JOHN FREELY

PLATON IN BAGDAD

Wie das Wissen der Antike zurück
nach Europa kam

Aus dem Englischen von Ina Pfitzner

 

Impressum

 

Für Toots, wie immer

 

 

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Klett‐Cotta

www.klett‐cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Aladdin’s Lamp«

im Verlag Alfred A. Knopf, New York

© 2009 by John Freely

Für die deutsche Ausgabe

© 2012 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos und Gabler, Hamburg

Unter Verwendung einer osmanischen Buchmalerei des 16. Jhdts.

© The Art Archive/University Library Istanbul/Gianni Dagli Orti

 

Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung Stuttgart

Printausgabe: ISBN 978‐3‐608‐94913‐1

E‐Book: ISBN 978‐3‐608‐10275‐8

PDF‐E‐Book: ISBN 978‐3‐608‐20179‐6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <dnb.d‐nb.de> abrufbar.

EINLEITUNG

Die Ursprünge der modernen Wissenschaft liegen im antiken Griechenland, wo sie im 6. Jahrhundert v. Chr. mit den ersten Naturphilosophen ihren Anfang nahm. Die Blüte der griechischen Wissenschaft währte ein Jahrtausend lang und endete mit dem Niedergang der Antike in der frühchristlichen Zeit, als nahezu alle Städte der griechisch-römischen Welt dem Erdboden gleich gemacht wurden und das westliche Europa in die dunklen Jahrhunderte des Mittelalters sank. Und doch waren die griechischen Klassiker 1000 Jahre später Inspiration für die Renaissance und Ausgang einer Wiedergeburt der Wissenschaft. Als Kopernikus im Jahr 1543 seine Theorie eines heliozentrischen Planetensystems aufstellte, griff er auf die Arbeit eines griechischen Astronomen zurück, der fast 1800 Jahre zuvor dieselbe Theorie vertreten hatte.

Wie hat die Wissenschaft der griechischen Antike überdauert, und auf welchem Wege gelangte sie nach Westeuropa? Vor allem darum soll es in diesem Buch gehen. Die Geschichte beginnt in Kleinasien, an der ägäischen Küste bei Milet, wo unter dem Einfluss der mesopotamischen Überlieferung in der Astronomie und Mathematik die ersten griechischen Naturphilosophen, die »Physiker«, auf den Plan traten. Von dort führt der Weg in das klassische Athen, das hellenistische Alexandria, das kaiserliche Rom, das byzantinische Konstantinopel und das nestorianische Gondischapur. Weiter geht es in das abbasidische Bagdad, das fatimidische Kairo und Damaskus, das muslimische Córdoba, das Toledo der Reconquista, das normannische Palermo und schließlich in die lateinischsprachige Welt des 13. Jahrhunderts in Oxford und Paris, wo der Boden bereitet wurde für die wissenschaftliche Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts. Zuletzt geht die Reise noch einmal nach Osten in das mongolische Samarkand und das osmanische Konstantinopel: in die letzte Blütezeit der islamischen Wissenschaft und ihren langen Niedergang.

Dies ist das erste Buch für eine breitere Leserschaft, das die ganze Geschichte erzählt. Dass es nicht einmal ein umfassendes Fachbuch zu diesem Thema gab, musste ich als junger Physiker feststellen, als ich anfing, mich mit Wissenschaftsgeschichte zu beschäftigen. Meine ersten Forschungen auf diesem Gebiet unternahm ich 1966/7, als ich nach meiner Promotion Stipendiat in Oxford war, wo ich von Alistair Crombie betreut wurde. Er untersuchte als Erster, wie die griechische Wissenschaft in Übersetzungen vom Arabischen ins Lateinische nach Westeuropa gelangte, nachdem sie in der islamischen Welt überliefert und weiterentwickelt worden war. So wandte ich mich der islamischen Renaissance des 8. und 9. Jahrhunderts zu, als die abbasidischen Kalifen in Bagdad naturwissenschaftliche und philosophische Werke vom Griechischen ins Arabische übersetzen ließen und damit die erste Etappe einer Reise einläuteten, die schließlich zur Entstehung der europäischen Wissenschaften führen sollte. Dimitri Gutas von der Yale University, Experte auf dem Gebiet der Übermittlung der griechischen Kultur in die islamische Welt, kommentiert: »Die griechisch-arabische Übersetzungsbewegung in Bagdad war eine wahrlich epochale Phase. In ihrer Bedeutung … gleicht sie dem Athen zur Zeit des Perikles, der italienischen Renaissance oder der wissenschaftlichen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts und sie verdient es, gewürdigt und in unser historisches Bewusstsein eingebettet zu werden.«

Dies ist kein akademisches Werk, sondern eine Kulturgeschichte der besonderen Art für den interessierten Laien. Der Akzent liegt durchgehend auf den Menschen, Orten und Kulturen, die in dieser Geschichte eine Rolle spielen: Es ist eine Art Reisebeschreibung des Wissens, die die verschiedenen Strömungen der Geschichte und den Aufstieg und Untergang der Kulturen zwischen Orient und Abendland verfolgt.

Angesichts des apokalyptischen Geredes vom »Kampf der Kulturen« sollte der vielfältige kulturelle Austausch, in dem die moderne Wissenschaft entstand, von besonderem Interesse sein. Der ursprüngliche Konflikt, der mit dem Aufstieg des Islam einherging, brachte die griechisch-islamische Wissenschaft in den Westen, und das war der Anfang der modernen wissenschaftlichen Tradition. Jetzt scheint es an der Zeit, diese Geschichte in ihrer ganzen kulturellen Komplexität zu erzählen. Wie verwoben die Welt war, um die es dabei geht, hat Edward Said so beschrieben: »Alle Kulturen sind … ineinander verstrickt; keine ist vereinzelt und rein, alle sind hybrid, heterogen, hochdifferenziert und nichtmonolithisch.«

Hier nun also die Geschichte, wie die griechische Wissenschaft über die islamische Welt nach Europa kam. Sie beginnt mit der antiken ionischen Stadt Milet in der archaischen Zeit der griechischen Geschichte (750 – 480 v. Chr.).

