Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Verlags Volk und Welt, Berlin, DDR
Alle Rechte für die Bundesrepublik Deutschland, West-Berlin, Österreich und die Schweiz vorbehalten durch Insel Verlag, Frankfurt am Main 1974, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-74314-0
www.suhrkamp.de
Anläßlich der Neuauflage hatte ich die Absicht, dieses vor fünfundzwanzig Jahren geschriebene Buch ein wenig zu überarbeiten, also gewissermaßen zu aktualisieren, doch nachdem ich es durchgesehen hatte, begriff ich, daß sich das nicht machen läßt. Ich habe es zu einer Zeit geschrieben, als es den Terminus »Astronauten« eigentlich nicht gab, so daß viele, sogar gebildete Leute ihn mit dem vertrauteren »Argonauten« verwechselten. Darüber hinaus ist der Planet Venus, auf dem ich die Handlung spielen ließ, kein gänzlich weißer Himmelsfleck mehr, da wir schon manches von ihm wissen, besonders dank den sowjetischen Sonden, die ihn erforschten. Wir haben also genug erfahren, um die vollständige Fiktivität der Bedingungen und der Landschaften auf der Venus, wie der Roman sie darstellt, zu begreifen. Außer Kenntnissen, zu denen niemand Zutritt hatte, gab es auch andere, die ich als Autor nicht angepackt habe – über den Bau von Raketen und sogar über die technische Seite der Astronautik hätte ich mich schon vor einem Vierteljahrhundert besser informieren können, als ich das getan habe. Und schließlich das Jahr zweitausend ... Aus der Perspektive der fünfziger Jahre schien es mir eine so weit entlegene Zukunft, daß man in ihr optimistische Träumereien von einer friedlich geeinten Welt unterbringen konnte. Jetzt aber, da es von Heeren gelehrter Futurologen aufs Korn genommen wird, gebietet es dem Optimismus Zurückhaltung und Dämpfung früherer, allzu naiver Hoffnungen. Wenn ich mich also wirklich an die Aktualisierung der »Astronauten« machen wollte, müßte ich ganz einfach einen völlig neuen Roman schreiben, da ich weder auf der Erde noch in der Rakete, noch am Himmel viele Einzelheiten, also die Bausteine, aus denen das Ganze errichtet ist, so lassen könnte, wie sie sind. Doch was geschähe dann mit den »Astronauten«? Und lohnt es überhaupt, ein irgendwann geschriebenes Buch noch einmal zu schreiben? Mir scheint, es lohnt nicht. Solange man dazu in der Lage ist, sollte man neue schreiben, die geschriebenen aber ihrem natürlichen Schicksal überlassen – mag jedes sich wehren, so gut es kann. Heute ist diese fantastische Geschichte nicht nur voll technischer Irrtümer und voller Vorhersagen, die von der Zeit umgestoßen worden sind, sondern sie ist auch sehr – in geradezu märchenhafter Weise – naiv. Der Leser, auch und vielleicht sogar vor allem der junge, wird schnell bemerken, daß sein Wissen von der Raumfahrt als realem Phänomen, selbst wenn es den Tageszeitungen entnommen ist, das Wissen des Autors vor fünfundzwanzig Jahren weit übertrifft. Wenn aber davon nicht mehr die Rede sein kann, dieses Buch sei eine fantastisch kühne Prognose, mag erlaubt sein, es als ein spezifisches Dokument von ein bißchen historischem Wert anzusehen, nämlich als einen von der Zeit in wesentlichem Umfang bestätigten Versuch, der seine Mängel und Fehler enthüllt hat, die wissenschaftlichen und technischen ebenso wie die literarischen. Was die erzählerischen Naivitäten angeht – die werden nie durch irgend etwas gerechtfertigt und werden sich immer als ungenügende Arbeit erweisen. Die zahlreichen Abschnitte indessen, deren rein sachliche Unrichtigkeit die Zeit festgenagelt und entblößt hat, sind vielleicht nicht wertlos, weil sie am Ende eine recht interessante Untersuchung der Beziehungen zwischen dem Schwung der in die Zukunft gerichteten Vorstellungskraft und ihrem Rivalen und Gegner, der Wirklichkeit, erlauben. Ein solcher Vergleich zeigt, daß auf dem Gebiet des technischen Fortschritts gewöhnlich alles schneller und in stärker revolutionärer Weise verläuft, als die Fantasie sich das vorstellen kann, während gleichzeitig im Bereich der gesellschaftlich-bewußtseinsmäßigen Angelegenheiten alles langsamer und mit großen Beschwerlichkeiten vor sich geht. Doch ich will aus diesen Bemerkungen keine systematische Abrechnung mit den »Astronauten« machen, ich will ihr Soll und Haben nicht gegeneinander aufrechnen. Dieses Buch versucht stellenweise, in fantastischen Vorträgen von dem zu lehren, was heute bereits existiert (nicht nur für den Kosmonauten – so sind z. B. die technischen Parameter meines Marax von den mathematischen Maschinen der jüngsten Generation der siebziger Jahre bereits überholt). Es ist darin auch ein Problem enthalten, das den Antrieb zur Abfassung bildete, das Problem der atomaren Bedrohung, denn die Geschichte der Vernichtung des Lebens auf dem Planeten Venus stellt ja nur eine Allegorie der irdischen Probleme dar. Diese Bedrohung schwebt auch nach dem Ablauf fast eines Vierteljahrhunderts noch über uns. Vielleicht fördert sie den Roman, weil sie ihn aktualisiert? Vielleicht aber sehen diejenigen, die heute noch die »Astronauten« lesen mögen, in ihnen ganz einfach eine Geschichte voller Abenteuer, die allerdings von der Wahrscheinlichkeit weit entfernt sind? Ich kann zu dieser Frage nichts Vernünftiges sagen. Zugegeben, es würde mich wundern, wenn die »Astronauten« eine dauerhafte Position in meinem Werk einnähmen. Wenn nach weiteren zwanzig Jahren überhaupt noch jemand nach diesem Band greift, dann – meine ich – nicht mehr, um sich in kühnes Fantasieren zu versenken, sondern vielmehr, um über seinen Seiten zu lächeln, so wie wir manchmal über Jules Vernes Seiten lächeln. Denn dann werden der Kosmokrator und der Marax bereits die Patina des Altertümlichen angesetzt haben. Doch ob sie eine so geschätzte Position erleben werden – das ist die Frage.
Stanisław Lem
Vorwort zur 8. polnischen Auflage.
