INHALT
Widmung
GRUNDSÄTZLICHES
Einführung
Die Tradition der Heilgebete
Aberglaube, Amulette, Zauberei und Rituale
Die schriftliche Überlieferung der Heilgebete
Die Berufung zum Heilen
Wie die Gebetsheilung funktioniert
WIE MAN BETET
Der richtige Ort zum Beten
Die innere Haltung beim Gebet
Die richtige Konzentration
Anleitung zum Gebet
Für andere beten
Danke sagen
ALTE HEILGEBETE
Das Hauptgebet
Ein grundlegendes Gebet
Gebet zur Stärkung
Gebet, um Schaden abzuwenden
Reisegebet
Gebet, um Streit und Feindschaften zu beenden
Gewitter abbeten
Das Finden verlorener Gegenstände
Gebet, um Schmerzen zu lindern
Gebet bei frischen Wunden und seelischen Verletzungen
Gebet, um Blut zu stillen
Gebet bei Suchterkrankungen
Gebet bei Herzerkrankungen
Gebet bei Fieber
Gebet bei Hauterkrankungen
Gebet, um Warzen zu nehmen
Das ursprüngliche, aramäische Vaterunser
Dank
Dieses Buch ist sieben Generationen von
Gebetsheilern und -heilerinnen
gewidmet:
Mögen die, die nach uns kommen, eine Welt vorfinden, in der sie liebend gerne leben und auch beten wollen.
Das Buch ist außerdem all denen gewidmet,
für die sonst niemand betet.
GRUNDSÄTZLICHES
Die Gebete in diesem Buch sind von Mund zu Ohr von traditionellen Heilern und Heilerinnen aus dem Alpengebiet weitergegeben worden. Wo die Gebete letztlich ihren Ursprung hatten, wissen wir heute nicht mehr. Die eigentliche Quelle ist gewiss der Allmächtige, das Große Geheimnis oder wie immer wir den Geist nennen wollen, aus dem alles, was ist, hervorgeht.
»Gesundbeten« war jahrhundertelang eine der wichtigsten Säulen der medizinischen Versorgung in Europa. Vergleichbare spirituelle Heilmethoden gibt es überall auf der Welt, wo sie gewöhnlich als Schamanismus bezeichnet werden. Man versteht darunter üblicherweise ein religiös-magisches Phänomen, das zuerst bei verschiedenen indigenen Völkern Sibiriens beobachtet und beschrieben wurde. In Sibirien wurden die Heiler und Heilerinnen »Shaman« genannt, die Forscher übertrugen daraufhin das Wort auf alle ähnlichen Heilmethoden, die sie beobachteten. Bei uns in den Alpenländern heißen diese Menschen »Gesundbeter« oder »Abbeter«, womit gemeint ist, dass Krankheiten und Leiden durch Gebete gelindert oder zum Verschwinden gebracht werden. Es gibt die »Abbeter« vereinzelt noch heute, obwohl es sich leider um eine vom Aussterben bedrohte Spezies handelt.
Die meisten Gebete und Rituale, die ich Ihnen hier anvertraue, habe ich von einem guten Freund unserer Familie, von Herrn Georg Lory bekommen. »Der Lory«, so hieß er bei uns zu Hause, hatte es sich nach seiner Pensionierung zur Lebensaufgabe gemacht, nicht nur als Heiler tätig zu sein, sondern auch alte Gebete zu sammeln. Nachdem der Lory Zeit zur Verfügung hatte, suchte er etliche alte Heiler auf, die er darum bat, die Gebete mit ihm auszutauschen. Ich erinnere mich gut, wie enttäuscht er so manches Mal war, weil die Gebete geheim gehalten wurden, und einige Heiler nahmen sie wohl lieber mit ins Grab, als sie ihm anzuvertrauen. Andere wiederum teilten großzügig, nachdem sie die Motivation und Vertrauenswürdigkeit des Lory geprüft hatten. Wie alle alten Heiler, die ich kennengelernt habe, ging der Lory einem gewöhnlichen Broterwerb nach und übte die Heilkunst nebenher aus. Georg Lory verstarb am 6. Januar 1992 im Alter von 80 Jahren. Als Kind hatte ich immer gehörig Respekt vor ihm, da ihm der Ruf eines »Wunderheilers« mit einer mysteriösen Aura vorauseilte. Ich glaubte damals, er könne einzig mit der Kraft seines Willens alles nur Denkbare bewirken.
Die Abbeter und Abbeterinnen meiner Heimat haben in der Tradition die Gebete und »die Gabe«, das heißt die Bestimmung zum Heilen, weitergegeben. Üblicherweise sucht ein Abbeter zuerst im eigenen Familienkreis nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin. Wenn in der Familie niemand dieses »Amt« annehmen will, bezieht man auch den Freundeskreis in die Suche ein. Die Übertragung der Kraft des Heilens wird mit Ritualen vollzogen, die der neu eingeweihte Heiler oder die Heilerin nach der Anleitung des erfahrenen Heilers allein für sich absolvieren muss.
Man muss allerdings wissen, dass es sich beim Abbeten nicht gerade um eine einfache Sache handelt. Abbeter wurden früher schon mal in der Früh um vier aus dem Bett geholt, weil etwa eine Kuh sich bei der Geburt des Kälbchens recht schwertat. Es war noch in meiner Kindheit und Jugend durchaus üblich, dass man in solchen Fällen zuerst den Abbeter um Hilfe bat, ehe man den teuren Tierarzt kommen ließ. Der Abbeter wurde – im Gegensatz zum Tierarzt – zwar nicht immer für seine Dienste bezahlt, wohl aber für jedes Unglück voll verantwortlich gemacht. Jemand sagte einmal zu mir: »Wenn der Lory helfen konnte, dann war es in den Augen der Leute Zufall oder Glück. Oft genug dankte man ihm nicht einmal dafür. Wenn seine Gebete jedoch ohne den erhofften Erfolg blieben, dann hieß es gleich, dass er als Abbeter nicht viel wert ist.«
Als die Zeit dafür gekommen war, schaute sich der Lory also im Bekanntenkreis nach einer Nachfolgerin um und seine Wahl fiel auf mich. Vielleicht war es auch umgekehrt und meine Wahl fiel auf ihn, denn ich fühlte mich schon von Kindheit an zu spirituellen Dingen hingezogen.