IONIEN:
DIE ERSTEN NATURPHILOSOPHEN

Das antike Milet befand sich an der Ägäischen Küste der heutigen Türkei südlich von Izmir, dem griechischen Smyrna. Als ich Milet im April 1961 zum ersten Mal besuchte, war es völlig verlassen. Nur die klingelnden Glöckchen einer Ziegenherde mit ihrem Hirten durchbrachen die Stille, als ich zwischen den Ruinen umherwanderte: das große hellenistische Theater, die höhlenartigen römischen Bäder, die Kolonnadenstraße, die zum Löwenhafen führte, und die umgebenden Läden und Lagerhäuser, früher voll mit Waren aus den milesischen Kolonien, aus so weit entfernten Gegenden wie Ägypten und dem Pontos. Jetzt waren die Gebäude vollkommen zerstört und zum Teil mit Erde bedeckt, aus der die ersten Frühlingsblumen sprossen, leuchtendrote Mohnblumen, die sich von den blassen Marmorresten der toten Stadt abhoben.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird an dieser Stelle ausgegraben: Alle noch vorhandenen antiken Gebäude wurden zu Tage gefördert und mehr oder weniger restauriert, wenn auch der antike Löwenhafen seit langem verlandet ist und Milet inzwischen kilometerweit vom Meer entfernt liegt. Der Eingang zum Hafen wird immer noch von den zwei liegenden Marmorlöwen bewacht, die ihm den Namen gaben, auch wenn sie jetzt zur Hälfte mit Schwemmland bedeckt sind – Symbole der glorreichen Stadt, die Herodot »eine Perle Ioniens« nannte. Der griechische Geograph Strabon (um 63 v. Chr. − um 23 n. Chr.) berichtet: »Zahlreich sind die Unternehmungen dieser Stadt, die größte aber ist die Menge ihrer Pflanzstädte. Denn der ganze Pontus Euxinus [das Schwarze Meer], die Propontis [das Marmarameer] und viele andere Gegenden wurden durch sie angesiedelt.«

Ausgrabungen haben gezeigt, dass die frühesten Überreste von Milet auf die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts v. Chr. zurückgehen, als Kolonisten aus dem minoischen Kreta vermutlich hier eine Siedlung gründeten. Eine zweite Kolonie entstand während der Massenzuwanderung von Griechen im 1. Jahrtausend v. Chr., als sie ihre Heimat auf dem griechischen Festland verließen und in Richtung Osten über die Ägäis zogen, um sich an der Küste Kleinasiens und den vorgelagerten Inseln niederzulassen. An dieser Völkerwanderung waren drei griechische Stämme beteiligt – die Äolier im Norden, die Ionier in der Mitte und die Dorer im Süden –, gemeinsam führten sie die griechische Kultur zu ihrer ersten Blüte. Die Äolier brachten die Dichterin Sappho hervor, die Ionier Homer und die Naturphilosophen Thales, Anaximander und Anaximenes, und die Dorer Herodot, den »Vater der Geschichtsschreibung«.

Im ersten Buch seiner Historien berichtet Herodot über diese Völkerwanderung, die Ionier hätten letztendlich das beste Fleckchen in Kleinasien ergattert, denn sie »haben ihre Städte in einer Gegend gegründet, die das angenehmste Klima der ganzen uns bekannten Erde hat«. Pausanias bemerkt im 2. Jahrhundert n. Chr. in seiner Beschreibung Griechenlands: »Das Land der Ionier erfreut sich des glücklichsten Klimas; es hat auch Heiligtümer wie sonst nirgends … der Wunderwerke in Ionien sind viele und stehen denen in Griechenland nicht viel nach.«

Die ionischen Kolonien schlossen sich bald zum Ionischen Bund zusammen. Dieser Bund umfasste jeweils eine Stadt auf den Inseln Chios und Samos und zehn auf dem gegenüber liegenden Festland Kleinasiens, und zwar Phokaia, Klazomenai, Erythrai, Teos, Lebedos, Kolophon, Ephesos, Priene, Myus und Milet. Das Bündnis, auch als Dodekapolis (»Zwölf Städte«) bekannt, hatte seinen gemeinsamen Versammlungsort in dem Panionion auf dem Festland gegenüber Samos. Die Ionier kamen auch jedes Jahr auf der Insel Delos zusammen, dem sagenhaften Geburtsort Apollons, ihres Schutzgottes, dem sie dort mit Spielen und Wettkämpfen huldigten. Im Homerischen Apollonhymnos beschreibt der Dichter das festliche Treiben:

Aber, Phoibos, dein Herz schwelgt doch am reichsten in Delos.

Dies ist der Ort, wo Ioniens Söhne in wallenden Kleidern

Dir zu Ehren sich sammeln samt Kindern und züchtigen Weibern.

Freude bereiten sie dir, denn sie denken an dich, wenn der Wettstreit

Anhebt mit Tänzen und Liedern und Faustkampf. Mancher der Gäste

Meint wohl, wenn er Ioniens Söhnen dort allen begegnet,

Daß es Unsterbliche seien und solche, die nimmermehr altern.

Säh er bei allen doch Anmut, schwelgte sein Herz doch in Freuden,

Wenn er die Männer erblickt und die schön gegürteten Frauen,

Schiffe in eilender Fahrt und die Fülle ihres Besitztums.

In der Seefahrt und im Handel war Milet allen anderen ionischen Städten weit überlegen, und so errichtete es im 8. Jahrhundert v. Chr. an den Küsten des Schwarzen Meeres die ersten Kolonien. Über die nächsten beiden Jahrhunderte betrieb Milet eine aktive Besiedlungspolitik und gründete insgesamt 30 Städte um das Schwarze Meer und an seinen Zugängen am Hellespont und rund um das Marmarameer, weitaus mehr als die anderen Stadtstaaten der griechischen Welt. Außerdem hatte Milet auch einen Außenposten in Naukratis, einem griechischen Handelsplatz im Nildelta, der um 650 v. Chr. gegründet wurde. Andere griechische Städte hatten indessen an den Küsten im westlichen Mittelmeer Kolonien errichtet. Süditalien und Sizilien waren am dichtesten besiedelt; diese Region nannte man später Magna Graecia, Großgriechenland.

Doch die ionischen Städte verloren schließlich ihre Freiheit, erst an die Lyder und dann an die Perser; deren Vorstöße, Griechenland zu erobern, endeten allerdings mit Niederlagen gegen die griechischen Verbündeten in den Schlachten von Marathon (490), Salamis (480) und Plataiai (479 v. Chr.). Der persische Großkönig Xerxes rächte sich für seine Niederlage bei der Insel Salamis mit der Zerstörung Milets, aber die Stadt wurde kurz darauf wieder aufgebaut. In der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. war sie wieder ein florierender Hafen und ein wichtiges Handelszentrum.