Übersetzt von Klaus Staemmler
In den frühen Morgenstunden des 30. Juni 1908 konnten Zehntausende von Bewohnern Mittelsibiriens eine außergewöhnliche Naturerscheinung beobachten. Am Himmel stieg eine blendendweiße Kugel auf, die sich mit rasender Geschwindigkeit von Südosten nach Nordwesten bewegte. Sie überflog das Jenisseier Gouvernement – eine Strecke von mehr als fünfhundert Kilometern – und brachte unter ihrer Bahn den Erdboden zum Beben, die Fensterscheiben zum Klirren; der Putz fiel von den Wänden, die Mauern bekamen Risse. In den Orten, wo der Meteor sichtbar wurde, versetzte ein gewaltiges Dröhnen Mensch und Tier in panischen Schrecken. Die Bergleute in den Goldgruben ließen ihre Arbeit stehen und liegen ... Man hielt das Ende der Welt für gekommen.
Kurze Zeit nach dem Verschwinden des glühenden Balles erhob sich hinter dem Horizont eine riesige Feuersäule, und im Umkreis von siebenhundertfünfzig Kilometern waren Detonationen zu hören.
In allen meteorologischen Stationen Europas und Amerikas registrierten die Seismographen die Erschütterung der Erdrinde. Die Luftwelle breitete sich mit Schallgeschwindigkeit aus und erreichte das 970 Kilometer entfernte Irkutsk nach einer Stunde, das 5000 Kilometer entfernte Potsdam nach 4 Stunden 41 Minuten, Washington nach 8 Stunden. Als die Welle nach 30 Stunden 28 Minuten erneut in Potsdam verzeichnet wurde, hatte sie, rund um die Erde, 34 920 Kilometer zurückgelegt.
Während der folgenden Nächte zeigten sich über den mittleren Breiten Europas silbern leuchtende Wolken von so starkem Glanz, daß der deutsche Astronom Wolf in Heidelberg für einige Zeit das Fotografieren von Planeten unterbrechen mußte. Gigantische Staubmassen waren durch die Explosion in die höchsten Schichten der Atmosphäre emporgeschleudert worden und drangen nach einigen Tagen bis zur anderen Hälfte der Erdkugel vor. Der amerikanische Astronom Abbot, der sich damals gerade mit derartigen Untersuchungen beschäftigte, beobachtete, daß die Durchsichtigkeit der Atmosphäre gegen Ende Juni erheblich abnahm. Die Ursache dieser Erscheinung war ihm zunächst noch unerklärlich.
Trotz ihrer riesigen Ausmaße fand die Katastrophe in der wissenschaftlichen Welt kaum Beachtung. Im Jenisseier Gouvernement kursierten noch geraume Zeit hindurch phantastische Gerüchte über den Meteor, in denen er zuweilen die Größe eines Hauses, ja sogar eines Berges erreichte. Man berichtete auch von Leuten, die ihn angeblich nach seinem Absturz gesehen hatten; die Einschlagstelle wurde jedoch in diesen Erzählungen gewöhnlich weit hinter die Grenze des eigenen Bezirkes verlegt. Die Zeitungen schlachteten zwar das Ereignis weidlich aus; aber niemand unternahm ernsthafte Nachforschungen, und allmählich geriet die ganze Angelegenheit in Vergessenheit.
Dreizehn Jahre später las der Geophysiker Kulik die Beschreibung des Meteorenfalls von 1908 zufälligerweise auf einem alten Kalenderblatt. Nicht lange danach bereiste Kulik Mittelsibirien und überzeugte sich, daß im Volke die Erinnerung an die ungeheure Naturerscheinung noch immer lebendig war. Kulik erkundigte sich bei vielen Augenzeugen und konnte schließlich feststellen, daß der Meteor, von der Mongolei kommend, die weiten Ebenen überflogen hatte und irgendwo im Norden in die unwegsame, menschenleere Tundra gestürzt war.
Von nun an forschte Kulik unermüdlich nach dem Meteor, der in der Fachliteratur als »tungusischer Meteor« bekannt wurde. Er entwarf eine provisorische Skizze des Geländes, in dem seiner Meinung nach der Meteor niedergegangen sein mußte. Diese Skizze gab er dem Geologen Obrutschew, den das Geologische Komitee beauftragt hatte, Untersuchungen im Flußgebiet der Steinigen Tunguska durchzuführen. Obrutschew unternahm im Jahre 1924 eine Expedition und drang bis zur Faktorei Wanowary vor, in deren Umgebung nach den Berechnungen Kuliks der Krater des Meteors zu vermuten war. Er versuchte vorerst, unter den Einheimischen Berichte zu sammeln, was ihm durchaus nicht leichtfiel: Die Tungusen hielten die Einschlagstelle für heilig und wollten den Ort nicht verraten, wo »der Feuergott zur Erde herabgestiegen« sei. Obrutschew brachte in Erfahrung, daß die Bäume der ewigen Taiga, einige Tagereisen von der Faktorei entfernt, auf einer vielhundert Kilometer langen Strecke in Reihen zu Boden geworfen waren. Der Meteor mußte also mindestens hundert Kilometer weiter nördlich, als Kulik angenommen hatte, abgestürzt sein.
Als Obrutschew seine Berichte veröffentlichte, wurde der tungusische Meteor wieder aktuell. Im Jahre 1927 sandte die russische Akademie der Wissenschaften eine Expedition aus, die unter Kuliks Leitung versuchen sollte, die Einschlagstelle aufzufinden.
Jenseits der bewohnten Gebiete erreichte die Expedition nach Wochen beschwerlichen Marsches durch die Taiga den Windbruchstreifen. Der Wald war entlang der Meteorbahn auf einer Strecke von mindestens hundert Kilometern umgelegt. Kulik schrieb in seinem Tagebuch: »Ich kann das Ungeheure dieser Erscheinung noch immer nicht fassen ... Eine stark hügelige, beinahe gebirgige Landschaft, die sich viele Werst, bis weit hinter den Horizont erstreckt ... Im Norden leuchten die schneebedeckten Berge am Chuschmofluß. Von unserem Beobachtungsstand aus erblicken wir ein einziges Chaos: Die Bäume der Taiga sind zu Boden geschleudert. Zehntausende entwurzelte, versengte Stämme und rings herum ein viele Kilometer breiter Gürtel von Jungholz, das sich zur Sonne, zum Leben empordrängt ... Erstaunen packt einen, wenn man diese dreißig Meter langen Waldriesen mit ihren nach Süden gekehrten Wipfeln daliegen sieht ... Weiter in der Tiefe der Landschaft geht das Dickicht des jungen Waldes in die verschont gebliebene Taiga über, und nur auf den fernen Gipfeln treten die Kahlflächen noch als helleuchtende Narben hervor ...«
Viele Tage lang kämpfte sich die Expedition durch das Gewirr der umgestürzten, versengten Stämme, die den moorigen Grund bedeckten. Alle diese Bäume zeigten mit ihren Wipfeln nach Südosten, nach der Seite also, aus der der Meteor gekommen war. Am 30. Mai, einen vollen Monat nach dem Aufbruch aus der Faktorei Wanowary, erreichte die Expedition die Mündung des Tschurgumaflusses und schlug dort ihr dreizehntes Lager auf. Nördlich davon dehnte sich ein weiter Talkessel, der wie ein Amphitheater von einem Hügelkranz umgeben war. Dort konnte zum erstenmal festgestellt werden, daß sich die Vernichtung strahlenförmig ausgebreitet hatte.