Der Lory nahm mich oft mit in die Bergwälder und unterwies mich in die Grundsätze der Naturreligion. Wir suchten z. B. besondere Plätze auf, an denen alte Linden oder Eichen standen. Er lehrte mich, Bäume zu meinen Freunden zu machen und ihre Lebenskraft zu spüren. Er zeigte mir, wie man die Zeiten der Übergänge nutzt, sei es im Tageslauf oder im Jahreskreis. So standen wir manches Mal mit ausgestreckten Armen und nach vorne gerichteten Handflächen bei Sonnenuntergang für lange Zeit still auf einer Lichtung und nahmen die Kraft der Sonne in unsere Hände auf. In späteren Jahren entdeckte ich, dass diese Gebetshaltung und auch die Wahl des Zeitpunktes, der Sonnenaufgang oder der Sonnenuntergang, in anderen Kulturen ebenso verbreitet ist, zum Beispiel bei den indigenen Völkern. Mit Erstaunen sah ich die Fotografie eines Indianers, der mit Adlerfedern im Haar in genau derselben Körperhaltung der untergehenden Sonne seine Gebete darbrachte.
Da wir bei der Gebetsheilung unseren Patienten auch oft die Hände auflegen, bitten wir gleichsam darum, dass aus unseren Händen dieselbe lebenserhaltende und gesundheitsfördernde Kraft entströmen möge, wie es die Strahlen der Sonne tun, wenn sie die Erde berühren.
Die Zeiten des Übergangs gelten als Zeiten der Kraft. Dies bezieht sich sowohl auf die Übergänge vom Tag zur Nacht, von der Helligkeit zur Dunkelheit, als auch auf die Übergänge zwischen den Jahreszeiten. Bei Sonnenaufgang oder bei Sonnenuntergang entsteht eine Mischung oder auch eine Einheit zwischen den Gegensätzen von hell und dunkel oder von Tag und Nacht. Diese Vereinigung der Gegensätze, wie sie in der Natur jeden Tag aufs Neue entsteht, ist wie ein Sinnbild für die Tätigkeit des Heilens. So wie aus dem Tag die Nacht entsteht, so kann auch aus Krankheit wieder Gesundheit entstehen. So wie nach dem Winter und der Kälte wieder der Frühling und die Wärme erwachen, so kann aus Schmerzen und Kummer wieder Unversehrtheit und Fröhlichkeit erwachsen. Dieses Bewusstsein und diese Zuversicht eignen wir uns durch die stille, ehrfürchtige Betrachtung der Abläufe in der Natur an. Von Indianern lernte ich auch, die Bedeutung des Kreises, des Medizinkreises zu verstehen und anzuwenden. Die Indianer bezeichnen den magischen Schutzkreis als Medizinkreis, weil die kraftvollen Energien darin wie eine Medizin wirken. Obwohl der Lory in seinem Leben gewiss nie einem Indianer begegnet war, so kannte er doch die Anwendung von Schutzkreisen. Der Kreis symbolisiert die Einheit und das Göttliche, daher wirken in ihm Kräfte, die alles Unheilvolle fernhalten. Um sich innerhalb eines Schutzkreises zu stellen, zieht man im Uhrzeigersinn einen Kreis um sich herum. Um den Kreis wieder aufzulösen, vollzieht man die Bewegung entgegengesetzt des Uhrzeigersinns. Er brachte mir auch bei, den Lauf des Mondes zu berücksichtigen und bei abnehmendem Mond speziell das zu behandeln, was vergehen sollte, was der Mond mit sich nehmen sollte, z. B. Warzen. Bei zunehmendem Mond betet man dagegen für Anliegen, die Wachstum voraussetzen, wie es etwa beim Wunsch nach einem Kind der Fall ist.
Vor allem aber bemühte er sich darum, in mir Vertrauen in die Gebete zu erwecken. Er sagte: »Die Menschen kommen zu dir, weil sie selbst nicht beten können und weil sie kein Vertrauen haben zu Gott und zur geistigen Welt. Wenn du selber aber auch kein Vertrauen in deine Gebete hast, wie soll das dann funktionieren?« Selbstverständlich sollte ich mir jedoch unbedingt einen gesunden Menschenverstand bewahren. Einmal wandte ich sehr erfolgreich ein Anti-Schmerz-Gebet gegen meine Zahnschmerzen an. Die Schmerzen kehrten allerdings nach drei Tagen wieder zurück. »Du musst natürlich zum Zahnarzt gehen!«, schimpfte der Lory. »Das Schmerz-Gebet ist nur für den akuten Zustand und stammt aus einer Zeit, in der es keine Zahnärzte gab. Wenn man aber einen Zahnarzt gleich ums Eck hat, dann geht man natürlich dorthin!« Ich war noch sehr jung, etwa 25 Jahre, als meine Ausbildung zur Heilerin begann. Ich brauchte viele Jahre und zahlreiche Begegnungen auch mit Heilern aus anderen Kulturkreisen, ehe ich echtes und tiefes Zutrauen in die Heilkraft der Gebete fassen konnte.
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