Durch ihren weit reichenden Seehandel kamen die Milesier mit den älteren Hochkulturen im Vorderen Orient in Kontakt, besonders in Ägypten, von wo sie mit Waren, aber auch mit Ideen zurückkehrten. Herodot schreibt: »Als erste unter den Menschen haben die Ägypter das Jahr gefunden und es in zwölf Monate aufgeteilt. Sie erzählen, die Sterne hätten sie auf diese Einteilung gebracht. Ich glaube, ihre Berechnung ist … klüger als die griechische …«

Die Handelswege der Milesier führten sie auch nach Mesopotamien, wo sie vermutlich das astronomische Wissen erwarben, das sie für die Navigation und die Zeitmessung brauchten. Aus Mesopotamien brachten sie auch den Gnomon mit, den Schattenzeiger, dazu heißt es bei Herodot: »Denn die Sonnenuhr mit ihrem Zeiger und die Einteilung des Tages in zwölf Stunden haben die Griechen von den Babyloniern übernommen.« Der Gnomon wurde auch zur Bestimmung der Tag- und Nachtgleichen verwendet, wenn die Sonne genau im Osten aufgeht und genau im Westen untergeht, ebenso wie für die Winter- und Sommersonnenwenden, wenn der Mittagsschatten am längsten beziehungsweise am kürzesten ist.

Das griechische Wort für Stern, aster, ist von Ischtar, der babylonischen Fruchtbarkeitsgöttin, abgeleitet, die für die Griechen den Planeten Venus verkörperte. Zunächst hielten sie den Himmelskörper für zwei verschiedene Sterne und bezeichneten ihn als Eosphoros, wenn er vor Sonnenaufgang zu sehen war, und als Hesperos, wenn er am Abend aufging. Später erkannten sie, dass der Morgen- und der Abendstern das gleiche Gestirn waren, nannten es Aphrodite, wie die Göttin der Liebe, und führten so den Kult der babylonischen Ischtar fort. Die Venus ist der einzige Planet, den Homer erwähnt: Bei der Beschreibung der Bestattung des Patroklos in der Ilias nennt er ihn Eosphoros und im Bericht über den Zweikampf zwischen Achilles und Hektor Hesperos. Auch Sappho besingt von den Planeten nur die Venus, und zwar als Hesperos, »von allen Sternen der schönste«.

Die ionischen Griechen überflügelten bald ihre geistigen Vorgänger, besonders in Milet, das im 6. Jahrhundert v. Chr. drei Naturphilosophen hervorbrachte. Über ihre Theorien weiß man nur aus bruchstückhaften Zitaten oder aus Zusammenfassungen ihrer Schriften bei späteren Autoren. Aristoteles bezeichnete sie als physikoi, Naturforscher, vom griechischen physis, das heißt Natur im weitesten Sinne, und stellte sie den früheren theologoi gegenüber, weil sie als Erste versuchten, bestimmte Phänomene aus natürlichen und nicht wie bisher aus übernatürlichen Ursachen zu erklären. Erdbeben zum Beispiel, die Homer wie auch Hesiod auf das Wirken des Gottes Poseidon, des »Erdschüttlers«, zurückführen, erklärte Thales ganz einfach damit, dass die Erde auf den allumfassenden Wassern des Okeanos treibt und in seinen Wogen schaukelt.

Die Verwendung des Gnomons zur Bestimmung der Jahreszeiten. Die Beispiele beziehen sich auf die mittleren nördlichen Breiten. Oben: Die jahreszeitlichen Abweichungen der Sonnenbahn und die Schatten, die sie zur Mittagszeit und zu Sonnenuntergang wirft. Unten: Der Schatten des Gnomons zu den Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen.

Platon zählte Thales (um 625 – um 547 v. Chr.) zu den Sieben Weisen des antiken Griechenlands, während ihn Aristoteles als den »Urheber solcher Wahrheitssuche« in der ionischen Naturphilosophie bezeichnete. Der Überlieferung nach soll Thales Ägypten besucht haben, wo er angeblich die Höhe einer Pyramide durch Abschreiten ihres Schattens berechnete, und zwar zu der Tageszeit, wenn die Höhe eines jeden Gegenstands der Länge seines Schattens entspricht. Herodot zufolge sagte Thales die vollständige Sonnenfinsternis voraus, die am 28. Mai 585 v. Chr. im mittleren Kleinasien zu sehen war, als die Lyder und Perser gegeneinander Krieg führten. Nach dem Wissensstand der Zeit hätte Thales unmöglich eine Sonnenfinsternis für diese Region vorhersagen können, doch sobald er in die ehrenvolle Runde der Sieben Weisen aufgenommen war, schrieb man ihm alle möglichen wissenschaftlichen Errungenschaften zu, darunter auch die ersten bei den Griechen bekannten Sätze der Geometrie.

Zu den einflussreichsten Ideen der milesischen Physiker gehörten ihre Theorien zum Wesen der Materie, vor allem ihre Auffassung, dass es eine arché, einen Urstoff, gebe, der durch alle scheinbaren Veränderungen hinweg bestehen bleibe. Aristoteles schreibt: »Thales, der Urheber solcher Wahrheitssuche, behauptet, es sei Wasser – daher trug er ja auch vor, die Erde schwimme auf Wasser …«

Aristoteles meint, Thales habe das Wasser als die arché angenommen »aus dem sichtbaren Sachverhalt, daß die Nahrung aller (Lebewesen) feucht ist … und Wasser ist nun einmal für alle feuchten Dinge der Anfang ihres Wesens.« Offenbar war seine Wahl auf das Wasser gefallen, weil es im Normalzustand eine Flüssigkeit ist, die jedoch bei Erhitzen zu Dampf wird und sich bei starker Abkühlung in Eis verwandelt; dieselbe Substanz tritt also in allen drei Aggregatzuständen auf. Auf einer noch grundsätzlicheren Ebene versuchte Thales eine Frage zu beantworten, die am Anfang der griechischen Philosophie steht: Worin besteht die Wirklichkeit hinter den Erscheinungen?

Anaximander (um 610 – um 545 v. Chr.) war ein jüngerer Freund des Thales und ebenfalls Bürger von Milet. Da Thales keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterließ, war laut Themistios (um 317 – um 388 n. Chr.) Anaximander »der erste der Griechen, der es wagte, von denen wir wissen, eine Prosaschrift … über die Natur zu veröffentlichen«. Antiken Quellen zufolge soll Anaximander auch Bücher zur Astronomie verfasst haben, in denen er den Gnomon zur Bestimmung von »Sonnenwenden, Zeiten, Stunden und Nachtgleichen« verwendete, außerdem ein Werk zur Geographie, in dem er die erste Landkarte der Ökumene, der bewohnten Welt, vorstellte.

Anaximander nannte den Urstoff ápeiron, »das Unbegrenzte«. Zuweilen findet man auch die Übersetzung »das Unendliche«, weil es nicht definiert ist – d. h., nicht durch spezifische Eigenschaften begrenzt. Er erkannte, dass das Wasser nicht die arché sein konnte, weil es schon eine bestimmte Form und festgelegte Eigenschaften besaß; der Urstoff hingegen musste in seinem Originalzustand absolut undifferenziert sein.