»Ich begann«, so schrieb Kulik, »den großen Talkessel in westlicher Richtung auf den Hügelketten zu umkreisen, wanderte Dutzende Werst über kahle Bergrücken: Die Wipfel der gestürzten Stämme lagen nach Westen gekehrt. Dann umschritt ich in riesigem Bogen den Kessel in südlicher Richtung. Dort wendeten seltsamerweise die umgestürzten Bäume ihre Kronen nach Süden. Ich kehrte ins Lager zurück und machte mich von dort aus in östlicher Richtung auf den Weg – hier wiesen die Bäume nach Osten. Ich strengte alle meine Kräfte an und wanderte nochmals nach Süden. Die dort liegenden Stämme wandten ihre Wipfel tatsächlich nach Süden.
Es war kein Zweifel mehr möglich: Ich hatte die Stelle des Einschlags umkreist! Als feurige Ballung brennender Gase und fester Stoffe war der Meteor hier niedergegangen, in diesen Talkessel mit dem Hügelkranz, der Tundra, den Sümpfen. Wie ein Wasserstrahl, gegen eine glatte Oberfläche gerichtet, strahlenförmig nach allen Seiten auseinanderspritzt, so hatte auch der Strom brennender Gase den Wald im Umkreis von vielen Meilen entwurzelt und dieses furchtbare Bild der Vernichtung hervorgerufen ...«
An jenem Tage waren sämtliche Expeditionsteilnehmer fest überzeugt, daß sie die größten Schwierigkeiten bereits überwunden hätten und nun bald die Stelle sehen würden, wo die gigantische, kosmische Masse mit der Erdrinde zusammengeprallt sei. Tags darauf traten sie den Marsch zum tiefsten Punkt des Talkessels an. Mühsam bahnten sie sich den Weg durch den toten Wald, dessen Stämme zum Teil nur geknickt waren. Ständig drohte das stürzende Holz die Wanderer unter sich zu begraben, zumal über Mittag, wenn der Wind auffrischte. Sie durften die Bäume nicht aus dem Auge verlieren; denn bald hier, bald dort brachen die Stämme mit ohrenbetäubendem Krach zusammen, und oft konnten die Expeditionsteilnehmer erst in letzter Sekunde beiseite springen. Außerdem mußten sie unausgesetzt den Erdboden beobachten, da es in der Tundra von Giftschlangen wimmelte.
Das Innere des Talkessels bestand aus kleinen Hügeln, ebener Tundra, Sümpfen, Seen und überschwemmten Flächen. Auch dort lagen die Bäume in verschiedenen Richtungen am Boden; aber sämtliche Wipfel wiesen nach dem Kesselrand. Die kleineren Äste waren verkohlt, die stärkeren und die Stammrinde nur versengt. Gegen die Kesselmitte zu entdeckte man zwischen zerspellten Bäumen eine größere Anzahl von Trichtern, die einen Durchmesser von einem oder Dutzenden Metern hatten. Das war alles, was diese erste Expedition feststellen konnte, bevor sie infolge Lebensmittelmangels und Erschöpfung der Teilnehmer zur Umkehr gezwungen war. Kulik und seine Gefährten nahmen mit Sicherheit an, daß die versumpften, hier und da mit trübem Wasser gefüllten Trichter Krater seien, in deren Tiefe die Bruchstücke des Meteors ruhten.
Die zweite Expedition brachte mit größter Mühe und Anstrengung Maschinen in diese unwegsame Gegend der Taiga. Nachdem man die Trichter trockengelegt hatte, war es möglich, die ersten Probebohrungen vorzunehmen. Diese Arbeiten wurden während des kurzen, heißen Sommers durchgeführt, als die drückende, schwüle Luft von ganzen Wolken blutgieriger Mücken wimmelte. Die Bohrungen verliefen ergebnislos. Man fand weder Bruchstücke des Meteors noch Spuren in Form von Gesteinsmehl! (Beim Aufschlag eines Meteors entsteht ein Gemengsel von Schlamm und Gesteinssplittern, die infolge der hohen Temperatur geschmolzen und dann wieder erhärtet waren). Statt dessen drohte das Grundwasser, auf das man nun gestoßen war, die Maschinen zu überfluten. Man machte sich an die gewaltige Arbeit, die betreffende Schicht zu verschalen und abzusteifen – da trafen die Bohrer schließlich auf vereisten Lehm. Und was noch schlimmer war: Als die Spezialisten für Torfentstehung, die Bodenforscher und Geologen, ankamen, gaben sie übereinstimmend das Gutachten ab, daß die angeblichen Krater nichts mit dem Meteor zu tun hätten und daß man ähnlichen Erscheinungen, die ihr Entstehen den normalen Prozessen der Torfablagerung verdankten, in den nördlichen Regionen überall begegnen könne. Solche Trichter bildeten sich ständig, wenn Torfschichten von Grundwasser unterspült würden. Nun begann eine systematische Suche nach dem Meteor mit Hilfe magnetischer Deflektometer. Es war anzunehmen, daß eine so riesige Eisenmasse die Magnetnadel der Kompasse beeinflussen müßte. Aber die Apparate zeigten nichts an. Eine viele Kilometer breite Bahn niedergerissener Bäume führte von Süden her entlang der Flüsse und Bäche zu dem Kessel. Diesen selbst umgab ein Fächer von entwurzelten Stämmen. Man berechnete die Energieentwicklung bei der Katastrophe auf 1000 Trillionen Erg; die Masse des Meteors mußte also ungeheuer groß gewesen sein. Trotzdem wurde auch nicht das geringste Bruchstück, kein Splitter, kein Krater, keine Stelle gefunden, die Spuren dieses furchtbaren Absturzes gezeigt hätten.