Nach Anaximanders Auffassung gibt es zu jeder Zeit unzählige Welten, die aus dem Unendlichen »herausgeschieden« sind. Diese geht auf die alte griechische Vorstellung zurück, dass Himmel und Erde zu Beginn eine einzige Form hatten und sich später abtrennten, um eine unendliche Vielfalt von Erscheinungen anzunehmen. Aus der verlorenen Tragödie des Euripides Die weise Melanippe ist die Passage erhalten, in der Melanippe auf diese Legende verweist: »Nicht von mir stammt das Wort, sondern von meiner Mutter, daß Himmel und Erde einst eine gemeinsame Gestalt bildeten. Als sie aber voneinander getrennt wurden, erzeugten sie alles und brachten es ans Licht: Bäume, Vögel, Tiere des Meeres und das Geschlecht der Menschen.«

Anaximander glaubte, dass die Form der Erde zylindrisch sei und dass sie sich in der Mitte des Universums befinde: »Die Erde schwebt in der Mitte, durch nichts gestützt, und verharrt in dieser Lage wegen des gleichmäßigen Abstandes aller Dinge …« Die Erde, so behauptete er, verbleibe fest in der Mitte, weil sie keinen Grund hat, sich in die eine oder andere Richtung zu bewegen – dieses Argument ist als das Prinzip »des hinreichenden Grundes« bekannt. Anaximanders Anwendung dieses Prinzips markiert die Grenze zwischen Mythologie und Naturwissenschaft, die ja immer eine Erklärung für einen hinreichenden Grund erfordert.

Anaximander beschäftigte sich auch mit dem Ursprung tierischen und menschlichen Lebens, und Plutarch zufolge vertrat er eine Art Evolutionstheorie: »Er behauptet ferner, ganz zu Anfang sei der Mensch aus andersgestalteten Lebewesen hervorgegangen, und zwar aus dem Gedanken heraus, daß die übrigen bald aus eigener Kraft Nahrung fänden, allein der Mensch bedürfe langdauernder Pflege; daher hätte er sich auch zu Anfang in seiner jetzigen Form auf keinen Fall erhalten können.«

Anaximenes (um 546 v. Chr.) war ein jüngerer Zeitgenosse Anaximanders, der ihm auch Freund und Mentor war. Anaximenes »erklärte, der Ursprung des vielfältig Vorhandenen sei die Luft, aus ihr nämlich gehe alles hervor, und in sie löse es sich wieder auf«. Nach seiner Auffassung war der Ursprung das Pneuma, »Atem« oder »Luft«, das durch ständige Bewegung verschiedene Formen annimmt. Somit bestimmte Anaximenes nicht nur die arché, sondern beschrieb auch die natürlichen Phänomene, über die sie die eine oder andere Form annimmt – ein weiterer Schritt in der Entwicklung der Wissenschaft. Simplikios schrieb im 6. Jahrhundert n. Chr., für Anaximenes unterscheide sich die Luft »aber innerhalb der Seinszustände durch Verdünnung und Verdichtung. Verdünnt werde sie zu Feuer, verdichtet aber zu Wind, dann zur Wolke, ferner bei stärkerer Verdichtung zu Wasser, dann zu Erde, schließlich zu Steinen; alles Übrige aber bestehe aus diesen. Auch dieser bezeichnet die Bewegung als ewig, infolge derer gleichfalls die Umwandlung entstehe.«

Anaximenes nahm an, dass die Erde flach sei und, wie auch die Gestirne, auf der Luft treibe »wie ein Blatt«. In seiner Vorstellung waren die Erde und die Himmelskörper von grenzenloser Luft umgeben, die eine unendliche Zahl an anderen Welten enthielt. In einem Fragment aus seinem Werk zieht er eine Analogie zwischen dem einzelnen Menschen und dem Kosmos. »Wie unsre Seele, die Luft ist, uns beherrschend zusammenhält«, sagt er, »so umfasst auch die ganze Weltordnung Hauch und Luft.«

Eine ganz andere Sicht auf die Natur vertrat Heraklit (um 500 v. Chr.), ein jüngerer Zeitgenosse des Anaximenes, der aus der ionischen Stadt Ephesos nördlich von Milet stammte. Wegen seiner geheimnisvollen und orakelhaften Behauptungen nannte man ihn auch Skoteinós, »der Dunkle« oder »der Obskure«. In einem seiner Fragmente heißt es: »Der Herr [Apollon], dem das Orakel von Delphi gehört, spricht nichts aus und verbirgt nichts, sondern er deutet an.« Seine Liebe zum Paradox und zum Rätsel trug ihm unter seinen Zeitgenossen auch den Namen Paradoxológos ein – von Paradoxa sprechend. Nach Diogenes Laërtios, der um 325 n. Chr. Leben und Meinungen berühmter Philosophen verfasste, sammelte Heraklit seine Sinnsprüche in einem Buch, das er im Tempel der Artemis in Ephesos hinterlegte. Der Legende nach soll Sokrates, von Euripides nach seiner Meinung über dieses Buch gefragt, gesagt haben: »Was ich davon verstanden habe, zeugt von hohem Geist; und wie ich glaube, auch was ich nicht verstanden habe; nur bedarf es dazu eines delischen Tauchers.«

Für Heraklit lag die beständige Wirklichkeit in der Natur nicht im Sein, und somit in der Existenz eines universellen Stoffes, sondern im Werden, also in der fortwährenden Veränderung, daher sein berühmter Aphorismus Panta rhei (Alles fließt). Waren die milesischen Physiker auf der Suche nach einem grundlegenden, in den Naturerscheinungen unveränderten Stoff, so konzentrierte sich Heraklit auf die Veränderung selbst und auf den unaufhörlichen Fluss der Natur. In einem bei Platon erwähnten Fragment heißt es: »Heraklit sagt an irgendeiner Stelle, daß alles davongeht und nichts bleibt; und alles Seiende der Strömung eines Flusses vergleichend sagt er, man könne nicht zweimal in denselben Fluss steigen.«

Die relative Stabilität der Natur war das Ergebnis einer − wie Heraklit es nennt − Spannung von Gegensätzen, einer Balance aus gegensätzlichen Kräften, die ein Gleichgewicht erzeugen, und die Einheit des Kosmos war dem Logos, der Vernunft, zu verdanken, das der natürlichen Welt Ordnung verleiht. Das Göttliche war für ihn die Einheit von Gegensätzen. So heißt es in einem Fragment: »Gott ist Tag-Nacht, Winter-Sommer, Krieg-Frieden, Sättigung-Hunger, er wandelt sich gerade so, wie Feuer, wenn man es mit Räucherwerk vermischt, nach dem Wohlgeruch jedes einzelnen benannt wird.«

Heraklit war überzeugt, dass die Sinne trügerisch seien und dass ihre Beweiskraft mit Vorsicht angewendet werden müsse, weil sie sich auf vergängliche Erscheinungen bezögen. In einem seiner Aphorismen meint er: »Schlechte Zeugen sind den Menschen Augen und Ohren, wenn sie Seelen haben, die deren Sprache nicht verstehen.«

Die Naturwissenschaften entwickelten sich weiter und die physikoi erweiterten den einen oder anderen Zweig von schon Begonnenem. Hekataios von Milet (um 500 v. Chr.), ein Zeitgenosse Heraklits, folgte dem Vorbild Anaximanders und zeichnete eine Karte der Welt, soweit sie den Griechen bekannt war. Als Anhang zu dieser Karte verfasste er ein Werk mit dem Titel Periegesis, einen »Reiseführer« oder »eine Reise um die Welt«, eine Beschreibung der Länder und Völker, die man auf einer Küstenfahrt rund um das Mittelmeer und das Schwarze Meer sehen konnte, einschließlich einiger Erkundungen zu Lande, bis nach Skythien, Persien und Indien. Die enorme Ausdehnung der Karte lässt ermessen, wie weit die Griechen für die Besiedlung und den Handel gereist waren und mit welch unterschiedlichen Kulturen sie am Mittelmeer und am Schwarzen Meer in Kontakt kamen.

Dass sich die ionische Aufklärung im dritten Viertel des 6. Jahrhunderts v. Chr. bis nach Großgriechenland ausbreitete, ist den beiden originellsten Köpfen der archaischen Zeit, Pythagoras und Xenophanes, zu verdanken.

Pythagoras (um 560-um 480 v. Chr.) wurde auf Samos geboren, einer der beiden zum Ionischen Bund gehörenden ägäischen Inseln, nordwestlich von Milet vor der ägäischen Küste Kleinasiens gelegen. Nach einer alten Überlieferung soll Pythagoras in seiner Jugend nach Ägypten und nach Babylonien gereist sein, um Mathematik zu studieren. Als er volljährig wurde, floh er vor Polykrates, dem Tyrannen von Samos, und zog nach Kroton in Südwestitalien, einer im 8. Jahrhundert v. Chr. entstandenen griechischen Kolonie. Dort begründete er eine Gesellschaft, die wissenschaftliche Schule und religiöse Sekte zugleich war – zu ihren Glaubensbekenntnissen gehörte die Metempsychose oder Seelenwanderung. Ansonsten ist über Pythagoras selbst nur wenig bekannt und seine eigenen Ideen sind kaum von denen seiner Anhänger zu trennen.

Die Pythagoreer gelten als Schöpfer der Grundlagen der griechischen Mathematik, insbesondere der Geometrie und der Zahlentheorie. Ihre berühmteste Entdeckung ist der Satz des Pythagoras, der besagt, dass in einem rechtwinkligen Dreieck das Quadrat der Hypotenuse der Summe der Quadrate der beiden Katheten entspricht.

Ihre religiösen Überzeugungen führten die Pythagoreer auch zur Numerologie oder Zahlenmystik, darunter auch Auffassungen wie diese: dass ungerade Zahlen männliche und gerade Zahlen weibliche Eigenschaften hätten. Die heiligste Zahl war die Zehn, die Summe der ersten vier Zahlen, wobei die Eins das »Atom« der Zahlen ist, von denen zwei eine Gerade ergeben, von denen drei, wenn nicht alle in einer Reihe, eine Fläche ausmachen und vier, wenn sie nicht alle auf derselben Ebene liegen, die Scheitelpunkte eines Körpers ergeben. Übereinander als eine Serie von Punkten oder »figurierten Zahlen« angeordnet – d. h. 1(.), 2(. .), 3(. . .), 4 (. . . .) – bilden die ersten vier Zahlen ein gleichseitiges Gebilde, das als Tetraktys bekannt ist, die Zahl des Universums, weil sie die Summe aller möglichen Dimensionen ist. Die Tetraktys wurde das Symbol der Pythagoreer, die sich einen Ruf als Zauberer und Hexenmeister erwarben. Hippolyt, der Kirchenvater aus dem 3. Jahrhundert, schreibt in der Widerlegung aller Häresien, dass sich die Pythagoreer »an Magie und an pythagoreische Zahlen« hielten, und über Pythagoras: »Er soll auch Magie getrieben haben und erfand die Physiognomik.«

Auch unser Begriff »Kosmos«, den ein modernes Wörterbuch als ein »ordentliches, harmonisches und systematisches Universum« beschreibt, soll auf die Pythagoreer zurückgehen. Die ursprüngliche griechische Bedeutung von kosmos findet sich bei Platon in einer Passage aus dem Dialog Gorgias, in der er sich offenbar auf die Pythagoreer bezieht: »Nun sagen aber die Weisen, dass die Gemeinschaft und die Freundschaft Himmel und Erde, Götter und Menschen zusammenhalten und der Sinn für Ordnung und die Besonnenheit und der Gerechtigkeitssinn. Und dieses Ganze nennen sie deshalb Kosmos, mein Freund, nicht Ordnungslosigkeit und nicht Zügellosigkeit.«

Nach der Überlieferung entdeckten die Pythagoreer als erste die numerischen Beziehungen, die bei der Harmonie in der Musik eine Rolle spielen, auf die sie beim Experimentieren mit Saiteninstrumenten gestoßen waren. So gelangten sie zu der Auffassung, dass ein göttlicher Verstand den Kosmos nach harmonischen Prinzipien geschaffen hatte und dass man diese Harmonie in Zahlen ausdrücken konnte. Aristoteles berichtet über die Pythagoreer: »So nahmen sie an, die Grundbausteine der Zahlen seien Grundbausteine alles dessen, was da ist, und das ganze All sei ein Zusammenklang und Zahl.«

Philolaos von Kroton, der in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. lebte, soll ein umfassendes Werk über die pythagoreische Kosmologie verfasst haben. Philolaos zufolge glaubten die Pythagoreer, dass die Erde nicht feststehend war, sondern ein Hestia genanntes Zentralfeuer umkreiste, das Herdfeuer des Kosmos, wie auch die Sonne, der Mond, die Sterne und die fünf sichtbaren Planeten – Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn – sowie ein weiteres, als »Gegenerde« bekanntes Gestirn, das unsichtbar blieb, weil es sich auf der anderen Seite des Kosmos befand. Ihrer Auffassung nach bewegten sich die Himmelskörper so, dass sie eine himmlische Harmonie herstellen, wie Alexander von Aphrodisias in seinem Kommentar zur Metaphysik des Aristoteles schreibt: »Da die Körper, die sich um die Mitte ›des Kosmos‹ bewegen, von dieser in ganz bestimmten Zahlverhältnissen entfernt sind, so verursachen die langsameren von ihnen durch ihre Bewegung einen tieferen, die schnelleren einen höheren Ton, und diese Töne, die entsprechend dem Zahlenverhältnis ihrer Entfernungen erfolgen, bringen infolge dieser ein Geräusch hervor, das eine musikalische Harmonie ist.«