Eine Expedition nach der anderen begab sich, mit den empfindlichsten Geräten ausgerüstet, in die Taiga. Sie legten ein Netz von Triangulationspunkten an, untersuchten die Berghänge und den Grund der moorigen Seen und Bäche, sogar den Boden der Sümpfe bohrten sie an. Alles war vergeblich. Es wurden Stimmen laut, daß der Meteor vielleicht aus Stein bestanden habe; allerdings hätte in diesem Falle die Aufschlagstätte mit Bruchstücken übersät sein müssen. Indessen erschien die ganze Vermutung unwahrscheinlich, da man bisher keinen Steinmeteor in dieser Größe kannte. Als die Ergebnisse der Untersuchungen veröffentlicht wurden, standen die Meteorenforscher vor einem neuen Rätsel.
Schon vorher hatten die Expeditionsteilnehmer festgestellt, daß die Bäume der Taiga nicht gleichmäßig entwurzelt oder niedergebrochen waren und daß die auf dem Boden liegenden Stämme nicht immer nach der Mitte des Kessels zeigten. Ja, mehr noch: Da und dort war, wenige Kilometer vom Kessel entfernt, ein Waldkomplex stehengeblieben und nicht einmal versengt worden, während man einige Dutzend Kilometer weiter wieder auf Tausende umgestürzter Lärchen und Kiefern stieß. Die Wissenschaftler versuchten dies mit dem sogenannten »Schatteneffekt« zu erklären. Danach hätte die Explosionswelle jene Teile der Taiga verschont, die durch Bergrücken abgeschirmt waren. Daß an einigen Stellen die Bäume nach einer anderen Richtung gestürzt waren, stünde mit der Katastrophe in keinem Zusammenhang, es handle sich um gewöhnliche Windbrüche, so behauptete man.
Die Fliegeraufnahmen des Geländes warfen alle diese Hypothesen über den Haufen. Auf den Stereofotos war zu erkennen, daß die vernichteten Waldstreifen tatsächlich konzentrisch um den Kessel lagen, während dazwischen andere Waldstreifen unversehrt erschienen. Die Taiga war auf eine Art und Weise zerstört worden, als hätte die Explosion nicht nach allen Richtungen hin mit der gleichen vernichtenden Kraft gewirkt. Man gewann den Eindruck, als wären breitere und schmalere Strömungen vom Mittelpunkt des Kessels ausgegangen und hätten die Bäume in langen Bahnen niedergemäht.
Viele Jahre lang blieb das Problem des tungusischen Meteors ungeklärt. Von Zeit zu Zeit entwickelten sich darüber in der Presse wissenschaftliche Diskussionen. Die verschiedenartigsten Hypothesen wurden aufgestellt. Die einen meinten, es sei der Kern eines kleinen Kometen gewesen, andere wieder sahen in dem Meteor eine Wolke verdichteten kosmischen Staubes. Keine dieser Annahmen aber konnte dazu führen, alle Begleitumstände richtig zu deuten. Im Jahre 1950, als es bereits um die Geschichte des Meteors still geworden war, veröffentlichte ein junger Gelehrter eine neue Hypothese, die alle Erscheinungen und Vorgänge auf unerhört kühne Art erklärte.
Zwei Tage vor dem Erscheinen des tungusischen Meteors hatte ein französischer Astronom einen kleinen Himmelskörper bemerkt, der mit großer Geschwindigkeit in seinem Teleskop auftauchte und dann verschwand. Kurze Zeit später veröffentlichte der Astronom seine Beobachtungen; aber weder er noch irgendein anderer brachte sie mit der sibirischen Naturkatastrophe in Zusammenhang. Wenn jener Himmelskörper tatsächlich ein Meteor gewesen wäre, so hätte er in einer ganz anderen Gegend auf die Erde fallen müssen. Nur unter einer Voraussetzung konnte er mit dem tungusischen Meteor identisch sein, nämlich dann, wenn dieser Meteor imstande gewesen war, Richtung und Geschwindigkeit wie ein Flugzeug beliebig zu ändern. Diese Annahme war jedoch viel zu unwahrscheinlich, als daß jemand auch nur einen Augenblick daran gedacht hätte.
Und nun stellte der junge Gelehrte eben diese Behauptung auf. Nach seiner Hypothese war der tungusische Meteor nichts anderes gewesen als ein Weltraumschiff, das auf parabolischer Bahn aus dem Sternbild des Walfisches kam und, in der Absicht zu landen, immer engere Ellipsen um unseren Planeten beschrieb. Gerade zu diesem Zeitpunkt hatte es der französische Astronom in seinem Teleskop entdeckt. Das Weltraumschiff mußte für irdische Begriffe gewaltige Ausmaße gehabt haben: Seine Masse konnte auf Tausende Tonnen geschätzt werden. Die Lebewesen, die sich darin befanden und die Erdoberfläche aus großer Höhe beobachteten, wählten die weiten, waldlosen, aus der Ferne gut sichtbaren Ebenen der Mongolei zur Landung, die wie dazu geschaffen schienen, in ihren Sandwüsten das Weltraumschiff aufzunehmen.
Das Geschoß gelangte nach langer Reise, während der es eine Geschwindigkeit von einigen Dutzend Kilometern in der Sekunde erreicht haben mußte, in Erdnähe. Vielleicht waren die Bremsvorrichtungen bereits beschädigt, oder aber die Insassen hatten die Ausdehnung unserer Atmosphäre unterschätzt. Jedenfalls wurde der Flugkörper durch die gewaltige Reibung und den Luftwiderstand bis zur Weißglut erhitzt.
Infolge der außerordentlichen Geschwindigkeit gelang es dem Weltraumschiff nicht, in der Mongolei zu landen, sondern es überflog dieses Gebiet in einer Höhe von über fünfzig Kilometern. Wahrscheinlich hätte es vor der Landung noch einige Male die Erde umkreisen müssen, ein Motorendefekt aber oder irgendein anderer Grund hatte die Besatzung zur Eile gezwungen. Nun bemühten sie sich, die Geschwindigkeit zu verringern, und schalteten die Bremsvorrichtungen ein, die aber nur stoßweise, mit Unterbrechungen arbeiteten. Der ungleichmäßige Widerhall klang den Bewohnern Sibieriens wie Donnerrollen. Als sich das Raumschiff über der Taiga befand, entwurzelten die glühenden Gase, die den Bremsdüsen entströmten, die Bäume und warfen sie um. So entstand die Hunderte Kilometer lange Gasse von umgestürzten Stämmen, durch die sich später die sibirischen Expeditionen mühsam ihren Weg bahnen mußten.