Dass wir diese himmlische Harmonie nicht hören können, erklärten die Pythagoreer laut Aristoteles wie folgt: »Da es aber unsinnig scheint, dass wir diesen Klang nicht vernehmen, geben sie als Grund hierfür an, dass der Klang schon bei unserer Geburt da sei, so dass er nicht vor dem Hintergrund seines Gegenteils, der Stille, wahrnehmbar sei. Denn Klang und Stille seien lediglich durch den Kontrast, der zwischen ihnen besteht, feststellbar: Wie also die Schmiede aufgrund der Gewöhnung keinen Unterschied bemerken, so gehe es auch den Menschen.« So sind sich gewöhnliche Sterbliche dieser göttlichen Harmonie nicht bewusst. In Shakespeares Kaufmann von Venedig erläutert Lorenzo dies der Jessica:

Sieh des Himmels Boden

ist ausgelegt mit hellen goldnen Schalen

Sogar der kleinste Stern, den du da siehst,

Der singt auf seiner Bahn, so wie ein Engel

Den Cherubim zusingt mit jungen Augen:

So füllt die Harmonie unsterbliche Seelen,

Wir hören sie nur noch nicht, solang diese

Schlammige Hülle des Verfalls uns festhält.

Der Dichter und Philosoph Xenophanes (um 570 – nach 478 v. Chr.), ein etwas älterer Zeitgenosse des Pythagoras, soll ein Schüler Anaximanders gewesen sein. Er stammte aus der ionischen Stadt Kolophon, nordwestlich von Ephesos, doch als die Stadt 545 v. Chr. von den Persern eingenommen wurde, floh er aus Ionien und ging nach Großgriechenland. Dort, so Diogenes Laërtios, lebte er in den Kolonien Zankle und Katania, die im 8. Jahrhundert v. Chr. auf Sizilien entstanden, und wurde als Dichter der ionischen Aufklärung bekannt. Auch wenn die überlieferten Fragmente eher von literarischem als von wissenschaftlichem Interesse sein mögen, so haben doch einige seiner zukunftsweisenden Ideen die Entwicklung der Naturphilosophie in Großgriechenland entscheidend beeinflusst.

Xenophanes wandte sich gegen den anthropomorphen Polytheismus bei Homer und Hesiod; er tadelte sie, denn sie hätten »den Göttern alles zugeschrieben, was bei den Menschen schändlich ist und getadelt wird: zu stehlen, die Ehe zu brechen und sich gegenseitig zu betrügen«. Überhaupt stellten die Menschen die Götter nach ihrem eigenen Bilde dar, zum Beispiel so: »Die Äthiopier sagen, ihre Götter sind stumpfnäsig und schwarz, und die Thraker behaupten, die ihren hätten hellblaue Augen und rote Haare.«

Seine eigenen Auffassungen waren zugleich mono- und pantheistisch, wie in diesem Fragment ersichtlich: »Ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen der größte, weder dem Körper noch der Einsicht nach in irgendeiner Weise den Sterblichen gleich. Immer bleibt er an demselben Ort, ohne sich in irgendeiner Weise zu bewegen; bald hierhin, bald dorthin zu gehen geziemt sich für ihn nicht. Sondern ohne Anstrengung, durch das Denken seines Geistes erschüttert er alles. Als ganzer sieht er, als ganzer denkt er, und als ganzer hört er.«

Xenophanes verspottete auch die pythagoreische Vorstellung von der Seelenwanderung. In einem Gedicht erzählt er, wie Pythagoras einen Mann, der einen Hund schlug, mit den Worten zurückhielt: »Hören Sie bitte auf und schlagen Sie nicht. Denn es ist die Seele eines Freundes; ich habe sie sofort erkannt, als ich sie Laute von sich geben hörte!«

Der Überlieferung nach war Xenophanes der Lehrer des Parmenides (um 515 – um 450 v. Chr.) von Elea, einer durch die ionische Stadt Phokaia begründeten Kolonie an der tyrrhenischen Küste Italiens. Wie Heraklit betonte Parmenides, dass die Sinne unzuverlässig seien, und meinte, »… die in viel Erfahrung entwickelte Gewohnheit soll dich nicht zwingen, auf diesem Weg ein zielloses Auge weiden zu lassen, ein Ohr voller Widerhall und eine Zunge. Beurteile stattdessen auf vernünftige Weise die streitbare Widerlegung, die ich vorgetragen habe.«

War für Heraklit alles in einem Zustand des Fließens und nichts ewig, so verneinte Parmenides kategorisch die Möglichkeit der Bewegung und jeglicher anderer Veränderung und hielt diese für reine Sinnestäuschungen. So schrieb er in seinem Lehrgedicht Über das Sein: »Es ist entweder oder es ist nicht«, was bedeutete, dass die Schöpfung oder die Zerstörung oder jegliche andere Form der Veränderung unmöglich seien, einschließlich der Bewegung.

Die Existenz von Vielfalt und Zeit ließ Parmenides nicht gelten; alles was existiert, meinte er, ist einzig und jetzt. Sein Kosmos ist eine volle, ungeschaffene, unzerstörbare, unveränderliche, unbewegliche, ewige und vollkommene Seinssphäre und jeglicher sinnliche Beweis des Gegenteils ist eine Täuschung. Anklänge an diese unverrückbare Kosmologie des Parmenides finden sich von der Antike bis in die europäische Renaissance hinein, so wie im letzten Gesang der Feenkönigin von Edmund Spenser:

Doch dann denk ich dran, was die Natur erzählte

Von jener Zeit, in der es Wandel nicht mehr gibt,

Indessen nur noch aller Dinge stete Ruh,

Fest angehalten auf Säulen der Ewigkeit;

Der Wandelbarkeit steht sie entgegen:

Was sich bewegt, am Wandel sich freut

Die Philosophie des Parmenides hat sein Schüler Zenon von Elea (um 490 – um 425 v. Chr.) heftig verteidigt, der mehrere Paradoxien aufzeigte, die beweisen sollten, dass die augenscheinliche Bewegung trügerisch sei. Bei einer dieser Paradoxien geht es um ein hypothetisches Rennen zwischen Achilles und einer Schildkröte, der man einen Vorsprung gewährt, um ihre Langsamkeit wettzumachen. Achilles läuft los, doch um sie einzuholen, muss er erst einmal den Punkt erreichen, von dem aus die Schildkröte gestartet ist, und bis dahin wird sie sich schon weiter bewegt haben und ebenso bei jedem folgenden, geringer werdenden Abstand. Die Anzahl solcher Abstände ist, so Zenon, unendlich, und obwohl die Zeit immer kürzer wird, ist ihre Summe unbegrenzt. Somit wird Achilles die Schildkröte niemals einholen, woraus folgt, dass ihre Bewegung eine Sinnestäuschung ist. Diese und andere Paradoxien des Zenon wurden erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollständig aufgelöst, als Mathematiker nachwiesen, dass die Summe einer unendlichen Serie – um eine solche handelt es sich bei dem Rennen zwischen Achilles und der Schildkröte – endlich sein kann.

Einigen der grundlegenden Fragen, die Parmenides aufgeworfen hatte, wandte sich Empedokles von Akragas zu (um 482 – um 432 v. Chr.), einer weiteren griechischen Kolonie auf Sizilien. Empedokles verfasste zwei Gedichte in Hexametern, eines mit dem Titel Über die Natur, das andere Reinigungen, von denen insgesamt 450 Zeilen in Zitaten bei Aristoteles und anderen Autoren überliefert sind. Empedokles stimmte Parmenides zwar dahingehend zu, dass die Zuverlässigkeit von Sinneseindrücken ein ernstes Problem sei, aber zugleich seien wir völlig auf unsere Sinne angewiesen, weil sie unser einziger direkter Kontakt zur natürlichen Welt sind. Doch er wies auch darauf hin, dass wir die durch unsere Sinne gewonnenen Informationen sorgfältig abwägen müssen, um wahres Wissen zu erlangen. »Komm vielmehr und betrachte mit aller Kraft, bis wohin ein jegliches klar ist; halte nicht etwa einen Blick für vertrauenswürdiger, als es nach dem Gehör angebracht ist, stelle auch nicht das geräuschvolle Ohr über die Klarstellungen der Zunge und entziehe das Vertrauen auch keinem der anderen Glieder (Organe), soweit es dort einen Durchgang zum Verständnis gibt; sondern verstehe ein jegliches, insoweit es klar ist!«

Laut Aristoteles war Empedokles der erste Denker, der von vier grundlegenden Elementen sprach – Erde, Luft, Feuer und Wasser –, die er als die »Wurzeln von allem« bezeichnete. Über diese vier Elemente schrieb er: »Aus ihnen entsprießt alles, was war, und alles, was ist und in Zukunft sein wird, Bäume, Männer und Frauen, Tiere, Vögel und sich vom Wasser ernährende Fische, ferner auch Götter, langlebige, im höchsten Rang der Ehre stehend.« Nach seiner Vorstellung mischen sich die vier Stoffe und entmischen sich unter dem Einfluss der beiden Kräfte, die er Liebe und Hass nennt. Dazu meint er: »Und diese Dinge hören ihren fortwährenden Wechsel niemals auf: bald kommen alle in Liebe zusammen zu Einem, bald stieben im Groll des Streits alle wieder einzeln auseinander.«

Damit führte Empedokles den Begriff Kraft, im Unterschied zur Materie, als Ursache für die Naturerscheinungen ein. Für ihn existiert der Kosmos in einem Zustand des dynamischen Gleichgewichts zwischen den gegensätzlichen Kräften, und Bewegung findet statt, wenn eine der beiden dominiert. Seine Zuweisung von Erde, Wasser und Luft als Elementen entspricht der modernen Einteilung in den festen, flüssigen und gasförmigen Aggregatzustand. Als Feuer bezeichnet er nicht einfach nur Flammen, sondern auch am Himmel auftretende Erscheinungen wie Blitze oder Kometen. Empedokles’ Theorie der vier Elemente gehörte zu den langlebigsten in der Wissenschaftsgeschichte und hatte über 2000 Jahre Bestand. Ihre Spuren hinterließ sie nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Literatur, wie sich in den folgenden Zeilen aus der Feenkönigin zeigt. Edmund Spenser schreibt davon, dass die vier Elemente »der Grundstock sind / Der ganzen Welt und aller Lebewesen«. Es sind Elemente:

Die tausenderlei Wandel wir ausgesetzt sehn:

Doch wandeln sie sich (durch andre wundersame Tricks)

In sich selbst, verliern ihre ureignen Kräfte;

Feuer in Luft, und die Luft in klares Wasser,

Und Wasser in Erde; Wasser jedoch streitet

Mit Feuer, Luft mit der Erde, die näher rückt:

Alle sind sie in einem Körper, wirken wie eins.

Empedokles entwickelte noch andere, völlig neuartige Theorien. So vertrat er die Auffassung, das Licht bewege sich mit großer, aber endlicher Geschwindigkeit durch den Raum. Er bewies auch als Erster, dass Luft, wenn auch unsichtbar, eine echte physikalische Substanz ist. Dies veranschaulichte er, indem er ein Gefäß namens Klepsydra, eine Wasseruhr, umgedreht in Wasser hielt und auf diese Weise zeigte, dass erst dann Flüssigkeit eindrang, als die Luft in gleichem Maße aus dem Gefäß entweichen konnte.

Um einige Äußerungen des Empedokles bildeten sich Legenden, zum Beispiel, dass er ein göttlicher Heiler und Wundertäter sei. »Was mich angeht, als ein unsterblicher Gott reise ich umher«, heißt es in einem der erhaltenen Fragmente, »nicht mehr sterblich, bei allen, wie es sich gehört, geehrt, mit Binden und frischen Kränzen umflochten.« Er beschreibt weiterhin, wie sich seine Anhänger um ihn scharen, »und fragen, wo sich der Weg zum Gewinn auftue; die einen verlangen von mir Weissagungen, die anderen erwarten, bei Krankheiten aller Art das heilende Wort zu hören …«. Zu den Geschichten, die sich um Empedokles ranken, gehört die, wie er die Welt verließ, indem er in den Krater des Vulkans Ätna sprang und nur seine Sandalen zurückließ, während er anderen Legenden zufolge das Ende seiner Tage im peloponnesischen Exil verbrachte.

Eine Theorie der Materie, die sich völlig von denen des Empedokles und des Parmenides unterscheidet, stammt von Leukipp. Er wurde vermutlich im 6. Jahrhundert v. Chr. in Milet geboren und zog nach Abdera in Thrakien, das um 500 v. Chr. von Flüchtlingen aus der ionischen Stadt Teos gegründet worden war. Sein verlorenes Werk Die große Weltordnung begründete offenbar den Atomismus, der im Allgemeinen auf seinen Schüler Demokrit zurückgeführt wird.