Über dem Flußgebiet der Steinigen Tunguska verlor das Schiff an Geschwindigkeit. Das hügelige, mit Wald und Sumpf bedeckte Gelände eignete sich jedoch nicht zur Landung. Deshalb versuchten die Reisenden, es zu überfliegen und wieder größere Höhe zu gewinnen. Sie ließen erneut die Antriebsmotoren an. Aber es war bereits zu spät. Das Schiff, eine ungeheure Masse weißglühenden Metalls, wurde manövrierunfähig, sackte durch, taumelte und drehte sich, von den unregelmäßig arbeitenden Motoren hin und her geworfen, um seine Achse. Die Auspuffgase knickten den Wald bald in der Nähe, dann wieder in größerer Entfernung, warfen die Bäume in breiten Bahnen nieder oder versengten ihre Kronen und Zweige. Das Raumschiff überflog den äußeren Ring der Hügel und erhob sich zum letztenmal. Dort, hoch über dem Talkessel, trat dann die Katastrophe ein. Aller Wahrscheinlichkeit nach explodierten die Treibstoffvorräte mit einer solchen Wucht, daß die glühenden Metallklumpen in kleinste Teile zerrissen wurden.
Diese Hypothese brachte Licht in alle bisher rätselhaften Erscheinungen des Absturzes. Sie erklärte, auf welche Weise der Wald vernichtet worden war, warum er an manchen Stellen geknickt oder entwurzelt, an anderen nur versengt war, und schließlich deutete sie auch den eigenartigen Umstand, daß hier und da ganze Waldinseln heil und unberührt geblieben waren. Warum aber war dieses Weltraumschiff in so kleine Teile zerfallen, daß man auch nicht die geringsten Spuren davon auffinden konnte? Was für ein Treibstoff mochte das sein, der im Augenblick der Explosion heller als die Sonne aufstrahlte und die Taiga im Umkreise von vielen Kilometern versengte? Auch diese Frage beantwortete der Gelehrte. Nur ein ganz bestimmter Treibstoff, so behauptete er, könne bei seiner Explosion die starke Konstruktion eines Weltraumschiffes so restlos auflösen: Atomzerfall. Als die Motoren der Rakete aussetzten, kam es unter den Vorräten an Atombrennstoff zu einer Kettenreaktion. Eine zwanzig Kilometer hohe Feuersäule stieg auf, und das riesige Weltraumschiff verdampfte darin wie ein Wassertropfen auf einer glühenden Herdplatte.
Die Hypothese des jungen Gelehrten rief keineswegs den Widerhall hervor, der zu erwarten gewesen wäre. Sie war zu kühn. Einige Gelehrte behaupteten, sie sei auf zuwenig wissenschaftliche Fakten gestützt, andere wieder, sie setze nur an die Stelle des Meteorenrätsels das Rätsel eines Weltraumgeschosses. Manche bezeichneten die Hypothese sogar als ein Phantasiegebilde, das eher eines Romanschreibers als eines nüchternen Meteorenforschers würdig sei.
Allen skeptischen Stimmen zum Trotz unternahm der junge Gelehrte eine neue Expedition in die Taiga, um die radioaktive Strahlung an der Absturzstelle zu untersuchen. Er mußte allerdings damit rechnen, daß die unbeständigen Atomzerfallsprodukte im Laufe der vergangenen zweiundvierzig Jahre bereits verwittert waren. Auch dieser Forschungszug verlief ergebnislos. Die Lehm- und Mergelschichten an der Oberfläche des Talkessels zeigten einen so unbedeutenden Grad an Radioaktivität, daß sich daraus keinerlei Schlüsse ziehen ließen; denn verschwindend kleine Mengen radioaktiver Substanzen finden sich auch in gewöhnlichem Boden. Die Unterschiede lagen innerhalb der Grenzen des kaum noch Meßbaren.
Bald verstummte auch das letzte Echo der Diskussionen in den wissenschaftlichen Blättern. Einige Zeit hindurch erörterte die Tagespresse noch das Problem, woher dieses Weltraumschiff gekommen sein könnte und was für Insassen es wohl gehabt hätte. Diese unfruchtbaren Spekulationen machten jedoch bald wichtigeren Dingen Platz: Berichten über den Bau der riesigen Wasserkraftwerke im Wolga-Don-Gebiet, über den Durchstich des Kanalbettes am Turgaitor mit Hilfe der Atomenergie und über die Umleitung der Gewässer des Ob und Jenissei in das Bassin des Toten Meeres.
Im hohen Norden überwucherte die Tundra von Jahr zu Jahr dichter die umgebrochenen Baumstämme, die immer tiefer in dem moorigen Boden versanken. Die Ablagerungen des Torfes, Unterwaschungen der Eismassen, die Schneeschmelzen – alle diese unaufhörlichen Erosionsprozesse verwischten allmählich die letzten Spuren der Katastrophe. Es schien, als sollte das Rätsel für immer in Vergessenheit geraten.
Im Jahre 2003 wurde die Sahara schon zum großen Teil durch das Mittelmeer bewässert. Die Hydrokraftwerke von Gibraltar gaben zum erstenmal elektrische Energie an das nordafrikanische Stromnetz ab. Durch keinerlei Grenzziehungen behindert, weiteten sich die kontinentalen Hochspannungsnetze. Atomkraftwerke entstanden, menschenleere, vollautomatische Fabriken. In den fotochemischen Transmutatoren wandelte die Sonnenenergie Kohlensäure und Wasser in Zucker um. Das Geheimnis dieses Prozesses, der seit Milliarden Jahren in den Pflanzen vor sich ging, war Eigentum der Menschen geworden.
Fast schien es, als ob die Bewässerung der Sahara und die Nutzbarmachung des Mittelmeergefälles in den Turbinen von Gibraltar Unternehmungen wären, die für lange Zeit unübertroffen bleiben würden. Aber bereits ein Jahr später wurden die Arbeiten an einem neuen Projekt begonnen, das in seiner unerhörten Kühnheit sogar das Gibraltar-Nordafrikanische Hydrokombinat in den Schatten stellte.
Das Internationale Büro für Klimaregulierung ging von den bescheidenen, lokalen Versuchen der Witterungsbeeinflussung, der Lenkung von Regenwolken und Bewegungen von Luftmassen zum Frontalangriff gegen den Hauptfeind der Menschheit über, gegen die Kälte, die sich seit ungezählten Millionen Jahren an den Polkappen des Planeten festgesetzt hatte. Als Hunderte Meter starker Panzer bedeckte das ewige Eis die Arktis – den sechsten Teil der Erde –, umschloß Grönland und den gesamten Archipel des Eismeeres und bildete auch die Quelle der kalten Meeresströmungen, die die nördlichen Ufer Asiens und Amerikas abkühlten. Dieser Eispanzer sollte für immer verschwinden. Um dieses Ziel zu erreichen, war es erforderlich, riesige Flächen der Ozeane und der Kontinente zu erwärmen und Tausende Kubikkilometer Eis zu schmelzen. So ungeheure Energien hätte man aus dem Uran nie herausholen können; die Grundstoffvorräte waren viel zu gering. Inzwischen aber hatte die Astronomie – die man lange Zeit für eine lebensfremde Wissenschaft hielt – jene Energiequelle entdeckt, die das unverlöschbare Feuer der Gestirne unterhält: die Umwandlung von Wasserstoff in Helium durch Atomspaltung. In der Gesteinsrinde und Atomsphäre der Erde ist freier Wasserstoff kaum vorhanden; aber die Ozeane bilden ein unerschöpfliches Reservoir dieses Elementes.
Der Gedankengang der Gelehrten war einfach: In Polnähe sollten riesige »Atomfeuer« von Sonnentemperatur Wärme und Licht in der Eiswüste erzeugen. Die Schwierigkeiten, die der Verwirklichung dieses Projektes im Wege standen, schienen anfangs unüberwindlich. Es zeigte sich, daß kein Stoff imstande war, den Temperaturen von einigen Millionen Grad, die bei der Spaltung des Wasserstoffatoms frei werden, zu widerstehen. Dauerhafte Schamotteziegel, gepreßter Asbest, Quarz, Glimmer, edelster Wolframstahl – alles verwandelte sich bei der Berührung mit dem blendendhellen, ungeheure Hitze ausstrahlenden Atomfeuer sofort in Dampf.
Man besaß wohl eine Energiequelle, die es ermöglichte, die Eismassen zu schmelzen, Ozeane zu erwärmen, ja ganze Meere auszutrocknen, das Klima zu verändern und auf den Polen tropische Dschungel entstehen zu lassen, aber das Baumaterial für entsprechende Verbrennungsherde besaß man nicht.
Außerdem war man zu der Einsicht gelangt, daß es viel zu gefährlich wäre, derartige Atombrände auf der Erde anzulegen. Die entfesselte Hitze würde die Erdoberfläche zum Schmelzen bringen, sich in die Tiefe fressen und unvorstellbare Katastrophen verursachen. Da aber nichts die Menschheit aufhalten kann, wenn es gilt, das einmal gesteckte Ziel zu erreichen, wurde auch vor dieser Barriere nicht haltgemacht. Wenn es nicht möglich war, die Energiequelle auf die Erde zu bannen, so mußte man sie eben in die Atmosphäre verlegen.
Die Wissenschaftler beschlossen, künstliche Polarsonnen in Gestalt glühender Gaskugeln von einigen hundert Metern Durchmesser zu schaffen, die durch Wasserstoffgebläse gespeist werden sollten. Energetische Zentralen würden in sicherer Entfernung die gewaltigen elektromagnetischen Kraftfelder erzeugen, um die künstlichen Sonnen in der gewünschten Höhe zu halten.
Im ersten Abschnitt der auf zwanzig Jahre berechneten Abschmelzarbeiten im Norden Grönlands, auf dem Grantland, dem Franz-Joseph-Land und in Sibirien wurde mit dem Bau von Kraftwerken begonnen, die die Energie für die Steuervorrichtung liefern und gemeinsam den sogenannten Atomsteuerkreis bilden sollten. Bald wanderten ganze Fabriken auf Rädern und Raupenbändern in die eisigen, menschenleeren, gebirgigen Gegenden. Maschinen rodeten die Taiga und planierten das Baugelände. Maschinen erzeugten die erforderliche Wärme, um den seit Millionen Jahren gefrorenen Boden aufzutauen. Maschinen legten fertige Betonblöcke, aus denen Autostraßen, Gebäudefundamente, Dämme und Schutzwälle in den Gletschertälern entstanden. Maschinen, die sich auf stählernen Füßen fortbewegten, Bagger, Exkavatoren, Bohrtürme, Kräne, Traktoren, Förderbänder arbeiteten Tag und Nacht. Gleich hinter ihrer Front gingen andere Maschinen vor; sie errichteten Hochspannungsleitungen, Transformatorenstationen, Wohnhäuser, erbauten komplette Städte mit Flugplätzen, auf denen sofort die ersten großen Transportflugzeuge landeten. Die Aufmerksamkeit, die diese Arbeiten erregten, war ungeheuer. Die ganze Welt blickte nach dem hohen Norden, wo inmitten von Kälte und Schneestürmen, bei Temperaturen, die bis zu sechzig Grad unter Null sanken, ein Bohrturm nach dem anderen und die Stahlantennen des Atomringes emporwuchsen, der in Zukunft die frei schwebenden, glühenden, mit Platinglanz leuchtenden Wasserstoffkugeln lenken sollte.
Einer der Bauplätze befand sich im Gebiet der Steinigen Tunguska. Inmitten von Mergel- und Lehmwällen, die man in tiefen Baugruben aus dem steinharten, ewig gefrorenen Boden ausgeschachtet hatte, wurden auf mächtigen Betonpfeilern Katapultstationen montiert. Raketenflugzeuge waren damals bereits an die Stelle der Eisenbahn getreten. Während dieser Arbeiten holte ein Bagger einen großen Erdblock aus der Sohle des etwa sieben Meter tiefen Schachtes. Der Block polterte auf das Förderband, gelangte in den Kollergang, wo die größeren Steine zu feinem Schotter zermahlen wurden, und klemmte sich dort fest. Die starke Maschine blieb sofort stehen. Als der Maschinist auf höhrere Tourenzahl schaltete, knirschten die Zahnräder, die aus härtestem Zementstahl waren, und einige Zähne brachen aus. Man nahm die Maschine auseinander und bemerkte einen Felsbrocken, der sich zwischen zwei Walzen eingekeilt hatte. Er war so hart, daß man ihn mit den besten Feilen kaum zu ritzen vermochte. Zufälligerweise hörten einige Wissenschaftler von dem Fund. Sie sahen sich den rätselhaften Brocken an und nahmen ihn mit. Am nächsten Tag lag er bereits im Laboratorium eines Instituts für Meteorenforschung.
Anfänglich glaubte man, einen Meteor vor sich zu haben. Dieser entpuppte sich jedoch als ein Basaltblock irdischen Ursprungs, in dem eine an beiden Enden zugespitzte Walze eingeschmolzen war. Sie erinnerte in Größe und Gestalt an eine Granate und setzte sich aus zwei unlösbar ineinanderverschraubten Teilen zusammen. Man mußte den Mantel durchschneiden, um an das Innere heranzukommen. Erst nach langen Bemühungen – sogar das Institut für Angewandte Physik wurde zu Rate gezogen – gelang es den Wissenschaftlern, das Geheimnis dieser Metallhülse zu lüften. Es befand sich darin eine Spule aus porzellanähnlichem Schmelzgut, um die ein fast fünf Kilometer langer Draht aus einer stahlähnlichen Legierung gewickelt war. Nichts weiter.