Demokrit (um 470 – um 404 v. Chr.) wurde in Abdera geboren und soll Athen besucht haben, wo ihn aber niemand kannte, so der griechische Biograph Diogenes Laërtios. Seine Version des Atomismus erschien in einem Buch mit dem Titel Die kleine Weltordnung, das er aus Ehrerbietung für seinen Lehrer Leukipp so genannt haben mag.

Nach der Atomtheorie Leukipps und Demokrits existiert die arché in Form von Atomen, den nicht mehr teilbaren kleinsten Teilchen aller physikalischen Stoffe, die durch ihre unaufhörliche Bewegung und ihr gegenseitiges Zusammenstoßen alle in der Natur beobachteten vielfältigen Formen annehmen können. Das einzige überlieferte Fragment von Leukipp selbst besagt: »Nichts geschieht aufs Geratewohl, sondern alles aufgrund eines Verhältnisses und infolge von Notwendigkeit.« Damit meinte er, dass die Bewegung der Atome nicht chaotisch sei, sondern den unveränderlichen Gesetzen der Natur gehorche.

Demokrit zufolge gibt es keine Grenze – weder für die Anzahl von Atomen noch für das Ausmaß der Leere, und somit sind unzählige Welten möglich, von denen unser Kosmos nur eine ist. In einem der überlieferten Fragmente wird Demokrit wie folgt zitiert:

 

… es gebe unbegrenzt viele Welten, die sich auch in der Größe unterschieden. In manchen davon gebe es keine Sonne und keinen Mond, in manchen größere und in manchen mehr Sonnen und Monde als bei uns. Die Abstände zwischen den Welten seien ungleich, und es gebe hier mehr, dort weniger Welten; weiter seien einige Welten im Wachstum begriffen, andere stünden in der Blüte ihres Lebens und dritte seien im Schwinden; in dem einen Bereich entstünden Welten und in einem anderen verschwänden sie. Vernichtet würden sie, wenn sie eine mit der anderen zusammenstießen. Einige Welten gebe es, in denen es keine Lebewesen, keine Pflanzen und überhaupt keine Feuchtigkeit gebe.

 

In einem anderen Fragment sagt Demokrit, er sei ein jüngerer Zeitgenosse des Philosophen Anaxagoras, der um 500 v. Chr. in der ionischen Stadt Klazomenai geboren wurde und im Alter von 20 Jahren von dort nach Athen ging. Anaxagoras war der erste Philosoph, der in Athen lebte. Dort blieb er 30 Jahre lang und wurde Lehrer und enger Freund des Perikles.

Anaxagoras’ Anschauungen zum Wesen der Materie waren noch pluralistischer als bei Empedokles, denn in seiner »Samentheorie« ging er von der Existenz einer sehr großen Anzahl von Elementen aus. So »… muss man annehmen, daß in all den Dingen, die aus Gesondertem zusammentreten, vielerlei von jedweder Art enthalten ist, die Samen aller Dinge, die allerlei Formen und Farben und auch Wohlgeschmack haben.« Und: »In jedem ist ein Anteil von jedem …« Er ging auch von einem Äther genannten Element aus, das sich in ständiger Drehung befand und die Himmelskörper mit sich zog. Er wird so zitiert: »Die Sonne, der Mond und sämtliche Sterne seien feurig glühende Steine, die durch die Rotation des Äthers mit herumgeschleudert würden.« Auch der Äther erwies sich als eine sehr langlebige Idee, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts immer wieder in kosmologischen Theorien auftauchte.

Eine weitere Idee betraf das, was die Griechen seiner Zeit als nous, Vernunft, Geist, bezeichneten, womit er die steuernde Intelligenz des Kosmos im Gegensatz zur trägen Materie meinte. Das trug Anaxagoras den Spitznamen Nous ein, wie Plutarch in seinem Leben des Perikles betont:

 

Wer jedoch am meisten mit Perikles umging …, das war Anaxagoras von Klazomenä, ein Mann, den seine Zeitgenossen Weltgeist nannten. Der Grund hiervon mochte sein, weil man an ihm seinen Verstand bewunderte, der sich in der Naturwissenschaft ganz ungewöhnlich groß gezeigt hatte. Vielleicht lag der Grund auch darin, weil er der erste war, der für die Welt nicht den Zufall oder eine Notwendigkeit als Prinzip ihrer wundervollen Gesetze aufstellte, sondern einen schlechthin reinen Urgeist [nous], welcher bei dem chaotischen Zustande aller anderen Dinge die gleichartigen Elemente zur Ordnung ausschied.

 

Um 450 v. Chr. klagten Feinde des Perikles Anaxagoras der Gottlosigkeit und des »Medismos« an – der pro-persischen Gesinnung. Mit Perikles’ Hilfe gelang ihm die Flucht nach Lampsakos am Hellespont, wo er eine Schule gründete, die er bis ans Ende seines Lebens leitete. Nach seinem Tod um 428 v. Chr. errichteten ihm die Bewohner von Lampsakos auf ihrer Agorá, in der Mitte der Stadt, ein Denkmal, das sie dem Geist und der Wahrheit widmeten, die im Zentrum seiner Philosophie standen. Der Jahrestag seines Todes wurde noch lange danach in Lampsakos feierlich begangen, und gemäß seinem letzten Wunsch wurde den Schülern der Stadt für diesen Anlass frei gegeben.

Anaxagoras war der letzte der ionischen Gelehrten, denn schon zu seinen Lebzeiten hatte Athen Ionien als Treffpunkt der Naturphilosophen abgelöst. In einem Gedicht führte Xenophanes den Untergang Ioniens auf den korrumpierenden Reichtum seiner Bürger zurück:

 

Weichlichen Prunk, nutzlosen, erlernen sie von den Lydern und, solange sie noch frei waren von der verhassten Zwingherrschaft, schritten sie zur Versammlung in ganz purpurnen Gewändern nicht weniger denn tausend zumal, vornehm tuend, prahlend mit ihren wohlgezierten Locken, triefend von Duft durch künstlich bereitete Salben.

 

Dies war die Welt Ioniens, wo die ersten Naturforscher anfingen, über das Wesen des Kosmos und die Grenzen des Wissens nachzudenken.

Ihre unmittelbaren Nachfolger brachten die Philosophie nach Großgriechenland und Athen. Es waren die ersten Etappen einer Reise, die wissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien zwischen Orient und Abendland hin und her transportieren sollte − Zugvögel, die ihren Flug fortsetzten, auch lange nachdem Milet und andere ionische Städte nur noch aus Ruinen bestanden.