Schon vier Tage später befaßte sich ein internationales Komitee mit der Untersuchung dieser Spule. Sehr bald wurde festgestellt, daß der aufgewickelte Draht magnetisiert worden war. Die oberen Windungen hatten – offenbar unter dem Einfluß hoher Temperaturen – ihren Magnetismus bereits verloren. Die tieferen Schichten waren noch gut erhalten.
Die Gelehrten ergingen sich in allerlei Mutmaßungen über den Ursprung der geheimnisvollen Spule. Niemand wagte als erster die Vermutung, die sich allen auf die Lippen drängte, auszusprechen. Erst eine chemische Analyse des Materials, aus dem der Draht bestand, brachte Klarheit: Eine derartige Legierung wurde nirgends auf der Erde hergestellt. Der geschoßähnliche Körper mußte also mit dem einstmals so berühmten tungusischen Meteor in irgendeinem Zusammenhang stehen. Niemand wußte, wer es zuerst ausgesprochen hatte, auf einmal kursierte das Wort »Rapport«. Tatsächlich, der Draht war so magnetisiert, als sei er in seiner ganzen Länge mit elektrischen Schwingungen beschrieben: ein einzigartiger, »interplanetarer Brief«. Er erinnerte an die Bespielung eines Stahlbandes, wie sie bereits seit langer Zeit im Radio und beim Telefon gebräuchlich war. Sehr bald verbreitete sich die Annahme, die Insassen des unbekannten Weltraumschiffes hätten in dem kritischen Augenblick, da die Motoren den Gehorsam verweigerten, das zu retten versucht, was sie für das Wertvollste hielten. Daher hätten sie dieses mit magnetischen Schwingungen auf dem Draht festgehaltene »Dokument« vor der Katastrophe abgeworfen. Es fehlte aber auch nicht an anderen Stimmen, die behaupteten, die Spule sei durch die Explosion aus dem Schiffskörper geschleudert worden. Als Beweis führten sie die offensichtliche Veränderung der Hülle unter dem Einfluß hoher Temperaturen an.
In der Tagespresse wie auch in den wissenschaftlichen Blättern kam es zu langen Diskussionen über die Herkunft des Weltraumschiffes. Es gab wohl keinen Planeten unseres Sonnensystems, der nicht verdächtigt wurde, es ausgesandt zu haben. Selbst den fernen Uranus und den riesigen Jupiter nahm man nicht aus. Im großen und ganzen teilten sich jedoch die Ansichten in zwei Lager: Venus und – fast doppelt so stark – Mars. Noch nie hatte die Astronomie so viele Anhänger gehabt wie in diesem Jahr. Es wurden unwahrscheinlich hohe Auflagen von populär- ja auch fachwissenschaftlichen Büchern herausgebracht, und die Nachfrage nach astronomischen Amateurinstrumenten, besonders Fernrohren, stieg derartig an, daß die bestversorgten Lager ausverkauft waren.
Es erschienen phantastische Romane über rätselhafte Lebewesen auf dem Mars, denen die Autoren die verblüffendsten Eigenschaften zuschrieben. Einige Fernsehstationen nahmen in ihre Wochenprogramme spezielle Astronomiesendungen auf. Eines außerordentlichen Erfolges erfreute sich eine Berliner Fernsehübertragung »Die Reise zum Mond«, die von allen Stationen der nördlichen Halbkugel übernommen wurde. Die Zuschauer konnten zu Hause die Oberfläche des Mondes in dreitausendfacher Vergrößerung betrachten, da die Fernsehsendeapparatur unmittelbar mit dem großen Teleskop des Heidelberger Observatoriums gekuppelt war.
Die inzwischen gebildete Internationale Übersetzungskommission begann ihren berühmten »Kampf mit dem Draht«, wie ihn der wissenschaftliche Sonderkorrespondent der »Times« nannte. Die Arbeit der besten Ägyptologen und Sanskritforscher, der Spezialisten für tote und verschollene Sprachen, erschien wie ein Kinderspiel im Vergleich zu der Aufgabe, die jene Gelehrten erwartete. Der Rapport setzte sich aus mehr als achtzig Milliarden magnetischen Schwingungen zusammen, die in der kristallinischen Struktur des Metalldrahtes festgehalten waren. Die einzelnen Gruppen dieser Schwingungen waren durch kurze Intervalle nichtmagnetisierten Drahtes voneinander getrennt. Unwillkürlich drängte sich der Gedanke auf, daß jede Gruppe ein Wort darstelle. Diese Annahme konnte aber ebensogut irrig sein – wenn der angebliche Rapport nichts als eine Aufzeichnung verschiedener Meßinstrumente war. Selbst dann, wenn der Rapport mit Hilfe von Worten abgefaßt wäre, so urteilten viele Wissenschaftler, könne der Aufbau seiner Sprache ein ganz anderer sein als bei allen auf der Erde bekannten Sprachen. Aber auch diese Gelehrten waren sich darüber einig, daß eine solche Chance, wie sie sich der Wissenschaft zum erstenmal in der Geschichte bot, auf keinen Fall versäumt werden durfte.
Am schwierigsten war der Anfang. Als die Kommission die Arbeit aufnahm, bestand ihr gesamtes Material in einer Spule magnetisierten Drahtes. Zunächst wurde der ganze Draht durch eine Apparatur geleitet, die die magnetischen Schwingungen auf einem Filmstreifen registrierte. Das wertvolle Original wanderte in den unterirdischen Tresor, während die Gelehrten von nun an ausschließlich mit den Filmkopien arbeiteten.
Bei den einleitenden Beratungen wurde beschlossen, den einzigen Weg, der Erfolg versprach, zu beschreiten. Die Worte einer jeden Sprache sind Symbole, die bestimmte Gegenstände und Begriffe bezeichnen. Deshalb stützt sich die Entzifferung der Sprachen ausgestorbener Völker, von Chiffren und ähnlichen Kryptogrammen auf Regeln, die allen Sprachen gemeinsam sind. Man forscht vorerst nach Symbolen, die am häufigsten auftreten, untersucht, ob die betreffende Sprache Bild-, Buchstaben- oder Silbencharakter besitzt, und – was das wichtigste ist – man sucht nach einem Anhaltspunkt, der es ermöglicht, wenigstens die Bedeutung eines Ausdrucks zu verstehen.
In früheren Fällen war den Forschern gewöhnlich ein glücklicher Zufall zu Hilfe gekommen. So hatte man einst, auf einem Grabstein eingemeißelt, den gleichen Text in ägyptischen Hieroglyphen und in griechischer Schrift gefunden. Ähnlich verhielt es sich mit der Entzifferung der babylonischen Keilschrift.
Überall dort aber gab es einen grundsätzlichen Gesichtspunkt: Die Schöpfer dieser unbekannten Sprachen waren Menschen gewesen, genau wie die Forscher; sie hatten einmal auf demselben Planeten gelebt, unter derselben Sonne hatten sie dieselben Gestirne, die gleichen Gewächse, das Meer geschaut, und diese gleichen Daseinsbedingungen waren der Bildung allgemeingültiger Symbole günstig. Ganz anders lagen die Dinge jetzt. Welche Begriffe konnten diesen unbekannten Wesen und den Menschen gemeinsam sein? An welcher Stelle mußte man die Brücke über den Abgrund schlagen, der die Geschöpfe verschiedener Himmelskörper voneinander trennte? Ein Bindeglied nur gab es: die Materie.
Das ganze Weltall, vom kleinsten Sandkorn unter unseren Füßen bis zu den entferntesten Sternen, ist aus den gleichen Atomen aufgebaut. In allen, auch in den verborgensten Winkeln wird die Materie von den gleichen Gesetzen beherrscht, und sie alle können mit Hilfe der Mathematik in Formeln ausgedrückt werden. Wenn bei der Niederschrift des Rapports mathematische Ausdrucksmittel verwendet wurden, so sagten sich die Wissenschaftler, dann gab es eine Chance. In jedem anderen Fall würde der Rapport für alle Zeiten unentziffert bleiben.
Der Gedanke, von dieser Seite an die Lösung heranzugehen, stellte jedoch nur den ersten Schritt auf einem unerhört schwierigen und langen Weg dar. Es hätte den Anschein haben können, daß man den Rapport nur im Hinblick auf die wichtigsten physikalischen Gesetze zu überprüfen brauchte. Das war aber in diesem Anfangsstadium der Untersuchungen nicht möglich, zumal es sich um zu viele solcher Gesetze gehandelt hätte. Das schlimmste war, daß man nicht wußte, was für ein logarithmisches System die Verfasser benutzt hatten. Das Dezimalsystem, das sich aus neun Grundzahlen und der Null aufbaut, scheint nur dem Laien selbstverständlich, ist es aber keineswegs für den Mathematiker. Wir haben es angenommen, weil wir zehn Finger an den Händen haben und die Hände in längst vergangenen Zeiten den Menschen als »Rechenmaschine« dienten. Theoretisch ist jedoch eine beliebige Anzahl solcher Systeme möglich, vom Zweiersystem, in dem nur zwei Zahlen, die Eins und die Null, bestehen, über das Dreier-, Vierer-, Fünfersystem und so weiter, bis ins Unendliche fortschreitend. Während ihrer Arbeiten beschränkte sich die Übersetzungskommission aus praktischen Gründen auf neunundsiebzig Systeme, vom Zweier- bis zum Achtzigersystem. Die Aufgabe lautete also: Millionen magnetischer Schwingungen zu überprüfen und für jede dieser Schwingungen ihren Wert in neunundsiebzig Zahlensystemen zu berechnen. Schon das allein ergab ungefähr eine Billion Berechnungen, war aber erst der Anfang; denn die gewonnenen Ergebnisse mußte noch überprüft und unter ihnen die herausgesucht werden, die physikalischen Konstanten entsprachen. Von solchen Konstanten, wie Ladungen, Atomgewichte und Elemente, gibt es einige hundert. Doch auch das genügte noch nicht. In dem riesigen Zahlenmeer konnten sich Resultate finden, die ganz zufällig einigen Konstanten entsprachen. Man mußte also außerdem noch Kontrollberechnungen anstellen. Die Gesamtheit dieser Arbeiten, die erst den Beginn der eigentlichen Übersetzung bildeten, hätte Tausende der besten Mathematiker ihr ganzes Leben lang beschäftigt. So aber wurde sie im Verlauf von siebenundzwanzig Tagen bewältigt.
Der Übersetzungskommission stand das damals größte Elektronengehirn der Welt zur Verfügung, eine mächtige Maschine, die vier Stockwerke des Mathematischen Instituts in Berlin einnahm. Die Arbeit dieses gigantischen Denkapparates wurde von einer Zentrale aus geleitet, die sich im obersten Stockwerk des Instituts befand. Von dort aus erteilte ein Stab von Spezialisten dem Elektronengehirn den Befehl, alle Zeichen des Rapports zu untersuchen und unter ihnen Analogien physikalischer Konstanten festzustellen. In jedem einzelnen Fall sollte es diese Aufgabe in allen neunundsiebzig Zahlensystemen durchführen, die auf diese Art gefundenen Resultate überprüfen, jeden Teilabschnitt seiner Arbeit vermerken und das Ergebnis sofort bekanntgeben.
Die Zentrale war ein runder Saal aus weißem Marmor. An den Wänden flimmerten grünliche Leuchtschirme, auf denen die Ergebnisse der fortschreitenden Operationen abzulesen waren. Von dem Augenblick an, als die ersten perforierten Streifen mit den Befehlen in der Tiefe des Mechanismus verschwanden und die Signallampen aufflammten, bis zu dem Augenblick, in dem die roten Kontrollämpchen erloschen, waren sechshundertdreiundvierzig Stunden ununterbrochener Arbeit vergangen, hatte das Elektronengehirn fünf Millionen Berechnungen in der Sekunde durchgeführt, ohne auch nur ein einziges Mal auszusetzen, während die diensthabenden Wissenschaftler sechsmal täglich wechselten.
Das Riesenmaß der geleisteten Arbeit wiederzugeben ist unmöglich. Es genügt zu erwähnen, daß die Sprache des Rapports weniger an gesprochene Laute als vielmehr an eine ungewöhnliche Musik erinnerte; denn das, was irdischen Worten entsprach, war dort durch verschiedene Töne ausgedrückt. Einige Male erwies sich sogar das riesige Fassungsvermögen des Elektronengehirns zur Durchführung aller erforderlichen Berechnungen als unzureichend. In solchen Fällen schalteten Sicherungen unterirdische Kabel ein, die das Zentralhirn mit anderen Elektronengehirnen in Deutschland verbanden.
Endlich kam der Augenblick, in dem auf den Leuchtschirmen die Ergebnisse auftauchten. Hohe Summtöne alarmierten die Zentrale; aber die diensthabenden Wissenschaftler waren ohnedies von ihren Pulten aufgesprungen, als sie die erste, menschlichem Begriffsvermögen faßbare Entzifferung des Rapports vor Augen sahen. Der erste »Satz«, der auf den Leuchtschirmen erschien, lautete: Silizium, Sauerstoff, Aluminium, Sauerstoff, Stickstoff, Sauerstoff. Das bedeutete also sinngemäß: Erde.